2. JUNI’78
Etliches über Geheimnisse
Gegen 23:30 Uhr duschte ich mich kurz, warf einen
Blick ins Schlafzimmer und sah, dass Aljonna tief und fest schlief.
Dann kehrte ich ins Arbeitszimmer zurück.
Ich beschloss, mit Wepl zu beginnen. Da er
bekanntlich kein Erdenmensch war und nicht einmal ein Humanoid,
brauchte ich meine ganze Erfahrung und - in aller Bescheidenheit
gesagt - sämtliche Raffinesse beim Umgang mit Informationskanälen,
um an die Daten zu kommen, die ich schließlich erhielt. Am Rande
möchte ich bemerken, dass die große Mehrheit der Menschen auf
unserem Planeten keine Ahnung von den Möglichkeiten dieses achten
(oder nun schon neunten?) Weltwunders hat - des Großen
Gesamtplanetaren Informatoriums - GGI. Und es ist durchaus möglich,
dass auch ich - bei all meiner Erfahrung und Raffinesse - nicht für
mich in Anspruch nehmen kann, sein unermessliches Gedächtnis
vollständig ausschöpfen zu können.
Ich gab elf Anfragen ein - drei davon erwiesen sich
als überflüssig - und erhielt im Ergebnis folgende Informationen
über den Kopfler Wepl.
Sein vollständiger Name war Wepl-Itrtsch. Seit dem
Jahre’75 bis zum heutigen Tag war er Mitglied der Ständigen Mission
des Volkes der Kopfler auf der Erde. Nach den Funktionen zu
urteilen, die er im Verhältnis zur irdischen Administration
ausübte, war er eine Art Übersetzungsreferent der Mission. Seine
tatsächliche Position aber war unbekannt, denn die Verhältnisse
innerhalb des Kollektivs der Ständigen Mission blieben für die
Erdenmenschen ein Buch mit sieben Siegeln. Bestimmte Daten ließen
zudem darauf schließen, dass Wepl einer Art Familienzelle innerhalb
der Mission vorstand - einen Überblick über die Größe und
Zusammensetzung
dieser Zelle gab es jedoch bis dato nicht. Dennoch schienen diese
Strukturen bei der Entscheidung von wichtigen diplomatischen Fragen
eine große Rolle zu spielen.
Überhaupt hatte sich über Wepl und die Mission sehr
viel Datenmaterial angesammelt. Einige der Daten waren verblüffend,
aber mit der Zeit gerieten sie entweder in Widerspruch zu neuen
Daten oder wurden gänzlich widerlegt. Es sah fast so aus, als müsse
unsere Xenologie vor diesem Rätsel ratlos die Achseln zucken. Und
viele sehr gute Xenologen schlossen sich der Meinung Rowlingsons
an, der schon zehn Jahre zuvor in einer schwachen Minute gesagt
hatte: »Ich glaube, die führen uns einfach an der Nase
herum!«
Das alles aber ging mich wenig an. Ich durfte
später nur nicht die Worte Rowlingsons vergessen.
Die Mission befand sich am Fluss Thelon in Kanada,
nordwestlich von Baker Lake. Die Kopfler hatten hier volle
Bewegungsfreiheit und nutzten sie ausgiebig, obwohl sie kein
anderes Transportmittel als Null-T akzeptierten. Die Residenz der
Mission war streng nach einem Entwurf errichtet worden, den die
Kopfler selbst vorgelegt hatten. Von der Idee aber, dort
einzuziehen, hatten sie höflich Abstand genommen und sich
stattdessen in der Umgebung in selbst gebauten unterirdischen
Räumen oder, schlicht gesagt, in Erdlöchern eingerichtet.
Telekommunikation lehnten sie ab. Daher waren die Bemühungen
unserer Ingenieure, Videogeräte zu entwickeln, die speziell auf die
Bedürfnisse der Kopfler abgestimmt waren (Gehör, Sehen,
Handhabung), vergeblich gewesen. Die Kopfler akzeptierten
ausschließlich persönliche Kontakte. Ich würde also nach Baker Lake
fliegen müssen.
Nachdem ich die Informationen über Wepl beisammen
hatte, beschloss ich, noch Doktor Serafimowitsch ausfindig zu
machen - was mir ohne Mühe gelang, das heißt, es gelang mir,
Informationen über ihn zu finden. Der Doktor der Pädagogik,
ständiges Mitglied des Eurasischen Rates für Volksbildung,
Mitglied des Weltrates für Pädagogik Valerij Markowitsch
Serafimowitsch war schon vor zwei Jahrzehnten im Alter von
einhundertachtzehn Jahren verstorben. Schade.
Dann nahm ich mir Kornej Jašmaa vor. Der Progressor
Kornej Janowitsch Jašmaa hatte schon seit zwei Jahren als Adresse
die Villa »Jans Lager« angegeben, die etwa zehn Kilometer nördlich
von Antonow in der Wolgasteppe liegt. Er hatte ein umfangreiches
Curriculum, aus dem hervorging, dass seine gesamte berufliche
Tätigkeit mit dem Planeten Giganda in Verbindung stand. Er war
nicht nur für die praktische Arbeit ein wichtiger Mann, sondern
auch ein außergewöhnlicher Theoretiker auf dem Gebiet der
experimentellen Geschichte. Alle Einzelheiten seiner Laufbahn waren
jedoch augenblicklich aus meinem Kopf gelöscht, als ich auf
folgende, an und für sich unauffällige, Informationen stieß.
Die erste: Kornej Janowitsch Jašmaa war ein
postumer Sohn.
Die zweite: Kornej Janowitsch Jašmaa war am 6.
Oktober’38 geboren. Die Eltern Kornej Jašmaas waren keine
Mitglieder der Gruppe »Jormala«, sondern ein Ehepaar, das während
des Experiments »Spiegel« tragisch ums Leben gekommen war.
Ich traute meinem eigenen Gedächtnis nicht und
schlug in der Mappe nach. Es stimmte. Und da war auch noch die
Notiz auf der Rückseite des arabischen Textes: »… hat das Schicksal
zwei von unseren Mehrlingen zusammengeführt. Ich versichere dir, es
ist reiner Zufall …« Ein Zufall. Nun, dort auf der Giganda mochte
sich wirklich ein Zufall ereignet haben: Lew Abalkin, ein postumer
Sohn, geboren am 6. Oktober’38, traf Kornej Jašmaa, einen postumen
Sohn, geboren am 6. Oktober’38. Aber hier bei mir - ist es da auch
ein Zufall? »Mehrlinge« - von unterschiedlichen Eltern. »Wenn du’s
nicht glaubst, schau in 07 und 11.« In Ordnung. »07« liegt vor mir.
Also gibt es irgendwo in unserer Abteilung auch noch 11. Und es ist
logischerweise anzunehmen, dass es auch 01, 02 und so weiter gibt …
Apropos: Minuspunkt für mich, dass
mir diese sonderbare Chiffre nicht gleich aufgefallen ist: 07. Bei
uns werden die Fälle (freilich nicht in Mappen, sondern in
Kristallaufzeichnungen) normalerweise entweder mit phantastischen
Wortkombinationen oder Namen von Gegenständen bezeichnet.
Was war das übrigens für ein Experiment »Spiegel«?
Noch nie davon gehört. Fast schon automatisch tippte ich die
entsprechende Anfrage an das GGI. Die Antwort versetzte mich in
Erstaunen: »Information nur für Spezialisten, weisen Sie bitte Ihre
Zulassung vor.« Ich gab meinen Code ein und wiederholte die
Anfrage. Diesmal erschien die Antwort mit ein paar Sekunden
Verzögerung: »Information nur für Spezialisten, weisen Sie bitte
Ihre Zulassung vor.« Ich lehnte mich im Sessel zurück. Unglaublich!
Zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn erwies sich die
Zulassung der KomKon 2 als unzureichend, um eine Information vom
GGI zu bekommen.
Und in dem Moment wurde mir klar, dass ich die
Grenzen meiner Kompetenz überschritten hatte. Plötzlich verstand
ich, dass vor mir ein großes, düsteres Geheimnis lag und dass das
Schicksal Abalkins mit all seinen Rätseln und Ungereimtheiten nicht
nur auf ein persönliches Geheimnis Abalkins hinauslief, sondern
dass es mit den Schicksalen vieler anderer Menschen verflochten
war. Und ich wagte nicht, an diese Schicksale zu rühren, weder als
Mitarbeiter der KomKon noch als Mensch.
Es hatte nichts damit zu tun, dass mir das GGI
Informationen über das Experiment »Spiegel« verweigerte. Ich war
überzeugt, dass das Experiment mit dem Geheimnis nicht das
Geringste zu tun hatte. Die Weigerung des GGI war einfach wie eine
Ohrfeige - eine Ohrfeige in eine bestimmte Richtung, die mich zwang
zurückzuschauen. Und sie klärte in gewisser Weise meinen Blick. Auf
einmal sah ich alles im Zusammenhang: das seltsame Verhalten
Jadwiga Lekanowas, die
ungewöhnliche Geheimhaltungsstufe, das ungewohnte »Behältnis für
Dokumente«, die sonderbare Chiffre, die Weigerung Seiner Exzellenz,
mich vollständig in den Fall einzuweihen, und sogar seine
anfängliche Anweisung, keinerlei Kontakt mit Abalkin aufzunehmen …
Und jetzt noch diese unglaubliche Übereinstimmung von Daten und
Umständen, unter denen Lew Abalkin und Kornej Jašmaa zur Welt
gekommen waren.
Es gab ein Geheimnis, und Lew Abalkin war nur ein
Teil davon. Ich verstand jetzt, warum Seine Exzellenz diesen Fall
gerade mir übertragen hatte. Es gab zwar gewiss Leute, die in
dieses Geheimnis eingeweiht waren, doch eigneten sie sich
anscheinend nicht für die Fahndung. Und es gab genügend Leute, die
für die Fahndung genauso geeignet waren wie ich, vielleicht sogar
besser, aber Seine Exzellenz wusste, dass die Fahndung früher oder
später zu dem Geheimnis führen würde. Und da war es wichtig, einen
Menschen auszusuchen, der genug Feingefühl besaß, um rechtzeitig
haltzumachen. Für den Fall, dass das Geheimnis im Laufe der
Fahndung gelüftet werden sollte, war es wichtig, dass Seine
Exzellenz diesem Menschen vertraute wie sich selbst.
Darüber hinaus war das Geheimnis Lew Abalkins auch
noch ein Persönlichkeitsgeheimnis! Sehr schlecht. Das dunkelste
Geheimnis, das sich nur denken ließ - nicht einmal die Person
selbst durfte etwas davon ahnen. Das einfachste Beispiel: die
Information über eine unheilbare Krankheit der Person. Ein
kompliziertes Beispiel: das Geheimnis um eine aus Unwissenheit
begangene Tat, die nicht wiedergutzumachende Folgen hatte, siehe
König Ödipus …
Nun denn, Seine Exzellenz hatte richtig gewählt.
Ich mag keine Geheimnisse. Ich finde, dass in der heutigen Zeit und
auf unserem Planeten alle Geheimnisse etwas Schmutziges haben. Ich
gebe zu, dass viele durchaus aufsehenerregend sind und unsere
Phantasie anfachen können, aber mir persönlich
ist es unangenehm, in Geheimnisse eingeweiht zu werden. Und noch
unangenehmer ist mir, Außenstehende, die nichts damit zu tun haben
und nichts dafür können, in Geheimnisse einzuweihen. In der KomKon
2 steht die Mehrheit der Mitarbeiter auf demselben Standpunkt, und
das ist sicherlich auch der Grund, weshalb bei uns nur sehr selten
etwas nach außen dringt. Meine Abscheu vor Geheimnissen aber
übersteigt wohl doch das übliche Maß. Ich gebe mir sogar Mühe,
nicht die übliche Wendung »ein Geheimnis lüften« zu benutzen,
sondern sage für gewöhnlich »ein Geheimnis ausgraben«. Dabei komme
ich mir vor wie ein Umweltreiniger, ein Müllmann im wahrsten Sinne
des Wortes.
So wie jetzt zum Beispiel.
Aus dem Bericht Lew Abalkins
In der Dunkelheit wird die Stadt flach wie ein
alter Kupferstich. Ein trüber Widerschein des Schimmels zeigt sich
in den schwarzen Fensteröffnungen. Auf den wenigen gepflasterten
Freiflächen und auf dem Rasen aber schimmern kleine leblose
Regenbögen - über Nacht haben sich dort die Kelche unbekannter,
leuchtender Blumen geöffnet. In der Luft liegt ein nicht sehr
starker, aber aromatischer Geruch, und hinter den Dächern steigt
langsam der erste Mond auf. Er steht jetzt über der Hauptstraße -
wie eine große gezähnte Sichel - und taucht die Stadt in ein
unangenehmes orangefarbenes Licht.
Bei Wepl erregt der Mond eine unerklärliche
Abscheu. Alle paar Minuten sieht er ihn mit furchtbar bösem Blick
an und klappt dabei wie krampfhaft seine Schnauze auf und zu, als
habe er das Verlangen zu jaulen, beherrsche sich aber. Das ist
umso seltsamer, als auf seinem Heimatplaneten Saraksch der Mond
infolge der Lichtbrechung in der Atmosphäre völlig unsichtbar ist.
Und gegenüber dem Erdenmond hat sich Wepl, soweit ich weiß, immer
völlig gleichgültig verhalten.
Dann bemerken wir zwei Kinder.
Hand in Hand und ganz leise gehen sie den Fußweg
entlang, als wollten sie sich in der Dunkelheit verbergen. Sie
gehen in dieselbe Richtung wie Wepl und ich. Der Kleidung nach zu
urteilen, sind es Jungen. Der eine ist größer, etwa acht Jahre alt,
der andere noch klein, vielleicht vier oder fünf. Anscheinend sind
sie gerade erst aus einer Seitenstraße eingebogen, sonst hätte ich
sie von weitem gesehen. Sie scheinen schon sehr lange unterwegs zu
sein, seit Stunden, sehen sehr müde aus und können kaum einen Fuß
vor den anderen setzen. Der Kleine geht schon gar nicht mehr,
sondern schleppt sich an der Hand des Älteren weiter. An einem
breiten Trageriemen baumelt dem Älteren eine flache Tasche von der
Schulter herab, er rückt sie andauernd zurecht, aber sie schlägt
ihm dennoch gegen die Knie.
Der Translator übersetzt mit trockener,
leidenschaftsloser Stimme: »Müde, die Beine tun weh. Geh, hab ich
dir gesagt. Geh. Böser Mensch. Bist selber ein böser, schlechter
Mensch. Schlange mit Rattenohren. Bist selber ein verfaulter
Rattenschwanz.« So. Jetzt sind sie stehen geblieben. Der Jüngere
windet seine Hand aus der des Älteren und setzt sich hin. Der
Ältere zerrt ihn am Kragen hoch, aber der Jüngere setzt sich
wieder, und da gibt ihm der Ältere eine Ohrfeige. Aus dem
Translator strömt ein Schwall von »Ratten«, »Schlangen«,
»stinkenden Tieren« und sonstiger Fauna. Dann beginnt der Jüngere
laut zu weinen, was den Translator aus dem Konzept bringt; er
verstummt. Zeit, sich einzumischen.
»Guten Tag, Kinder«, sage ich nur mit den
Lippen.
Ich bin dicht an sie herangekommen, aber erst jetzt
bemerken sie mich. Der Kleine hört augenblicklich auf zu weinen
und schaut mich erstaunt an. Der Ältere schaut auch, aber unter
den Augenbrauen hervor, feindselig, die Lippen fest
zusammengepresst. Ich gehe vor ihm in die Hocke und sage: »Hab
keine Angst. Ich bin gut. Ich tu dir nichts.«
Ich weiß, dass die Lingare keine Intonation
wiedergeben, und deshalb bemühe ich mich, einfache beruhigende
Worte zu finden.
»Ich heiße Lew«, sage ich. »Ich sehe, ihr seid
müde. Soll ich euch helfen?«
Der Ältere antwortet nicht. Er schaut noch immer
sehr misstrauisch unter den Brauen hervor und ist vorsichtig. Der
Kleine aber interessiert sich plötzlich für Wepl und wendet kein
Auge von ihm - man sieht, dass er gleichzeitig ängstlich und
neugierig ist. Wepl sitzt ein Stück abseits, macht einen durch und
durch gutmütigen Eindruck und hält den Kopf mit der hohen Stirn
abgewandt.
»Ihr seid müde«, sage ich. »Ihr wollt essen und
trinken. Gleich gebe ich euch was Feines.«
Da bricht es aus dem Älteren heraus. Sie sind
überhaupt nicht müde, und sie brauchen nichts Feines. Gleich wird
er diese Schlange mit Rattenohren zur Vernunft bringen, und sie
werden weitergehen. Und wer sie nicht lässt, kriegt eine Kugel in
den Wanst. So ist das.
Sehr gut. Niemand denkt daran, sie nicht zu lassen.
Aber wo wollen sie hin?
Sie gehen dahin, wo sie hin müssen.
Aber trotzdem, wohin? Womöglich haben wir denselben
Weg? Dann könnte man die Schlange mit Rattenohren auf den Schultern
tragen.
Am Ende renkt sich alles ein. Es werden vier Tafeln
Schokolade gegessen und zwei Flaschen Tonisator getrunken. In die
kleinen Münder wird je eine halbe Tube Fruchtmasse ausgedrückt.
Aufmerksam untersuchen die Kinder meinen Regenbogenanzug, und Wepl
lässt sich (nach kurzer und sehr
energischer Diskussion) einmal (nur einmal!) streicheln (aber
keinesfalls am Kopf, nur am Rücken). Bei Vanderhoeze an Bord
schluchzt alles vor Rührung, und man hört ein vielstimmiges
kindliches Lispeln.
Es stellt sich Folgendes heraus.
Die Jungen sind Brüder; der Ältere heißt Ijadrudan,
der Kleine Pritulatan. Sie haben ziemlich weit von hier (wo, lässt
sich nicht genau feststellen) zusammen mit dem Vater in einem
großen weißen Haus mit einem Bassin im Hof gewohnt. Bis vor kurzem
wohnten bei ihnen noch zwei Tanten und ein Bruder - der älteste von
ihnen, achtzehn Jahre alt -, aber sie sind alle gestorben.
Anschließend hat der Vater die beiden nicht mehr mitgenommen, wenn
er aus dem Haus ging, um Essen zu beschaffen; vorher waren sie
immer mit der ganzen Familie unterwegs. Ringsumher gab es viel zu
essen - dort, dort und dort auch (wo, lässt sich nicht genau
feststellen). Wenn er allein fortging, befahl der Vater jedes Mal:
Falls er bis zum Abend nicht zurückkehre, müssten die beiden Kinder
das Buch nehmen, auf die breite Straße hinausgehen und immer
geradeaus gehen, bis sie zu einem schönen gläsernen Haus kämen, das
im Dunkeln leuchte. Aber in das Haus hineingehen dürften sie nicht.
Sie sollten sich daneben setzen und warten, bis Leute kämen und sie
dorthin führten, wo Papi, Mami und alle anderen sind. Warum nachts?
Weil nachts keine schlechten Menschen auf der Straße sind. Sie sind
nur am Tage da. Nein, wir haben nie welche gesehen, aber viele Male
gehört, wie sie mit den Glöckchen klingeln, Musik machen und uns
aus dem Haus locken wollen. Da haben der Vater und der große Bruder
ihre Gewehre genommen und ihnen eine Kugel in den Wanst gejagt …
Nein, sonst kennen sie niemanden und haben niemanden gesehen.
Einmal allerdings, vor langer Zeit, sind unbekannte Leute mit
Gewehren zu ihnen ins Haus gekommen und haben sich den ganzen Tag
mit dem Vater und dem großen Bruder gestritten.
Dann haben sich auch noch Mami und die beiden Tanten eingemischt.
Sie haben alle laut geschrien, aber der Vater hat am Ende den
Streit gewonnen, die Leute sind gegangen und nie
wiedergekommen.
Der kleine Pritulatan schläft auf der Stelle ein,
sobald ich ihn auf den Arm genommen habe. Ijadrudan hingegen lehnt
jegliche Hilfe ab. Er hat mir nur erlaubt, seine Tasche mit dem
Buch geschickter anzubringen, und geht jetzt betont
selbstständig neben mir, die Hände in den Taschen. Wepl läuft
voraus, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Mit seiner ganzen
Haltung demonstriert er eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem
Geschehen. In Wirklichkeit aber beschäftigt ihn genauso wie uns
alle der Gedanke, das Ziel der beiden Jungen - ein großes
leuchtendes Gebäude - könnte just das Objekt »Fleck 96« sein.
Was in dem Buch steht, vermag Ijadrudan
nicht wiederzugeben. Aber die Erwachsenen trugen dort jeden Tag
alles ein, was sich ereignete. Wie Pritulatan von einer giftigen
Ameise gebissen worden war. Wie plötzlich das Wasser aus dem Bassin
abzufließen begann, der Vater es aber aufhielt. Wie die Tante
gestorben war - sie hatte gerade eine Konservendose geöffnet, die
Mami schaut hin, und die Tante ist schon tot. Ijadrudan hat das
Buch nicht gelesen, er liest schlecht und ungern; ihm fehlt
die Begabung. Pritulatan hingegen ist sehr begabt, aber noch klein
und begreift nichts. Nein, langweilig war ihnen nie. Wie kann man
sich langweilen in einem Haus mit fünfhundertundsieben Zimmern? Und
in jedem Zimmer gab es eine Menge wundersamer Dinge, sogar solche,
von denen nicht einmal der Vater sagen konnte, wozu sie dienten.
Bloß Gewehre haben wir dort nicht gefunden. Gewehre sind jetzt rar.
Vielleicht hätten wir im Nebenhaus eins finden können, aber der
Vater hat uns strengstens verboten, nach draußen zu gehen. Er hat
gesagt, das wäre nicht gut für uns. Aber wenn wir zu dem
leuchtenden Haus gingen
und die guten Menschen, die dort auf uns warten, uns mit zur Mami
nähmen, könnten wir schießen, so viel wir wollten … Aber vielleicht
führst du uns zur Mami? Du bist ein guter Mensch, aber warum hast
du kein Gewehr? Der Vater hat uns gesagt, dass alle guten Menschen
ein Gewehr haben.
»Nein«, sage ich. »Ich kann dich nicht zur Mami
führen. Ich bin fremd hier und würde selbst gern den guten Menschen
begegnen.«
»Schade«, sagt Ijadrudan.
Wir kommen auf einen Platz. Das Objekt »Fleck 96«
sieht aus der Nähe aus wie eine überdimensionale, altertümliche
Schatulle aus blauem Kristall - randvoll mit funkelnden Edelsteinen
und Halbedelsteinen. Aus ihrem Inneren dringt ein gleichmäßiges
weißblaues Licht, das ringsum alles erhellt - den vom dichten
Unkraut geborstenen Asphalt ebenso wie die toten Häuserfronten, von
denen der Platz gesäumt wird. Die Wände dieses ungewöhnlichen
Gebäudes sind vollkommen durchsichtig; drinnen glitzert und
changiert ein fröhliches Chaos von Rot, Gold, Grün und Gelb, so
dass man nicht gleich den Eingang bemerkt, zu dem ein paar flache
Stufen hinführen und der breit und einladend offen steht.
»Spielzeug!«, flüstert Pritulatan andächtig, fängt
an zu zappeln und will hinunter.
Erst jetzt sehe ich, dass die Schatulle gar nicht
mit Kostbarkeiten gefüllt ist, sondern mit buntem Spielzeug, mit
Hunderten und Tausenden bunter, überaus plumper Spielsachen:
riesigen Puppen in grellen Farben, hässlichen Holzautos und einer
Unmenge bunten Kleinkrams, der aus dieser Entfernung nicht zu
erkennen ist.
Der kleine begabte Pritulatan fängt an zu quengeln
und zu betteln, dass wir alle in dieses Zauberhaus hineingehen
sollen. Es macht nichts, dass der Papi es verboten hat; wir schauen
nur mal ganz kurz hinein, nehmen das Lastauto da, und dann
warten wir gleich auf die guten Menschen … Ijadrudan versucht, ihn
zum Schweigen zu bringen, zuerst mit Worten, und dann, als das
nicht hilft, indem er ihm das Ohr verdreht. Aus dem Gequengel wird
augenblicklich lautes Weinen. Der Translator verteilt auch
weiterhin ungerührt Säcke voller »Schlangen mit Rattenohren« in die
Umgebung; an Bord schreit Vanderhoeze aufgebracht, wir sollten den
Kleinen beruhigen und trösten, bis alle, den begabten Pritulatan
eingeschlossen, auf einmal verstummen.
An der nächsten Ecke steht der bewaffnete
Eingeborene von vorhin; seine Hände liegen auf dem Gewehr, das ihm
quer über die Brust hängt. Federnd und lautlos kommt er über den
blau schimmernden Asphalt direkt auf die Kinder zu. Wepl und mich
schaut er nicht einmal an. Er nimmt den still gewordenen Pritulatan
bei der linken Hand, Ijadrudan, dessen Miene sich aufgehellt hat,
bei der rechten, und führt sie fort, über den Platz geradewegs zu
dem leuchtenden Gebäude - zur Mami, zum Papi, zu der unbegrenzten
Möglichkeit zu schießen.
Ich blicke ihnen nach. Alles scheint genauso
abzulaufen wie geplant, und doch macht eine Kleinigkeit, irgendeine
wichtige Kleinigkeit das Bild zunichte. Ein Wermutstropfen …
»Hast du’s erkannt?«, fragt Wepl.
»Was denn?«, antworte ich gereizt, weil es mir
einfach nicht gelingt, diese Kleinigkeit zu entdecken, die das
ganze Bild verdirbt.
»Lösch das Licht in diesem Gebäude und schieß ein
Dutzend Mal mit einer Kanone drauf.«
Ich höre ihn kaum, denn plötzlich begreife ich, was
da stört. Der Eingeborene geht mit den Kindern an den Händen, und
ich sehe, wie das Gewehr im Takt der Schritte vor seiner Brust hin
und her schwingt - wie ein Pendel von links nach rechts, von rechts
nach links. Aber es dürfte nicht so pendeln. So heftig
kann ein schweres automatisches Gewehr von mindestens fünfzehn
Pfund nicht hin und her schaukeln. Nur ein Spielzeuggewehr
schaukelt so - eins aus Holz oder Plastik. Dieser »gute Mensch« hat
ein falsches Gewehr …
Es gelingt mir nicht, den Gedanken zu Ende zu
denken. Ein Spielzeuggewehr bei einem Eingeborenen. Die
Eingeborenen sind Scharfschützen. Vielleicht ist das
Spielzeuggewehr aus diesem Spielzeugpavillon … Lösch in diesem
Pavillon das Licht und schieß ein Dutzend Mal mit einer Kanone
drauf … Das ist ja genauso ein Pavillon … Nein, ich bringe keinen
dieser Gedanken zu Ende.
Links krachen Ziegel herab, zersplittert auf dem
Trottoir ein hölzerner Rahmen. Über die hässliche Fassade eines
fünfstöckigen Hauses, des dritten von der Ecke, gleitet an den
dunklen Fensteröffnungen vorbei ein breiter gelber Schatten - so
leicht, so schwerelos; kaum zu glauben, dass hinter ihm her
Schichten von Putz und Ziegelbrocken von der Fassade stürzen.
Vanderhoeze schreit etwas. Furchterregend, zweistimmig kreischen
auf dem Platz die Kinder. Der Schatten aber ist schon auf dem
Asphalt - unverändert schwerelos, halb durchsichtig, riesig. Der
rasende Lauf von Dutzenden von Beinen ist kaum auszumachen, und
inmitten dieses Gewirrs hebt und senkt sich der dunkle
Gliederkörper - vor sich hoch erhoben, glänzend, wie lackiert, die
Greifscheren … Der Scorcher landet wie von selbst in meiner Hand.
Wie ein automatischer Entfernungsmesser bin ich mit nichts anderem
beschäftigt, als die Entfernung zwischen der Krebsspinne und den
kleinen Gestalten der Kinder zu messen, die schräg über den Platz
davonstürzen. (Irgendwo ist da auch noch der Eingeborene mit seinem
falschen Gewehr, er läuft ebenfalls so schnell er kann und bleibt
dabei etwas hinter den Kindern zurück; aber ich achte nicht auf
ihn.) Der Abstand verringert sich rapide, alles ist klar, und als
mich die Krebsspinne passiert, schieße ich.
In diesem Augenblick sind es zwanzig Meter bis zu
ihr. Ich habe noch nicht allzu oft mit dem Scorcher geschossen und
bin überwältigt von dem Ergebnis. Der rotviolette Blitz blendet
mich für einen Moment, doch ich sehe noch, wie die Krebsspinne
geradezu explodiert. Augenblicklich. Ganz und gar, von den Scheren
bis zum Ende der Hinterbeine. Wie ein überhitzter Dampfkessel. Es
ertönt ein kurzer Donner, kommt als Echo zurück und rollt über den
Platz. An Stelle des Ungeheuers breitet sich nun eine dichte,
nahezu steife Wolke weißen Dampfes aus.
Alles ist vorüber. Die Dampfwolke zerstiebt langsam
und mit leisem Zischen. Die panischen Schreie und das Trappeln der
Füße verstummen in einer dunklen Seitenstraße, und die kostbare
Pavillon-Schatulle steht leuchtend, als wäre nichts gewesen, noch
immer mitten auf dem Platz in ihrer ganzen Pracht …
»Gott, was für ein grässliches Vieh«, murmle ich.
»Wie kommen die hierher - hundert Parsek von der Pandora entfernt …
Und du, hast du wieder nichts gemerkt?«
Wepl kommt nicht zum Antworten. Es ertönt ein
Gewehrschuss, das Echo rollt über den Platz, und gleich darauf
folgt ein zweiter. Ganz in der Nähe. Anscheinend hinter der Ecke.
Wohl in der Straße, in die alle hineingerannt sind.
»Wepl, halte dich links, bleib auf gleicher Höhe!«,
kommandiere ich schon im Laufen.
Ich verstehe nicht, was dort in der Seitenstraße
vor sich geht. Vielleicht hat noch eine Krebsspinne die Kinder
angefallen. Dann war es doch kein Spielzeuggewehr? Aber da treten
aus dem Dunkel der Seitenstraße drei Männer, bleiben stehen und
versperren uns den Weg. Zwei von ihnen sind mit richtigen
automatischen Gewehren bewaffnet, und die beiden Läufe sind direkt
auf mich gerichtet.
Im bläulich weißen Licht ist alles sehr gut zu
sehen: Ein hochgewachsener alter Mann steht da; er trägt eine graue
Uniform mit funkelnden Knöpfen. Rechts und links von ihm halten
zwei kräftige Burschen ihre Gewehre im Anschlag; die beiden stehen
einen halben Schritt hinter ihm, tragen ebenfalls graue Uniformen
und Gürtelriemen mit Patronentaschen.
»Sehr gefährlich«, sagt Wepl in der schnalzenden
Sprache der Kopfler. »Ich wiederhole: sehr!«
Ich verlangsame das Laufen auf normales
Schritttempo und zwinge mich, den Scorcher im Halfter verschwinden
zu lassen. Vor dem Alten bleibe ich stehen und frage: »Was ist mit
den Kindern?«
Die Gewehrmündungen sind genau auf meinen Bauch
gerichtet. Die Burschen haben finstere, erbarmungslose
Gesichter.
»Mit den Kindern ist alles in Ordnung«, antwortet
der Alte.
Seine Augen sind hell, beinahe fröhlich, und sein
Gesicht hat nichts von der Düsternis der bewaffneten Burschen; es
ist das gewöhnliche, faltige Gesicht eines alten Mannes. Aber
vielleicht kommt es mir nur so vor? Vielleicht liegt es daran, dass
er statt eines Gewehrs einen blankpolierten Stab in der Hand hält,
mit dem er sich leicht und leger gegen den Schaft eines seiner
hohen Stiefel klopft.
»Auf wen haben Sie geschossen?«, frage ich.
»Auf den schlechten Menschen«, übersetzt der
Translator die Antwort.
»Dann gehören Sie zu den guten Menschen mit den
Gewehren?«, frage ich.
Der Alte zieht die Brauen hoch. »Gute Menschen? Was
soll das heißen?«
Ich wiederhole, was mir Ijadrudan erklärt
hat.
Der Alte nickt.
»Alles klar. Ja, wir sind diese guten
Menschen.«
Er mustert mich von Kopf bis Fuß. »Aber bei euch
läuft es, wie ich sehe, ganz gut. Eine kleine Übersetzungsmaschine
auf dem Rücken. Wir hatten so etwas seinerzeit auch, aber groß,
über mehrere Zimmer … Aber so eine Handfeuerwaffe hat es bei uns
nie gegeben. Geschickt haben Sie diesen schlechten Menschen
erledigt! Wie mit einer Kanone. Sind Sie schon länger hier?«
»Seit gestern«, sage ich.
»Wir haben unsere Flugmaschinen leider nicht wieder
in Gang bekommen. Niemand da, der es machen könnte.« Abermals
mustert er mich unverhohlen. »Ja, ihr seid tüchtig. Aber bei uns
hier ist, wie Sie sehen, alles zusammengebrochen. Wie habt ihr es
geschafft? Habt ihr sie geschlagen? Oder ein Mittel gegen sie
gefunden?«
»Ja, zusammengebrochen ist bei Ihnen wirklich
alles«, sage ich vorsichtig. »Einen Tag bin ich schon hier, aber
trotzdem begreife ich nichts …«
Mir ist klar, dass er mich für jemand anderen hält.
Fürs Erste kann das sogar besser sein. Ich muss nur vorsichtig
sein, ganz vorsichtig …
»Ich sehe, dass Sie nichts begreifen«, sagt der
Alte. »Aber das ist ziemlich sonderbar. Hat sich bei euch etwa
nichts von alldem ereignet?«
»Nein«, antworte ich. »So etwas hat sich bei uns
nicht ereignet.«
Der Alte stößt plötzlich einen langen Satz aus, auf
den der Translator reagiert: »Sprache nicht codiert.«
»Ich verstehe nicht«, sage ich.
»Sie verstehen nicht. Und ich dachte, ich
beherrsche die Sprache von Transmontanien recht gut.«
»Ich bin nicht von dort«, entgegne ich. »Und bin
nie dort gewesen.«
»Woher sind Sie dann?«
Ich fasse einen Entschluss.
»Das ist jetzt nicht wichtig«, sage ich. »Sprechen
wir nicht von uns. Bei uns ist alles in Ordnung. Wir brauchen keine
Hilfe. Sprechen wir von Ihnen. Ich habe bisher wenig verstanden,
aber eins ist offensichtlich: Sie brauchen Hilfe. Was für welche?
Was brauchen Sie am Nötigsten? Und: Was geht hier bei Ihnen vor?
Darüber sollten wir jetzt sprechen. Und lassen Sie uns irgendwo
hinsetzen, ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen. Gibt es
hier einen Ort, wo wir uns in Ruhe unterhalten können?«
Er schweigt eine Zeit lang und sieht mich
aufmerksam an.
»Sie wollen also nicht sagen, wo Sie herkommen«,
sagt er schließlich. »Nun, das ist Ihr gutes Recht. Sie sind
stärker. Aber es ist dumm. Ich weiß auch so, dass Sie vom
Nördlichen Archipel kommen. Ihr seid nur deshalb verschont
geblieben, weil sie euch nicht bemerkt haben. Euer Glück. Aber ich
wüsste gern, wo ihr die letzten vierzig Jahre wart, während sie uns
hier bei lebendigem Leibe verfaulen ließen? Habt euch ein schönes
Leben gemacht. Verflucht sollt ihr sein!«
»Ihr seid nicht die Einzigen, die ein Unglück
erlebt haben«, entgegne ich ganz aufrichtig. »Jetzt wart ihr eben
an der Reihe …«
»Das freut uns«, sagt er. »Aber kommen Sie mit, wir
setzen und unterhalten uns.«
Wir betreten das Haus auf der gegenüberliegenden
Seite, gehen nach oben in den ersten Stock und stehen in einem
schmuddeligen Zimmer, in dem nichts steht als ein Tisch in der
Mitte, ein riesiger Diwan an der Wand und zwei Schemel am Fenster.
Die Fenster gehen auf den Platz hinaus, und das Zimmer ist von dem
weißblauen Licht des Pavillons erhellt. Auf dem Diwan schläft
jemand, bis zum Hals mit einem glänzenden Mantel zugedeckt. Auf dem
Tisch stehen Konservendosen und eine große Flasche aus
Metall.
Kaum dass er im Zimmer ist, sorgt der Alte für
Ordnung. Er scheucht den Schlafenden auf und jagt ihn aus dem Haus.
Einer der finsteren jungen Männer erhält den Befehl, Posten zu
beziehen, und setzt sich auf einen Schemel am Fenster, wo er die
ganze Zeit über sitzen bleibt, ohne den Platz aus den
Augen zu lassen. Der zweite junge Mann macht sich geschickt ans
Öffnen der Konservendosen. Danach geht er zur Tür und lehnt sich
mit der Schulter an den Türrahmen.
Man bietet mir einen Platz auf dem Diwan an, klemmt
mich mit dem Tisch ein und umstellt mich mit Konservendosen. In der
Metallflasche befindet sich gewöhnliches, recht sauberes Wasser,
wenngleich mit einem Beigeschmack von Eisen. Wepl wird auch nicht
vergessen. Der Soldat, den der Alte vom Diwan vertrieben hat,
stellt eine offene Konservendose vor ihn auf den Fußboden. Wepl
protestiert nicht, isst aber auch nichts davon, sondern geht zur
Tür und setzt sich vorsorglich neben den Posten. Eifrig kratzt er
sich, schnauft und leckt sich - er gibt sich alle Mühe, den
gewöhnlichen Hund zu spielen.
Unterdessen nimmt der Alte den zweiten Schemel,
setzt sich mir gegenüber, und das Gespräch beginnt.
Zuerst einmal stellt sich der Alte vor. Natürlich
erweist er sich als Gatta’uch, und zwar nicht schlechthin als
Gatta’uch, sondern als Gatta’uch-Okambomon, was mit »Regent des
gesamten Territoriums und der angrenzenden Bezirke« zu übersetzen
wäre. Ihm unterstehen die Stadt, der Hafen und ein Dutzend Stämme,
die im Umkreis von fünfzig Kilometern leben. Über die Vorgänge
jenseits dieser Grenze hat er keine klare Vorstellung, nimmt aber
an, dass es dort ähnlich aussieht. Die Gesamtbevölkerung seines
Gebiets beträgt gegenwärtig etwa fünftausend Menschen. Es gibt in
seinem Gebiet weder Industrie noch eine planmäßige Landwirtschaft.
In der Vorstadt allerdings befindet sich ein Laboratorium -
seinerzeit eins der besten der Welt. Geleitet wird es bis zum
heutigen Tage von Dra’udan persönlich (»Seltsam, dass Sie nie von
ihm gehört haben. Er hat auch Glück gehabt - ist langlebig wie
ich.«). Aber in den letzten vierzig Jahren ist es ihnen trotzdem
nicht gelungen, etwas zu erreichen. Und sie werden es
offensichtlich auch nicht mehr schaffen.
»Und deshalb«, kommt der Alte zum Schluss, »wollen
wir nicht lange darum herumreden und nicht feilschen. Ich habe eine
Bedingung: Wenn es eine Heilung gibt, dann für alle. Ohne Ausnahme.
Wenn ihr diese Bedingung akzeptiert, könnt ihr alle weiteren selbst
stellen. Welche auch immer. Ich akzeptiere sie ohne Vorbehalte.
Wenn aber nicht, dann lasst euch lieber nicht mehr hier blicken.
Wir werden natürlich alle krepieren, aber auch ihr werdet keine
Ruhe haben, solange noch einer von uns am Leben ist.«
Ich schweige. Ich warte auf einen Hinweis vom Stab.
Irgendeinen wenigstens! Aber dort begreifen sie anscheinend auch
nichts.
»Ich möchte Sie daran erinnern«, sage ich
schließlich, »dass ich nach wie vor nicht verstehe, was hier vor
sich geht.«
»Dann fragen Sie!«, ruft der Alte heftig.
»Sie haben von Heilung gesprochen. Gab oder gibt es
hier eine Epidemie?«
Das Gesicht des Alten wird zu Stein. Er schaut mir
lange in die Augen, stützt sich dann müde auf den Tisch und reibt
sich mit den Fingern die Stirn. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt:
Wir wollen nicht darum herumreden. Wir haben nicht die Absicht zu
feilschen. Sagen Sie klar und deutlich: Habt ihr ein Allheilmittel?
Wenn ja, dann diktiert die Bedingungen. Wenn nicht, dann haben wir
nichts zu bereden.«
»So kommen wir nicht weiter«, sage ich. »Gehen Sie
davon aus, dass ich absolut nichts weiß. Dass ich diese vierzig
Jahre verschlafen habe, zum Beispiel. Ich weiß nicht, was für eine
Krankheit ihr habt, weiß nicht, welche Medizin ihr braucht …«
»Und von der Invasion wissen Sie auch nichts?«,
sagt der Alte mit geschlossenen Augen.
»Fast nichts.«
»Und von der Allgemeinen Wegführung wissen Sie
nichts?«
»Fast nichts. Ich weiß, dass alle fortgegangen
sind. Ich weiß, dass irgendwie Besucher aus dem Kosmos damit zu tun
haben. Mehr nicht.«
»Beß-uch-err aus dem Kos-mos«, wiederholt der Alte
mühevoll auf russisch.
»Menschen vom Mond … Menschen vom Himmel«, sage
ich.
Er bleckt seine gelben Zähne. »Nicht vom Himmel und
nicht vom Mond. Aus dem Erdinnern!«, sagt er. »Etwas wissen Sie
also doch.«
»Ich bin durch die Stadt gegangen und habe vieles
gesehen.«
»Und bei euch dort ist überhaupt nichts geschehen?
Gar nichts?«
»Nein, nichts dergleichen«, sage ich
bestimmt.
»Und ihr habt nichts gemerkt? Habt den Untergang
der Menschheit nicht bemerkt? Hören Sie auf zu lügen! Was wollen
Sie mit diesen Lügen erreichen?«
»Lew!«, wispert unter meinem Helm Komows Stimme.
»Spiel ihm die Variante ›Kretin‹ vor!«
»Ich bin Befehlsempfänger!«, erkläre ich streng.
»Ich weiß nur das, was ich zu wissen habe! Ich tue nur das, was mir
befohlen wird! Wenn ich den Befehl erhalte zu lügen, dann lüge ich,
aber jetzt habe ich keinen solchen Befehl.«
»Und wie lautet Ihr Befehl?«
»Eine Aufklärung in Ihrem Bezirk durchführen und
alle Umstände melden.«
»Was für ein dummes Zeug!«, sagt der Alte müde und
angewidert. »Nun gut. Wie Sie wollen. Aus irgendeinem Grunde
möchten Sie sich von mir erzählen lassen, was allgemein bekannt ist
… Schön. Hören Sie zu.«
Es stellt sich heraus, dass eine Rasse widerlicher
Nichtmenschen an allem schuld ist. Diese haben sich zunächst in den
Tiefen des Planeten entwickelt, vermehrt - und dann, vor
vierzig Jahren, eine Invasion gegen die hiesige Menschheit
unternommen. Die Invasion begann mit einer beispiellosen Pandemie,
die die Nichtmenschen über den ganzen Planeten brachten. Den
Erreger der Pandemie zu finden, ist bis heute nicht gelungen. Die
Krankheit äußert sich so: Mit zwölf Jahren beginnen völlig normale
Kinder auf einmal rapide zu altern. Das Entwicklungstempo des
menschlichen Organismus nimmt ab diesem kritischen Alter in
geometrischer Progression zu. Sechzehnjährige Jungen und Mädchen
sehen aus wie vierzig; mit achtzehn setzt das Greisenalter ein, und
den zwanzigsten Geburtstag überleben die wenigsten.
Die Pandemie wütete schon drei Jahre, als die
Nichtmenschen zum ersten Mal ihre Existenz kundtaten. Sie schlugen
allen Regierungen vor, die Bevölkerung »in die Nachbarwelt«, das
heißt, zu sich ins Erdinnere, umzusiedeln. Sie versprachen, dass
dort in der Nachbarwelt die Pandemie von selbst verschwände. Und da
strömten Millionen und Abermillionen verängstigter Menschen in
spezielle, tiefe Brunnen, aus denen seither niemand mehr
zurückkehrte. So ist vor vierzig Jahren die hiesige Zivilisation
untergegangen.
Natürlich haben es nicht alle geglaubt. Nicht alle
haben sich ängstigen lassen. Ganze Familien und Familiengruppen
sind geblieben, ganze Religionsgemeinschaften. Unter den
furchtbaren Bedingungen der Pandemie kämpften sie ihren
aussichtslosen Kampf ums Dasein und um das Recht, so zu leben, wie
ihre Vorfahren gelebt hatten. Doch die Nichtmenschen ließen auch
diesen erbärmlichen Bruchteil von einem Prozent der ehemaligen
Bevölkerung nicht in Frieden. Sie machten regelrecht Jagd auf die
Kinder, auf diese letzte Hoffnung der Menschheit. Sie
überschwemmten den Planeten mit »schlechten Menschen«. Anfangs
waren es Imitationen von Menschen, die aussahen wie lustige,
angemalte Onkels; sie klingelten mit ihren Schellen und sangen
fröhliche Lieder. Und die Kinder folgten ihnen voller Freude und
verschwanden
für immer in den bernsteinfarbenen »Gläsern«. Zur gleichen Zeit
tauchten auf den großen Plätzen der Stadt die Spielzeugläden auf,
die nachts leuchteten - das Kind ging hinein und verschwand
spurlos.
»Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben uns
bewaffnet - die verlassenen Arsenale waren voll mit Waffen. Wir
haben unsere Kinder die ›schlechten Menschen‹ fürchten gelehrt und
dann auch, sie mit dem Gewehr zu vernichten. Wir haben die Kabinen
in die Luft gejagt und die Spielzeugläden unter Beschuss genommen,
bis wir begriffen, dass es klüger ist, Wachposten in der Nähe
aufzustellen und unvorsichtige Kinder auf der Schwelle abzufangen.
Aber das war nur der Anfang …«
Mit unerschöpflicher Erfindungsgabe schickten die
Nichtmenschen immer neue Typen von Kinderjägern an die Oberfläche.
Es erschienen die »Ungeheuer«, die mit den Gewehren fast nicht
getroffen werden konnten, wenn sie die Kinder angriffen. Es
erschienen bunte Riesenschmetterlinge, die auf das Kind
hinunterfielen, es umschlangen und zusammen mit ihm verschwanden.
Diese Schmetterlinge waren kugelfest. Und schließlich die neueste
Entwicklung: Dreckskerle, die sich nicht im Mindesten von einem
gewöhnlichen Soldaten unterscheiden lassen. Sie nehmen das
nichtsahnende Kind einfach bei der Hand und führen es weg. Manche
von ihnen können sogar sprechen.
»Wir wissen, dass wir praktisch keine
Überlebenschance haben. Die Pandemie hört nicht auf, obwohl wir uns
das anfangs erhofft hatten. Nur einen von hunderttausend verschont
die Krankheit. Mich zum Beispiel und Dra’udan … und noch einen
Jungen - er ist vor meinen Augen groß geworden, er ist jetzt
achtzehn und sieht aus wie achtzehn. Wenn Sie das alles nicht
gewusst haben, dann sollen Sie es jetzt wissen. Wenn Sie es
wussten, dann vergessen Sie nicht, dass wir uns über unsere Lage
völlig im Klaren sind. Und wir
sind bereit, jede von euren Bedingungen anzunehmen - für euch zu
arbeiten, uns euch unterzuordnen. Jede Bedingung außer einer. Wenn
es eine Heilung gibt, dann für alle. Keinerlei Elite, keinerlei
Auserwählte!«
Der Alte verstummt, greift nach dem Wasserbecher
und trinkt hastig. Der Soldat an der Tür tritt von einem Fuß auf
den anderen und gähnt, wobei er die Hand vor den Mund hält. Er
sieht wie fünfundzwanzig aus. Und wirklich? Dreizehn? Fünfzehn? Ein
Halbwüchsiger …
Ich sitze bewegungslos da und bemühe mich, mein
regloses Gesicht zu bewahren. Im Unterbewusstsein habe ich etwas
Derartiges erwartet, doch was ich gerade von diesem Augenzeugen und
Betroffenen gehört habe, will mir einfach nicht in den Kopf. Die
Fakten, die er dargelegt hat, rufen keinen Zweifel hervor, aber es
ist wie im Traum: Jedes Element für sich genommen ist sinnvoll,
aber alles zusammen genommen wirkt völlig absurd. Vielleicht liegt
es daran, dass mir die Version von den Wanderern, die bei
uns auf der Erde vorbehaltlos geteilt wird, in Fleisch und Blut
übergegangen ist.
»Woher wissen Sie, dass es Nichtmenschen sind?«,
frage ich. »Haben Sie sie gesehen? Mit eigenen Augen?«
Der Alte krächzt. Sein Gesicht nimmt einen
furchterregenden Ausdruck an.
»Die Hälfte meines sinnlosen Lebens würde ich dafür
geben, wenigstens einen von ihnen vor mir zu sehen«, sagt er
heiser. »Mit diesen Händen hier … Selbst … Aber ich habe sie
natürlich nicht gesehen. Dafür sind sie zu vorsichtig und zu feige.
Ja, gewiss hat niemand sie gesehen - bis auf diese elenden Verräter
in der Regierung vor vierzig Jahren. Und den Gerüchten zufolge
haben sie gar keine Form, sind wie Wasser oder Dampf.«
»Dann verstehe ich nicht«, sage ich, »wozu Wesen,
die keine Form haben, mehrere Milliarden Menschen zu sich unter die
Erde locken sollten?«
»Ja, verdammt nochmal!« Der Alte hebt die Stimme.
»Das sind doch Nichtmenschen! Wie kann unsereins beurteilen,
was Nichtmenschen brauchen? Vielleicht Sklaven. Vielleicht Nahrung.
Oder vielleicht Baumaterial für ihre Dreckskerle. Wo ist da der
Unterschied? Sie haben unsere Welt zerstört! Sie lassen uns auch
jetzt nicht in Frieden, stellen uns nach wie Ratten.«
Und da plötzlich verzerrt sich sein Gesicht
fürchterlich. Mit einer für sein Alter erstaunlichen Wendigkeit
springt er zur gegenüberliegenden Wand und stößt dabei krachend den
Schemel beiseite. Ehe ich mich’s versehe, hält er einen großen
vernickelten Revolver in Händen und zielt genau auf mich. Die
schläfrigen Posten sind munter geworden und tasten, ohne die Augen
von mir abzuwenden, mit ungeordneten Bewegungen nach ihren
Gewehren. Auf ihren Gesichtern liegt ein Ausdruck von Misstrauen
und Angst, und sie wirken auf einmal ganz kindlich …
»Was ist passiert?«, frage ich, bemüht, jede
Bewegung zu vermeiden.
Der vernickelte Lauf schwankt hin und her, und die
Wachposten, die endlich ihre Gewehre gefunden haben, lassen im
selben Moment die Verschlüsse klicken.
»Dein idiotischer Anzug hat letztlich doch noch
funktioniert«, sagt Wepl in seiner schnalzenden Sprache. »Du bist
fast unsichtbar. Nur das Gesicht sieht man. Hast keine Form, wie
Wasser oder Dampf. Übrigens, der Alte hat schon nicht mehr vor zu
schießen. Soll ich ihn trotzdem ausschalten?«
»Nein«, sage ich auf Russisch.
Der Alte hat endlich die Stimme wiedergefunden. Er
ist weißer als eine Wand und spricht stockend, aber natürlich nicht
vor Angst, sondern vor Hass. Ein mächtiger, kraftvoller Alter
…
»Verfluchter unterirdischer Wechselbalg!«, sagt er.
»Leg die Hände auf den Tisch! Die linke auf die rechte! So …«
»Das ist ein Missverständnis«, sage ich verärgert.
»Ich bin kein Wechselbalg. Ich trage einen Spezialanzug. Er kann
mich unsichtbar machen, nur funktioniert er schlecht.«
»Aha, ein Anzug?«, höhnt der Alte. »Auf dem
Nördlichen Archipel haben sie gelernt, Tarnkappen zu machen!«
»Auf dem Nördlichen Archipel haben sie eine Menge
gelernt«, sage ich. »Stecken Sie bitte Ihre Waffe weg, und lassen
Sie uns in Ruhe Klarheit schaffen.«
»Ein Dummkopf bist du«, sagt der Alte. »Hättest
wenigstens einen Blick auf unsere Karte werfen können. Es gibt gar
keinen Nördlichen Archipel. Ich habe dich gleich durchschaut, habe
aber einfach nicht glauben können, dass jemand derart dreist
ist.«
»Willst du dir das noch länger gefallen lassen?«,
sagt Wepl schnalzend. »Komm, du übernimmst den Alten und ich die
beiden Jungen.«
»Erschieß den Hund!«, befiehlt der Alte einem
Posten, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Dir zeig ich den ›Hund‹!«, erklärt Wepl in der
reinsten Sprache der Hiesigen. »Geschwätziger alter Bock!«
Da gehen den Jungen die Nerven durch, und es
beginnt eine Schießerei …