1. JUNI’78
Lew Abalkins Lehrer
Entgegen meinen Befürchtungen stand das Gehöft
»Mückenau« an einem hohen Abhang über dem Wasser, war heftigen
Winden ausgesetzt, und Mücken gab es dort auch nicht. Der Hausherr
empfing mich sehr freundlich und ohne jede Verwunderung. Wir gingen
auf die Veranda und setzten uns in Korbsessel, die um ein kleines
antikes Tischchen herumgruppiert waren; darauf standen eine
Schüssel mit frischen Himbeeren, ein Krug mit Milch und einige
Gläser.
Ich entschuldigte mich für mein plötzliches
Erscheinen, was Fedossejew mit einem stillen Kopfnicken quittierte.
Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ruhiger Erwartung, beinahe
Gleichgültigkeit. Überhaupt zeigte sein Gesicht kaum eine Regung -
wie bei den meisten Menschen dieses Alters, die sich mit ihren über
hundert Jahren einen klaren Geist und einen gesunden Körper bewahrt
haben. Sein Gesicht war eckig, sonnengebräunt und fast faltenlos;
die dichten, buschigen Augenbrauen standen über den Augen vor wie
eine Sonnenblende. Sonderbar, die rechte Braue war pechschwarz, die
linke hingegen weiß - wirklich weiß, nicht grau.
Ich stellte mich ausführlich vor, das heißt, ich
erzählte meine Legende: Ich war Journalist, von Beruf
Tierpsychologe, und sammelte zurzeit Material für ein Buch, das ich
über die Kontakte des Menschen mit den Kopflern schreiben wollte,
und so weiter und so fort. Sie wissen sicher, sagte ich, dass Ihr
Schüler Lew Abalkin bei diesen Kontakten eine herausragende Rolle
gespielt hat. Ich habe ihn früher einmal kennengelernt. Doch das
ist lange her, und wir haben uns später aus den Augen verloren. Für
das Buch habe ich nun versucht, ihn ausfindig zu machen, doch die
KomKon sagte mir, Lew Wjatscheslawowitsch sei nicht auf der Erde
und der Zeitpunkt
seiner Rückkehr ungewiss. Bis dahin möchte ich jedoch möglichst
viel über seine Kindheit erfahren: Wie alles begann, warum es sich
so und nicht anders entwickelte. In erster Linie ist es die
Psychologie des Forschers, die mich interessiert. Sein Ausbilder
lebt leider nicht mehr und seine Freunde kenne ich nicht; deshalb
habe ich Sie, seinen Lehrer, aufgesucht, um etwas über ihn zu
erfahren. Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass bei einem
Menschen alles in der Kindheit seinen Ausgang nimmt, und zwar in
der frühesten Kindheit …
Offen gestanden, hatte ich die ganze Zeit über
gehofft, Fedossejew würde mich - am besten gleich zu Beginn meiner
Lügengeschichte - unterbrechen und rufen: »Was für ein Zufall, erst
gestern war Lew bei mir!« Doch ich wurde nicht unterbrochen und
musste alles bis zu Ende erzählen. Mit dem intelligentesten
Gesichtsausdruck legte ich meine hastig zusammengezimmerten
Ansichten dar: dass sich die schöpferische Persönlichkeit in der
Kindheit herausbilde und nicht etwa in der Pubertät, auch nicht in
der Jugend oder im Erwachsenenalter. Dass sie sich wirklich
herausbilde und nicht einfach nur angelegt werde oder zu keimen
beginne. Aber damit nicht genug: Als ich schließlich alles gesagt
und mich völlig verausgabt hatte, schwieg der Alte noch eine ganze
Minute. Und dann fragte er plötzlich, wer oder was eigentlich diese
Kopfler seien.
Ich war wirklich sehr überrascht. Lew Abalkin hatte
sich also seinem ehemaligen Lehrer gegenüber nicht seiner Erfolge
gerühmt! Ich finde, man muss schon in höchstem Maße menschenscheu
und verschlossen sein, wenn man nicht einmal vor seinem
Lehrer mit dem, was man erreicht hat, prahlt.
Bereitwillig erklärte ich, dass es sich bei den
Kopflern um eine vernunftbegabte kynoide Rasse handelte, die
infolge von Strahlenmutationen auf dem Planeten Saraksch entstanden
sei.
»Kynoiden? Hunde?«
»Ja. Intelligente Hundeartige. Sie haben übergroße
Köpfe, daher der Name Kopfler.«
»Also befasst sich Ljowa mit Hundeartigen. Hat
erreicht, was er wollte …«
Ich warf ein, dass ich nicht wüsste, womit sich
Ljowa zurzeit befasst; vor zwanzig Jahren jedoch hätte er sich mit
den Kopflern beschäftigt, und das mit großem Erfolg.
»Er mag Tiere sehr gern«, sagte Sergej Pawlowitsch.
»Ich war immer der Überzeugung, er solle Tierpsychologe werden. Als
die Lenkungskommission ihn dann der Progressoren-Schule zuteilte,
habe ich protestiert, so gut ich konnte, aber sie haben nicht auf
mich gehört. Damals war alles viel komplizierter. Vielleicht, wenn
ich nicht protestiert hätte …«
Er verstummte und schenkte mir Milch ein. Ein sehr,
sehr zurückhaltender Mensch. Keinerlei Ausrufe, kein: »Ljowa! Ja,
klar! Das war ein prima Junge!« Aber es konnte natürlich auch sein,
dass Ljowa kein prima Junge gewesen war …
»Was wollen Sie also konkret von mir wissen?«,
erkundigte sich Sergej Pawlowitsch.
»Alles!«, antwortete ich, »wie er war, was ihn
interessierte. Welche Freunde er hatte. Seine Erfolge in der
Schule. Alles, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist.«
»Gut«, sagte Sergej Pawlowitsch ohne jeden
Enthusiasmus. »Ich will es versuchen.«
Lew Abalkin war ein sehr verschlossener Junge.
Schon seit frühester Kindheit. Seine Verschlossenheit fiel sofort
ins Auge. Sie schien nicht von mangelndem Selbstvertrauen oder
einem Minderwertigkeitsgefühl herzurühren, sondern von der
Tatsache, dass er immerzu mit etwas anderem beschäftigt war, als
wollte er keine Zeit auf seine Mitmenschen verschwenden und sei
zutiefst von seiner eigenen Welt in Anspruch genommen. Diese Welt
schien nur aus ihm selbst und allem Lebendigen ringsum zu bestehen
- mit Ausnahme von
Menschen. Dieses Phänomen sei bei kleinen Kindern gar nicht so
selten, sagte Fedossejew, nur sei Abalkin darin besonders
talentiert gewesen. Etwas anderes aber war seiner
Meinung nach viel erstaunlicher: Bei all seiner Verschlossenheit
war Abalkin immer mit großer Begeisterung bei Wettbewerben oder im
Schultheater aufgetreten. Allerdings hatte er es kategorisch
abgelehnt, in Stücken mitzuspielen, und trat nur solo auf. Meist
trug er etwas vor, sang voller Hingabe ein Lied - mit einem für ihn
ganz ungewöhnlichen Leuchten in den Augen. Auf der Bühne blühte er
geradezu auf. Kam er aber später zurück in den Saal, wurde er
sofort wieder er selbst: ausweichend, schweigsam, unzugänglich. Und
das nicht nur dem Lehrer, sondern auch allen Kindern gegenüber. Es
gelang allerdings nie, die Ursache dafür herauszufinden. Man konnte
nur vermuten, dass seine Begabung im Umgang mit der belebten Natur
alle anderen Seelenregungen derart überwog, dass ihn die Kinder in
seiner Umgebung, wie überhaupt alle Menschen, einfach nicht
interessierten. In Wirklichkeit war alles sicher wesentlich
komplizierter - seine Verschlossenheit und das Versunkensein in der
eigenen Welt waren wohl die Folge Tausender kleiner Ereignisse, die
dem Blick des Lehrers verborgen blieben. Der Lehrer erinnerte sich
nur an eine Begebenheit: Nach einem Platzregen ging Lew die Wege im
Park entlang, sammelte die hervorgekrochenen Regenwürmer auf und
warf sie zurück ins Gras. Die anderen Kinder fanden das ulkig und
lachten; es waren aber auch solche darunter, die ihn grausam
auslachten. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, gesellte sich der
Lehrer zu Lew und begann, mit ihm gemeinsam Regenwürmer zu sammeln
…
»Aber ich fürchte«, sagte Fedossejew, »dass ich
nicht sehr überzeugend war. Er hat mir sicher nicht geglaubt, dass
mich das Schicksal der Regenwürmer tatsächlich interessierte. Lew
aber besaß noch eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft:
absolute Ehrlichkeit. Ich kann mich an keinen einzigen Fall
erinnern, wo er gelogen hätte. Nicht einmal in dem Alter, wo Kinder
oft und ohne jeden Grund lügen - einzig und allein, weil es ihnen
Spaß macht. Lew aber log nicht, mehr noch: Er verachtete Lügner.
Auch wenn sie nur zum Spaß logen. Vielleicht hat er in seinem Leben
einmal voller Entsetzen erkennen müssen, dass Menschen manchmal die
Unwahrheit sagen. Aber auch diesen Moment in seinem Leben habe ich
nicht mitbekommen. All das wird Ihnen jedoch kaum weiterhelfen. Sie
möchten sicher lieber wissen, wie sich bei ihm der künftige
Tierpsychologe bemerkbar machte.«
Und Sergej Pawlowitsch fing an zu erzählen.
Das hatte ich mir nun selbst eingebrockt. Also
lauschte ich mit dem aufmerksamsten Gesichtsausdruck, warf ab und
zu ein »Aha« oder »Ach so?« ein und erlaubte mir einmal sogar den
Ausruf: »Ja, ja! Das ist genau, was ich brauche!«
Manchmal verabscheue ich meinen Beruf.
Dann fragte ich: »Freunde hatte er also
kaum?«
»Freunde hatte er überhaupt keine«, sagte Sergej
Pawlowitsch. »Und ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er die
Schule verlassen hat. Die anderen Kinder aus seiner Gruppe haben
mir aber erzählt, dass er sich mit ihnen auch nicht trifft. Sie
reden nicht gern darüber, aber so viel ich verstanden habe, weicht
er Begegnungen einfach aus.«
Plötzlich rief er: »Aber warum interessieren Sie
sich ausgerechnet für Lew? Ich habe hundertzweiundsiebzig Menschen
auf das Leben vorbereitet. Warum suchen Sie von all diesen Schülern
gerade ihn? Bitte verstehen Sie, ich betrachte ihn nicht als meinen
Schüler. Ich kann es nicht. Er ist mein Misserfolg, mein einziger
Misserfolg! Seit dem ersten Tag, zehn Jahre lang, habe ich
ununterbrochen versucht, Kontakt zu ihm zu finden, eine, wenn auch
nur zarte Verbindung zu ihm zu knüpfen. Ich habe über ihn zehnmal
mehr nachgedacht als über jeden anderen meiner Schüler. Ich habe
alles
versucht, wirklich alles, aber was ich auch unternahm, es wendete
sich zum Schlechten.«
»Sergej Pawlowitsch!«, entgegnete ich. »Was sagen
Sie denn da? Abalkin ist ein großer Experte, ein Wissenschaftler
von Rang, ich bin ihm selbst begegnet …«
»Und wie haben Sie ihn gefunden?«
»Ein bemerkenswerter Bursche und leidenschaftlicher
Forscher. Es war auf der ersten Expedition zu den Kopflern. Alle
schätzten ihn. Komow selbst setzte hohe Erwartungen in ihn. Und er
hat diese Erwartungen, wohlgemerkt, erfüllt!«
»Ich habe herrliche Himbeeren«, sagte er. »Die
frühesten in der ganzen Region. Probieren Sie, bitte …«
Ich stockte kurz und nahm dann die Schüssel mit den
Himbeeren entgegen.
»Kopfler«, sagte er ein wenig bitter, »mag sein,
mag sein. Ich weiß ja selbst, dass er begabt ist. Nur ist das nicht
im Geringsten mein Verdienst.«
Eine Zeit lang aßen wir schweigend Himbeeren mit
Milch. Ich hatte das Gefühl, gleich werde er das Gespräch auf mich
lenken. Es schien, dass er nicht länger über Lew Abalkin sprechen
wollte, und die Höflichkeit verlangte, nun ein wenig über mich zu
reden.
Ich kam ihm zuvor: »Ich bin Ihnen sehr dankbar,
Sergej Pawlowitsch. Sie haben mir viele interessante Informationen
gegeben. Es ist nur schade, dass Lew keine Freunde hatte. Ich
hoffte doch sehr, mit einem von ihnen sprechen zu können.«
»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Namen seiner
Mitschüler nennen«. Dann schwieg er einen Augenblick und sagte:
»Nein, versuchen Sie, Maja Glumowa ausfindig zu machen.«
Sein Gesicht hatte plötzlich einen sonderbaren
Ausdruck angenommen. Was war ihm wohl gerade eingefallen, welche
Assoziationen hatte er im Zusammenhang mit diesem Namen? Ich wusste
es nicht, war mir aber sicher, dass sie sehr,
sehr unangenehm waren. Er bekam sogar dunkelrote Flecken im
Gesicht.
»Eine Schulfreundin?«, erkundigte ich mich, um ihm
aus der Verlegenheit zu helfen.
»Nein«, sagte er, »das heißt, sie war natürlich an
unserer Schule. Maja Glumowa. Ich glaube, sie ist später
Historikerin geworden.«