Dokument 1
An die KomKon 2
Sektor »Ural/Norden«
Maxim Kammerer persönlich
Dienstsache
Datum: 3. Juni’94
Autor: I. Bromberg, langjähriger Berater der
KomKon 1, Doktor der Geschichtswissenschaften, Herodotpreisträger
(’63,’69 und’72), Professor, Träger des Kleinen
Jan-Amos-Komenský-Preises
(’57), Doktor der Xenopsychologie, Doktor der Soziotopologie,
Ordentliches Mitglied der Akademie für Soziologie (Europa),
Mitglied und Korrespondent des Laboratoriums (der Akademie
der Wissenschaften) der Großen Tagora, Magister der Realisierungen
der Perceval-Abstraktionen
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Arbeitsmodell für die Progressorentätigkeit
der Wanderer im System der Erdenmenschheit
Lieber Kammerer!
Bitte fassen Sie den förmlichen Briefkopf, mit dem
ich das Schreiben versehen habe, nicht als das Gespött eines alten
Mannes auf. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass meine Antwort
sowohl persönlicher Natur ist, als sie auch ganz offiziellen
Charakter trägt. An den Briefkopf Ihrer Rapporte und Berichte
erinnere ich mich noch gut … seit dem Moment, als der arme Sikorsky
sie einmal vor mir auf den Tisch geworfen hat - als ziemlich
erbärmliches Argument.
Meine Einstellung zu Ihrer Organisation hat sich
seitdem nicht geändert. Sie ist Ihnen zweifellos bekannt, denn ich
habe nie ein Hehl daraus gemacht. Aber ich danke Ihnen für das
Material, das Sie mir freundlicherweise zusandten und das ich mit
großem Interesse studiert habe. Ich möchte Ihnen versichern, dass
Sie bei dieser Ausrichtung Ihrer Arbeit (aber nur bei dieser!) in
mir einen begeisterten Mitarbeiter und Mitstreiter finden
werden.
Ich selbst habe viele Jahre lang Überlegungen zur
Natur der Wanderer angestellt - wie auch zur
Unvermeidlichkeit ihrer Konfrontation mit der Erdzivilisation. Und
ich weiß nicht, ob es ein Zufall war, aber ich erhielt Ihre
»Modellübersicht« just in dem Moment, als ich mich gerade mit den
Ergebnissen und Schlussfolgerungen meiner langjährigen Überlegungen
beschäftigen wollte. Da ich jedoch davon überzeugt
bin, dass es keine Zufälle gibt, scheint mir, dass die Zeit für
diese Frage wohl einfach reif war.
Nun habe ich weder Zeit noch Lust, ihre Unterlagen
einer detaillierten Kritik zu unterziehen, kann aber nicht umhin,
hier zumindest Folgendes anzumerken: Die Modelle »Krake« und
»Conquistador« waren so primitiv, ja geradezu albern, dass ich
einen Lachanfall bekam. Das Modell »Neue Luft« erweckte zwar den
Eindruck, als sei es nicht völlig trivial - entbehrte aber dennoch
jeglicher seriöser Beweisgründe. Acht Modelle! Achtzehn
Mitwirkende. Und darunter Leute wie Karibanow, Yasuda, Mikić! Zum
Teufel, da hätte man doch Bedeutenderes erwarten können! Wie Sie
meinen, Kammerer. Mir allerdings drängt sich der Verdacht auf, als
hätten Sie diesen Großmeistern Ihre »Sorge angesichts des Mangels
an Einblick in dieser Frage« nicht wirklich vermitteln können. Denn
sie haben sich ihrer Aufgabe mehr schlecht als recht
entledigt.
Im Folgenden gebe ich Ihnen eine kurze
Zusammenfassung meines künftigen Buches, dessen Titel lauten soll:
»Der ›Monokosmos‹ - Gipfel oder erster Schritt? Anmerkungen zur
Evolution der Evolution«. Auch hier habe ich weder Zeit noch Lust,
meine Annahmen durch eine detaillierte Beweisführung zu begründen.
Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich für jede meiner Annahmen
schon heute ausreichend Argumente liefern kann. Falls Sie also
diesbezüglich Fragen haben, werde ich sie gerne beantworten.
(Übrigens: Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass Ihr Ersuchen um
Konsultation wohl die erste und bislang einzige gesellschaftlich
nützliche Handlung der KomKon 2 seit ihrer Gründung gewesen
ist.)
Also dann: der Monokosmos.
Jede planetare Intelligenz - sei sie technologisch,
rousseauistisch oder gar heronisch - durchläuft im
Evolutionsprozess erster Ordnung den Weg vom Zustand maximaler
Zersplitterung (Wildheit, gegenseitige Aggression, Armut der
Emotionen, Misstrauen) bis zum Zustand maximaler Vereinigung bei
zugleich gewahrter Individualität (Freundlichkeit, hohes Niveau der
Beziehungen, Altruismus, Geringschätzung des Erworbenen). Dieser
Prozess wird von biologischen, biosozialen und sozialen Gesetzen
gesteuert. Er ist gut erforscht und für uns nur insofern von
Belang, als er zu der Frage führt: Was passiert danach? Lassen wir
einmal die allzu romantischen Thesen der Theorie vom vertikalen
Progress beiseite - dann sehen wir, dass es für die Intelligenz auf
dieser Stufe nur zwei reale und dabei sehr verschiedene
Möglichkeiten gibt: Entweder Stillstand, Selbstgenügsamkeit,
Abkapselung und Verlust des Interesses an der physischen Welt. Oder
es folgt die Evolution zweiter Ordnung, d. h. eine Evolution, die
sowohl plan- als auch steuerbar ist: der Monokosmos.
Die Synthese der Intelligenzen ist unvermeidlich,
und sie eröffnet unermesslich viele neue Facetten für die
Wahrnehmung der Welt. Das führt zu einem exponentiellen Anwachsen
von Quantität und vor allem Qualität der zur Verfügung stehenden
Information. Das wiederum führt zur Verringerung des Leidens auf
ein Minimum und zur Erhöhung der Freude auf ein Maximum. Der
Begriff »Zuhause« dehnt sich auf die Größe des Universums aus.
(Sicher ist das auch der Grund, warum man diesen unverantwortlichen
und oberflächlichen Begriff der »Wanderer« geprägt hat.) Es
wird ein neuer Metabolismus entstehen, der bewirkt, dass Gesundheit
und Leben im Prinzip ewig andauern. Das Alter eines Individuums
wird mit dem Alter kosmischer Objekte vergleichbar sein - und das
ohne jegliche psychische Ermüdung. Das Individuum des Monokosmos
braucht keine Schöpfer. Es ist selbst zugleich Schöpfer und
Nutznießer seiner Kultur. Es kann anhand eines Wassertropfens nicht
nur das Bild des Ozeans entstehen lassen, sondern auch die ganze
Welt der darin lebenden
Wesen, einschließlich der vernunftbegabten. Und all dies wird
begleitet sein von einem ständigen, unstillbaren Hunger nach neuen
Reizen.
Jedes neue Individuum wird als synkretistisches
Kunstwerk erschaffen: An seiner Entstehung wirken sowohl die
Physiologen mit als auch die Genetiker, die Ingenieure, die
Psychologen, die Ästhetiker, die Pädagogen und die Philosophen des
Monokosmos. Dieser Vorgang wird sicher mehrere Erdjahrzehnte in
Anspruch nehmen und die interessanteste und angesehenste Art von
Beschäftigung für die Wanderer sein. Der gegenwärtigen
Menschheit ist nichts bekannt, was mit dieser Art von Kunst
vergleichbar wäre - ausgenommen vielleicht die in der Geschichte
mehr als seltenen Fälle einer Großen Liebe.
»Erschaffen, ohne zu zerstören!« - das ist
die Maxime des Monokosmos.
Der Monokosmos kann nicht anders: Er wird seinen
eigenen Entwicklungsweg und seinen eigenen Modus vivendi für den
einzig richtigen halten. Bilder von zersplitterten Intelligenzen,
die noch nicht reif sind für die Eingliederung, bereiten ihm
Schmerz und Verzweiflung. Aber er muss abwarten, bis sich die
Intelligenz im Verlauf der Evolution erster Ordnung bis zum Zustand
eines gesamtplanetaren Soziums entwickelt hat. Erst dann nämlich
kann der Eingriff in die Biostruktur einsetzen, der den Träger der
Intelligenz darauf vorbereitet, in den monokosmischen Organismus
eines Wanderers überzugehen. Eine Einmischung der
Wanderer in die Geschicke von Zivilisationen, die noch in
sich zersplittert sind, ergibt hingegen keinen Sinn.
Eine denkwürdige Situation: Die Progressoren der
Erde wollen im Grunde bei den vom Unglück getroffenen
Zivilisationen den historischen Prozess beschleunigen, der zur
Schaffung verbesserter, ja vollkommener sozialer Strukturen führen
soll. Indem sie das tun, arbeiten sie gleichsam an der
Bereitstellung neuer Materialreserven für die zukünftige Arbeit
des Monokosmos.
Wir kennen derzeit drei Zivilisationen, die sich
für wohl entwickelt halten:
Die Leonidaner. Eine sehr, sehr alte Zivilisation
(dreihunderttausend Jahre oder älter - was auch immer der
verstorbene Pak Hin sonst behauptet haben mag). Sie ist der
Prototyp einer »langsamen« Zivilisation, die im Einklang mit der
Natur stehen geblieben ist.
Die Tagoraner. Eine Zivilisation des
hypertrophierten Sicherheitsdenkens. Dreiviertel all ihrer
Kapazitäten konzentrieren sie auf die Erforschung schädlicher
Folgen, die aus einer Entdeckung, einer Erfindung, einem neuen
technologischen Prozess usw. resultieren könnten. Uns erscheint
eine solche Zivilisation seltsam, aber nur deshalb, weil wir nicht
begreifen, wie interessant es ist, schädlichen Folgen vorzubeugen
und wie viel intellektuelle und emotionale Befriedigung dies
bedeuten kann. Den Fortschritt zu bremsen ist genauso spannend, wie
ihn voranzutreiben - alles hängt von der Ausgangssituation und von
der Erziehung ab. Als Konsequenz gibt es auf der Tagora nur
öffentliche Verkehrsmittel, keinerlei Luftverkehr, dafür aber ein
hervorragend entwickeltes Kommunikationsnetz auf Leiterbasis.
Die dritte Zivilisation ist unsere. Und jetzt
verstehen wir, warum sich die Wanderer ausgerechnet und in
erster Linie in unser Leben einmischen. Wir bewegen uns. Wir
bewegen uns, und können uns deshalb bei der Wahl unserer
Bewegungsrichtung irren.
Heute erinnert sich niemand mehr an die sogenannten
»Anschieber«, die mit fanatischem Enthusiasmus versucht haben, den
Fortschritt bei den Tagoranern und Leonidanern zu forcieren.
Inzwischen weiß jeder, dass es ebenso sinnlos wie aussichtslos ist,
solche in ihrer Art vollkommenen Zivilisationen gewaltsam
anzuschieben. Es ist, als wollte man das
Wachstum eines Baums, sagen wir, einer Eiche, beschleunigen, indem
man ihn an den Zweigen emporzieht. Die Wanderer aber sind
keine »Anschieber«; bei ihnen gibt es keine Aufgabe, wie »den
Fortschritt forcieren«, und wird es auch nicht geben. Ihr Ziel ist
es, die für die Eingliederung in den Monokosmos herangereiften
Individuen zu suchen, zu selektieren, auf die Eingliederung
vorzubereiten und sie schließlich mit dem Monokosmos zu vereinen.
Ich weiß nicht, nach welchem Prinzip die Wanderer ihre
Auswahl treffen. Das ist sehr schade, denn ob es uns gefällt oder
nicht - wenn wir ehrlich sind und es offen aussprechen, geht es um
Folgendes.
Erstens: Begibt sich die Menschheit auf den Weg der
Evolution zweiter Ordnung, bedeutet das im Prinzip die Umwandlung
des Homo sapiens in einen Wanderer.
Zweitens: Höchstwahrscheinlich kommt bei weitem
nicht jeder Homo sapiens für eine solche Umwandlung infrage.
Fazit:
Die Menschheit zerfällt in zwei ungleiche Teile;
die Menschheit zerfällt in zwei ungleiche Teile, und zwar nach
einem uns unbekannten Parameter; die Menschheit zerfällt in zwei
ungleiche Teile, und zwar nach einem uns unbekannten Parameter,
wobei der kleinere Teil voranstrebt und den größeren für immer
überholt; die Menschheit zerfällt in zwei ungleiche Teile, und zwar
nach einem uns unbekannten Parameter, ihr kleinerer Teil strebt
voran und überholt den größeren für immer, und das geschieht nach
dem Willen und durch die Kunst einer Superzivilisation, die der
Menschheit absolut fremd ist.
Lieber Kammerer! Machen Sie eine Analyse dieser
neuen Sachlage - als soziopsychologische Übung sozusagen.
Die Grundprinzipien der Progressorenstrategie des
Monokosmos dürften Ihnen nun klargeworden sein. Jetzt können
Sie sicher besser als ich die verschiedenen Stoßrichtungen für
eine Konterstrategie festlegen und eine Taktik finden, wie die
Aktivitätsmomente der Wanderer aufzudecken sind. Es versteht
sich von selbst, dass die Suche nach geeigneten Individuen, ihre
Selektion und Vorbereitung auf die Eingliederung von bestimmten
Umständen und Ereignissen begleitet wird, die aufmerksamen
Beobachtern nicht verborgen bleiben werden. Denkbar sind
beispielsweise das Entstehen von Massenphobien; neue Heilslehren;
das Auftauchen von Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten;
unerklärliches Verschwinden von Menschen; plötzlich, wie durch
Zauberei entstandene neue Talente usw. Ich möchte Ihnen zudem
unbedingt raten, ein waches Auge auf die Tagoraner und Kopfler zu
haben, die auf der Erde akkreditiert sind. Sie sind weitaus
empfänglicher für das Andersartige und Unbekannte als wir. (Auch
das Verhalten der irdischen Tiere sollte man daraufhin beobachten,
insbesondere das der Herdentiere sowie von Tieren, die ansatzweise
über Intellekt verfügen.)
Ihre Aufmerksamkeit sollte dabei natürlich nicht
nur der Erde, sondern auch unserem Sonnensystem als Ganzem gelten,
den Äußeren Welten und vor allem den neuen Äußeren Welten.
Ich wünsche Ihnen Erfolg,
Ihr I. Bromberg