ERSTER TEIL
Robinson
1
Maxim öffnete einen Spaltbreit die Luke, lehnte
sich hinaus und blickte misstrauisch nach oben. Der Himmel hing
hier tief und schien sonderbar schwer; er hatte nicht jene heitere
Transparenz, die von der Unendlichkeit des Universums zeugt und von
der Vielzahl seiner bewohnten Welten. Es war ein geradezu
biblisches Firmament, still und undurchdringlich. Und gleichmäßig
phosphoreszierend. Gewiss ruhte dieses Himmelsgewölbe auf den
mächtigen Schultern eines hiesigen Atlas. Maxim suchte am Himmel
nach dem Loch, das sein Raumschiff beim Durchbrechen geschlagen
haben musste, doch es war keines da. Er entdeckte lediglich zwei
große schwarze Kleckse, die allmählich zerliefen, wie Tuschetropfen
in einem Wasserglas. Maxim stieß die Luke ganz auf und sprang
hinaus in das hohe trockene Gras.
Die Luft war heiß und schwül. Es roch nach Staub
und altem Eisen, nach zerdrücktem Grün, nach Leben. Nach Tod roch
es auch, einem lange vergangenen, nicht mehr fassbaren … Das Gras
reichte Maxim bis zum Gürtel; in der Nähe sah er die dunklen
Umrisse verwilderten Gebüschs und trostlose, verkrüppelte Bäume. Es
war beinahe hell - wie in einer lichten Mondnacht auf der Erde,
doch es fehlten die Schatten und der zartblaue Schein des irdischen
Mondlichts. Alles
wirkte grau, staubig und öde. Das Schiff stand inmitten eines
riesigen Talkessels mit sanft abfallenden Hängen; ringsum erhob
sich das Gelände bis hinauf zum verschwommenen Horizont. Aber eines
war merkwürdig: Ganz in der Nähe strömte breit und ruhig ein Fluss,
und er floss nach Westen … einen der Abhänge hinauf.
Maxim ging um das Raumschiff herum und strich mit
der Hand über die kühle, etwas feuchte Oberfläche. Die Spuren der
Einschläge fand er exakt an den Stellen, wo er sie erwartet hatte:
Eine unangenehm tiefe Beule unter dem Indikatorring; sie war
entstanden, als das Schiff erst jäh nach oben gerissen und dann zur
Seite geworfen wurde. Dadurch fiel der Kyberpilot aus und Maxim
musste die Steuerung kurzerhand selbst übernehmen. Die Kerbe neben
dem rechten Sensorenblock, einem der »Augen« seines Schiffs,
entstand zehn Sekunden später, als das Schiff kopfüber nach unten
stürzte und dann sozusagen auf einem Auge blind wurde. Wieder sah
Maxim zum Himmel. Die schwarzen Flecken waren jetzt kaum noch zu
sehen. Ein Meteoriteneinschlag in der Stratosphäre: ein Ereignis
mit einer Wahrscheinlichkeit von null Komma null null … Aber jedes
potenziell mögliche Ereignis, scheint es auch noch so
unwahrscheinlich, muss wohl irgendwann einmal eintreten.
Maxim zwängte sich in die Kabine, schaltete die
Steuerung auf automatische Reparatur und setzte das Expresslabor in
Gang. Dann machte er sich auf den Weg zum Fluss. Sicher, dachte er
bei sich, eine abenteuerliche Geschichte das Ganze - und dennoch
irgendwie Routine, langweilig. Bei uns in der GFS sind sogar die
Abenteuer alltäglich: Meteoritenattacke, Strahlenbeschuss, Havarie
bei der Landung; Havarie bei der Landung, Meteoritenattacke,
Strahlenbeschuss - das sind die Abenteuer dieses Metiers,
physischer Nervenkitzel, nichts weiter.
Das trockene hohe Gras knisterte unter Maxims
Füßen, stachlige Samen bohrten sich durch seine Shorts. Mit lautem
Surren schwirrte eine Wolke moskitoähnlicher Insekten heran,
waberte vor seinem Gesicht und verschwand wieder. Erwachsene, ernst
zu nehmende Menschen, dachte Maxim, würden nie zur Gruppe für
Freie Suche gehen. Sie befassen sich mit erwachsenen,
ernstzunehmenden Dingen und wissen, dass all die unerforschten
Planeten im Grunde ziemlich gleich sind. Ermüdend gleich. Gleich
ermüdend. Sicher, wenn man zwanzig ist, nichts richtig kann und
nicht einmal weiß, was man gerne können würde, wenn man das
kostbarste Gut, die Zeit, noch nicht zu schätzen weiß und besondere
Talente weder vorhanden noch zu erhoffen sind, wenn man mit seinen
zwanzig Jahren immer noch Hände und Füße einsetzt anstatt seinen
Kopf, und wenn man zudem noch so dumm ist zu glauben, auf fremden
Planeten könne man ganz Phantastisches entdecken, etwas, das es auf
der Erde nicht gibt, wenn, wenn, wenn - ja, dann, natürlich. Dann
nimm den Katalog der GFS zur Hand, schlag eine beliebige Seite auf,
tippe mit dem Finger auf eine beliebige Zeile und fliege los.
Entdecke einen Planeten, benenne ihn nach deinem Namen und bestimme
seine physikalischen Eigenschaften. Kämpfe mit Ungeheuern, sofern
vorhanden. Tritt mit Fremden in Kontakt, falls solche zu finden.
Oder spiele ein bisschen Robinson. Es ist auch nicht alles
vergebens: Nein, man wird dir danken und sagen, du hättest einen
großen Beitrag geleistet. Irgendein bedeutender Spezialist wird
dich zum ausführlichen Gespräch einladen. Schüler, vor allem die
weniger begabten und die aus den unteren Klassen, werden voller
Ehrfurcht zu dir aufschauen. Triffst du aber den Lehrer, fragt er
nur: »Du bist immer noch bei der GFS?«, und dann wechselt er rasch
das Thema. Sein Gesicht wirkt schuldbewusst und traurig, denn die
Verantwortung dafür, dass du noch immer bei der GFS bist, übernimmt
er. Und dein Vater knurrt ratlos: »Hmmm …«, und erwähnt unsicher
eine freie Stelle im Labor. Und die Mutter meint: »Maxim, du
konntest doch als Kind so schön
zeichnen …« Oleg schimpft: »Hör endlich auf damit. Du hast dich
lange genug blamiert …«, und Jenny säuselt: »Darf ich vorstellen,
das ist mein Mann.« Und ja, alle haben sie Recht, alle, außer dir.
Dann kehrst du zurück in die Zentrale der GFS und versuchst, die
zwei anderen Trottel, die am Regal gegenüber in den Katalogen
wühlen, möglichst nicht zu beachten. Und dann nimmst du den
nächsten Band, schlägst ihn irgendwo auf und tippst mit dem Finger
…
Bevor er den Steilhang zum Fluss hinunterstieg,
blickte Maxim noch einmal zurück. Hinter ihm richtete sich das
niedergetretene Gras Halm um Halm wieder auf, und vor dem
bleigrauen Himmel sah er die schwarzen Silhouetten der
verkrüppelten Bäume. Da leuchtete ein kleiner runder Fleck - die
offene Luke seines Schiffs. Alles war wie immer. Na gut, sagte er
sich, von mir aus … Vielleicht stoße ich ja hier auf eine
Zivilisation. Mächtig sollte sie sein, alt und weise. Und
menschlich … Er kletterte die Böschung hinab zum Wasser.
Der Fluss war tatsächlich breit und floss langsam.
Mit bloßem Auge konnte man sehen, wie er von Osten herab - und nach
Westen wieder hinauffloss. (Allerdings gab es hier eine ganz enorme
Lichtbrechung.) Das gegenüberliegende Ufer war flach und mit einem
dichten Schilfgürtel bewachsen. Etwa einen Kilometer weiter
flussaufwärts ragten eigenartige Pfeiler und schiefe Balken aus dem
Wasser, verzogenes Gitterwerk sowie eine halb verfallene, von
Pflanzen überwucherte Trägerkonstruktion. Die Zivilisation, dachte
Maxim leidenschaftslos. Er spürte, dass es in der Umgebung viel
Eisen gab, und noch etwas spürte er, etwas sehr Unangenehmes,
Beklemmendes. Als er eine Handvoll Wasser schöpfte, begriff er: Das
war Strahlung, starke, schädliche Strahlung. Der Fluss führte von
Osten her radioaktive Substanzen mit sich. Maxim verstand gleich,
dass ihm eine Zivilisation, die Flüsse verseuchte, wohl kaum von
Nutzen sein konnte. Und die Expedition würde, wie alle anderen
zuvor, als Fehlschlag enden. Es
würde besser sein, keinen Kontakt aufzunehmen, die
Standardanalysen abzuspulen, den Planeten zweimal unbemerkt zu
umkreisen und sich dann aus dem Staub zu machen. Zurück auf der
Erde würde er alle Erkenntnisse bei den erfahrenen, aber mürrischen
Typen im Rat für galaktische Sicherheit abliefern und das Ganze so
schnell wie möglich vergessen.
Angewidert schüttelte Maxim das Wasser von seinen
Händen, trocknete sie im Ufersand und versank in Gedanken -
düsteren Phantasien über die Bewohner dieses maroden Planeten.
Irgendwo hinter den Wäldern lag sicher auch eine marode Stadt:
verkommene Fabriken und altersschwache Atommeiler, die radioaktiv
verseuchtes Wasser in den Fluss schwemmten; hässliche Wohnhäuser
mit flachen Eisendächern; viele Mauern und wenig Fenster;
verdreckte schmale Gassen, in denen sich Abfall und Unrat türmten
und Haustierkadaver verwesten; ein großer Graben, der die Stadt
umgab; Zugbrücken - obwohl, nein, das war vor dieser Zeit. Und die
Menschen? Maxim konnte sich kein Bild von ihnen machen; er wusste
nur, dass sie viele Kleidungsstücke übereinandertrugen, eingepackt
waren in dicken, groben Stoff, und ihre Hälse in hohen, weißen
Stehkragen steckten, die am Kinn scheuerten …
Aber da entdeckte Maxim Spuren.
Im Sand waren Abdrücke nackter Füße zu sehen.
Jemand war die Böschung hinuntergeklettert und in den Fluss
gestiegen. Eine schwere, plumpe Kreatur mit großen, breiten Füßen -
sicher ein Humanoid, wenn auch mit sechs Zehen. Ächzend war er
durch den tiefen Sand gestapft, mitsamt Kleidung und Stehkragen in
das radioaktive Wasser marschiert, unter Prusten und Schnauben ans
andere Ufer geschwommen und dort im Schilf wieder …
Als habe ein Blitz eingeschlagen, flammte plötzlich
grellblaues Licht auf und erhellte die gesamte Umgebung. Dann ein
ohrenbetäubender Knall und das Zischen und Knistern
von Feuer. Maxim fuhr auf. Trockene Erde rieselte den Abhang
herab. Etwas sauste gefährlich kreischend durch die Luft und ging
mitten im Fluss nieder - ein Geschoss, das eine fauchende Fontäne
aus Wasser und weißem Dampf emporschleuderte.
Maxim rannte den Hang hinauf. Er wusste schon, was
geschehen war, wusste nur nicht, warum. Und so wunderte es ihn auch
nicht, als er dort, wo eben noch das Schiff gestanden hatte, einen
lodernden Feuerball erblickte, über dem eine gigantische,
rußschwarze Rauchsäule in den phosphoreszierenden Himmel stieg. Das
Schiff war explodiert. Seine Keramithülle stand in gleißenden
helllila Flammen, und das trockene Gras ringsum brannte lichterloh.
Auch die Büsche brannten, selbst an den verkrüppelten Bäumen
züngelten qualmende Flammen.
Wütende, sengende Hitze schlug Maxim entgegen, und
er hielt sich schützend die Hand vors Gesicht. Schritt um Schritt
wich er zurück, ohne aber die tränenden Augen abzuwenden von diesem
bizarr schönen Flammenmeer, aus dem purpurrote und grüne Funken
sprühten, von diesem sinnlosen Toben entfesselter Energie.
Aber, das ist … wie ist das passiert?, fragte er
sich fassungslos. Ist da vielleicht ein riesiger Affe gekommen und
hat gesehen, ich bin nicht da … Kletterte hinein, hob das Deck hoch
- nicht einmal ich weiß, wie das geht, aber er hat es geschafft.
Muss ein sehr schlauer Affe gewesen sein, einer mit sechs Zehen -
er hob also das Deck … Was ist denn bei Raumschiffen unter dem
Deck? Egal, er jedenfalls fand die Akkumulatoren, nahm einen großen
Felsbrocken und wumm! … Einen sehr großen Felsbrocken übrigens,
mindestens drei Tonnen schwer, und den schlug er mit voller Wucht …
Muss ein sehr starker Affe gewesen sein … Jedenfalls hat er mit
seinem Felsbrocken mein Schiff erledigt. Zweimal in der
Stratosphäre und jetzt das hier! Erstaunliche Geschichte, gab es
sicher noch nie. Nur, was mache ich jetzt? Man wird mich natürlich
bald vermissen, aber niemand wird auf die Idee kommen, dass es so
etwas gibt: Das Schiff vernichtet, und der Pilot lebt. Was soll
jetzt werden? Mama … Vater … der Lehrer …
Maxim wandte sich um und kehrte dem Feuer den
Rücken zu. Raschen Schrittes ging er davon, immer am Fluss entlang.
Ringsumher glühte alles im roten Schein des Feuers, und vor sich
sah er, wie sein Schatten über die hohen Halme zuckte. Rechts ging
nun die Wiese in einen lichten Wald über, aus dem ein fauliger
Geruch herüberwehte. Das Gras war jetzt weich und etwas feucht.
Maxim erschrak, als unmittelbar vor ihm zwei große Nachtvögel
aufflogen und mit gellendem Kreischen dicht über das Wasser zogen
bis ans andere Ufer. Einen Moment lang fürchtete er, dass ihn das
Feuer einholen könnte. Um sich zu retten, bliebe ihm dann nichts
anderes übrig, als durch den verseuchten Fluss zu schwimmen - eine
furchtbare Vorstellung. Doch auf einmal verblasste der Feuerschein
und erlosch wenig später ganz. Anscheinend hatten die Löschsysteme
seines Schiffs jetzt den Ernst der Lage erkannt und ihre Aufgabe
mit der nötigen Sorgfalt erfüllt. Lebhaft stellte sich Maxim die
verrußten, angeschmolzenen Druckflaschen vor, wie sie albern
inmitten von glühenden Trümmern standen, dicke Fontänen weißen
Löschschaums versprühten und sehr zufrieden mit sich waren.
Ruhig, sagte er sich. Ruhe bewahren, nur nicht die
Nerven verlieren. Ich habe Zeit. Jede Menge Zeit. Es kann sein,
dass sie lange nach mir suchen werden: Das Schiff existiert nicht
mehr, und mich zu finden ist unmöglich. Aber solange sie nicht
wissen, was passiert ist, solange sie keine Gewissheit haben,
werden sie Mama nichts sagen. Und in der Zwischenzeit wird mir hier
schon etwas einfallen.
Maxim ging an einem kleinen Sumpf vorbei, schlug
sich durch Gestrüpp und fand sich unverhofft auf einer Straße
wieder - einer alten, rissigen Betonstraße, die in den Wald
führte. Er folgte ihr zunächst in die andere Richtung, bis zum
Fluss, wo sie abrupt endete. Am anderen Ufer ging sie weiter, war
aber im fahlen Licht des Himmels kaum auszumachen. Maxim ging bis
zur Abbruchkante vor und entdeckte dort, halb im Wasser, die
verrostete und mit Ackerwinde überwucherte Trägerkonstruktion, die
er schon aus der Ferne gesehen hatte. Offenbar hatte hier einmal
eine Brücke gestanden, die später in den Fluss gesprengt worden
war. Maxim setzte sich an die Abbruchkante und ließ die Beine
herabbaumeln. Er horchte in sich hinein, stellte beruhigt fest,
dass er von Panik weit entfernt war, und begann nachzudenken.
Das Wichtigste habe ich gefunden: eine Straße. Sie
ist uralt, grob hingeschustert und in schlechtem Zustand, aber
immerhin eine Straße. Und auf allen bewohnten Planeten führen die
Straßen zu denen, die sie gebaut haben. Was fehlt mir? Zu essen
brauche ich nichts. Ein bisschen Hunger habe ich zwar, doch das
sind die niederen Instinkte, die kann ich unterdrücken. Wasser
brauche ich frühestens in vierundzwanzig Stunden. Luft zum Atmen
gibt es hier genug, wenn man einmal vom hohen Kohlendioxidgehalt
und der radioaktiven Verschmutzung absieht. Im Augenblick fehlt es
mir also an nichts Lebensnotwendigem. Was ich dagegen wirklich
bräuchte, wäre ein kleiner, primitiver Nullsender mit Spiralgang.
Kann man sich etwas Simpleres vorstellen als einen primitiven
Nullsender? Höchstens einen primitiven Nullakkumulator … Maxim
schloss die Augen und rief sich den Bauplan eines
Positronenemitter-Senders ins Gedächtnis. Ganz einfach! Hätte er
die Bauteile zur Hand, könnte er das Gerät auf der Stelle und mit
verbundenen Augen zusammenbauen. Einige Male spielte er die
Handgriffe durch, doch als er die Augen öffnete, war kein Sender
da. Nichts war da. Robinson, dachte er, und dieser Gedanke
faszinierte ihn. Maxim Crusoe. Ich habe tatsächlich gar nichts. Nur
Shorts ohne Taschen und ein paar Turnschuhe. Dafür aber ist meine
Insel bewohnt. Und da die Insel bewohnt
ist, bleibt mir immer noch die Hoffnung, von irgendwoher einen
primitiven Nullsender aufzutreiben. Maxim versuchte, sich auf
diesen Gedanken zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Ständig
hatte er das Bild seiner Mutter vor Augen, wie man ihr mitteilte:
»Ihr Sohn ist verschollen.« Er sah das Gesicht, das seine Mutter
dabei machte, und seinen Vater, wie er sich über die Wangen strich
und hilflos um sich blickte. Er stellte sich vor, wie kalt und leer
sie sich dabei fühlten … Nein, sagte sich Maxim, daran darf ich
jetzt nicht denken. An alles, nur nicht daran, sonst werde ich hier
gar nichts fertig bringen. Ich verbiete mir, daran zu denken. Und
ich befehle mir, nicht daran zu denken. Schluss. Er erhob
sich, drehte dem Fluss den Rücken zu und folgte der Straße in die
andere Richtung.
Hatten die Bäume anfangs nur vereinzelt und etwas
entfernt vom Straßenrand gestanden, so rückte der Wald allmählich
immer dichter an die Straße heran. Ein paar junge Bäumchen hatten
sogar den Beton durchbrochen und wuchsen mitten auf der Fahrbahn.
Die Straße musste jahrzehntealt sein, jedenfalls hatte man sie
jahrzehntelang nicht mehr benutzt. Je länger Maxim marschierte,
desto höher, dichter und finsterer wurde der Wald. An manchen
Stellen schloss sich bereits das Blätterdach über seinem Kopf. Die
unheimliche Stille darin wurde von noch unheimlicheren, kehligen
Lauten durchbrochen, die - mal links, mal rechts - aus dem Dickicht
kamen. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Ein Rascheln, ein
Trappeln, und dann - wieder Stille. Etwa zwanzig Schritte vor ihm
huschte eine dunkle, gebückte Gestalt über die Straße. Maxim
lauschte - nichts, nur das Surren von Mücken. Ihm kam in den Sinn,
dass womöglich niemand in der Nähe wohnte. Der traurige Zustand der
Straße und die vollkommen verwilderte Umgebung ließen befürchten,
dass es noch Tage dauern konnte, bis er auf zivilisierte Wesen
stoßen würde. Als seine niederen Instinkte sich wieder meldeten,
beruhigte
sich Maxim mit dem Gedanken, dass es in den Wäldern sicher viele
wilde Tiere gab. Er würde also nicht Hungers sterben, selbst wenn
sich das hiesige Getier als wenig schmackhaft erweisen sollte. Die
Jagd wäre dafür umso interessanter. Und weil er sich verboten
hatte, an das zu denken, was ihm am meisten auf der Seele lag, rief
er sich in Erinnerung, wie er mit Oleg und dem Förster Adolf auf
der Jagd gewesen war, wie sie den Hirsch durch den Wald gehetzt
hatten, drei Tage lang, ohne Waffen, Mensch gegen Tier, Vernunft
gegen Instinkt, Geschick gegen rohe Kraft, wie sie ihn schließlich
gestellt und am Geweih zu Boden gezerrt hatten … Nun, vielleicht
gibt es hier keine Hirsche, aber daran, dass es genießbares Wild
gibt, besteht gar kein Zweifel. Wenn man sich nur für einen Moment
ablenken lässt oder in Gedanken versinkt, fallen sofort die Mücken
über einen her, fressen einen fast auf, und wer auf einem fremden
Planeten selbst genießbar ist, verhungert bekanntlich nicht. Es
wäre gar nicht so schlimm, sich hier zu verirren und sich das eine
oder andere Jahr im Wald herumzutreiben. Ich würde mir einen
Gefährten suchen, einen Wolf oder einen Bären, wir könnten zusammen
auf die Jagd gehen, uns unterhalten. Gewiss, auf die Dauer würde
das auch langweilig … und dann der ganze Eisenschrott hier im Wald
und diese stickige Luft. Und überhaupt, zuerst muss ich einen
Nullsender zusammenbauen.
Maxim blieb stehen und horchte. Aus der Tiefe des
Waldes drang ein monotones, dumpfes Dröhnen. Er erinnerte sich,
dass er es schon früher gehört hatte, aber erst jetzt schenkte er
ihm Aufmerksamkeit. Das war kein Tier und auch kein Wasserfall,
sondern etwas Mechanisches, eine riesengroße, monströse Maschine.
Sie schnaubte und brüllte, rasselte und verbreitete den Gestank von
heißem Eisen. Und sie kam näher.
Geduckt, lautlos und ganz dicht am Straßenrand lief
Maxim dem dröhnenden Geräusch entgegen. Dann stoppte er. Fast
wäre er geradewegs auf eine Kreuzung gestürmt, denn die Straße,
auf der er lief, wurde von einer zweiten im rechten Winkel
gekreuzt. Sie stank, war verdreckt und von starken Spurrillen tief
zerfurcht; der Betonbelag war aufgerissen und sehr, sehr
radioaktiv. Maxim ging in die Hocke und blickte nach links, von wo
das Brüllen des Motors und das metallische Rasseln zu hören waren.
Der Boden unter den Füßen erzitterte. Es kam näher.
Und eine Minute später war es da: groß, heiß und
stinkend, ein Monster aus vernietetem Metall, das sich mit seinen
riesigen, dreckverschmierten Ketten durch die Straße fraß und dabei
knirschend den Beton zermalmte. Es raste nicht, es rollte nicht
einmal, sondern quälte sich die Straße entlang - verbeult, mit
losen, scheppernden Eisenplatten, vollgepumpt mit Plutonium und
Lanthanoiden, unbemannt, dumm und gefährlich. Fauchend donnerte es
über die Kreuzung und verschwand langsam aus Maxims Sichtfeld. Das
Rasseln der Ketten und das Dröhnen des Motors wurden allmählich
leiser, doch waberte über der Kreuzung noch immer eine flimmernde
Hitze und ein stechender, metallischer Gestank.
Maxim holte tief Luft und verscheuchte die Mücken.
Er war fassungslos - nie in seinem Leben hatte er etwas so Absurdes
und Erbärmliches gesehen. Na ja, dachte er, mit den
Positronenemittern könnte es hier schwierig werden. Er blickte in
die Richtung, in die das Monster verschwunden war, und bemerkte,
dass die querende Straße eine Schneise durch den Wald schlug. Über
ihr befand sich freier Himmel, kein geschlossenes Blätterdach.
Vielleicht sollte ich hinterherlaufen?, fragte er sich. Es
anhalten, den Reaktor abschalten … Er horchte: immer noch Krachen
und lautes Maschinengetöse. Das Ungetüm schien im Wald zu toben wie
ein Nilpferd im Morast. Kurze Zeit später wurde das Rumoren des
Motors wieder lauter - der Koloss kam zurück. Abermals knirschender
Beton, schepperndes Eisen, rasselnde Ketten,
das stinkende Ungetüm polterte erneut über die Kreuzung und
verschwand in die Richtung, aus der es gekommen war. Nein, sagte
sich Maxim, mit dem will ich nichts zu tun haben. Ich mag weder
wütende Tiere noch monströse Maschinen. Er wartete, bis das Gefährt
außer Sichtweite war, trat aus dem Gebüsch und überquerte mit
wenigen großen Sätzen die zerwühlte, verstrahlte Kreuzung.
Eine Zeit lang setzte er seinen Weg im Laufschritt
fort und atmete tief ein, um den giftigen Qualm des Eisenkolosses
aus den Lungen zu pumpen. Danach verfiel er in Marschtempo und sann
darüber nach, was ihm in den ersten beiden Stunden auf seiner
bewohnten Insel begegnet war. Er versuchte, all die Ungereimtheiten
und Zufälle zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen, aber das
erwies sich als unmöglich. Denn das Bild, das dabei herauskam, trug
eher märchenhafte als realistische Züge. Märchenhaft war zum
Beispiel dieser Wald, der voll war von altem Eisen, wo unbekannte
Fabelwesen mit beinahe menschlichen Stimmen einander zuriefen. Und
wie im Märchen führte die alte, verlassene Straße gewiss zu einem
verwunschenen Schloss. Unsichtbare, böse Zauberer versuchten, ihm,
dem Menschen, der in dieses fremde Land gekommen war, Steine in den
Weg zu legen. Schon im Landeanflug schleuderten sie ihm Meteoriten
entgegen, und als das nichts half, steckten sie sein Schiff in
Brand. Nun saß der Mensch in der Falle. Sogleich hetzten sie einen
eisernen Drachen auf ihn, doch der erwies sich als zu alt und zu
dumm. Sicher hatten die Zauberer ihren Fehlschlag längst bemerkt
und rüsteten schon zu einem neuen Angriff, diesmal allerdings mit
moderneren Waffen.
»Hört mal«, sagte Maxim, »ich habe gar nicht vor,
eure Schlösser zu entzaubern und eure schlafenden Schönheiten zu
wecken. Ich bin lediglich auf der Suche nach jemandem, der ein
bisschen Grips im Kopf hat und mir mit den Positronenemittern
weiterhilft.«
Die Zauberer aber stellten sich taub. Zuerst
versperrten sie Maxim mit einem meterdicken, morschen Baumstamm den
Weg, dann rissen sie die Betondecke auf, hoben eine gewaltige Grube
aus und füllten sie mit fauligem, radioaktivem Schlamm. Als selbst
das nichts half und auch die blutrünstigen Mückenschwärme ihre
Stechattacken irgendwann einstellten, tauchten die Zauberer zum
Ende der Nacht den Wald in dicken, eisigen Nebel. Maxim begann zu
frieren und schlug einen Laufschritt an, um sich aufzuwärmen. Die
ölige Nebelsuppe roch nach Fäulnis und feuchtem Metall; aber bald
mischte sich Rauchgeruch hinein, und Maxim begriff, dass irgendwo
in der Nähe ein Feuer brannte.
Der Tag brach an, und im fahlen Licht der
Morgendämmerung entdeckte Maxim etwas abseits der Straße eine
Feuerstelle. Daneben stand eine niedrige, mit Moos bewachsene
Steinhütte; das Dach war eingestürzt, die Fenster unverglast.
Menschen waren nirgendwo zu sehen, doch Maxim hatte das Gefühl,
dass sie ganz in der Nähe waren und sicher bald zurückkehrten. Er
sprang über den Straßengraben und ging, bis zu den Knöcheln im
modrigen Laub versinkend, auf direktem Weg zur Feuerstelle.
Sehr zur Freude seiner niederen Instinkte, strahlte
das Feuer eine wohlige, archaische Wärme ab. Alles war so einfach:
Man hockte sich hin, wärmte sich die Hände am Feuer und wartete
schweigend darauf, dass einem der Hausherr einen Teller heißer
Suppe und ein Getränk reichte. Der Hausherr war zwar nicht da, aber
über dem Feuer hing ein rußiger Kessel, in dem eine dicke, scharf
riechende Suppe köchelte. Neben der Feuerstelle stand ein
schmutziger, halbleerer Sack mit Tragegurten. Auf dem Boden, etwas
weiter entfernt, lagen zwei Kittel aus grobem Stoff, zwei große
Becher aus verbeultem Blech sowie ein paar sehr merkwürdige
Gegenstände aus Eisen.
Maxim blieb eine Weile am Feuer sitzen, starrte in
die Flammen und wärmte sich. Dann stand er auf und betrat das
Haus, vom dem jedoch wenig mehr übrig war als die vier steinernen
Wände. Über dem brüchigen Gebälk, das früher einmal das Dach
getragen hatte, graute der Morgenhimmel, und beim Begehen der
verfaulten Bodenbretter fürchtete Maxim, jeden Moment einzubrechen.
Aus den zum Teil freiliegenden, morschen Bodenbalken wuchsen
Büschel himbeerfarbener Pilze. Sie waren giftig, aber gut
durchgebraten würden sie sicher eine genießbare Mahlzeit ergeben.
Der Gedanke ans Essen allerdings verging Maxim, als er im
Halbdunkel einer Ecke ein Skelett entdeckte, dessen weiße Gebeine
unter ausgeblichenen Stofffetzen hervorschauten. Maxim grauste es.
Er wandte sich um, ging die zerfallenen Stufen hinab, formte die
Hände zu einem Trichter und schrie aus vollem Halse »He-he, ihr
Sechszehigen!« in den Wald. Sein Ruf verhallte irgendwo im Nebel
zwischen den Bäumen. Niemand antwortete ihm. Nur ein paar Vögel
tschilpten aufgebracht über seinem Kopf.
Maxim kehrte zur Kochstelle zurück, warf ein paar
trockene Zweige ins Feuer und schaute in den Kessel. Die dicke
Suppe brodelte. Er sah sich um, entdeckte eine Art Schöpflöffel,
roch misstrauisch daran, wischte ihn sorgfältig am frischen Gras ab
und prüfte noch einmal den Geruch. Vorsichtig schöpfte er den
grauen Schaum von der Suppe und kippte ihn in die Glut. Er rührte
um, nahm einen Löffel voll Suppe heraus, blies und probierte sie
mit gespitzten Lippen. Gar nicht übel, dachte er, schmeckt so
ähnlich wie Tachorg-Lebereintopf, nur schärfer. Maxim legte den
Schöpflöffel beiseite, nahm den Kessel vorsichtig und mit beiden
Händen vom Haken und stellte ihn im Gras ab. Er sah sich noch
einmal um und rief: »Frühstück ist fertig!« Nach wie vor hatte er
das Gefühl, dass der Herr des Hauses sich in unmittelbarer Nähe
aufhielt, aber weder im nebelnassen Gebüsch noch auf der Straße
regte sich etwas, und außer geschäftigem Vogelgezwitscher und dem
Prasseln des Feuers war nichts zu hören.
»Dann eben nicht!«, sagte er laut. »Wie ihr wollt.
Ich fange jedenfalls an.«
Maxim gewöhnte sich sehr schnell an den Geschmack.
Entweder lag es an dem übergroßen Löffel oder an den niederen
Instinkten - auf jeden Fall verging keine Minute, und Maxim hatte
sich ein Drittel der Suppe einverleibt. Mit Bedauern rückte er den
Kessel zur Seite, spürte dem fremden Geschmack im Mund ein wenig
nach und säuberte dann den Schöpflöffel sorgfältig mit Gras. Aber
er konnte sich nicht beherrschen, tauchte ihn nochmals ein und
fischte sich vom Grund des Kessels noch ein paar von den leckeren,
braunen Scheibchen heraus, die auf der Zunge zergingen und ihn an
Seegurken erinnerten. Abermals säuberte er den Löffel und legte ihn
quer über den Kessel. Jetzt war es an der Zeit, seiner Dankbarkeit
Ausdruck zu verleihen.
Er sprang auf, brach sich einen frischen, dünnen
Zweig ab und ging zurück ins Haus. Vorsichtig trat er auf die
morschen Bodenbretter und bemühte sich dabei, nicht zu dem Skelett
in der Ecke hinüberzusehen. Dann riss er die Pilze ab und spießte
die größten der himbeerfarbenen Hüte auf den Zweig. Ein bisschen
Salz und Pfeffer würden nicht schaden, dachte er, doch für die
erste Kontaktaufnahme wird es auch ohne gehen. Ich hänge euch jetzt
über das Feuer, bis die Giftstoffe verdampft sind und dann werdet
ihr ein vorzügliches Begrüßungsmahl abgeben. Ihr seid mein erster
Beitrag zur Kultur dieser bewohnten Insel - mein zweiter werden
dann die Positronenemitter sein.
Plötzlich wurde es im Haus dunkler, nur eine kleine
Nuance, aber Maxim spürte sofort, dass man ihn beobachtete. Er
unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen, und zählte bis zehn, dann
erhob er sich langsam, setzte ein Lächeln auf und wandte sich
um.
Vor dem Fenster stand ein Mann mit langem, dunklem
Gesicht, großen, schwermütigen Augen und hängenden Mundwinkeln.
Der Fremde starrte Maxim an, weder zornig noch erfreut, eher
gelangweilt, nicht wie einen Menschen aus einer anderen Welt,
sondern wie ein lästiges Haustier, das an einem Ort herumlungert,
an dem es nichts verloren hat. Einige Sekunden lang verharrten sie
reglos und Maxim spürte, wie die unsägliche Schwermut, die von
diesem Gesicht ausging, wie eine Flutwelle ins Haus hereinschwappte
und das Haus, den Wald, den Planeten und, ja, die ganze Welt in
eine hoffnungslose Melancholie tauchte. Alles wurde grau, trostlos
und beklagenswert. Alles war schon einmal da gewesen, würde noch
endlose Male wiederkehren, und es gab keine Rettung vor dieser
niederschmetternden Trostlosigkeit. Plötzlich aber wurde es noch
dunkler im Haus, und Maxim wandte sich zur Tür.
Dort stand, mit gespreizten, stämmigen Beinen, ein
rothaariger Kerl, dessen Schultern so breit waren, dass sie den
gesamten Türrahmen ausfüllten. Der Mann war untersetzt und trug
einen karierten, unglaublich hässlichen Overall. Ein wildes,
rotblondes Gestrüpp von Haaren überwucherte sein Gesicht, und durch
dieses Gestrüpp hindurch sah er Maxim mit kleinen, stechend blauen
Augen an. Sein Blick war durchbohrend und alles andere als
freundlich, aber trotzdem irgendwie heiter - möglicherweise im
Kontrast zu der Melancholie, die noch immer zum Fenster
hereinschaute. Es war offenbar nicht das erste Mal, dass der
Rothaarige einem Fremdplanetarier begegnete, und es sah ganz so
aus, als mache er mit seinen ungebetenen Gästen einfach kurzen
Prozess, ohne Kontaktaufnahme und sonstiges Prozedere. Um seinen
Hals trug er einen Lederriemen, und daran hing ein furchterregender
Schießprügel, dessen Mündung er mit seiner schmutzigen Pranke genau
auf Maxims Bauch gerichtet hielt. Es war klar, dass dieser
grobschlächtige Kerl noch nie etwas vom Wert des menschlichen
Lebens gehört hatte, ebenso wenig von der
Menschenrechtsdeklaration, von den Errungenschaften
des Humanismus oder vom Humanismus selbst. Und es wäre verlorene
Zeit gewesen, ihm davon zu erzählen.
Maxim aber hatte keine Wahl. Er wedelte mit seinem
Pilzspieß, lächelte noch ein wenig breiter und artikulierte laut
und überdeutlich: »Friede! Freundschaft!« Der Melancholiker vor dem
Fenster reagierte auf diese Losung, indem er eine lange,
unverständliche Phrase von sich gab und das Kontaktfeld räumte; den
Geräuschen nach zu urteilen, begann er gerade, trockenes Holz ins
Feuer zu werfen. Jetzt sah Maxim, wie der wilde Bart des
Rothaarigen in Bewegung geriet, und kurz darauf dröhnten aus dem
roten Gestrüpp donnernde, rasselnde Laute, die Maxim lebhaft an den
Eisendrachen auf der Kreuzung erinnerten.
»Ja!«, erwiderte Maxim und nickte eifrig. »Erde!
Weltraum!« Er deutete mit seinem Pilzspieß zum Himmel, und der
Rotbart blickte brav hinauf zu der nicht mehr vorhandenen Decke.
»Maxim!«, setzte Maxim unbeirrt fort. »Maxim! Ich heiße Maxim!« Um
den Sinn seiner Worte zu verdeutlichen, schlug er sich mit der
Faust gegen die Brust wie ein wütender Gorilla. »Maxim!«
»Mach-sim!«, krakeelte der Rotbart mit eigenartigem
Akzent und ließ eine Serie krachender, schnalzender Laute folgen,
in denen das Wort »Mach-sim« mehrfach vorkam. Der Melancholiker vor
dem Haus kommentierte diese Äußerungen mit den denkbar
trübseligsten Lautfolgen. Dann quollen die blauen Augen des
Rotbarts hervor, er öffnete den Mund, die gelben Zahnstummel wurden
sichtbar - und er brach in dröhnendes Gelächter aus. Hatte der
Melancholiker etwa einen Witz gemacht? Als der Lachanfall vorbei
war, wischte sich der Rothaarige mit der freien Hand die Tränen aus
den Augen, ließ seine Büchse sinken und gab Maxim einen Wink, der
ihm bedeutete: »Los, komm schon!«
Maxim ließ sich nicht lange bitten. Er folgte dem
Rotbart ins Freie und hielt ihm abermals den Pilzspieß unter die
Nase.
Dieser nahm den Spieß, drehte ihn hin und her, schnupperte
misstrauisch daran und warf ihn dann zu Boden.
»Nicht doch!«, protestierte Maxim. »Ihr werdet euch
noch die Finger danach lecken.«
Er bückte sich und hob den Spieß auf. Der Rotbart
ließ ihn gewähren, dann schlug er ihm ein paarmal mit der Pranke
auf den Rücken und schob Maxim zur Feuerstelle. Dort drückte er ihn
an den Schultern herab, bis er auf dem Boden saß. Dann setzte sich
der Rotbart daneben und begann auf Maxim einzureden. Aber der hörte
gar nicht zu und musterte stattdessen den Melancholiker, der ihnen
gegenübersaß und einen großen, schmutzigen Lappen am Feuer
trocknete. Einer seiner Füße war nackt und es entging Maxims
Aufmerksamkeit nicht, dass er fünf Zehen hatte - fünf, nicht
sechs.
2
Gai saß auf dem Rand der Fensterbank, polierte mit
dem Ärmel die Kokarde seines Baretts und sah zu, wie Korporal
Waribobu die Reisepapiere für ihn ausschrieb. Der Korporal hatte
den Kopf schief gelegt und die Augen aufgerissen, mit der Linken
hielt er das Formular mit dem rotem Rand fest und mit der Rechten
malte er in Schönschrift seine Buchstaben darauf. Großartig macht
er das, dachte Gai, nicht ganz ohne Neid. Dieser alte Tintenfisch:
zwanzig Jahre in der Garde, und immer noch Schreiber. Aber warum er
die Augen immer so aufreißt … der Stolz der Brigade … Gleich
streckt er noch die Zunge heraus … Na bitte, da ist sie schon.
Sogar sie ist voller Tinte. Bleib gesund, Waribobu, altes
Tintenfass, wir werden uns nicht wiedersehen. Der Abschied fällt
mir schwer. Gute Kameraden hatte ich hier, auch die Offiziere sind
in
Ordnung, und der Dienst ist sinnvoll, ja sogar wichtig … Gai
schniefte und blickte aus dem Fenster.
Draußen blies der Wind weißen Staub über die breite
Straße, die mit alten Sechseckplatten gepflastert war und keinen
Bürgersteig hatte. Gegenüber sah Gai die weißen, einförmigen und
langgezogenen Gebäude der Administration und des technischen
Personals. Und auf der Straße ging Frau Idoja, die mit der einen
Hand ihr Gesicht vor dem umherfliegenden Staub schützte und mit der
anderen den im Wind flatternden Rock festhielt. Frau Idoja war eine
füllige, stattliche Dame, die dem Herrn Brigadegeneral zusammen mit
ihren Kindern in diese gefährliche Gegend gefolgt war. Der
Wachposten an der Kommandantur präsentierte ihr das Gewehr; es war
ein Neuer, mit noch unzerknittertem Staubmantel und aufs Ohr
gezogenem Barett. Dann sah Gai zwei Lastwagen mit Zöglingen
vorbeifahren - wahrscheinlich zum Impfen. Richtig so, der da kriegt
einen Hieb ins Kreuz, was lehnt er sich auch über die Bordwand, ist
hier schließlich kein Boulevard …
»Wie schreibst du dich eigentlich?«, fragte
Waribobu. »Gaal? Oder kann ich einfach Gal schreiben?«
»Nein«, sagte Gai. »Mein Familienname ist
Gaal.«
»Schade«, sagte Waribobu und lutschte nachdenklich
an seiner Feder. »Gal hätte gerade noch in die Zeile
gepasst.«
Schreibe nur, Tintenfass, schreibe, dachte Gai.
Musst nicht auch noch Zeilen sparen! So was nennt sich Korporal.
Die Knöpfe stumpf vom Grünspan, ein feiner Korporal! Trägt zwei
Medaillen, und kann nicht einmal vernünftig schießen, das weiß
jeder.
Die Tür wurde aufgerissen und Rittmeister Toot
stürmte herein, am Arm die goldene Binde des Diensthabenden. Gai
sprang auf und knallte die Hacken zusammen. Waribobu aber erhob
sich nur andeutungsweise, ja, er hörte nicht einmal auf zu
schreiben, der alte Sargnagel! Und so was nennt sich
Korporal.
»Aah«, näselte der Rittmeister und zog sich
angewidert die Staubmaske vom Kopf. »Soldat Gaal. Ich weiß, ich
weiß, Sie verlassen uns. Bedauerlich. Aber ich freue mich für Sie.
Ich hoffe, Sie zeigen in der Hauptstadt ebenso viel Eifer wie
hier.«
»Jawohl, Herr Rittmeister!«, rief Gai dienstfertig.
Vor Begeisterung kribbelte ihm sogar die Nase. Er verehrte
Rittmeister Toot; er war gebildet und hatte früher in einem
Gymnasium unterrichtet. Wie sich zeigte, war Gai auch dem Herrn
Rittmeister vorteilhaft aufgefallen.
»Sie können sich setzen«, murmelte Rittmeister
Toot, während er an der Barriere vorbei zu seinem Tisch ging. Ohne
Platz zu nehmen, sah er flüchtig einige Papiere durch und griff
dann zum Telefon.
Taktvoll wandte sich Gai zum Fenster. Auf der
Straße war noch alles unverändert. In geschlossener Formation sah
er seine Korporalschaft zum Mittagessen marschieren. Er blickte ihr
wehmütig nach: Sie war ihm zur zweiten Heimat geworden. Jetzt
werden die Jungs die Kantine betreten, dachte er, dann erteilt
Korporal Serembesch ihnen das Kommando zum Barett-Abnehmen und aus
dreißig Kehlen erschallt das »Dankeswort«; Töpfe dampfen, Schüsseln
blinken und der alte Doga erzählt zum hundertsten Mal seinen
Lieblingswitz vom Soldaten und der Köchin. Gai verließ sie wirklich
ungern. Zwar war der Dienst gefährlich und das Klima schädlich, und
zu essen gab es immer dasselbe, Konserven - aber trotzdem … Hier
wusste man wenigstens, dass man gebraucht wurde, dass es ohne einen
nicht ging. Tapfer stellte man sich dem unheilvollen Ansturm von
Süden entgegen - und bekam ihn auch zu spüren: Allein die vielen
Freunde, die er hatte begraben müssen; hinter der Siedlung befand
sich ein ganzes Wäldchen von Stangen mit verrosteten Helmen.
Andererseits - die Hauptstadt. Dorthin wurde nicht jeder berufen,
und wenn, dann sicher nicht zur Erholung. Es hieß, vom Palast der
Väter würden sämtliche Exerzierplätze überwacht, jeder Appell
beobachtet
- na ja, vielleicht nicht jeder, doch ab und an hatten sie gewiss
ein Auge darauf. Gai überlief es heiß. Er hatte sich plötzlich
vorgestellt, dass man ihn beim Appell vortreten ließ, er beim
zweiten Schritt ausrutschte und dem Kommandeur vor die Füße fiel;
er sah die Maschinenpistole über das Pflaster scheppern, das Barett
irgendwohin fliegen. Gai atmete tief durch und schaute verstohlen
um sich. Gott bewahre … Ja, die Hauptstadt! Dort entgeht ihnen
nichts … Na, wird schon nicht so schlimm werden, ich bin ja nicht
der Einzige. Immerhin ist dort Rada, mein Schwesterchen, und Mama.
Und der Onkel mit seinen alten Knochen, seinen vorzeitlichen
Schädeln und den schrulligen Ideen. Ach meine Lieben, ich vermisse
euch!
Gai blickte abermals aus dem Fenster und sah etwas,
das ihn sehr erstaunte: Der Kommandantur näherten sich zwei Männer,
von denen er den einen an seiner rotbärtigen Visage erkannte. Das
war Sef, einer von den Schlimmsten, Feldwebel der
hundertvierunddreißigsten Pionierabteilung, ein zum Tode
Verurteilter, der sich sein Leben mit Trassensäuberung verdiente.
Der andere sah abscheulich aus und schien eine wenig
vertrauenerweckende Kreatur. Zuerst hielt ihn Gai für eine
Missgeburt, einen der Entarteten, doch dann fiel ihm ein, dass Sef
wohl kaum einen Entarteten zur Kommandantur schleppen würde. Der
Bursche war halb nackt, jung, braungebrannt und kraftstrotzend wie
ein Stier. Er war nur mit einer kurzen Hose aus einem seltsamen,
glänzenden Stoff bekleidet. Sef trug zwar sein Gewehr bei sich,
aber es hatte nicht den Anschein, als führe er den Fremden unter
Androhung von Waffengewalt ab. Die beiden gingen nebeneinander, und
der Halbnackte gestikulierte unbeholfen - offenbar versuchte er,
Sef etwas zu erklären. Doch der keuchte nur und wirkte völlig
benommen. Vielleicht ein Wilder, dachte Gai, als er den Unbekannten
nochmals betrachtete. Nur - wie hat es ihn auf die Trasse
verschlagen? Wurde er von Bären aufgezogen? So
etwas hat es gegeben, und es sieht ganz so aus: Was der für
Muskeln hat, sie quellen geradezu über vor Kraft …
Inzwischen waren die zwei Männer beim Wachposten
angelangt. Sef wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann,
auf den Soldaten einzureden. Der Neue jedoch schien Sef nicht zu
kennen und hielt ihm die Maschinenpistole vor die Brust. Offenbar
forderte er ihn auf, den vorgeschriebenen Abstand einzuhalten.
Jetzt mischte sich der Bursche ins Gespräch ein. Er fuchtelte wild
mit den Händen, schnitt Grimassen und rollte mit seinen dunklen
Augen wild hin und her. Na bitte, jetzt war auch der Wachposten
sprachlos. Gleich würde er Alarm schlagen.
Gai drehte sich um. »Herr Rittmeister«, schnarrte
er. »Gestatten zu melden: Der Feldwebel der
Hundertvierunddreißigsten bringt jemanden, doch die Wache scheint
ihn nicht passieren zu lassen. Möchten Sie ihn in Augenschein
nehmen?«
Rittmeister Toot trat ans Fenster. Er runzelte die
Stirn, stieß einen Flügel auf, lehnte sich hinaus, würgte am
eindringenden Staub und rief: »Posten! Durchlassen!«
Während Gai das Fenster schloss, polterten Schritte
durch den Flur. Kurz darauf betraten Sef und sein sonderbarer
Begleiter die Amtsstube. Hinter den beiden drängte der Wachoffizier
herein, gefolgt von zwei Mann aus seiner Schicht. Sef legte die
Hände an die Hosennaht, räusperte sich, fixierte den Herrn
Rittmeister mit seinen unverfrorenen blauen Augen und krächzte: »Es
meldet der Feldwebel der hundertvierunddreißigsten
Pionierabteilung, Zögling Sef. Dieser Mann wurde auf der Trasse
aufgegriffen. Anscheinend ein Verrückter. Er frisst Giftpilze,
plappert Kauderwelsch, versteht kein Wort und läuft, wie Sie zu
sehen belieben, nackt herum.«
Während Sef redete, ließ der Festgenommene seine
Blicke durch den Raum schweifen und bleckte seine ebenmäßigen,
zuckerweißen Zähne. Den Anwesenden lächelte er eigenartig,
ja beängstigend zu. Die Hände auf dem Rücken gefaltet, schritt
Rittmeister Toot näher heran und musterte den Mann von Kopf bis
Fuß.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
Der Bursche grinste noch unheimlicher, hämmerte
sich mit der Faust an die Brust und bellte so etwas wie »Mach-sim«.
Der Wachoffizier brach in lautes Gelächter aus, seine Leute
kicherten, und selbst der Herr Rittmeister verzog die Mundwinkel zu
einem Grinsen. Gai begriff nicht gleich, weshalb, doch dann
erinnerte er sich: »Mach-sim« bedeutete im Gaunerjargon »Messer
abgekriegt«.
»Anscheinend einer Ihrer Leute«, wandte sich der
Rittmeister an Sef.
Sef schüttelte den Kopf, und dabei stob aus seinem
Bart eine Staubwolke. »Ausgeschlossen«, sagte er. »›Machsim‹ nennt
er sich nur, die Gaunersprache versteht er jedoch nicht. Also ist
er auch keiner von uns.«
»Sicher ein Entarteter«, mutmaßte der Wachoffizier,
worauf ihn der Rittmeister mit einem eisigen Blick bedachte. »Er
ist nackt!«, fügte der Wachoffizier eindringlich hinzu, zog sich
jedoch bereits zur Tür zurück. »Gestatten Sie wegzutreten, Herr
Rittmeister?«, schnarrte er.
»Gehen Sie«, sagte Rittmeister Toot. »Schicken Sie
jemanden nach Herrn Stabsarzt Sogu. Wo haben Sie ihn gefasst?«,
erkundigte er sich bei Sef.
Sef berichtete, seine Abteilung habe in dieser
Nacht das Planquadrat 23/07 durchkämmt, vier Selbstfahrlafetten und
eine Anlage mit unbekannter Funktion vernichtet sowie zwei Männer
bei der Explosion verloren; alles sei normal verlaufen. Gegen
sieben Uhr morgens habe sich dieser Unbekannte ihrer Feuerstelle im
Wald genähert. Sie hätten ihn schon von fern bemerkt, aus dem
Gebüsch beobachtet und im passenden Moment gefasst. Er, Sef, habe
den Halbnackten anfangs für einen flüchtigen Sträfling gehalten,
sei dann jedoch zu dem
Schluss gekommen, dass es sich keineswegs um einen Sträfling,
sondern um einen Entarteten handelte. Er sei bereits entschlossen
gewesen, ihn zu erschießen, habe es sich jedoch anders überlegt,
weil … Sef zupfte verlegen an seinem Bart und schloss: »Weil mir
klar wurde, dass dieses Subjekt kein Entarteter ist.«
»Wieso wurde Ihnen das klar?«, fragte der
Rittmeister. Der Festgenommene stand währenddessen mit auf der
Brust verschränkten Armen reglos da und sah ihn und Sef abwechselnd
an.
Sef murmelte, das sei schwer zu erklären, versuchte
es dann aber doch: »Erstens, dieser Mensch hatte und hat vor nichts
Angst. Weiter: Er hat die Suppe vom Feuer genommen und genau ein
Drittel gegessen, ganz kameradschaftlich, und vorher in den Wald
gerufen, offenbar nach uns, weil er spürte, dass wir in der Nähe
waren. Außerdem hat er uns Pilze angeboten. Sie waren zwar giftig,
wir haben sie weggeworfen und auch ihn gehindert, sie zu essen,
doch immerhin wollte er uns bewirten - wahrscheinlich aus
Dankbarkeit. Des Weiteren: Entartete sind bekanntlich allen, selbst
schwächlichen normalen Menschen physisch weit unterlegen. Dieser
Fremde aber hat mich auf dem Weg hierher gejagt wie einen kleinen
Jungen. Er ist durch einen Windbruch gelaufen, als wäre es ebenes
Gelände, hat breite Gräben übersprungen und auf der anderen Seite
gewartet, obendrein hat er mich ab und zu - vielleicht aus Übermut
- ein paar Hundert Schritte weit getragen.«
Der Rittmeister, bis dahin gespannteste
Aufmerksamkeit, drehte sich abrupt zu dem Festgenommenen um und
schnauzte ihn auf Honti an: »Ihr Name? Dienstgrad? Auftrag?«
Gai war von der Überrumpelungstaktik begeistert,
doch es war offensichtlich, dass der Kerl kein Wort Honti verstand.
Er entblößte lediglich wieder seine blendend weißen Zähne und
klopfte sich an die Brust: »Machsim!«, dann stippte er den Finger
in die Seite des Zöglings: »Sef!« - und begann zu
reden, langsam, mit großen Pausen, mal zur Decke, mal zum Fußboden
deutend, oder mit den Händen wedelnd. Gai glaubte, einige bekannte
Wörter herauszuhören, doch hatten sie weder einen Bezug zur
Situation, noch ergaben sie für sich genommen irgendeinen Sinn.
»Pett …«, sagte der Festgenommene und dann:»Brabbel, brabbel,
brabbel … Furm.«
Nachdem der Fremde verstummt war, ließ sich
Korporal Waribobu vernehmen. »Meines Erachtens ist das ein ganz
gerissener Spion«, verkündete das alte Tintenfass. »Man sollte es
dem Herrn Brigadegeneral melden.«
Doch der Herr Rittmeister beachtete ihn nicht. »Sie
können gehen, Sef«, sagte er. »Sie haben Diensteifer bewiesen, das
wird Ihnen angerechnet.«
»Ergebensten Dank, Herr Rittmeister«, rief Sef und
wollte sich schon zum Gehen wenden, als der Verhaftete plötzlich
aufschrie, sich über die Barriere beugte und einen Stapel
ungebrauchter Formulare vom Tisch des Korporals raffte.
Waribobu erschrak zu Tode - ein feiner Korporal! -,
tat dann einen Schritt zurück und warf seine Feder nach dem Wilden.
Der aber fing sie geschickt im Fluge auf, lehnte sich an die
Barriere und beschrieb damit gleich eines der Formulare. Dabei
achtete er überhaupt nicht auf Gai und Sef, die ihn an den
Schultern gepackt hielten.
»Loslassen!«, kommandierte Rittmeister Toot, und
Gai gehorchte nur zu gern - denn diesen Riesenkerl bändigen zu
wollen erschien ihm ebenso aussichtslos, wie einen Panzer durch
bloßes Dagegenstemmen zu bremsen.
Der Herr Rittmeister und Sef stellten sich rechts
und links neben den Gefangenen und inspizierten, was er zu Papier
brachte.
»Sieht aus wie eine Skizze der Welt«, spekulierte
Sef.
»Hm«, brummte der Rittmeister.
»Aber natürlich! Das in der Mitte ist das
Weltlicht, und das hier ist die Welt. Und hier sind seiner Meinung
nach wir.«
»Aber warum zeichnet er alles auf einer Ebene?«,
fragte Rittmeister Toot ungläubig.
Sef zuckte mit den Schultern. »Kindliche
Wahrnehmung … Infantilismus … Schauen Sie! Jetzt zeigt er, wie er
hergekommen ist.«
»Ja, möglich. Ich habe von solcherart Wahnsinn
gehört.«
Gai zwängte sich zwischen Sefs stacheligem
Bartgestrüpp und der mächtigen, nackten Schulter des Verhafteten
durch. Die Zeichnung schien ihm lächerlich. So stellten
Schulanfänger die Welt dar: in der Mitte ein kleiner Kreis, das
Weltlicht, um ihn herum als großer Kreis die Weltkugel, und auf
diesem Kreis ein dicker Punkt, dem man nur noch Arme und Beine
hinzuzufügen brauchte, schon hätte man: Das ist die Welt, und das
bin ich. Und dieser arme Irre hatte nicht einmal einen richtigen
Kreis zustande gebracht, bei ihm war es ein Oval. Ohne Zweifel ein
Verrückter … Er strichelte noch eine Linie, die aus der Erde heraus
zu dem Punkt führte. So, hieß das wohl, bin ich hierhergekommen.
Dann griff er nach einem neuen Formular und skizzierte schnell in
zwei diagonal entgegengesetzten Ecken je eine kleine Welt, verband
auch sie mit einer punktierten Linie und fügte noch einige
Schnörkel hinzu. Sef pfiff ratlos durch seine Zähne.
»Gestatten Sie wegzutreten?«, fragte er den Herrn
Rittmeister.
Rittmeister Toot gestattete es nicht. »Sef … äh«,
sagte er, »ich erinnere mich, Sie arbeiteten doch früher auf dem
Gebiet der … äh …« Er tippte sich mit leicht gekrümmtem Zeigefinger
an die Stirn.
»Jawohl!«, erwiderte Sef nach kurzem Zaudern.
Der Rittmeister schritt im Zimmer auf und ab.
»Könnten Sie nicht … äh … Ihre Meinung hinsichtlich dieses Subjekts
formulieren? Als Fachmann, wenn ich es so ausdrücken darf …«
»Dazu kann ich nichts sagen«, entgegnete Sef. »Laut
Urteil ist es mir untersagt, meiner beruflichen Tätigkeit
nachzugehen.«
»Ich verstehe«, sagte der Rittmeister. »Das ist
alles richtig. Lobenswert. Jedoch …«
Sef hatte die blauen Augen aufgerissen und stand
stramm. Der Herr Rittmeister steckte in der Klemme. Gai konnte es
ihm nachfühlen: Es handelte sich um einen ernstzunehmenden,
staatsbedeutenden Vorfall. Womöglich würde sich der Wilde doch als
Spion erweisen! Und der Herr Stabsarzt Sogu war, obzwar ein guter,
ja glänzender Gardist, eben doch nur Stabsarzt. Wohingegen der
rotbärtige Sef, bevor er zum Verbrecher wurde, als Kapazität auf
seinem Gebiet galt. Aber jeder, sogar ein Verbrecher, und dazu
einer, der sich seines Verbrechens bewusst geworden ist, will ja
leben. Und den zum Tode Verurteilten gegenüber kennt das Gesetz
keine Gnade: die kleinste Verfehlung und - Exekution. Auf der
Stelle. So muss es sein, so ist die Zeit: Aus dem Erbarmen wird
Grausamkeit, und nur in der Grausamkeit liegt wahres Erbarmen. Das
Gesetz ist unerbittlich und doch weise.
»Na schön«, sagte der Herr Rittmeister. »Kann man
nichts machen … Aber als Mensch …« Er blieb vor Sef stehen.
»Begreifen Sie? Nicht als Fachmann, sondern als Mensch. Halten Sie
ihn wirklich für verrückt?«
Sef zögerte. Dann sagte er: »Als Mensch? Hm, als
Mensch - und irren ist schließlich menschlich. Also Folgendes: Ich
vermute, es ist ein ausgeprägter Fall von Persönlichkeitsspaltung,
mit Verdrängung und Ersetzung des eigentlichen Ich durch ein
imaginäres. Als Mensch würde ich, nach meiner Lebenserfahrung, zu
Phleopräparaten und Elektroschocks raten.«
Waribobu hatte heimlich mitgeschrieben, doch den
Herrn Rittmeister konnte man nicht hinters Licht führen. Er nahm
dem Korporal die Notizen weg und verstaute sie in einer Tasche
seiner Uniformjacke. Mach-sim plapperte indessen erneut darauflos,
mal an den Herrn Rittmeister, mal an Sef gewandt
- er wollte etwas, der Ärmste, irgendetwas missfiel ihm -, da
öffnete sich die Tür, und Stabsarzt Sogu kam herein, vom Essen
wegbeordert, wie er sich deutlich anmerken ließ.
»Ich grüße Sie, Toot«, schnarrte er mürrisch.
»Worum geht’s? Sie sind gesund und munter, wie ich sehe, und das
beruhigt mich … Wer ist dieser Kerl?«
»Zöglinge haben ihn im Wald aufgegriffen«, erklärte
der Rittmeister. »Ich glaube, er ist verrückt.«
»Ein Simulant ist das, kein Verrückter«, knurrte
der Stabsarzt und bediente sich aus der Wasserkaraffe. »Schickt ihn
zurück in den Busch. Soll er arbeiten.«
»Er gehört nicht zu uns«, widersprach der
Rittmeister. »Und wir wissen nicht, woher er kommt. Vielleicht
wurde er von den Entarteten entführt, hat bei ihnen den Verstand
verloren und ist jetzt zu uns übergelaufen.«
»Sie haben Recht«, brummte Sogu. »Man muss schon
wahnsinnig sein, um zu uns überzulaufen.« Er trat an den
Verhafteten heran und wollte nach dessen Augenlidern fassen. Doch
der setzte wieder dieses schaurige Grinsen auf und stieß Sogu
leicht zurück. »Aber, aber«, brummte der Stabsarzt und packte ihn
geschickt am Ohr. »Steh still!«
Mach-sim gehorchte. Der Herr Stabsarzt zog ihm die
Lider hoch, befühlte Nacken und Hals, pfiff dabei voller
Bewunderung, beugte und streckte die Arme, bückte sich dann
ächzend, um auf die Kniescheiben des Burschen zu schlagen, kehrte
schließlich zur Karaffe zurück und genehmigte sich noch ein Glas
Wasser.
»Sodbrennen«, sagte er.
Gai blickte zu Sef hinüber. Der stand etwas
abseits, hatte das Gewehr gegen sein Bein gelehnt und sah betont
gleichgültig zur Wand. Der Stabsarzt trank noch ein Glas Wasser und
ging dann zu seinem Patienten zurück. Noch einmal tastete er und
klopfte ihn ab, kontrollierte seine Zähne und boxte
ihm zweimal mit der Faust in den Leib. Danach holte er ein flaches
Kästchen aus seiner Tasche, schloss das Kabel ans Stromnetz an und
hielt es auf verschiedene Körperteile des Wilden.
»So …«, ächzte er, während er das Kabel einrollte.
»Stumm ist er wohl auch noch?«
»Nein«, antwortete der Rittmeister. »Er redet, aber
in irgendeiner Tiersprache. Uns versteht er nicht. Das hier hat er
gezeichnet.«
Der Stabsarzt begutachtete die Bilder. »Aha«, sagte
er. »Sehr amüsant …« Dann griff er sich den Stift des Korporals,
dazu ein Formular und zeichnete eine Katze, wie Kinder das tun: aus
Strichen und Kreisen. »Was sagst du dazu, Freundchen?«, fragte er
den Irren und reichte ihm das Blatt.
Ohne eine Sekunde zu zögern, ließ dieser die Feder
über das Papier kratzen und neben der Katze entstand ein
merkwürdiges, dicht behaartes Tier mit einem furchterregenden,
bösen Blick. Obwohl Gai nie so eines gesehen hatte, begriff er: Das
war keine Kinderzeichnung. Sie war zu gut, einfach hervorragend.
Vom bloßen Hinsehen bekam man Angst! Der Herr Stabsarzt streckte
die Hand nach der Feder aus, der Verrückte aber wich zurück und
zeichnete noch ein Tier - diesmal ein sehr merkwürdiges, mit
faltiger Haut und einem dicken Schwanz anstelle einer Nase.
»Wunderbar«, rief Stabsarzt Sogu und schlug sich
auf die Schenkel.
Und der Irre kam in Fahrt: Diesmal wurde es kein
Lebewesen, sondern ein Apparat, ähnlich einer großen,
durchsichtigen Granate. In die Granate setzte er einen Menschen,
tippte auf ihn, pochte sich mit demselben Finger an die Brust und
krächzte: »Machch-ssim.«
»Dieses Ding kann er am Fluss gesehen haben«,
flüsterte Sef, der hinzugetreten war. »Wir haben so eins in der
Nacht gesprengt. Diese Untiere …« Er schüttelte den Kopf.
Der Herr Stabsarzt tat, als bemerkte er ihn erst
jetzt. »Ah, der Herr Professor!«, rief er übertrieben freudig. »Ich
denke mir schon die ganze Zeit - hier stinkt’s doch irgendwie.
Wären Sie wohl so liebenswürdig, Kollege, Ihre weisen Ansichten aus
der Ecke dort hinten zu äußern? Ich wäre Ihnen sehr
verbunden.«
Waribobu kicherte, und der Herr Rittmeister sagte
streng: »Stellen Sie sich neben die Tür, Sef, und vergessen Sie
sich nicht.«
»Also gut«, fuhr der Stabsarzt fort. »Und was
gedenken Sie mit ihm anzufangen, Toot?«
»Das hängt von Ihrer Diagnose ab, Sogu«, erwiderte
der Rittmeister. »Ist er ein Simulant, übergebe ich ihn dem
Staatsanwalt - der wird die Sache klären. Ist er allerdings
verrückt …«
»Er ist kein Simulant, Toot!«, verkündete der
Stabsarzt energisch. »In der Staatsanwaltschaft hat er absolut
nichts zu suchen. Aber ich kenne eine Stelle, die sich sehr für ihn
interessieren dürfte. Wo ist der Brigadegeneral?«
»Auf der Trasse.«
»Ist auch nicht so wichtig. Diensthabender sind
schließlich Sie, nicht wahr, Toot? Also schicken Sie diesen
hochinteressanten Burschen an folgende Adresse …« Der Stabsarzt
lehnte sich gegen die Barriere und schrieb, das Blatt mit Schultern
und Ellenbogen abschirmend, einige Zeilen auf die Rückseite der
letzten Zeichnung.
»Und was ist das?«, fragte der Rittmeister.
»Das? Das ist eine Einrichtung, Toot, die uns für
den Psychopathen sehr dankbar sein wird. Das garantiere ich
Ihnen.«
Der Rittmeister starrte unschlüssig auf das
Formular, ging dann in die entlegenste Ecke der Amtsstube und
winkte den Herrn Stabsarzt zu sich. Einige Zeit redeten sie
miteinander, halblaut, so dass man nur einzelne Wörter von Sogu
verstehen konnte: »… Propagandaabteilung … Schicken Sie ihn
mit einem verlässlichen Mann … So geheim nun auch wieder nicht …
Ich verbürge mich … Befehlen Sie ihm zu vergessen … Egal, dieser
Anfänger kapiert sowieso nichts …«
»Gut«, stimmte der Herr Rittmeister endlich zu.
»Schreiben Sie Ihren Begleitbrief.« Dann rief er: »Korporal
Waribobu!«
Waribobu erhob sich.
»Sind die Reisedokumente für den Soldaten Gaal
fertig?«
»Jawohl.«
»Ergänzen Sie sie um den unter Bewachung stehenden
Machsim. Soldat Gaal!«
Gai knallte die Absätze zusammen und nahm Haltung
an. »Hier, Herr Rittmeister!«
»Ehe Sie sich bei Ihrer neuen Dienststelle in der
Hauptstadt melden, überstellen Sie den Gefangenen an die auf diesem
Zettel vermerkte Adresse. Nach Ausführung des Befehls übergeben Sie
den Zettel dem diensthabenden Offizier am neuen Einsatzort. Die
Adresse vergessen Sie. Das ist mein letzter Auftrag an Sie, Gaal,
und Sie werden ihn erfüllen, wie es sich für einen tüchtigen
Gardisten gehört.«
»Zu Befehl!«, rief Gai, von ungeheurer Begeisterung
erfasst. Eine heiße Welle benebelnden Rausches überflutete ihn,
riss ihn fort und trug ihn schier zum Himmel. Oh, diese süßen,
diese unvergesslichen Minuten der Begeisterung; Minuten, die dein
ganzes Wesen durchdringen; Minuten, da dir Flügel wachsen; Minuten
sanfter Verachtung für alles Grobe, Materielle; Minuten, in denen
du danach lechzt, durch einen Befehl mit dem Feuer vereint sein,
ins Feuer geschleudert zu werden, Tausenden von Feinden, Millionen
von Kugeln entgegen, mitten unter wilde Horden - und das ist nicht
alles, es kommt noch besser, das Entzücken brennt und betört … O
Feuer! O Flamme! O Zorn! Und da ist es, da … Da erhebt er sich,
stark, schön und hochgewachsen, der Stolz der Brigade, unser
Korporal Waribobu, eine feurige Fackel, ein Denkmal
des Ruhms und der Treue, und er stimmt an, und wir singen mit,
alle, wie ein Mann …
Gardisten, voran, alle Feinde
bezwungen,
Voran, wider Festungen, in den Augen
Glut!
Es funkeln die Orden, im Kampfe errungen, So
funkelt noch frisch auf den Schwertern das Blut …
Alle sangen: Der wunderbare Herr Rittmeister Toot,
dieses Bild von einem Gardeoffizier, das vorbildlichste aller
Vorbilder, für den man mit Freuden, sofort, unter den Klängen
dieses Marsches, sein Leben, die Seele und alles gäbe … Der Herr
Stabsarzt Sogu, ein barmherziger Bruder, wie er im Buche steht,
rau, wie ein Soldat sein muss, und zärtlich wie Mutterhände … Und
unser Korporal Waribobu, bis ins Mark einer von uns, dieser alte
Haudegen, in Kämpfen ergraute Veteran. Oh, es blitzen die Knöpfe
und Tressen an seiner abgetragenen, ehrenvollen Uniformjacke, für
ihn zählt nur das Dienen, nichts als der Dienst … Seht ihr uns,
Unbekannte Väter? Hebt die Gesichter empor und schaut uns an! Ihr
seht doch alles, so seht auch, dass wir hier, im fernen,
unheilvollen Grenzgebiet unseres Landes, voller Begeisterung auch
unter Qualen für das Glück unserer Heimat zu sterben bereit
sind!
Unsre Eisenfäuste bezwingen jede
Schranke.
Die Unbekannten Väter bewahrn uns ihre
Gunst.
Oh, wie heult der Feind! Doch an Gnade kein
Gedanke.
Drum voran, Gardisten! Prächtige
Jungs!
Kämpfende Gardisten, des Gesetzes
Klingen!
Festen Schritts zerstampfen wir der Feinde
Brut!
Wenn wir treu und tüchtig jeden Feind
bezwingen,
Sind die Unbekannten Väter frohgemut!
Doch was ist das? Er singt nicht! Steht
breitbeinig da, die Hände auf die Barriere gestützt, und wiegt sein
idiotisches braunes Gesicht hin und her, seine Blicke wandern, und
er grinst die ganze Zeit, bleckt seine Zähne … Wen fletschst du an,
du Schuft? Oh, wie gern würde ich hingehen und mit voller Wucht
dreinschlagen, die Eisenfaust in diesen abscheulichen weißen Rachen
stoßen … Aber nein, das darf ich nicht, es wäre eines Gardesoldaten
unwürdig; er ist doch nur ein Psychopath, ein bedauernswerter
Krüppel, wahres Glück ist ihm unerreichbar, er ist blind, ein
Nichts, ein erbärmlicher menschlicher Torso … Und dieser rothaarige
Bandit krümmt sich dagegen in seiner Ecke vor unerträglichem
Schmerz … Zuchthäusler, Verbrechervisage - am Schlafittchen pack
ich dich, an deinem abscheulichen Bart! Steh auf, Mistkerl! Du hast
strammzustehen, wenn die Gardisten ihren Marsch singen! Und dann
eins übergezogen, und noch einmal, und auf das dreckige Maul, die
gemeinen Augen … Da hast du, und da …
Dann schleuderte Gai den Zögling Sef beiseite und
drehte sich, die Hacken zusammenschlagend, zum Herrn Rittmeister.
Wie jedes Mal nach so einem Ausbruch begeisterter Erregung klangen
ihm die Ohren, die Welt schwankte und verschwamm süß und mild vor
seinen Augen.
Korporal Waribobu, die Hand gegen die Brust
gepresst und vor lauter Anstrengung blau im Gesicht, hustete
schwach. Der Herr Stabsarzt trank gierig Wasser, direkt aus der
Karaffe, und nestelte dabei sein Taschentuch hervor. Er war
purpurrot und schweißnass im Gesicht. Finster und abwesend stierte
der Herr Rittmeister, als versuche er sich an etwas zu erinnern.
Und auf der Schwelle wälzte sich, ein schmutziger Haufen karierter
Lumpen, der rothaarige Sef. Das Gesicht zerschlagen, schluckte er
glucksend Blut und stöhnte schwach durch seine Zähne. Mach-sim
lachte nicht mehr. Seine Miene war jetzt starr wie bei einem
normalen Menschen, der Mund stand halb offen, und sein Blick war
auf Gai gerichtet.
»Soldat Gaal«, krächzte der Herr Rittmeister mit
brüchiger Stimme. »Äh … Ich wollte Ihnen etwas sagen … Oder habe
ich das schon? … Warten Sie, Sogu, lassen Sie mir wenigstens ein
Schlückchen Wasser übrig.«
3
Maxim erwachte mit schwerem Kopf. Im Zimmer war es
stickig; man hatte nachts wieder das Fenster geschlossen. Aber auch
ein offenes Fenster hätte wenig genützt - die Stadt lag zu nahe,
und über ihr hing, wie man am Tage deutlich sah, eine dicke, braune
Dunstglocke. Und der Wind trug die widerlichen Abgase von der Stadt
hierher; da halfen weder die Entfernung noch die fünfte Etage noch
der Park. Jetzt wäre eine Ionendusche recht, dachte Maxim. Und dann
nackt in die Natur hinaus - nicht in diesen halb verrotteten Park,
sondern in eine irdische Landschaft, irgendwo bei Leningrad, in der
Karelischen Landenge. Fünfzehn Kilometer in vollem Tempo um einen
See laufen, durch den See schwimmen und dann zwanzig Minuten
zwischen den glitschigen Unterwassersteinen umhertauchen, um die
Lunge zu trainieren … Er sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster,
beugte sich in den Nieselregen hinaus, atmete die feuchte Luft tief
ein und - musste husten, zu viel Dreck in der Luft, und die
Regentropfen hinterließen einen metallischen Geschmack im Mund. Mit
heulenden Motoren sausten Autos über die Schnellstraße. Unten vor
dem Fenster glänzte das nasse Laub, und auf der hohen gemauerten
Einfriedung glitzerten Scherben. Im Park kehrte eine Gestalt in
langem, triefendem Umhang das herabgefallene Laub zusammen. Durch
den Regenschleier hindurch konnte Maxim die Backsteingebäude einer
am Stadtrand gelegenen
Fabrik erkennen, und aus den beiden hohen Schornsteinen quollen
wie immer dicke Schwaden giftigen Rauchs und sanken anschließend zu
Boden.
Eine bedrückende, kranke Welt, unbehaglich und
deprimierend - wie jene Amtsstube, in der Menschen mit hellen
Knöpfen und schlechten Zähnen ohne erkennbaren Grund plötzlich zu
singen begonnen hatten, ja, sich geradezu heiser schrien, und Gai,
dieser angenehme, sympathische Bursche, aus heiterem Himmel über
den rotbärtigen Sef herfiel und ihn brutal zusammenschlug. Und der
hatte sich nicht einmal zur Wehr gesetzt! Eine unselige Welt. Der
radioaktive Fluss, das absurde Eisengefährt, die verpestete Luft
und diese schmuddeligen Reisenden in dem klobigen, dreistöckigen
Metallkasten auf Rädern, der graublauen Rauch in die Luft ausstieß.
Und was war das für eine hässliche Szene im Waggon, als ein paar
nach Fuselöl stinkende Grobiane mit ihrem Gegröle und unflätigen
Gesten eine ältere Frau zum Weinen brachten? Obwohl der Waggon
voller Leute war, trat niemand für sie ein. Alle schauten weg, nur
Gai sprang plötzlich auf, blass vor Zorn - oder auch vor Angst,
schrie ihnen etwas zu, und sie verschwanden. Eine Welt voller
Bosheit, Angst und Aggression. Alle hier waren entweder sehr
gereizt oder niedergeschlagen, mal das eine, mal das andere. Selbst
Gai, allem Anschein nach ein gutherziger Mensch, geriet mitunter in
eine plötzliche, unerklärbare Wut, stritt heftig mit den anderen
Passagieren, sah mich böse an und verfiel dann wieder unvermittelt
in einen Zustand vollkommener Erschöpfung. Die übrigen Reisenden
benahmen sich nicht besser. Stundenlang saßen oder lagen sie
friedlich auf den Bänken, unterhielten sich leise, lächelten
einander sogar zu. Auf einmal aber fauchte jemand seinen Nachbarn
an, der fauchte böse zurück; die Umsitzenden, anstatt sie zu
beruhigen, mischten sich ein, und schon hatte der Tumult den ganzen
Waggon erfasst: Alle schrien sich gegenseitig an, drohten einander,
schubsten sich
herum, man packte sich am Kragen, Fäuste flogen, Kinder weinten
lauthals und wurden wütend an den Ohren gezogen. Nach einiger Zeit
beruhigte sich die Lage wieder. Man ließ voneinander ab, tauschte
noch ein paar böse Blicke aus und wandte sich anderem zu. Manchmal
allerdings führten diese Auseinandersetzungen zu bizarren Szenen:
Augen traten aus den Höhlen, Gesichter bekamen flammend rote
Flecken, Stimmen verzerrten sich zu gellendem Gekreisch, einer
lachte laut und hysterisch, ein Zweiter sang, der Dritte streckte
die zitternden Hände empor und betete - ein Irrenhaus. Und am
Fenster zogen deprimierende Landschaften vorbei, graue, freudlose
Felder, verrußte Bahnhöfe, armselige Siedlungen, allüberall Ruinen.
Und spindeldürre, in Lumpen gekleidete Frauen sahen dem Zug mit
eingefallenen, traurigen Augen nach …
Maxim trat vom Fenster zurück, stand noch eine
Weile apathisch da und fühlte sich innerlich leer und völlig
erschöpft. Aber dann riss er sich zusammen, machte Morgengymnastik,
wobei er den klobigen Holztisch als Turngerät benutzte. So schnell
geht man vor die Hunde, dachte er besorgt. Noch ein, zwei Tage
halte ich das aus, dann muss ich hier weg, laufen, durch die Wälder
streifen. Vielleicht setze ich mich ins Gebirge ab, die Berge hier
sehen herrlich aus, wild. Allerdings sind sie ziemlich weit weg, in
einer Nacht schaffe ich es nicht bis dorthin. Wie nannte Gai sie?
Sartak. Ist das nun ein Eigenname oder steht das Wort für Gebirge
im Allgemeinen? Egal. Aber was soll ich überhaupt in den Bergen?
Zehn Tage bin ich schon hier und noch keinen Schritt
weitergekommen.
Maxim zwängte sich in die Duschkabine und rieb sich
ein paar Minuten lang prustend ab. Dieser stramme, künstliche Regen
war zwar etwas kühler, doch ansonsten genauso widerwärtig wie der
Regen vor dem Fenster - hart und kalkig, zudem gechlort und durch
rostige Rohre geschleust.
Er trocknete sich mit einem desinfizierten Handtuch
ab, zog die Shorts an und kehrte in das kleine Zimmer zurück -
unzufrieden mit sich und der ganzen Welt, mit dem trüben Morgen,
diesem stickigen Planeten, seiner idiotischen Situation und dem
entsetzlich fetten Frühstück, das er gleich würde essen müssen.
Dann machte er sein Bett - ein hässliches Metallgestell mit
Gitterrost, darauf eine gestreifte Matratze, so widerwärtig und
schmierig, dass sie Maxim an einen alten, fettigen Pfannkuchen
erinnerte.
Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch, es
dampfte und stank. Fischi machte schon wieder das Fenster zu.
»Guten Tag«, sagte Maxim zu ihr in der
Landessprache. »Nicht nötig, das Fenster.«
»Guten Tag«, erwiderte sie und schob die
zahlreichen Riegel vor. »Nötig. Es regnet. Ungesund.«
»Fischi«, sagte Maxim auf Russisch. Eigentlich hieß
sie Nolu, doch Maxim hatte sie gleich zu Anfang »Fischi« getauft,
wegen ihres Gesichtsausdrucks und ihres unerschütterlichen
Gleichmuts.
Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn an. Zum
hundertsten Mal schon legte sie den Finger an ihre Nasenspitze und
sagte: »Frau!«, danach deutete sie auf Maxim: »Mann!«, dann zeigte
sie auf den über der Stuhllehne hängenden sackartigen Kittel, den
Maxim hasste, und dozierte: »Kleidung. Muss sein!« Aus welchen
Gründen auch immer, sie konnte keinen Mann in kurzen Hosen sehen.
Für sie hatte sich ein Mann anzuziehen, und zwar vom Hals bis zu
den Füßen.
Während er den Kittel anzog, richtete sie sein
Bett, obwohl er ihr jedes Mal sagte, er mache das selbst. Sie schob
den Tisch in die Zimmermitte, den Maxim immer wieder an die Wand
rückte und drehte entschlossen die Heizung auf, die er später
wieder bis zum Anschlag zuschrauben würde. Und alle seine »nicht
nötig« zerschellten an ihren nicht weniger stereotypen »muss
sein«.
Nachdem er den einzigen, zerbrochenen Knopf seines
Kittels geschlossen hatte, setzte er sich an den Tisch und
stocherte mit der zweizinkigen Gabel lustlos in seinem Frühstück.
Dabei führte er mit Fischi den üblichen Dialog.
»Ich will nicht. Nicht nötig.«
»Muss sein. Essen. Frühstück.«
»Ich will nicht Frühstück. Schmeckt nicht.«
»Frühstück muss sein. Schmeckt gut.«
»Fischi«, sagte Maxim eindringlich, »Sie sind ein
mitleidloser Mensch. Kämen Sie zu mir auf die Erde, würde ich
Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Ihnen etwas nach Ihrem
Geschmack vorzusetzen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte sie bedauernd, »was
bedeutet ›Fischi‹?«
Während er angewidert auf einem fetten Bissen
kaute, griff Maxim nach einem Blatt Papier und skizzierte einen
Karpfen von vorne. Sie sah das Bild aufmerksam an und steckte es in
die Tasche ihres Kittels. Alle Zeichnungen Maxims nahm sie an sich
und trug sie irgendwohin. Maxim zeichnete viel und gern; in seiner
Freizeit und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, gab es nichts
anderes zu tun. Er zeichnete Menschen und Tiere, Tabellen,
Diagramme und anatomische Schnittbilder. Professor Megu zeichnete
er so, dass er aussah wie ein Nilpferd, und er zeichnete Nilpferde,
die aussahen wie Professor Megu. Er entwarf universelle
Lincos-Tabellen, schematische Darstellungen von Maschinen und
Diagramme historischer Abläufe. Auf diese Weise verschwanden
Unmengen von Papier in Fischis Tasche, allerdings ohne jegliche
Auswirkung auf die Prozedur der Kontaktaufnahme: Professor Megu,
eben das Nilpferd, hatte seine eigenen Methoden, und er hatte nicht
vor, sie aufgrund von Zeichnungen, Tabellen und Skizzen zu
verändern.
Die universelle Lincos-Tabelle, die man zu Beginn
jeder interplanetaren Kommunikation studieren sollte, interessierte
das Nilpferd überhaupt nicht. In der Landessprache wurde Maxim nur
von Fischi unterrichtet, und auch sie tat das nur, um ihm besser
einschärfen zu können, dass er das Fenster zu schließen und nicht
ohne Kittel herumzulaufen hätte. Es wurden keinerlei Experten zur
Verbesserung der Verständigung hinzugezogen. Mit Maxim befasste
sich ausschließlich das Nilpferd.
Immerhin stand dem Professor eine ziemlich
leistungsstarke Analysetechnik zur Verfügung, eine Mentoskopanlage,
auf deren Untersuchungsstuhl Maxim jeden Tag zwischen vierzehn und
sechzehn Stunden zubrachte. Nilpferds Mentoskop gestattete es, tief
in die Erinnerung einzudringen, und lieferte dabei eine
außerordentlich hohe Auflösung. Möglich, dass man mit so einem
Gerät auf Sprachkenntnisse verzichten konnte. Nilpferds
Vorstellungen von der Nutzung des Mentoskops waren indes recht
eigenartig. Er weigerte sich kategorisch, ja, sogar mit einer
gewissen Entrüstung, Mentogramme von sich selbst zu demonstrieren,
und seine Reaktionen auf Maxims Mentogramme waren ebenso sonderbar.
Maxim hatte sich extra ein ganzes Programm von Erinnerungen
zurechtgelegt, um den Einheimischen eine möglichst umfassende
Vorstellung vom sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben
auf der Erde zu vermitteln. Auf Mentogramme dieser Art reagierte
Professor Megu jedoch ausgesprochen gelangweilt. Er verzog das
Gesicht und brummte vor sich hin, entfernte sich zwischendurch,
telefonierte oder setzte sich an den Tisch und nörgelte an seinem
Assistenten herum; dabei wiederholte er immer wieder den Ausdruck
»Massaraksch«. Sprengte aber Maxim auf dem Bildschirm einen Eisberg
in die Luft, der ein Schiff eingeklemmt hatte, zerfetzte er mit dem
Scorcher einen Panzerwolf oder entriss einem gigantischen
Pseudokraken sein Expresslabor, war Nilpferd total fasziniert und
wich keinen Meter vom Mentoskop. Er quietschte vor Vergnügen,
schlug sich begeistert auf die
Schenkel und brüllte den erschöpften Assistenten an, der die
Aufzeichnung der Bilder überwachte. Der Anblick einer
Chromosphärenprotuberanz versetzte Megu geradezu in Ekstase, als
hätte er nie im Leben etwas Derartiges gesehen. Sehr angetan zeigte
er sich auch von den Liebesszenen, die Maxim größtenteils
Spielfilmen entlehnte, um den Einheimischen einen Eindruck vom
Gefühlsleben der Menschheit zu vermitteln.
Nilpferds abstruse Reaktionen auf die Mentogramme
brachten Maxim auf trübe Gedanken: Vielleicht war dieser Mann gar
kein Professor, sondern nur ein Mentoskop-Ingenieur, der das
Material für die eigentliche Kontaktkommission aufbereitete. Das
Treffen mit den entscheidenden Leuten stünde Maxim also noch bevor,
und es wäre völlig ungewiss, wann es stattfände. So gesehen wäre
Megu eine recht einfältige, kindische Person - wie ein kleiner
Junge, der sich in »Krieg und Frieden« nur für die
Schlachtenschilderungen interessierte. Dieser Gedanke aber war
demütigend: Immerhin vertrat Maxim die Erde und hatte damit das
Anrecht auf einen ernsthafteren Kontaktpartner.
Möglicherweise lag der Planet aber auch am
Schnittpunkt ihm unbekannter interstellarer Trassen, und das
Auftauchen von Fremdplanetariern war hier etwas Alltägliches. So
alltäglich, dass man nicht für jeden einzelnen Neuankömmling
hochrangige Spezialkommissionen einberief, sondern einfach die
wichtigsten Informationen aus ihm herauszog und es dabei bewenden
ließ. Für diese Möglichkeit sprach das routinierte Vorgehen der
Leute mit den hellen Knöpfen, die ja offenbar keine Spezialisten
waren und den Ankömmling ohne großes Brimborium zu der für ihn
zuständigen Stelle geschickt hatten. Oder aber es waren früher
einmal Nichthumanoide hier aufgetaucht, die einen so schlimmen
Eindruck hinterlassen hatten, dass man nun allen Fremdplanetariern
gehöriges Misstrauen entgegenbrachte. In diesem Fall wäre
Professor Nilpferds Theater mit dem Mentoskop nur ein
Ablenkungsmanöver, eine Kontaktaufnahme zum Schein sozusagen, bis
gewisse hohe Instanzen über sein Schicksal entschieden
hätten.
So oder so sitze ich in der Tinte, dachte Maxim,
während er den letzten Bissen hinunterwürgte. Ich muss schnellstens
die Sprache lernen, dann werde ich bald wissen, woran ich
bin.
»Gut«, lobte Fischi und räumte den Teller ab.
»Gehen wir.«
Maxim seufzte und stand auf. Sie traten in den
langen, schmutzig blauen Gang hinaus. Rechts und links reihten sich
verschlossene Türen aneinander, genau solche wie die zu Maxims
Zimmer. Nie hatte er hier jemanden getroffen, zweimal allerdings
seltsame, erregte Stimmen durch die Türen gehört. Womöglich saßen
dort auch Fremdplanetarier, die darauf warteten, dass über ihr
Schicksal entschieden würde?
Mit langen Männerschritten und steif wie ein Stock
ging Fischi ihm voraus, und Maxim hatte plötzlich Mitleid mit ihr.
Anscheinend gab es hierzulande keine Kosmetikindustrie, und so
musste sich die arme Fischi mit ihrem Äußeren abfinden. Mit diesen
fettigen, farblosen Haaren, die unter der weißen Haube
hervorschauten, den hässlich dürren Beinen und den großen, eckigen
Schulterblättern, die sich deutlich unter dem Kittel abzeichneten,
konnte sie sich unmöglich wohlfühlen - höchstens bei
Fremdplanetariern, und auch da nur bei den nichthumanoiden. Der
Assistent des Professors behandelte Fischi von oben herab, und
Nilpferd beachtete sie gar nicht und sprach sie nie anders an als
mit »Yyyj …« - sicher eine Variante des interkosmischen »Ey …«
Maxim fiel ein, dass er sie allerdings auch nicht gerade
vorbildlich behandelte, und verspürte Gewissensbisse. Er holte
Fischi ein, streichelte ihr über die knochige Schulter und sagte:
»Nolu ist prima Mädchen. Gut.«
Als sie ihm nun das hagere Gesicht zuwandte,
ähnelte sie mehr denn je einem erstaunten Karpfen von vorn. Sie
schob
seine Hand zurück, zog die dünnen Brauen zusammen und erklärte in
strengem Ton: »Maxim nicht gut. Mann. Frau. Geht nicht.«
Verlegen blieb Maxim wieder ein Stück zurück. So
erreichten sie das Ende des Flurs. Fischi stieß eine Tür auf und
sie betraten einen großen hellen Raum - Maxim nannte ihn das
Wartezimmer. Vor den Fenstern hingen geschmacklose Gitter aus
dicken Eisenstäben; eine hohe, lederbezogene Tür führte in
Nilpferds Labor, und neben der Türe hockten - warum auch immer -
zwei groß gewachsene Einheimische, die nicht reagierten, wenn man
sie ansprach, und den Eindruck machten, als befänden sie sich in
fortwährender Trance.
Wie immer begab sich Fischi sofort zu Nilpferd und
ließ Maxim im Wartezimmer zurück. Und wie immer grüßte er die
beiden an der Tür, bekam aber - wie immer - keine Antwort. Die Tür
zum Labor blieb halb offen; so konnte Maxim die dröhnende, zornige
Stimme Professor Megus hören und das helle Knacken des
eingeschalteten Mentoskops. Er trat ans Fenster und betrachtete die
trübe, regennasse Landschaft, sah die bewaldete, von der Autobahn
zerschnittene Ebene, den hohen, im Nebel kaum zu erkennenden
Metallturm. Doch bald wurde ihm langweilig. Und ohne abzuwarten,
dass man ihn rief, ging er ins Labor.
Hier roch es wie gewohnt angenehm nach Ozon, die
Synchronbildschirme flimmerten. Der abgekämpfte, kahlköpfige
Assistent mit dem unaussprechlichen Namen, den Maxim immer
»Stehlampe« nannte, tat so, als stellte er die Geräte ein; in
Wirklichkeit aber lauschte er neugierig. Denn im Labor tobte ein
Streit.
An Nilpferds Tisch, in Nilpferds Sessel saß ein
unbekannter Mann mit quadratischem, schuppigem Gesicht und roten,
verquollenen Augen. Nilpferd stand vor ihm, breitbeinig, die Hände
in die Hüften gestemmt und leicht vornübergebeugt.
Er brüllte. Sein Hals war blau angelaufen, die Glatze leuchtete
dunkelrot, und aus seinem Mund spritzte nach allen Seiten
Spucke.
Maxim wollte keine Aufmerksamkeit erregen, schlich
an seinen Platz und begrüßte halblaut den Assistenten. Stehlampe,
ein nervöser und schreckhafter Typ, sprang entsetzt zur Seite und
stolperte dabei über ein dickes Kabel. In letzter Sekunde fing
Maxim ihn an den Schultern auf, aber Stehlampe verdrehte die Augen
und klappte zusammen. Kein Tröpfchen Blut war mehr in seinem
Gesicht. Was für ein seltsamer Mensch: Er hatte panische Angst vor
Maxim. Schon eilte Fischi herbei, mit einem geöffneten Fläschchen
in der Hand, das sie Stehlampe sofort unter die Nase hielt. Er
erwachte langsam wieder zum Leben, und bevor er noch einmal das
Bewusstsein verlieren konnte, lehnte Maxim ihn an einen
Eisenschrank und entfernte sich.
Er ging zu seinem Platz, setzte sich auf den Stuhl
der Mentoskopanlage und bemerkte plötzlich, dass der Unbekannte
Professor Megu gar nicht mehr zuhörte, sondern ihn, Maxim,
musterte. Maxim lächelte freundlich. Der Unbekannte neigte leicht
den Kopf. In diesem Augenblick donnerte Nilpferd mit der Faust auf
den Tisch und griff nach dem Telefon. Der Unbekannte nutzte die
eingetretene Pause für einige Worte, von denen Maxim aber nur »muss
sein« und »nicht nötig« verstand, nahm dann ein hellblaues Papier
mit grünem Rand vom Tisch und wedelte damit vor Nilpferds Gesicht.
Der winkte ärgerlich ab und blaffte gleich darauf ins Telefon.
»Muss sein«, »nicht nötig« und das nicht entschlüsselbare
»Massaraksch« sprudelten aus seinem Mund, außerdem verstand Maxim
das Wort »Fenster«. Alles endete damit, dass Nilpferd wütend den
Hörer hinwarf, den Unbekannten noch einige Male anschnauzte, ihn
dabei von Kopf bis Fuß mit Spucke bespritzte, völlig außer sich aus
dem Zimmer rannte und die Tür hinter sich zuschlug.
Der Fremde wischte sich mit einem Taschentuch das
Gesicht ab, stand auf, öffnete eine große flache Schachtel, die auf
dem Fensterbrett lag, und holte einige dunkle Kleidungsstücke
heraus.
»Kommen Sie her«, wandte er sich an Maxim. »Ziehen
Sie das an.«
Maxim blickte zu Fischi hinüber.
»Ziehen Sie es an«, sagte sie. »Muss sein.«
Maxim begriff: Das war die langersehnte
Schicksalswende. Endlich hatte irgendwer irgendwo irgendetwas
entschieden. Fischis Belehrungen vergessend, warf Maxim an Ort und
Stelle den unförmigen Kittel ab und zog sich das neue Gewand an. Es
war weder schön noch bequem, aber immerhin genauso wie das des
Fremden. Man hätte sogar glauben können, dass dieser seine eigenen
Wechselsachen geopfert hatte, denn die Ärmel der Jacke waren zu
kurz, die Hose rutschte und hing hinten weit herunter. Den
Anwesenden aber schien Maxims neuer Aufzug zu gefallen: Der
Unbekannte nickte zufrieden mit dem Kopf; Fischi, deren
Gesichtszüge sich in einem milden Lächeln entspannten - soweit das
bei einem Karpfen möglich ist -, zupfte Maxims Jacke zurecht, und
sogar Stehlampe, der sich hinter dem Pult verschanzt hatte, verzog
den Mund zu einem Grinsen.
»Kommen Sie«, sagte der Fremde und ging zu der Tür,
durch die Nilpferd soeben davongestürmt war.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Maxim von
Fischi. »Danke«, fügte er auf Russisch hinzu.
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Fischi. »Maxim gut.
Maxim groß. Muss sein.«
Sie war wohl gerührt. Vielleicht aber auch besorgt,
weil der Anzug schlecht saß. Maxim winkte der bleichen Stehlampe zu
und eilte dem Fremden hinterher.
Sie durchschritten mehrere Räume, in denen große,
altertümliche Apparaturen standen und fuhren dann in einem
scheppernden Fahrstuhl hinunter ins Erdgeschoss. Dort fand sich
Maxim in dem geräumigen, niedrigen Foyer wieder, in das ihn Gai vor
einigen Tagen gebracht hatte. Wie damals mussten sie warten, bis
diverse Papiere ausgefertigt waren: Ein ulkiger kleiner Mann mit
lächerlichem Kopfputz kritzelte etwas auf rosa Formulare, der
Unbekannte mit dem quadratischen Gesicht und den roten Augen
kritzelte etwas auf grüne Formulare, und ein Mädchen mit Brille
brachte violette Stempel auf den Formularen an; dann tauschte man
Formulare und Stempel aus und kam dabei so durcheinander, dass man
anfing, sich gegenseitig zu beschimpfen, und zum Telefon griff -
bis schließlich der kleine Mann mit dem lächerlichen Hut zwei grüne
und ein rosa Formular an sich nahm, Letzteres in zwei gleiche Teile
riss, von denen er eins dem Mädchen gab, das die Formulare hatte.
Der Fremde mit dem schuppigen Gesicht hingegen bekam zwei rosa
Formulare ausgehändigt, eine dicke, dunkelblaue Karte sowie eine
runde Prägemarke. Das reichte er eine Minute später einem groß
gewachsenen Mann mit hellen Knöpfen an der Ausgangstüre, nur
zwanzig Schritte von dem kleinen Mann mit dem albernen Hut
entfernt. Sie durften passieren, doch als sie schon draußen waren,
schrie ihnen der groß gewachsene Mann heiser etwas hinterher. Der
rotäugige Fremde kehrte noch einmal zurück, und es stellte sich
heraus, dass er vergessen hatte, das dunkelblaue Kärtchen
einzustecken. Dann nahm er das dunkelblaue Kärtchen an sich und
verstaute es mit einem tiefen Seufzer in seiner Innentasche. Nach
dieser komplizierten Prozedur nahm Maxim, völlig verschwitzt, in
einem unfassbar langen Automobil Platz, rechts neben dem
Rotäugigen, der sehr verärgert war, schwer und heftig atmete und
immer wieder Nilpferds Lieblingsspruch »Massaraksch!«
wiederholte.
Das Auto rollte sanft an, schlängelte sich durch
die blecherne Herde geparkter Wagen und fuhr über den großen
Asphaltplatz vor dem Gebäude, vorbei an einem riesigen Beet mit
welken Blumen, dann ein Stück an der hohen gelben Mauer entlang,
deren Oberseite mit Scherben übersät war, bog in die Auffahrt zur
Hauptstraße ein und bremste dort scharf.
»Massaraksch!«, fauchte der Rotäugige und schaltete
den Motor aus.
Auf der Straße wälzte sich eine endlose Kolonne
vollkommen gleich aussehender Militärlaster vorwärts, deren
Führerhäuser aus verbogenen Blechen zusammengenietet waren. Über
ihren eisernen Aufbauten befanden sich merkwürdige rundliche
Gebilde, die in festen Reihen angeordnet waren und metallisch
glänzten. Die Lastwagen fuhren langsam und in gebührlichem Abstand,
ihre Motoren tuckerten im Takt und verbreiteten bestialischen
Gestank.
Maxim inspizierte die Beifahrertür, um
herauszufinden, was wozu diente, und schloss das Seitenfenster.
Ohne ihn dabei anzusehen, gab sein Nachbar einige Sätze von sich,
von denen Maxim kein Wort verstand.
»Ich verstehe nicht«, sagte Maxim.
Der Rotäugige wandte sich verwundert zu ihm und
stellte, der Intonation nach zu urteilen, eine Frage. Maxim
schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nicht«, wiederholte er.
Der Rotäugige schien sich noch mehr zu wundern,
griff in seine Seitentasche und zog eine flache, mit langen weißen
Stäbchen gefüllte Schachtel hervor. Eines davon steckte er sich in
den Mund, die übrigen reichte er Maxim. Maxim nahm die Schachtel
aus Höflichkeit und betrachtete sie. Es war eine einfache
Papierschachtel und ihr Inhalt roch scharf nach getrockneten
Pflanzen. Maxim nahm eines der Stäbchen, biss davon ab und kaute.
Dann öffnete er hastig das Fenster, lehnte sich vornüber und
spuckte aus. Das Zeug war ungenießbar.
»Nicht nötig«, sagte er, als er seinem Begleiter
die Schachtel zurückgab. »Schmeckt nicht.«
Der Rotäugige starrte ihn mit offenem Mund an. Das
weiße Stäbchen klebte in seinem Mundwinkel. Maxim tippte, den
regionalen Gepflogenheiten entsprechend, an seine Nasenspitze und
stellte sich vor: »Maxim.«
Der Rotäugige murmelte etwas, hielt plötzlich ein
Flämmchen in der Hand, tauchte das Ende des Stäbchens hinein und
schon füllte sich der Innenraum des Wagens mit abscheulichem
Qualm.
»Massaraksch!«, schrie Maxim empört und stieß die
Tür auf. »Nicht nötig!«
Er wusste jetzt, was es für Stäbchen waren. Als er
mit Gai hierhergefahren war, hatten fast alle Männer die Luft im
Waggon mit solchem Qualm verpestet, dazu jedoch keine weißen
Stäbchen benutzt, sondern längliche Holzgegenstände, die an
altertümliche Kinderpfeifen erinnerten. Sie inhalierten auf diese
Weise eine Droge - zweifellos eine sehr gesundheitsschädliche
Angewohnheit. Damals im Zug hatte Maxim sich damit getröstet, dass
auch der ihm so sympathische Gai diese Unsitte kategorisch
ablehnte.
Der Fremde warf sein Drogenstäbchen aus dem Fenster
und wedelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht, was auch immer
das bedeuten mochte. Für alle Fälle wedelte auch Maxim mit der Hand
vor seinem Gesicht und nannte noch einmal seinen Namen. Wie sich
erwies, hieß der Rotäugige Fank, und damit war ihr Gespräch
beendet. Etwa fünf Minuten lang tauschten sie freundliche Blicke
aus, zeigten abwechselnd auf die Lastwagenkolonne und sagten
»Massaraksch!«. Dann war die endlose Kolonne zu Ende und Fank bog
in die große Chaussee ein.
Wahrscheinlich hatte er es sehr eilig - zumindest
beschleunigte er den Wagen mit dröhnendem Motor, schaltete ein
markerschütternd lautes, heulendes Gerät ein und raste wie
ein Wahnsinniger über die Schnellstraße. Er überholte die
Lastwagenkolonnen und scherte sich dabei weder um Verkehrsregeln
noch um Maxims entsetztes Gesicht oder den millimeterknapp
vorbeipfeifenden Gegenverkehr.
Als Nächstes überholten sie - am linken
Randstreifen entlangschlingernd - einen breiten roten Kutschwagen,
dessen Fahrer einsam und vom Regen völlig durchnässt war;
passierten ein hölzernes Fuhrwerk mit eiernden Speichenrädern, das
von einem seltsamen, urzeitlichen Tier gezogen wurde; trieben mit
ihrer Sirene in Regenmäntel gehüllte Fußgänger in den Straßengraben
und flogen unter dem tief hängenden Blätterdach einer ausladenden
Allee hindurch. Fank erhöhte weiter die Geschwindigkeit, und immer
lauter pfiff der Fahrtwind um die Karosserie. Aufgeschreckt vom
Sirenengeheul flüchteten die Fahrzeuge vor ihnen auf den
Randstreifen, um den Weg freizumachen. Maxim hatte den Eindruck,
dass sich der Wagen nicht für dieses Tempo eignete und auf der
Straße zu schwimmen begann; er bekam ein flaues Gefühl im
Magen.
Endlich tauchten links und rechts der Straße Häuser
auf. Sie hatten die Stadt erreicht, und Fank war gezwungen,
langsamer zu fahren. Bei seiner Ankunft in der Stadt vor ein paar
Tagen waren Maxim und Gai am Bahnhof in einen öffentlichen, völlig
überfüllten Bus umgestiegen. Er war mit dem Kopf an die niedrige
Decke gestoßen, ringsum wurde geflucht und geraucht, die Nachbarn
traten ihm rücksichtslos auf die Füße und stießen ihm die
Ellenbogen in die Seiten. Es war spät am Abend, die Fenster des
Busses waren verdreckt und verstaubt. Zudem spiegelte sich in ihnen
das trübe Licht der Innenbeleuchtung, und so hatte Maxim nichts von
der Stadt zu sehen bekommen. Nun aber bekam er Gelegenheit
dazu.
Die Straßen waren unverhältnismäßig eng und
verstopft vom dichten Verkehr. Eingezwängt zwischen den
unterschiedlichsten Fahrzeugen - Autos, Lastwagen, Kutschen und
Fuhrwerken
-, kam Fanks Wagen kaum voran. Direkt vor ihnen fuhr ein
voluminöser Lastwagen, auf dessen Rückwand sich geschmacklose bunte
Schriftzüge und grobe Darstellungen von Menschen und Tieren
befanden. Links neben ihnen quälten sich im selben Tempo zwei
identische Personenwagen voran, voll besetzt mit wild
gestikulierenden Männern und Frauen - mit hübschen, attraktiven
Frauen übrigens, nicht solchen wie Fischi. Noch weiter links
rumpelte funkensprühend eine Art elektrischer Zug vorbei,
vollgepfropft mit Passagieren, die in Trauben aus allen Türen zu
quellen schienen. Rechter Hand befand sich ein Gehweg - ein
einfacher Asphaltstreifen, der für den Verkehr gesperrt war und
über den sich ein dichter Strom vorwiegend grau oder schwarz
gekleideter Passanten wälzte. Diese überholten sich gegenseitig,
stießen zusammen, wichen einander aus oder drängelten; liefen
immerzu in geöffnete, hell erleuchtete Türen und mischten sich
unter die Menschenmenge, die hinter den riesigen, beschlagenen
Schaufenstern wimmelte. Zuweilen ballten sie sich zu großen Gruppen
zusammen, bildeten Staus und Strudel und reckten die Hälse, um
irgendwohin einen Blick zu erhaschen. Viele von diesen Menschen
hatten bleiche, ausgemergelte Gesichter wie Fischi, fast alle waren
hässlich, krankhaft dürr, linkisch und unbeholfen. Und dennoch
machten sie einen zufriedenen Eindruck: Sie lachten viel,
verhielten sich ungezwungen, ihre Augen leuchteten, und überall
hörte man lebhafte, gut gelaunte Stimmen. Es scheint doch eine
glückliche Welt zu sein, dachte Maxim. Die Straßen sind zwar
schmutzig, aber nicht voller Unrat. Auch die Häuser strahlen
Lebensfreude aus: Fast in sämtlichen Fenstern brennt Licht an
diesem trüben Tag, und überall sieht man beleuchtete
Reklameschilder. An elektrischem Strom kann es also nicht mangeln.
Und was die eingefallenen Gesichter betrifft - kann man bei diesem
Lärmpegel und einer solchen Luftverschmutzung anderes erwarten?
Ihre Welt ist ärmlich, ungesund
und missorganisiert - trotzdem aber hat man nicht das Gefühl, dass
die Menschen unglücklich sind.
Doch plötzlich änderte sich etwas auf der Straße.
Erregte Rufe erschallten. Ein Mann kletterte auf einen
Laternenmast, hängte sich daran und brüllte etwas auf die Straße
herab, dabei fuchtelte er wild mit der freien Hand. Die Menschen
auf dem Gehweg fingen an zu singen. Sie blieben stehen, rissen sich
die Kopfbedeckungen herunter, verdrehten die Augen und sangen, ja,
schrien sich die Kehlen heiser. Dabei erhoben sie ihre schmalen
Gesichter zu den riesigen bunten Schriftzügen, die quer über der
Straße aufgeleuchtet waren.
»Massaraksch …«, zischte Fank und sein Wagen kam
ins Schleudern.
Maxim sah ihn an. Fank war totenbleich. Seine Züge
hatten sich verzerrt. Kopfschüttelnd nahm er eine Hand vom Lenkrad
und starrte auf seine Uhr. »Massaraksch …«, stöhnte er, dann noch
einige Worte, von denen Maxim nur »verstehe ich nicht«
kannte.
Fank schaute über seine Schulter nach hinten und
sein Gesicht verkrampfte sich noch mehr. Maxim blickte sich
ebenfalls um, entdeckte jedoch nichts Besonderes, nur einen
grellgelben, geschlossenen Kastenwagen.
Das Geschrei auf der Straße war unerträglich
geworden, doch Maxim achtete nicht weiter darauf. Fank verlor
offensichtlich gerade das Bewusstsein, der Wagen aber fuhr weiter.
Dann bremste der Laster vor ihnen, seine Bremslichter leuchteten
auf, die beschmierte Rückwand rauschte heran, dann ein
abscheuliches Knirschen, ein dumpfer Schlag, und die verbeulte
Motorhaube von Fanks Wagen stand senkrecht nach oben.
»Fank!«, rief Maxim. »Fank! Nicht nötig!«
Fank war zusammengesunken, hatte Arme und Kopf auf
das ovale Lenkrad gestützt und stöhnte laut. Ringsum kreischende
Bremsen und wildes Hupen - der Verkehr kam zum
Erliegen. Maxim rüttelte Fank an der Schulter, ließ dann von ihm
ab, öffnete die Tür, lehnte sich weit hinaus und schrie auf
Russisch: »Hierher! Ihm ist schlecht!«
Neben ihrem Wagen sammelte sich nun eine laut
singende Menge. Die Herandrängenden gestikulierten wild mit den
Händen, ballten die emporgereckten Fäuste, und ihre nach oben
verdrehten, blutunterlaufenen Augen schienen aus den Höhlen
hervorzuquellen. Maxim wusste nicht, was er davon zu halten hatte.
Regten sich die Leute über den Unfall auf? Gaben sie sich
besinnungsloser Freude hin? Oder drohten sie jemandem? Es war
sinnlos, ihnen etwas zuzurufen, denn man verstand sein eigenes Wort
nicht, und so wandte sich Maxim wieder Fank zu. Der hatte sich
inzwischen zurückgelehnt, den Kopf in den Nacken gelegt und
massierte sich mit aller Kraft Schläfen, Wangen und Schädel. Auf
seinen Lippen schäumte Speichel. Ihn müssen unerträgliche Schmerzen
quälen, dachte Maxim, packte Fank fest an den Ellenbogen, spannte
den eigenen Körper an und versuchte, den Schmerz zu sich
überzuleiten. Er war nicht sicher, ob das bei einem außerirdischen
Wesen gelingen würde. Er suchte nach Nervenkontakt, aber er fand
keinen. Zudem nahm jetzt Fank seine Hände von den Schläfen und
versuchte ihn wegzustoßen, obwohl er dazu viel zu schwach war.
Dabei murmelte er weinerlich und verzweifelt vor sich hin. Maxim
verstand nur: »Gehen Sie, gehen Sie …« Fank war ganz offensichtlich
nicht mehr Herr seiner Sinne.
In dem Moment wurde die Fahrertür aufgerissen, und
Maxim sah zwei erhitzte Gesichter unter schwarzen Baretten, die
sich in den Innenraum schoben; Reihen metallener Knöpfe blitzten
auf … Und im selben Moment packten andere, harte und kräftige Hände
Maxim an der Schulter, an Arm und Hals und zerrten ihn von Fank weg
aus dem Wagen. Maxim sträubte sich nicht, denn er fühlte sich weder
aggressiv noch bösartig behandelt - im Gegenteil. Er wurde
abgedrängt in
die lärmende Menge und sah, wie zwei Barettträger den
zusammengekrümmten Fank zu dem gelben Kastenwagen schleiften,
während drei andere Uniformierte die tobenden Massen von ihm
fernhielten. Gleich darauf schloss sich der Mob um den ramponierten
Wagen und begann grölend daran zu zerren. Dann sah Maxim, wie die
Karosse langsam hochgehoben und auf die Seite gewälzt wurde - schon
lag sie mit träge kreisenden Rädern auf dem Dach. Ein paar Leute
kletterten siegestrunken hinauf, alle sangen und schrien, erfasst
von einer rasenden, fanatischen Euphorie.
Maxim wurde immer weiter abgedrängt, bis zu einer
Hauswand, wo man ihn rücklings gegen eine nasse Schaufensterscheibe
drückte. Er reckte den Hals und beobachtete über die Köpfe hinweg,
wie sich der gelbe Kastenwagen in Bewegung setzte. Mit
Sirenengeheul und einer Batterie gleißend heller Lichter auf dem
Dach bahnte er sich einen Weg durch das Gewimmel von Menschen und
Fahrzeugen und verschwand allmählich aus dem Blickfeld.
4
Am späten Abend hatte Maxim genug von dieser
Stadt. Er wollte nirgendwo mehr hingehen, sich nichts mehr ansehen.
Er hatte Hunger. Den ganzen Tag war er unterwegs gewesen, hatte
ungewöhnlich viel zu sehen bekommen und kaum etwas verstanden,
durch bloßes Zuhören einige neue Wörter gelernt und sich ein paar
der hiesigen Buchstaben durch Schilder und Plakate erschlossen.
Fanks Unfall wunderte und verwirrte ihn noch immer, aber er war
froh, wieder sein eigener Herr zu sein. Er liebte seine
Selbstständigkeit. Sie hatte ihm sehr gefehlt, als er in Nilpferds
vierstöckigem Termitenbau
mit schlechter Ventilation saß. Nach kurzem Überlegen beschloss
er, für einige Zeit verlorenzugehen. Sicher, Höflichkeit war eine
Zier und die Kontaktaufnahme von elementarer Wichtigkeit, aber er
brauchte auch Informationen - und eine bessere Gelegenheit, sich
selbst ein Bild zu machen, würde es nicht geben …
Die Stadt befremdete ihn. Alles schien sich hier
auf dem Boden abzuspielen: Der gesamte Verkehr lief entweder auf
oder unter der Erde ab; die gigantischen Räume zwischen und über
den Häusern aber blieben leer und ungenutzt - verschenkt an Rauch,
Regen und Nebel. Die Stadt war grau, farblos und voller Qualm. Sie
war monoton - nicht, was ihre Gebäude betraf, es gab auch schöne
darunter; nicht wegen des eintönigen Menschengewimmels auf den
Straßen, der unendlichen Nässe oder dem nahezu flächendeckend
verlegten Asphalt - nein, die Monotonie war überall und
allgegenwärtig. Die Stadt wirkte auf Maxim wie ein riesiges
Uhrwerk, in dem sich zwar kein Teilchen wiederholt, aber alle einem
stets gleichen, monotonen Rhythmus folgen, sich in ihm bewegen,
kreisen, ineinandergreifen und sich wieder lösen. Jede Veränderung
dieses Rhythmus würde nur eins bedeuten: Störung, Bruch und
Stillstand. Straßen mit hohen steinernen Gebäuden wechselten sich
ab mit kleinen Gassen, in denen Holzhäuschen standen; die
pulsierenden Menschenmassen mit der Leere weitläufiger Plätze;
graue, braune und schwarze Anzüge unter eleganten Capes wechselten
mit schäbiger Kleidung unter abgewetzten Mänteln - ebenfalls in
grau, braun oder schwarz; der gleichmäßige, dumpfe Lärm wechselte
sich ab mit plötzlich einsetzendem wilden und triumphierenden
Hupen, mit Rufen und Gesang. All das hing irgendwie zusammen, war
fest verzahnt und seit langem durch unbekannte Fäden miteinander
verwoben und vorgegeben; nichts hatte an sich eine Bedeutung. Alle
Leute sahen gleich aus und handelten gleich. Man musste nur
achtgeben und verstehen, nach
welchen Regeln die Straße überquert wurde, und schon verschwand
man in der Menge und hätte sich ewig so weiterbewegen können, ohne
die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Wahrscheinlich war diese
Welt sehr kompliziert und wurde von unzähligen Gesetzen gesteuert;
doch eins davon - und zwar das wichtigste - hatte Maxim schon für
sich erkannt: Tu das, was alle tun, und genauso, wie sie es tun.
Zum ersten Mal in seinem Leben wollte Maxim so sein wie alle
anderen.
Manchmal sah er Leute, die sich nicht so verhielten
wie die Menge, und diese Leute erregten heftigen Widerwillen in
ihm: Sie drängten sich gegen den Strom, torkelten, klammerten sich
an Passanten fest, stolperten und fielen. Es ging ein unerwarteter,
widerlicher Geruch von ihnen aus; manche blieben einfach der Länge
nach an einer Wand im Regen liegen. Die Passanten machten einen
Bogen um sie und rührten sie nicht an.
Und Maxim verhielt sich wie alle anderen. Mit der
Menge stürzte er in die großen öffentlichen Warenlager, die sich
unter schmutzigen Glasdächern befanden, und mit der Menge verließ
er sie wieder. Wie alle übrigen fuhr er unter die Erde, um sich in
überfüllte, laut polternde Elektrozüge zu zwängen, fuhr irgendwohin
und wurde dann wieder vom Menschenstrom bis an die Oberfläche
getrieben, auf andere Straßen, die aber den vorherigen aufs Haar
glichen. Wenn sich die Menschenströme teilten, entschied sich Maxim
für einen und ließ sich mittragen.
Dann kam der Abend. Die Straßenlampen erglommen,
aber sie hingen hoch und leuchteten nur schwach; ihr Schein verlor
sich nahezu in der Dunkelheit. Auf den großen Straßen wurde es
plötzlich noch enger. Maxim floh vor dem Gedränge und fand sich
schließlich in einer halbleeren, halbdunklen Nebenstraße wieder.
Hier nun wurde ihm klar, dass er für diesen Tag genug hatte, und er
blieb stehen.
Er sah drei gold schimmernde Kugeln, eine
flackernde blaue Schrift aus Leuchtstoffröhren und eine Tür, die in
ein Souterrain führte. Er wusste schon, dass drei goldfarbene
Kugeln auf einen Ort hinwiesen, an dem es zu essen gab. Also ging
er die ausgetretenen Stufen hinunter und blickte von der Schwelle
aus in einen kleinen, niedrigen Raum: Es standen etwa zehn leere
Tischchen darin und ein gläsernes, vom Licht angestrahltes Büfett
voller Flaschen mit bunt schimmernden Flüssigkeiten; auf dem Boden
lag eine dicke Schicht sauberer Sägespäne. Die Gaststätte war fast
leer. Nur hinter dem vernickelten Tresen neben dem Büfett hantierte
langsam und gemächlich eine alte Frau, die einen weißen Kittel mit
hochgekrempelten Ärmeln trug. Und etwas weiter, an einem runden
Tischchen, saß ein kleiner, kräftiger Mann mit blassem,
quadratischem Gesicht und dickem schwarzem Schnurrbart.
Hier war niemand, der schrie, umhereilte oder den
Rauch von Drogen ausstieß. Maxim trat also ein, wählte einen Tisch
in einer Nische, abseits vom Büfett, und setzte sich. Die Frau
hinter der Theke blickte in seine Richtung und rief etwas mit
lauter, heiserer Stimme. Der Schnurrbärtige beäugte Maxim
ebenfalls, wandte sich dann ab, griff nach dem vor ihm stehenden
hohen Glas, nippte an seinem durchsichtigen Inhalt und stellte es
wieder vor sich hin. Irgendwo schlug eine Tür, und ein junges,
hübsches Mädchen in weißer Spitzenschürze kam herein, blickte sich
suchend um, trat zu Maxims Tisch, stützte ihre Finger darauf und
schaute dann über seinen Kopf hinweg. Sie hatte reine, zarte Haut,
einen leichten Flaum über der Oberlippe und wunderschöne graue
Augen. Maxim tippte sich höflich mit dem Finger an die Nasenspitze
und sagte: »Maxim.«
Nun warf ihm das Mädchen einen verwunderten Blick
zu, so als hätte sie ihn gerade erst bemerkt. Sie war so hübsch,
dass Maxim sie unwillkürlich anlächeln musste. Da begann auch sie
zu lächeln, wies auf ihre Nase und erwiderte: »Rada.«
»Gut«, sagte Maxim. »Abendessen.«
Sie nickte und stellte eine Frage. Maxim nickte
auch, für alle Fälle. Lächelnd blickte er ihr nach - sie war leicht
und schlank. Es tat wohl, daran erinnert zu werden, dass auch auf
dieser Welt schöne Menschen lebten.
Die alte Frau gab einen langen mürrischen Satz von
sich und bückte sich hinter dem Tresen nieder. Maxim fiel auf, dass
Tresen, Schranken und Absperrungen hier anscheinend sehr beliebt
waren, denn es gab sie überall, so als läge immer eine gewisse
Aggression in der Luft, als müsse man sich schützen … In dem
Augenblick bemerkte er, dass ihn der Schnurrbärtige unfreundlich,
ja, geradezu feindselig anstarrte. Genau betrachtet, war er Maxim
ohnehin unangenehm; er erinnerte ihn an einen Wolf und an einen
Affen zugleich. Aber das war nicht von Belang, wen interessierte
das …
Rada kam zurück und brachte einen Teller mit
dampfendem Fleisch- und Gemüsebrei, dazu einen mächtigen Glaskrug
voll schäumender Flüssigkeit.
»Gut«, sagte Maxim und tippte einladend auf den
Stuhl neben sich. Er wünschte sich sehr, dass Rada sich neben ihn
setzte und ihm etwas erzählte, während er aß. Er würde ihrer Stimme
lauschen, und sie würde spüren, wie sehr sie ihm gefiel und wie
wohl ihm neben ihr war.
Aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. Sie
sagte etwas - Maxim verstand das Wort »sitzen« - und kehrte zurück
zum Tresen. Schade, dachte Maxim. Er griff nach der zweizinkigen
Gabel, aß etwas von seinem Brei und versuchte, aus den dreißig ihm
geläufigen Wörtern einen Satz zu bilden, aus dem Freundschaft
sprach, Sympathie und der Wunsch nach Gesellschaft.
Rada lehnte, die Arme verschränkt, rücklings am
Tresen und sah zu Maxim herüber. Trafen sich ihre Blicke, lächelten
sie einander zu. Aber Radas Lächeln wurde von Mal zu Mal
verhaltener und unsicherer. Maxim wunderte sich; in ihm
mischten sich jetzt die unterschiedlichsten Gefühle. Das Mädchen
anzuschauen, war ihm angenehm, andererseits aber spürte er in sich
eine wachsende Unruhe. Das Essen fand er unverhofft wohlschmeckend
und nahrhaft, spürte aber gleichzeitig den feindseligen Blick des
schnurrbärtigen Mannes und registrierte die unverhohlene
Verärgerung der alten Frau hinter dem Tresen. Er nippte am Glas.
Bier war darin, kalt und frisch, vielleicht ein bisschen zu stark,
etwas für Kenner.
Der Schnurrbärtige sagte etwas, und Rada ging an
seinen Tisch. Zwischen den beiden entspann sich in gedämpftem Ton
ein Gespräch, das Maxim unangenehm und böse vorkam. Gerade jetzt
aber belästigte ihn eine Fliege, dunkelblau, riesengroß und frech.
Sie fiel von allen Seiten über ihn her, summte und brummte, als
mache sie ihm eine Liebeserklärung. Sie war hartnäckig und
geschwätzig und wollte nicht wegfliegen, sondern hier sein, bei
ihm, auf seinem Teller, darauf herumspazieren, naschen … Es endete
damit, dass Maxim eine falsche Bewegung machte und die Fliege in
das Bier stürzte. Angewidert stellte er das Glas auf einen anderen
Tisch und aß dann sein Ragout zu Ende. Rada trat zu ihm und fragte
etwas. Sie lächelte nicht mehr und blickte zur Seite.
»Ja«, antwortete Maxim für alle Fälle. »Rada ist
gut.«
Sie sah ihn erschrocken an, ging zur Theke und
brachte ihm auf ihrem Tablett ein Gläschen mit einem braunen
Getränk.
»Schmeckt«, sagte Maxim und sah sie besorgt und
zärtlich zugleich an. »Was ist schlecht? Rada, setzen Sie sich
hier. Sprechen. Sprechen muss sein. Fortgehen nicht nötig.«
Auf diese sorgfältig durchdachte Rede reagierte das
Mädchen unerwartet betroffen. Es schien, als finge sie gleich an zu
weinen, ihre Lippen zitterten; dann flüsterte sie ein paar Worte
und lief aus dem Raum. Die alte Frau hinter der Theke schimpfte
entrüstet. Irgendetwas mache ich falsch, dachte Maxim beunruhigt.
Aber er konnte sich nicht vorstellen, was.
Er begriff nur eins: Weder der schnurrbärtige Mann noch die alte
Frau wollten, dass Rada mit ihm zusammensaß und sprach. Aber da die
beiden ganz offensichtlich keine Vertreter der hiesigen
Administration oder Polizei waren, und er, Maxim, sicherlich keine
Gesetze verletzt hatte, brauchte er sich um deren Meinung nicht zu
kümmern.
Der Schnurrbärtige knurrte mürrisch, leise, doch
eindeutig unfreundlich, leerte in einem Zug sein Glas, holte einen
dicken, schwarzpolierten Spazierstock unter dem Tisch hervor, stand
auf und kam langsam heran. Er setzte sich, legte den Stock auf
Maxims Tisch und stieß, ohne sein Gegenüber anzusehen, aber
zweifellos an seine Adresse, eine mit vielen »Massaraksch«
gespickte Rede aus - sie schien Maxim ebenso schwarz und poliert
wie sein scheußlicher Stock; in ihr schwangen Drohung, Provokation
und Feindschaft. Aber alles, was er sagte, wirkte seltsam
phrasenhaft, wohl durch die Gleichgültigkeit in seiner Intonation,
die Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht und die Leere in seinen
farblosen, glasigen Augen.
»Ich verstehe nicht«, sagte Maxim verärgert.
Da wandte ihm der Schnauzbärtige langsam sein
bleiches Gesicht zu. Er schien durch Maxim hindurchzublicken und
stellte ihm dann langsam und akzentuiert eine Frage. Im nächsten
Augenblick aber zückte er aus seinem Stock ein langes blitzendes
Messer mit schmaler Klinge. Maxim war sprachlos und wusste nicht,
was er tun oder sagen sollte. So nahm er nur die Gabel vom Tisch
und drehte sie hin und her. Die Wirkung auf den Angreifer war
verblüffend: Ohne aufzustehen, wich der Mann zurück, warf dabei
seinen Stuhl um und fiel mit vorgestreckter Waffe zu Boden, dabei
sträubte sich sein Bart ein wenig und entblößte die großen gelben
Zähne. Die Frau hinter der Theke kreischte ohrenbetäubend. Maxim
fuhr hoch. Der Schnauzbart stand auf einmal dicht neben ihm, und im
selben Augenblick erschien Rada. Sie
stellte sich zwischen die beiden Männer und schrie laut und hell
zuerst den Bärtigen an, dann Maxim. Der aber begriff nun gar nichts
mehr. Der Schnauzbart dagegen grinste widerwärtig, nahm seinen
Stock, steckte das Messer hinein und ging zum Ausgang. In der Tür
wandte er sich um, zischte noch ein paar Worte und
verschwand.
Blass, mit bebenden Lippen, hob Rada den Stuhl auf.
Sie tupfte mit einer Serviette die vergossene braune Flüssigkeit
vom Tisch, räumte das schmutzige Geschirr ab, brachte es weg,
kehrte zurück und sagte etwas. Maxim antwortete »ja«, doch es
nützte nichts. Rada wiederholte ihren Satz, mit Verärgerung in der
Stimme, aber Maxim spürte, dass sie weniger verärgert als vielmehr
erschrocken war. »Nein«, entgegnete er nun. Da begann die Frau
hinter der Theke ein fürchterliches Gezeter, ihre Wangen zitterten,
so dass er schließlich bekannte: »Ich verstehe nicht.«
Unablässig keifend, rannte die Frau hinterm
Schanktisch hervor, stürzte zu Maxim, baute sich vor ihm auf,
stemmte die Arme in die Hüften und schrie ihn an; dann zerrte sie
an seinen Sachen und durchwühlte seine Taschen. Maxim war so
überrascht, dass er sich nicht einmal wehrte. Er bekräftigte nur
immer wieder »nicht nötig« und sah ratlos zu Rada. Die alte Frau
stieß ihn vor die Brust und hastete, als habe sie gerade eine
endgültige, schreckliche Entscheidung getroffen, erneut hinter den
Tresen und griff nach dem Telefonhörer.
»Fank!«, rief Maxim eindringlich. »Fank schlecht.
Gehen. Schlecht.«
Daraufhin entspannte sich die Situation unverhofft.
Rada sagte etwas zu der Frau, die warf den Hörer auf, murmelte noch
etwas vor sich hin und beruhigte sich. Rada führte Maxim an seinen
Platz zurück, brachte ihm ein neues Glas Bier und setzte sich zu
seiner großen Freude neben ihn. Einige Zeit schien alles gut -
Maxim war erleichtert, Rada stellte Fragen, Maxim antwortete,
zufrieden strahlend, »ich
verstehe nicht«, und die alte Frau brummte in einiger Entfernung
vor sich hin. Maxim kratzte all seine Sprachkenntnisse zusammen und
bildete noch einen Satz: »Regen geht massaraksch Nebel schlecht.«
Rada schüttelte sich vor Lachen. Dann aber kam ein junges, recht
hübsches Mädchen herein, begrüßte die Anwesenden und ging kurz mit
Rada hinaus. Als Rada wenig später wieder hereinkam, hatte sie ihre
Schürze abgelegt und einen glänzenden roten Mantel mit Kapuze
übergezogen; in der Hand trug sie eine große karierte Tasche.
»Gehen wir«, sagte sie, und Maxim sprang auf.
Doch so schnell ließ man sie hier nicht weg. Die
Frau fing erneut an zu zetern. Wieder missfiel ihr das eine, und
verlangte sie das andere. Jetzt fuchtelte sie mit einem Stift und
einem Blatt Papier herum. Einige Zeit stritt Rada mit ihr, dann
aber trat das andere Mädchen hinzu und gab der Frau Recht.
Anscheinend handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit, denn
Rada gab schließlich nach. Dann wandten sich alle drei an Maxim;
erst der Reihe nach, dann im Chor stellten sie ihm ein und dieselbe
Frage. Maxim verstand kein Wort und breitete hilflos die Arme aus.
Da hieß Rada die anderen still sein, tippte ihm leicht gegen die
Brust und fragte: »Mak Sim?«
»Maxim«, berichtigte er.
»Mak? Sim?«
»Maxim. Mak - nicht nötig. Sim - nicht nötig.
Maxim.«
Das Mädchen führte den Zeigefinger an ihre Nase und
erläuterte: »Rada Gaal. Maxim …«
Endlich begriff er. Sie wollten seinen
Familiennamen wissen. Das war merkwürdig, weit mehr jedoch wunderte
ihn etwas anderes.
»Gaal?«, fragte er. »Gai Gaal?«
Stille. Die drei schienen höchst erstaunt. »Gai
Gaal«, wiederholte Maxim erfreut. »Gai guter Mensch.«
Es wurde laut. Alle redeten gleichzeitig. Rada
zupfte Maxim am Anzug und wollte etwas wissen. Offenbar
interessierte sie, woher er Gai kannte. »Gai«, »Gai«, »Gai«,
blitzte es immer wieder aus dem Strom der unverständlichen Worte.
Die Frage nach Maxims Familiennamen war vergessen.
»Massaraksch!«, platzte schließlich die alte Frau
heraus und lachte, und die Mädchen lachten auch. Rada reichte Maxim
ihre karierte Tasche, hakte sich bei ihm ein, und sie gingen hinaus
in den Regen.
Sie liefen bis zum Ende der schlecht beleuchteten
Straße und bogen dann in eine noch dunklere ein. Sie war schmutzig
und mit großen Kopfsteinen ungleichmäßig gepflastert, rechts und
links duckten sich windschiefe Holzhäuser. Sie schwenkten noch ein
zweites und drittes Mal in leere, krumme Gässchen ein. Niemand
begegnete ihnen, aber hinter den Gardinen, in den trüben Fenstern
leuchteten bunte Lampenschirme, ab und zu drang gedämpfte Musik
heran, sangen unangenehme Stimmen im Chor.
Anfangs plauderte Rada lebhaft, wobei sie oft den
Namen Gai wiederholte und Maxim jedes Mal bekräftigte, Gai sei gut.
Auf Russisch ergänzte er freilich, man dürfe Menschen nicht ins
Gesicht schlagen; das sei furchtbar, und er, Maxim, verstehe das
nicht. In dem Maße aber, wie die Gassen enger, dunkler und
morastiger wurden, stockte der Redefluss des Mädchens zusehends.
Zuweilen blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. Erst
glaubte Maxim, sie suche einen möglichst trockenen Pfad. Bald aber
begriff er, dass Rada nach etwas anderem Ausschau hielt, denn
Pfützen bemerkte sie gar nicht. Er musste sie immer wieder sacht zu
den festen Stellen ziehen, und wo es keine gab, fasste er sie unter
die Arme und trug sie über den Schlamm. Ihr gefiel das, sie hielt
ganz still, vergaß das Vergnügen jedoch schnell wieder - denn Rada
hatte Angst.
Je weiter sie sich von der Gaststätte entfernten,
desto mehr fürchtete sie sich. Zunächst versuchte Maxim noch,
Nervenkontakt
zu ihr zu finden, ihr etwas von seinem Mut und seiner Sicherheit
weiterzugeben. Doch wie schon bei Fank - es gelang nicht. Sie
verließen das Elendsviertel und gingen auf einem ungepflasterten,
durch und durch morastigen Weg weiter. Zur rechten Seite wurde er
von einem scheinbar endlosen Zaun begrenzt, der oben mit rostigem
Stacheldraht abschloss; zur Linken sah man nichts als stockfinstere
Wildnis. Rada verlor jetzt allen Mut. Fast weinte sie. Um ihre
Stimmung wenigstens ein bisschen aufzuhellen, fing Maxim lauthals
an zu singen, die lustigsten Lieder, die er kannte, eins nach dem
anderen. Es half, aber nicht lange. Nur bis zum Ende des Zauns, dem
nun wieder Häuser folgten, langgezogene, gelbe, zweistöckige Häuser
mit dunklen Fenstern. Von ihnen ging ein sonderbarer Geruch aus,
der an erkaltendes Metall, organisches Schmiermittel und etwas
Qualmendes erinnerte. Hier und da brannte trüb eine Laterne, und
ein Stück entfernt, unter einem abseits stehenden Torbogen, waren
düstere, nasse Gestalten zu sehen.
Rada blieb stehen.
Sie krallte ihre Finger in Maxims Hand und
flüsterte ihm, immer wieder stockend, etwas zu. Sie war voller
Angst: ihretund mehr noch seinetwegen. Wispernd zog sie ihn
rückwärts, und er fügte sich, weil er dachte, es würde ihr
guttun.
Dann aber begriff er, dass sie aus blinder
Verzweiflung handelte, und blieb stehen.
»Kommen Sie«, redete er ihr sanft zu. »Kommen Sie,
Rada. Nicht schlecht. Gut.«
Sie gehorchte wie ein Kind, und er führte sie,
obwohl er den Weg nicht kannte. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie
die durchnässten Gestalten unter dem Torbogen fürchtete. Das
wunderte ihn, denn die Männer wirkten weder furchterregend noch
gefährlich - normale Hiesige, die sich wegen des Regens
zusammengekauert hatten und vor Feuchtigkeit und Kälte zitterten.
Erst standen sie zu zweit da, dann kamen noch
ein dritter und ein vierter hinzu, jeweils mit glimmenden
Drogenstäbchen.
Maxim ging die leere Straße entlang, vorbei an den
gelben Häusern, direkt auf die vier Gestalten zu. Rada schmiegte
sich immer enger an ihn, und Maxim legte den Arm um ihre Schultern.
Womöglich irrte er und sie zitterte nicht aus Angst, sondern vor
Kälte? Die Männer hatten wirklich nichts Gefährliches an sich. Er
ging an ihnen vorüber - an gekrümmten, frierenden Gestalten mit
langen Gesichtern, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt
hatten und mit den Füßen aufstampften, um sich zu wärmen.
Bedauernswerte Menschen, vom Rauschmittel vergiftet, und sie
schienen ihn und Rada zu übersehen, ja, hoben nicht einmal die
Augen. Dabei standen sie so nahe, dass er ihren ungesunden,
unregelmäßigen Atem hörten konnte. Maxim hoffte, wenigstens jetzt,
unter dem Bogen, würde sich Rada beruhigen - aber da, plötzlich,
tauchten aus dem Nichts vier weitere Männer auf und versperrten
ihnen den Weg. Sie waren ebenso nass und bemitleidenswert, doch
einer von ihnen hielt einen langen, dicken Spazierstock in der
Hand, und Maxim erkannte ihn.
Unter dem alten Torbogen schaukelte eine Glühlampe
im Wind, Schimmel bedeckte die rissigen Wände, der Zement unter den
Füßen war geborsten und schmutzig geworden von Abertausenden
Schuhen und Autoreifen. Nun hallten von hinten schwere Schritte.
Maxim drehte sich um - die vier anderen kamen näher. Keuchend
spuckten sie im Gehen ihre ekligen Stäbchen aus, nahmen nicht
einmal die Hände aus den Taschen. Rada schrie gepresst auf, ließ
Maxim los - und plötzlich wurde es eng. Er fand sich an die Wand
gedrängt, dicht umschlossen von den Kerlen; sie hielten immer noch
die Hände in den Taschen und berührten ihn nicht, sahen ihn auch
nicht an, sondern standen nur da und ließen ihm keine Möglichkeit
sich zu bewegen. Über sie hinweg sah er, dass
zwei von ihnen Rada gepackt hatten, der Schnauzbärtige schlenderte
auf sie zu, wechselte gemächlich den Stock in die linke Hand und
schlug mit der rechten - ebenso gemächlich - dem Mädchen ins
Gesicht.
Das war so schockierend, so brutal, dass Maxim sein
Gefühl für die Realität verlor. Etwas in seiner Wahrnehmung
verschob sich. Die Männer verschwanden, und nur zwei Menschen
blieben: er und Rada.
Anstelle der anderen Männer sah Maxim unheimliche,
gefährliche Tiere durch den Schlamm stampfen, plump und
furchterregend. Die Stadt existierte nicht mehr, ebenso wenig das
Tor oder die Glühbirne. Maxim sah sich am Rande unzugänglicher
Berge, im Land Oz-auf-Pandora, und da war eine Höhle - eine gemeine
Falle nackter, gefleckter Affen. In die Höhle schien gleichgültig
ein blasser gelber Mond, und es hieß kämpfen, kämpfen, um zu
überleben … Und Maxim kämpfte, wie seinerzeit auf der
Pandora.
Gehorsam bremste die Zeit ihren Lauf. Die Sekunden
dehnten sich endlos, und in jeder einzelnen konnte Maxim
gleichzeitig Schläge austeilen, sich bewegen und alle Gegner im
Blick behalten. Sie waren schwerfällig, diese Affen, an Wild
gewöhnt. Bestimmt merkten sie noch nicht, dass sie sich den
Falschen ausgesucht hatten, dass es für sie jetzt am besten wäre
davonzulaufen. Stattdessen versuchten sie zu kämpfen …
Maxim ergriff eins der Tiere am Unterkiefer, bog
mit einem Ruck den gefügigen Kopf nach hinten und schlug seine
Handkante gegen den blassen, pulsierenden Hals, wandte sich gleich
darauf dem nächsten Tier zu, packte es, bog den Kopf nach hinten
und schlug zu, und wieder: packte, bog, schlug - in einer Wolke
stinkenden Raubtieratems, in der widerhallenden Stille der Höhle,
dem gelben Halbdunkel, in dem ihm die Augen tränten. Und die
schmutzigen gebogenen Krallen rissen an seinem Nacken und glitten
ab, gelbe Hauer hieben ihm
tief in die Schulter, aber vergebens. Neben ihm war niemand mehr,
doch zum Höhlenausgang rannte das Leittier mit seinem Knüppel, denn
wie alle Leittiere verfügte es über das schnellste
Reaktionsvermögen und begriff als Erstes, was vor sich ging. Maxim
bedauerte das Leittier flüchtig - wegen der Langsamkeit seiner
Reaktion. Denn während sich für ihn die Sekunden streckten, setzte
der Leitaffe kaum seine Füße. Der Mensch jedoch schlüpfte zwischen
den Sekunden hindurch, holte ihn ein und streckte ihn im Laufen
nieder. Dann blieb er stehen, und die Zeit floss wieder normal. Die
Höhle wurde zum Torbogen, der Mond zur Glühbirne, und
Oz-auf-Pandora wurde zu einer seltsamen Stadt auf einem seltsamen
Planeten, seltsamer noch als die Pandora.
Maxim senkte die zittrigen Arme und schöpfte Atem.
Eine seiner Schultern blutete. Rada nahm seine Hand und fuhr damit
schluchzend über ihr feuchtes Gesicht. Er blickte um sich: Ihm zu
Füßen regte sich der schnauzbärtige Anführer mühsam. Die übrigen
Männer lagen wie Säcke auf dem schmutzigen Zement. Mechanisch
zählte er sie - sechs, einschließlich des Schnauzbarts - und
überlegte kurz, dass es zweien geglückt war zu entwischen. Radas
Berührung tat ihm unsagbar wohl. Und er wusste, er hatte gehandelt,
wie er hatte handeln müssen, getan, was er hatte tun müssen - kein
bisschen mehr, kein bisschen weniger. Die Entkommenen ließ er
ziehen, obwohl er sie hätte einholen können - noch jetzt hörte er
ihre panischen Schritte am Ende des Tunnels. Von denen, die am
Boden lagen, würden einige sterben, andere waren bereits tot. Und
jetzt wusste er: Sie waren Menschen, nicht Affen oder Panzerwölfe,
wenn auch ihr Atem stank, ihre Berührungen schmutzig, die Absichten
viehisch und abscheulich waren. Trotz allem empfand er Bedauern und
fühlte Verlust. Ihm war, als habe er gerade etwas von seiner
Reinheit verloren, ein entscheidendes Stückchen Seele des früheren
Maxim. Er wusste, sein früheres Ich war jetzt für immer
verschwunden, und das war bitter - weckte aber auch einen bis
dahin ungekannten Stolz …
»Gehen wir, Maxim«, sagte Rada leise.
Und er folgte ihr gehorsam.
»Er ist Ihnen entwischt …«
Kurz gesagt, er ist Ihnen entwischt.
Ich konnte nichts machen … Sie wissen selbst,
wie das ist …
Zum Teufel, Fank! Sie sollten überhaupt nichts
»machen« - es hätte genügt, einen Chauffeur mitzunehmen.
Ich weiß, ich bin schuld. Aber wer konnte
erwarten …
Lassen wir das. Was haben Sie
unternommen?
Gleich nach meiner Freilassung telefonierte ich
mit Megu. Der weiß nichts. Falls er dorthin zurückkehren sollte,
gibt mir Megu sofort Bescheid. Außerdem lasse ich alle
Irrenanstalten überwachen. Er kommt nicht weit, das ist einfach
nicht möglich, er fällt zu sehr auf.
Weiter.
Ich habe meine Leute bei der Polizei alarmiert.
Ihnen befohlen, sämtliche Fälle von Ordnungsverstößen zu
untersuchen, bis hin zu Verkehrsdelikten. Er hat keine Papiere.
Also habe ich angewiesen, mich über alle Festgenommenen ohne
Papiere zu informieren. Ihm bleibt keine Chance zu verschwinden,
selbst wenn er es möchte. Meines Erachtens ist es eine Sache von
zwei, drei Tagen … Ganz einfach.
Einfach … Was konnte einfacher sein, als ins
Auto zu steigen, zum Fernsehzentrum zu fahren und den Mann
herzubringen. Aber nicht einmal das haben Sie
fertiggebracht.
Verzeihung. Aber so ein Zusammentreffen von
Umständen …
Lassen wir die Umstände, hatte ich gesagt. Wirkt
er denn tatsächlich wie ein Verrückter?
Schwer zu sagen … Eher wie ein Wilder. Wie ein
sorgfältig gewaschener, gepflegter Bergbewohner. Doch ich kann mir
auch eine Situation vorstellen, in der er wie geistesgestört wirkt.
Und dann dieses ewige, idiotische Lächeln und das dumme Lallen
anstelle normaler Sprache. Er ist überhaupt irgendwie
blöde.
Verstehe. Ich billige Ihre Maßnahmen. Folgendes
noch, Fank: Setzen Sie sich mit den Illegalen in
Verbindung.
Was?
Wenn Sie ihn in den nächsten Tagen nicht finden,
stößt er auf jeden Fall zum Untergrund.
Ich begreife nicht, was ein Wilder dort
soll.
Im Untergrund sind viele Wilde. Und stellen Sie
keine dummen Fragen, sondern tun Sie, was ich sage. Entkommt er
Ihnen noch einmal, sind Sie entlassen.
Ein zweites Mal passiert mir das
nicht.
Freut mich für Sie … Was noch?
Ein interessantes Gerücht über
»Wasserblase«.
Über »Wasserblase«? Was denn?
Verzeihung, Wanderer … Wenn Sie erlauben,
flüstere ich Ihnen das lieber ins Ohr …