4. JUNI’78
Lew Abalkin bei Dr. Bromberg
Mit einem Mal beruhigten sie sich - gleichzeitig, so als wären bei ihnen beiden im selben Moment die letzten Energiereserven versiegt. Sie verstummten und hörten auf, einander mit hasserfüllten Blicken zu durchbohren. Bromberg atmete tief aus, holte ein altmodisches Taschentuch hervor und begann, sich Gesicht und Hals abzuwischen. Ohne ihn anzusehen, fasste sich Seine Exzellenz in die Brusttasche (ich erschrak - etwa um die Pistole …?), holte eine Kapsel hervor, ließ ein weißes Kügelchen auf seine Handfläche rollen und legte es sich unter die Zunge. Dann reichte er Bromberg die Kapsel.
»Ich denke gar nicht dran!«, erklärte Bromberg und wandte sich demonstrativ ab.
Seine Exzellenz hielt ihm weiter die Kapsel hin. Bromberg schaute sie aus den Augenwinkeln an - wie ein Hahn. Dann sagte er pathetisch: »Das Gift, das dir ein Weiser reicht, nimm an, doch nimm den Balsam nicht aus Narrenhand …«
Er nahm die Kapsel und ließ auch auf seine Handfläche ein weißes Kügelchen rollen.
»Ich brauche das nicht!«, verkündete er und warf sich das Kügelchen in den Mund. »Noch nicht …«
»Isaac«, sagte Seine Exzellenz und schluckte. »Was werden Sie machen, wenn ich tot bin?«
»Cachucha tanzen«, sagte Bromberg düster. »Reden Sie kein dummes Zeug.«
»Isaac«, sagte Seine Exzellenz. »Wozu brauchen Sie denn nun die Zünder? - Aber warten Sie, fangen wir nicht alles wieder von vorne an. Ich habe keineswegs vor, mich in Ihre Angelegenheiten einzumischen. Wenn Sie sich vorige oder nächste Woche für die Zünder interessiert hätten, würde ich Ihnen diese Frage jetzt nicht stellen. Aber Sie brauchen sie ausgerechnet heute. Ausgerechnet in der Nacht, in der jemand anderer wegen der Zünder hätte hierherkommen sollen. Wenn das ein Zufall ist, dann sagen Sie es, und wir verabschieden uns. Ich habe Kopfschmerzen …«
»Und wer sollte wegen der Zünder herkommen?«, fragte Bromberg misstrauisch.
»Lew Abalkin«, sagte Seine Exzellenz müde.
»Wer ist das?«
»Sie kennen Lew Abalkin nicht?«
»Ich höre den Namen zum ersten Mal«, erwiderte Bromberg.
»Das glaube ich«, sagte Seine Exzellenz.
»Das möchte ich meinen!«, entgegnete Bromberg von oben herab.
»Ihnen glaube ich«, sagte Seine Exzellenz. »Aber ich glaube nicht an Zufälle. Hören Sie, Isaac, ist das denn so schwer - einfach und ohne Verrenkungen zu erzählen, warum Sie gerade heute wegen der Zünder gekommen sind.«
»Mir passt das Wort ›Verrenkungen‹ nicht!«, sagte Bromberg zänkisch, aber bereits weniger hitzig als zuvor.
»Ich nehme es zurück«, sagte Seine Exzellenz.
Bromberg begann wieder, sich mit dem Taschentuch abzuwischen. »Ich habe keine Geheimnisse«, erklärte er. »Sie wissen, Rudolf, dass ich Geheimnisse jeder Art zutiefst verabscheue. Sie selbst haben mich in diese Situation gebracht, in der ich Verrenkungen machen und Komödie spielen muss. Dabei ist alles sehr einfach. Heute Morgen hat mich jemand aufgesucht. Brauchen Sie unbedingt den Namen?«
»Nein.«
»Ein junger Mann. Worüber ich mit ihm gesprochen habe, tut nichts zur Sache, nehme ich an. Das Gespräch hatte privaten Charakter. Aber während der Unterhaltung bemerkte ich bei ihm hier« - Bromberg tippte sich mit dem Finger auf die rechte Armbeuge - »einen ziemlich seltsamen Leberfleck. Ich habe ihn sogar gefragt: ›Was ist das - eine Tätowierung?‹ Sie wissen, Rudolf, Tätowierungen sind mein Hobby. ›Nein‹, antwortete er. ›Es ist ein Leberfleck.‹ Am ehesten glich es aber dem Buchstaben ›she‹ in kyrillischer Schrift oder, sagen wir, dem japanischen Zeichen ›sanju‹ - ›dreißig‹. Fällt Ihnen dabei nichts ein, Rudolf?«
»Doch«, sagte Seine Exzellenz.
Mir fiel dabei auch etwas ein, etwas, was ich vor kurzem gesehen hatte, was mir sonderbar, aber unwichtig erschienen war.
»Was denn, Sie sind sofort draufgekommen?«, fragte Bromberg neiderfüllt.
»Ja«, sagte Seine Exzellenz.
»Ich nicht gleich. Der junge Mann war schon längst wieder gegangen, und ich saß immer noch da und versuchte mich zu erinnern, wo ich so ein Zeichen schon einmal gesehen hatte. Und zwar nicht einfach ein ähnliches, sondern haargenau dasselbe. Schließlich fiel es mir ein. Ich musste mich vergewissern, verstehen Sie? Ich hatte keine einzige Abbildung zur Hand. Ich stürze also ins Museum - es ist geschlossen …«
»Mak«, sagte Seine Exzellenz, »sei so gut und gib uns das Ding unter dem Schal.«
Ich folgte seiner Bitte.
Der Klotz war schwer und fühlte sich warm an. Ich stellte ihn vor Seine Exzellenz auf den Tisch. Er zog ihn zu sich heran. Jetzt sah ich, dass es in der Tat ein Futteral war - aus einem glattpolierten, leuchtend bernsteinfarbenen Material; eine sehr feine und ganz gerade Linie trennte den leicht gewölbten Deckel von der massiven unteren Hälfte. Seine Exzellenz versuchte, den Deckel anzuheben, doch seine Finger glitten ab; es gelang nicht.
»Lassen Sie mich mal«, sagte Bromberg ungeduldig. Er schob Seine Exzellenz beiseite, packte den Deckel mit beiden Händen, hob ihn ab und legte ihn daneben.
Diese Teile nannte man also »Zünder«: graue, dicke, runde Scheiben von vielleicht siebzig Millimetern im Durchmesser, die in akkuraten Fassungen nebeneinanderlagen. Insgesamt gab es elf Zünder; zwei weitere Fassungen waren leer. Man konnte sehen, dass die Zünder an ihrer Unterseite von weißlichem Flaum bedeckt waren, der Schimmel ähnelte. Die Härchen dieses Flaums bewegten sich merklich - so, als wären sie lebendig, und das waren sie in gewissem Sinne wohl auch …
Vor allem jedoch sprangen mir die ziemlich komplizierten Hieroglyphen ins Auge, die auf die Oberfläche der Zünder gemalt waren: auf jedem Zünder eine, und alle verschieden; sie waren recht groß, rosabraun und leicht verwischt, als hätte man sie mit farbiger Tinte auf feuchtes Papier gezeichnet. Eine davon erkannte ich sofort: das kyrillische »she« oder, wenn man so will, das japanische Zeichen »sanju«. Es war das kleine Original der vergrößerten Kopie auf der Rückseite von Blatt Nr. 1 in der Mappe Nr. 7. Der Zünder war der dritte von links, von mir aus gesehen, und Seine Exzellenz, den langen Zeigefinger darauf gerichtet, fragte: »Der?«
»Ja, ja«, antwortete Bromberg ungeduldig und schob die Hand Seiner Exzellenz weg. »Stören Sie nicht. Sie verstehen gar nichts …«
Er krallte die Fingernägel in die Ränder des Zünders und begann ihn mit vorsichtigen Bewegungen aus der Fassung herauszudrehen. Er murmelte: »Hier geht es überhaupt nicht darum … Denken Sie etwa, ich könnte es verwechseln … Was für ein Unsinn …« Und schließlich zog er den Zünder aus der Fassung und hob ihn vorsichtig immer höher über das Futteral. Man sah, wie die dicke, graue, runde Scheibe weißliche Fäden hinter sich herzog, die immer dünner wurden, bis sie einer nach dem anderen durchrissen. Als der letzte Faden gerissen war, drehte Bromberg die Scheibe mit der Unterseite zuoberst, und ich entdeckte zwischen den vibrierenden halbdurchsichtigen Härchen dieselbe Hieroglyphe, nur schwarz, klein und sehr deutlich, als wäre sie in das graue Material eingeprägt.
»Ja!«, rief Bromberg triumphierend. »Genau das Gleiche! Ich wusste doch, dass ich mich nicht geirrt haben kann.«
»Worin genau?«
»Die Größe!«, sagte Bromberg. »Größe, Einzelheiten, Proportionen. Verstehen Sie, sein Leberfleck ähnelt diesem Zeichen nicht einfach nur - er ist mit ihm vollkommen identisch …« Er blickte Seine Exzellenz durchdringend an. »Hören Sie, Rudolf, eine Hand wäscht die andere. Wie ist das - haben Sie sie damit gezeichnet?«
»Natürlich nicht.«
»Also hatten sie es von Anfang an?«, fragte Bromberg und klopfte sich mit dem Finger auf die rechte Armbeuge.
»Nein. Die Zeichen sind an ihnen erschienen, als sie zehn, zwölf Jahre alt waren.«
Bromberg legte den Zünder vorsichtig zurück in die Fassung und ließ sich befriedigt in den Sessel sinken. »Nun ja«, erklärte er. »So hatte ich das alles auch verstanden … Alsdann, Herr Polizeipräsident: Was ist jetzt Ihre ganze Geheimhaltung wert? Seine Nummer habe ich, und sobald der goldfingrige Phöbus den Tag anbrechen lässt und die Dächer eurer architektonischen Ungeheuer erhellt, setze ich mich mit ihm in Verbindung, und wir werden uns nach Herzenslust unterhalten … Und versuchen Sie nicht, es mir auszureden, Sikorsky!«, schrie er und fuchtelte Seiner Exzellenz mit dem Finger vor der Nase herum. »Er ist von selbst zu mir gekommen, und ich habe selbst - verstehen Sie? - selbst mit meinem alten Kopf herausgefunden, wer vor mir steht, und jetzt gehört er mir! Ich bin nicht in Ihre lausigen Geheimnisse eingedrungen! Nur ein bisschen Glück, ein bisschen Findigkeit …«
»Gut, gut«, sagte Seine Exzellenz. »In Gottes Namen. Keine Einwände. Er gehört Ihnen, treffen Sie sich mit ihm, unterhalten Sie sich. Aber nur mit ihm, bitte. Mit keinem anderen.«
»Naa-a …«, äußerte Bromberg mit ironischem Zweifeln.
»Überhaupt, tun Sie, was Ihnen beliebt«, sagte Seine Exzellenz plötzlich. »Das ist jetzt alles unwichtig. Aber sagen Sie, Isaac, worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«
Bromberg faltete die Hände über dem Bauch und drehte Däumchen. Der Sieg, den er gerade über Seine Exzellenz errungen hatte, war so groß und so offensichtlich, dass er sich nun zweifellos etwas Großzügigkeit leisten konnte.
»Ich muss gestehen, das Gespräch war ziemlich verworren«, sagte er. »Inzwischen wurde mir natürlich klar, dass mich dieser Cro-Magnonide einfach an der Nase herumgeführt hat …«
Heute oder, genauer gesagt, gestern früh war ein junger Mann von vierzig, fünfundvierzig Jahren bei ihm erschienen und hatte sich als Alexander Dymok vorgestellt, Konfigurator für Landwirtschaftsautomaten. Mittelgroß, sehr blasses Gesicht, lange, schwarze Haare wie ein Indianer. Er klagte, dass er nun schon seit Monaten vergeblich herauszufinden versuche, unter welchen Umständen seine Eltern verschwunden seien. Er erzählte Bromberg eine rätselhafte, und in ihrer Rätselhaftigkeit sehr verführerische Legende, die er angeblich selbst Schritt für Schritt zusammengetragen hatte, und sparte nicht einmal die unglaubwürdigen Gerüchte aus. Bromberg hatte diese Legende in allen Einzelheiten notiert; sie jetzt wiederzugeben, schien ihm allerdings überflüssig. Eigentlich hatte Alexander Dymok bei seinem Besuch nur ein Ziel verfolgt: ob nicht Bromberg, der Welt bedeutendster Kenner verbotener Wissenschaft, wenigstens ein bisschen Licht in diese Geschichte bringen könnte.
Der Welt bedeutendster Kenner Bromberg zog seine Karthotek zurate, fand aber nichts über das Ehepaar Dymok. Der junge Mann war darüber sichtlich betrübt und schon im Begriff zu gehen, als Bromberg einen glücklichen Einfall hatte: Es wäre möglich, sagte er, dass die Eltern gar nicht Dymok geheißen hätten. Es wäre auch möglich, dass seine ganze Legende gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätte. Er, Dr. Bromberg, werde versuchen sich zu erinnern, ob es in den Jahren um Alexander Dymoks Geburt (Februar’36) eventuell rätselhafte Ereignisse in der Wissenschaft gegeben hatte, die später für die Veröffentlichung ausgeschlossen wurden; denn seine Eltern hätte er im Alter von einem oder zwei Jahren verloren …
Der Kenner Bromberg griff wieder zu seiner Kartothek, diesmal zum chronologischen Teil. Im Zeitabschnitt’33 bis’39 fand er insgesamt acht Vorfälle, darunter auch die Geschichte mit dem Sarkophag-Brutkasten. Gemeinsam mit Alexander Dymok gingen sie jeden dieser Fälle sorgsam durch und kamen zu der Überzeugung, dass keiner davon mit dem Schicksal des Ehepaars Dymok in Zusammenhang stehen konnte.
Und daraus »zog ich alter Dummkopf den Schluss, dass mir das Schicksal damit eine Geschichte geschenkt hätte, die mir seinerzeit entgangen war. Können Sie sich das vorstellen? Nicht eins von Ihren lausigen Verboten, sondern das Verschwinden zweier Biochemiker! Also das, Sikorsky, hätte ich Ihnen niemals verziehen!« Und noch zwei geschlagene Stunden lang fragte Bromberg Alexander Dymok aus, verlangte von ihm, er solle sich an die winzigsten Einzelheiten erinnern, an jedes, selbst das unsinnigste Gerücht, nahm ihm das feierliche Versprechen ab, sich einer Tiefen-Mentoskopie zu unterziehen, so dass der junge Mann die letzte Stunde hindurch offensichtlich nichts sehnlicher wünschte, als sich möglichst schnell davonzumachen …
Und schon ganz am Ende des Gesprächs bemerkte Bromberg rein zufällig diesen »Leberfleck«. Und dieser »Leberfleck«, der doch anscheinend gar nichts mit der Sache zu tun hatte, setzte sich aus unerklärlichen Gründen in seinem Kopf fest. Der junge Mann war längst gegangen. Bromberg hatte schon etliche Anfragen an das GGI gerichtet und mit zwei, drei Fachleuten über das Ehepaar Dymok gesprochen (erfolglos), doch dieser verdammte Fleck spukte ihm immer noch im Kopf herum. Erstens war sich Bromberg ganz sicher, dass er es irgendwo schon einmal gesehen hatte, und zweitens wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendwo in dem Gespräch mit Alexander Dymok von dem Leberfleck und von etwas, was damit zusammenhing, die Rede gewesen war. Und erst als er das gesamte Gespräch Satz für Satz aufs Peinlichste im Gedächtnis rekonstruiert hatte, kam er auf den Sarkophag, erinnerte sich an die Zünder und hatte plötzlich eine Ahnung, wer Alexander Dymok in Wirklichkeit gewesen war …
Seine erste Regung war, den Jungen unverzüglich anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Rätsel seiner Herkunft gelöst sei. Aber die ihm, Bromberg, eigene wissenschaftliche Gründlichkeit erforderte zuvor absolute Gewissheit, die keinerlei andere Lesarten zuließ. Er, Bromberg, hatte schon viel unglaublichere Zufälle erlebt. Deshalb rief er zuerst auf dem schnellsten Weg im Museum an.
»Alles klar«, sagte Seine Exzellenz finster. »Besten Dank, Isaac. Jetzt weiß er also von dem Sarkophag.«
»Und warum sollte er nicht davon wissen?«, rief Bromberg.
»In der Tat«, sagte Seine Exzellenz langsam. »Warum eigentlich nicht?«

Das Persönlichkeitsgeheimnis Lew Abalkins

Am 21. Dezember’37 erreichte eine Abteilung der Fährtensucher unter der Leitung von Boris Fokin einen kleinen namenlosen Planeten im System EN 9173. Die Gruppe landete auf einem Felsplateau und hatte den Auftrag, die hier bereits im vorigen Jahrhundert entdeckten Ruinen zu untersuchen, die den Wanderern zugeschrieben wurden.
Am 24. Dezember sah man auf den Aufnahmen des Intravisors im Felsgestein unter den Ruinen einen ausgedehnten Raum in mehr als drei Metern Tiefe.
Am 25. Dezember drang Boris Fokin beim ersten Versuch und ohne unvorhergesehene Zwischenfälle in diesen Raum vor. Er war in Form einer Halbkugel angelegt und hatte einen Radius von zehn Metern. Das Innere der Halbkugel war mit Elektrin verkleidet, einem für die Zivilisation der Wanderer charakteristischen Material, und beherbergte eine große, sperrige Apparatur, für die einer der Fährtensucher leichthin die Bezeichnung »Sarkophag« prägte.
Am 26. Dezember erbat und erhielt Boris Fokin von der entsprechenden Abteilung der KomKon die Erlaubnis, den Sarkophag vor Ort selbst zu untersuchen.
Fokin ging dabei wie immer äußerst methodisch und vorsichtig vor, und war drei Tage lang mit dem Sarkophag beschäftigt. Er konnte das Alter des Fundes bestimmen (vierzig- bis fünfundvierzigtausend Jahre); fand heraus, dass der Sarkophag Energie verbrauchte und stellte zweifelsfrei fest, dass zwischen dem Sarkophag und den Ruinen darüber ein Zusammenhang bestand. Schon damals gab es die Hypothese, und sie wurde im Nachhinein bestätigt, dass die »Ruinen« auf diesem Planeten gar keine Ruinen sind, sondern Teil eines ausgedehnten, den ganzen Planeten umspannenden Systems zur Aufnahme und Transformation sämtlicher Arten von Energie, planetarer wie kosmischer (seismische Vorgänge, Fluktuationen des Magnetfeldes, meteorologische Erscheinungen, die Strahlung des Zentralgestirns, kosmische Strahlen usw.).
Am 29. Dezember trat Boris Fokin mit Komow in Verbindung und forderte ihn auf, er möge ihm den besten Spezialisten für Embryologie schicken. Komow verlangte natürlich eine Erklärung, doch Fokin reagierte ausweichend und schlug Komow stattdessen vor, selbst zu kommen - aber unbedingt in Begleitung eines Embryologen. Vor langer Zeit, in jungen Jahren aber, hatte Komow einmal mit Fokin zusammengearbeitet und keinen sehr guten Eindruck von ihm behalten; deshalb dachte er gar nicht daran, selbst zu fliegen. Und der Embryologe, den er schließlich zu ihm schickte, war nicht der beste, sondern der Erste gewesen, der sich bereitfand. Es handelte sich um einen gewissen Mark van Bleerkom, und Komow raufte sich später mehr als einmal die Haare, wenn er an diese seine Entscheidung zurückdachte, denn Mark van Bleerkom erwies sich als Busenfreund des nicht unbekannten Isaac P. Bromberg …
Am 30. Dezember brach Mark van Bleerkom zu Boris Fokin auf, und schon wenige Stunden später schickte er Komow eine sehr erstaunliche Mitteilung in Klartext. In dieser Mitteilung behauptete er, dass der sogenannte Sarkophag nichts anderes sei als eine Art Embryo-Safe - und eine ganz und gar phantastische Konstruktion. Der Safe enthalte dreizehn befruchtete Eizellen der Art Homo sapiens, die alle lebensfähig zu sein schienen, sich aber in latentem Zustand befänden.
Man muss zwei an dieser Geschichte Beteiligte würdigen: Boris Fokin und das Mitglied der KomKon Gennadi Komow. Fokin hatte mit einem sechsten Sinn erraten, dass es unangebracht gewesen wäre, den Fund in alle Welt hinauszuposaunen. Mark van Bleerkoms Funkspruch war die erste und letzte öffentliche Nachricht in dem nun folgenden Funkverkehr der Landeabteilung mit der Erde. Deshalb wurde die Geschichte in den Massenmedien der Erde nur in Form einer knappen Meldung aufgegriffen, die später nicht bestätigt wurde und daher fast keine Aufmerksamkeit erhielt.
Was nun Gennadi Komow anging, so hatte er augenblicklich den Kern des Problems erfasst und es zudem noch fertiggebracht, sich eine ganze Reihe weiterer, denkbarer Folgen dieses Problems vorzustellen. Zunächst verlangte er von Fokin und Bleerkom eine Bestätigung der eingegangenen Daten (per Sondercode über den Blitzkanal). Als er sie erhalten hatte, rief er umgehend eine beratende Sitzung aller Leiter der KomKon ein, die zugleich Mitglieder des Weltrates waren. Darunter befanden sich solche Koryphäen wie Leonid Gorbowski und August Johann Bader; der junge Heißsporn Kyrill Alexandrow; der vorsichtige und ewig zweifelnde Mahiro Shinoda und auch der energische zweiundsechzigjährige Rudolf Sikorsky.
Komow informierte die Teilnehmer und fragte dann: Was tun? Man konnte den Sarkophag wieder schließen, alles lassen wie zuvor und sich in Zukunft mit passiver Beobachtung begnügen. Oder man konnte versuchen, die Entwicklung der Eizellen in Gang zu setzen und zu sehen, was daraus entstand. Schließlich konnte man, um zukünftige Komplikationen zu vermeiden, den Fund vernichten.
Selbstverständlich war sich Gennadi Komow, damals schon ein erfahrener Mann, völlig im Klaren darüber, dass weder diese noch ein Dutzend weiterer Beratungen das Problem lösen würden. Mit seinem bewusst scharfen Auftreten verfolgte er einen einzigen Zweck: die Versammelten zu schockieren und sie zur Diskussion anzuregen.
Und Komow erreichte sein Ziel: Von allen Teilnehmern der beratenden Sitzung bewahrten nur Leonid Gorbowskij und Rudolf Sikorsky einen kühlen Kopf. Gorbowski, weil er ein vernünftiger Optimist, und Sikorsky, weil er schon damals Leiter der KomKon 2 war. Es wurden viele Worte gewechselt - ziemlich hitzige ebenso wie betont gelassene, sehr leichtfertige und überaus tiefgründige, mittlerweile längst vergessene und solche, die später ins Lexikon der Vorträge, Legenden, Berichte und Empfehlungen eingingen. Wie zu erwarten, bestand der einzige Beschluss der Sitzung darin, sich am nächsten Tag in erweiterter Runde erneut zu treffen; es sollten weitere Mitglieder des Weltrates teilnehmen - Fachleute für Sozialpsychologie, Pädagogik und Massenmedien.
Die ganze Sitzung hindurch hatte Rudolf Sikorsky geschwiegen. Er fühlte sich nicht hinreichend kompetent, um sich für die eine oder andere Lösung des Problems auszusprechen. Doch seine langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Experimentalgeschichte, wie auch alle ihm über die Tätigkeit der Wanderer bekannten Tatsachen, führten ihn zu dem Schluss: Welche Entscheidung der Weltrat letzten Endes auch fällte - diese Entscheidung wie überhaupt alle Umstände der Angelegenheit mussten auf unbestimmte Zeit in einem Kreis von Personen gehalten werden, die das höchste Niveau sozialer Verantwortlichkeit erkennen ließen. In diesem Sinne äußerte er sich kurz vor Ende der Sitzung. »Die Entscheidung, alles so zu lassen, wie es ist, und sich auf passive Beobachtung zu beschränken, ist in Wahrheit keine Entscheidung. An wirklichen Entscheidungen gibt es nur zwei: vernichten oder die Entwicklung in Gang setzen. Es ist unwichtig, wann eine von diesen Entscheidungen getroffen wird - heute oder in hundert Jahren, doch wird jede unbefriedigend sein. Den Sarkophag zu vernichten heißt, etwas Unumkehrbares zu tun. Wir alle hier wissen, welchen Preis eine unumkehrbare Tat hat. Die Entwicklung in Gang zu setzen aber heißt, den Weg einzuschlagen, den uns die Wanderer vorgeben - und deren Absichten sind uns, gelinde gesagt, völlig unklar. Ich will keine Entscheidung vorwegnehmen und glaube auch nicht das Recht zu haben, für welche Entscheidung auch immer zu stimmen. Das Einzige, worum ich bitte und worauf ich bestehe, ist: Erlauben Sie mir, unverzüglich Maßnahmen gegen ein Durchsickern der Informationen zu ergreifen. Und sei es, um zu vermeiden, dass eine Flut von Inkompetenz auf uns zurollt …«
Diese kleine Rede machte einigen Eindruck, und Sikorsky erhielt von allen die Erlaubnis, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen - zumal allen klar war: Eile konnte erstens nur schaden, und zweitens mussten unbedingt Voraussetzungen für eine gründliche Arbeit geschaffen werden.
Am 31. Dezember fand die erweiterte Beratung statt. Anwesend waren achtzehn Personen, darunter der von Gorbowski eingeladene Vorsitzende des Weltrates für soziale Fragen. Alle waren sich einig, dass der Sarkophag nur durch Zufall gefunden worden war. Das aber bedeutete auch: vor der Zeit. Zudem musste man, bevor eine Entscheidung gefällt wurde, versuchen, die ursprüngliche Absicht der Wanderer zu verstehen, und wenn nicht verstehen - so doch zumindest eine Vorstellung davon gewinnen. Diesbezüglich wurden nun einige mehr oder weniger exotische Hypothesen vorgestellt.
Kyrill Alexandrow, für seine anthropomorphistischen Anschauungen bekannt, äußerte die Vermutung, der Sarkophag sei ein Aufbewahrungsort für den genetischen Fonds der Wanderer. Alle ihm bekannten Beweise für die nichthumanoide Natur der Wanderer, erklärte er, seien im Grunde indirekt. In Wirklichkeit könnten sich die Wanderer durchaus als genetische Doppelgänger des Menschen erweisen. Eine solche Annahme widerspräche auch keineswegs den zugänglichen Fakten. Davon ausgehend schlug Alexandrow vor, alle Untersuchungen abzubrechen, den Fund wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen und das System von EN 9173 zu verlassen.
Nach Ansicht von August Johann Bader war der Sarkophag ebenfalls ein Aufbewahrungsort für einen genetischen Fonds, aber nicht der Wanderer, sondern der Erdenmenschen. Vor fünfundvierzigtausend Jahren hätten die Wanderer eine Degeneration der damals wenigen Stämme des Homo sapiens theoretisch für möglich gehalten und versucht, auf diese Weise Maßnahmen zu ergreifen, um die irdische Menschheit in der Zukunft wiederherstellen zu können.
Unter derselben Parole »Wir wollen nicht schlecht von den Wanderern denken« trat auch der greise Pak Hin auf. Wie Bader war er überzeugt, dass man es mit einem irdischen Genfonds zu tun hätte, nahm jedoch an, er sei von den Wanderern eher zu Bildungszwecken angelegt worden. Der Sarkophag sei eine Art »Zeitkapsel«, deren Öffnung es der gegenwärtigen Menschheit ermögliche, sich mit den Besonderheiten ihrer entfernten Vorfahren vertraut zu machen - etwa, was ihre Gestalt, Anatomie und Physiologie anging.
Gennadi Komow stellte die Frage umfassender. Seiner Meinung nach werde jede Zivilisation, die ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht habe, Kontakt mit einer anderen Intelligenz anstreben. Der Kontakt zwischen humanoiden und nichthumanoiden Zivilisationen jedoch gestalte sich äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich. Könnte es sein, dass man es hier vielleicht mit dem Versuch zu tun hätte, eine vollkommen neue Kontaktmethode anzuwenden? Nämlich: ein Mittlerwesen zu schaffen, einen Humanoiden, in dessen Genotyp wesentliche Charakteristiken der nichthumanoiden Psychologie kodiert seien. In diesem Sinne müssten wir den Fund als Beginn einer völlig neuen Etappe sowohl in der Geschichte der Erdenmenschen als auch der nichthumanoiden Wanderer betrachten.
Komow vertrat die Ansicht, die Eizellen sollten unverzüglich aktiviert werden. Ihn, Komow, beunruhige es dabei nicht, dass der Fund eventuell verfrüht gewesen sei. Denn als die Wanderer das Entwicklungstempo der Menschheit berechneten, könnten sie sich leicht um ein paar Jahrhunderte geirrt haben.
Komows Hypothese führte zu einer lebhaften Diskussion, in deren Verlauf erstmals Zweifel laut wurden, ob die moderne Pädagogik imstande sei, ihre Methoden auch erfolgreich bei der Erziehung von Menschen anzuwenden, deren Psyche sich in erheblichem Maß von der humanoiden unterschied.
Gleichzeitig stellte der überaus vorsichtige Mahiro Shinoda, ein bedeutender Spezialist für die Wanderer, die sehr vernünftige Frage, warum der verehrte Gennadi, wie auch einige andere Genossen, so überzeugt seien davon, dass die Wanderer gegenüber den Erdenmenschen freundlich gesinnt seien? Es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass diese gegenüber irgendeiner Rasse - ob humanoid oder nichthumanoid - zu einer wohlwollenden Haltung fähig seien. Im Gegenteil, die Fakten (die freilich rar waren) zeugten eher davon, dass die Wanderer gegenüber fremder Intelligenz absolut gleichgültig seien und sie höchstens als Mittel zum Erreichen ihrer eigenen Ziele betrachteten, keinesfalls aber als Kontaktpartner. Ob der verehrte Gennadi nicht den Eindruck habe, dass die von ihm vorgebrachte Hypothese ebenso gut in der entgegengesetzten Richtung funktionierte: indem man nämlich annahm, die hypothetischen Mittlerwesen sollten nach dem Willen der Wanderer Aufgaben erfüllen, die aus unserer Sicht eher negativ wären. Warum sollte man dieser Logik zufolge nicht auch annehmen können, der Sarkophag sei eine ideologische Zeitzünderbombe und die Mittlerwesen so etwas wie Diversanten - programmiert auf die Unterwanderung unserer Zivilisation. »Diversanten« sei freilich ein anrüchiges Wort, und so habe sich bei uns ein neuer Begriff herausgebildet: Progressor - ein Erdenmensch, dessen Tätigkeit auf die Erhaltung des Friedens unter anderen humanoiden Zivilisationen gerichtet ist. Warum nicht annehmen, die hypothetischen Mittlerwesen seien eine Art Progressoren der Wanderer? Was wüssten wir letztlich von den Ansichten der Wanderer über Tempo und Formen unseres, des menschlichen Fortschritts?
Sofort spalteten sich die Teilnehmer in zwei Fraktionen auf - die Optimisten und die Pessimisten. Der Standpunkt der Optimisten schien dabei aber sehr viel plausibler zu sein. Was nicht verwundert; denn es war schwer, wenn nicht unmöglich, sich vorzustellen, eine Superzivilisation sei zu solch taktlosen Experimenten mit ihren kleineren Brüdern im Geiste fähig. Nach allem, was man über die naturgemäße Entwicklung der Vernunft wusste, erschien der Standpunkt der Pessimisten künstlich, unbegründet, archaisch. Dennoch blieb die Gefahr einer Fehleinschätzung bestehen, war sie auch noch so gering. Es mochten sich die Interpretatoren irren. Aber genauso gut konnten sich auch die Wanderer selbst geirrt haben. Die Folgen eines solchen Irrtums für das Schicksal der Erdenmenschheit entzogen sich der Berechnung ebenso wie der Kontrolle.
Damals schon erschien vor dem innerem Auge Rudolf Sikorskys das apokalyptische Bild eines Wesens, das sich weder anatomisch noch physiologisch vom Menschen unterschied und auch psychisch dem Menschen völlig entsprach - in seiner Logik, seinen Gefühlen und in der Wahrnehmung seiner Umwelt. Ein Wesen, das inmitten anderer Menschen lebt und arbeitet - und in sich die Bedrohung eines gänzlich unbekannten Programms trägt. Das Schrecklichste aber war, dass das Wesen selbst nichts von diesem Programm wusste und nicht einmal dann von ihm erfahren würde, wenn sich das Programm in einem nicht im Voraus bestimmbaren Augenblick einschaltete, in ihm den Erdenmenschen zerstörte und das Wesen dazu brachte … ja, zu was? Mit welchem Ziel? Schon damals führte sich Rudolf Sikorsky ebenso klar wie hoffnungslos vor Augen, dass niemand - und am wenigsten er selbst - das Recht hatte, sich damit zu beruhigen, dass diese Möglichkeit überaus unwahrscheinlich und phantastisch wäre.
Als die Beratung in vollem Gange war, erhielt Gennadi Komow einen weiteren chiffrierten Funkspruch von Fokin. Er las ihn durch - und erbleichte. Dann verkündete er mit brüchiger Stimme: »Es sieht nicht gut aus - Fokin und van Bleerkom teilen mit, dass bei allen dreizehn Eizellen die erste Teilung erfolgt ist.«
Das war ein böses Neujahr für alle, die in die Sache eingeweiht waren. Vom frühen Morgen des 1. bis zum Abend des 3. Januar des neuen Jahres’38 dauerte die praktisch ununterbrochene Sitzung der spontan gebildeten »Kommission für den Brutkasten«. Der Sarkophag wurde jetzt Brutkasten genannt, und zur Debatte stand im Grunde nur eine Frage: wie unter Berücksichtigung aller Umstände das Schicksal der dreizehn neuen Erdenbürger gestaltet werden könnte.
Die Frage nach der Vernichtung des Brutkastens wurde nicht mehr gestellt, obwohl allen Mitgliedern der Kommission - auch jenen, die sich ursprünglich für die Aktivierung der Eizellen ausgesprochen hatten - dabei nicht wohl in ihrer Haut war. Es war ein unbestimmtes, ungutes Gefühl - eine Unruhe, die sie nicht losließ. Es schien, als hätten sie am 31. Dezember in gewissem Sinne ihre Selbstständigkeit eingebüßt und seien nun genötigt, einem von außen aufgezwungenen Plan zu folgen. Nichtsdestoweniger trug die Erörterung einen sehr konstruktiven Charakter.
Schon in diesen drei Tagen formulierte man in groben Zügen die Leitlinien für die Erziehung der künftigen Neugeborenen. Man bestimmte ihre Ammen, beobachtenden Ärzte, Lehrer und möglichen Ausbilder und legte fest, in welche Richtung sich die anthropologischen, physiologischen und psychologischen Forschungen zu bewegen hätten. Spezialisten für Xenotechnologie im Allgemeinen sowie für die Xenotechnik der Wanderer im Besonderen wurden bestimmt und umgehend zur Gruppe Fokins geschickt, um den Sarkophag-Brutkasten auf das Sorgfältigste zu untersuchen und Missgeschicken vorzubeugen. Vor allem aber entsandte man sie in der Hoffnung, es möchte gelingen, Details dieses Apparates zu entdecken, die dazu beitrügen, die bevorstehende Arbeit mit den »Findelkindern« präzisieren und konkretisieren zu können. Es wurden sogar unterschiedliche Varianten zur Steuerung der öffentlichen Meinung erarbeitet - je nachdem, welche der Hypothesen über die Ziele der Wanderer sich bewahrheitete.
Rudolf Sikorsky beteiligte sich nicht an der Diskussion. Er hörte nur mit halbem Ohr zu und konzentrierte sich allein darauf, jede Person zu erfassen, die mit der Entwicklung dieser Ereignisse in irgendeiner Weise zu tun haben würde. Die Liste wuchs in deprimierendem Tempo, doch dagegen konnte er vorerst nichts unternehmen. In diese seltsame, ja gefährliche Geschichte würden so oder so viele Leute verwickelt sein.
Auf der Schlussbesprechung am Abend des 3. Januar, wo Bilanz gezogen wurde und sich die spontan gebildeten Kommissionen organisatorisch formierten, bat Sikorsky ums Wort und erklärte etwa Folgendes: Wir haben in den letzten Tagen gute Arbeit geleistet und uns mehr oder weniger auf die mögliche Entwicklung der Ereignisse eingestellt - soweit das überhaupt möglich ist bei unserem jetzigen Informationsstand und der jämmerlichen Lage, in der wir uns nicht nach unserem, sondern nach dem Willen der Wanderer befinden. Wir haben vereinbart, nichts zu unternehmen, was unumkehrbar wäre; das ist im Grunde das Wesentliche all unserer Beschlüsse. Aber! Als Leiter der KomKon 2, einer Organisation, die verantwortlich ist für die Sicherheit der irdischen Zivilisation als Ganzes, lege ich Ihnen jetzt eine Reihe von Forderungen vor, die es bei unserer Tätigkeit fortan strikt zu erfüllen gilt.
Erstens. Alle Arbeiten, die in irgendeiner Weise mit dieser Geschichte in Zusammenhang stehen, sind geheim zu halten. Angaben darüber dürfen unter keinen Umständen veröffentlicht werden. Begründung: das jedem bekannte Gesetz zum Persönlichkeitsgeheimnis.
Zweitens. Keines der »Findelkinder« darf in die Umstände eingeweiht werden, unter denen es auf die Welt gekommen ist. Begründung: dasselbe Gesetz.
Drittens. Sobald sie zur Welt gekommen sind, müssen die »Findelkinder« getrennt werden. In der Folge sind Vorkehrungen zu treffen, damit sie nicht nur nichts voneinander wissen, sondern einander auch nie begegnen. Begründung: Erwägungen grundsätzlicher Natur, die ich hier nicht näher ausführen will.
Viertens. Sie alle sollten sich auf außerirdische Fachgebiete spezialisieren; dadurch wird ihnen die Rückkehr zur Erde auf natürliche Weise erschwert - nämlich durch ihre Lebensund Arbeitsumstände. Begründung: dieselben grundsätzlichen, logischen Erwägungen. Vorerst müssen wir dem von den Wanderern vorgezeichneten Weg folgen; gleichzeitig aber sollten wir alles tun, um diesen Weg später wieder zu verlassen, und zwar je früher, desto besser.
Wie zu erwarten, riefen »Die vier Forderungen Sikorskys« großen Unwillen hervor. Denn wie alle übrigen Menschen hassten auch die Teilnehmer der Sitzung jede Art von Geheimnis, geheim gehaltenen Tatsachen und Themen, über die man nicht sprechen durfte - sowie überhaupt die ganze KomKon 2. Aber wie Sikorsky es vorausgesehen hatte, kamen die Psychologen und Soziologen, nachdem sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatten, zur Vernunft und standen ihm nun entschieden zur Seite. Mit dem Gesetz über das Persönlichkeitsgeheimnis war nicht zu spaßen: Mühelos konnte man sich eine ganze Reihe äußerst unangenehmer Situationen ausmalen, die im Falle einer Verletzung der beiden ersten Forderungen zukünftig entstehen mochten. Versuchen Sie sich in die Psyche eines Menschen zu versetzen, der erfährt, dass er durch einen Inkubator zur Welt gekommen ist, den unbekannte Monster vor fünfundvierzigtausend Jahren mit unbekanntem Zweck in Gang gesetzt haben, und der dazu noch weiß, dass auch alle anderen in seiner Umgebung das wissen. Und wenn er nur über die geringste Spur von Phantasie verfügt, wird ihm bald klar, dass er, ein Erdenmensch durch und durch, der nichts anderes als die Erde kennt und liebt, vielleicht eine schreckliche Gefahr für die Menschheit in sich trägt. Das kann einen Menschen so traumatisieren, dass ihm nicht einmal mehr die besten Fachleute helfen können …
Die Argumente der Psychologen wurden sodann von einer plötzlichen und ungewohnt scharfen Rede Mahiro Shinodas bekräftigt, der ganz offen die Meinung vertrat, es würde zu viel an dreizehn noch ungeborene Rotznasen gedacht und viel zu wenig an die potenzielle Gefahr, die sie für die alte Erde darstellen konnten. Daraufhin wurden alle »Vier Forderungen« mit Stimmenmehrheit angenommen, und Rudolf Sikorsky erhielt den Auftrag, entsprechende Maßnahmen auszuarbeiten und umzusetzen. Und das gerade noch rechtzeitig.
Am 5. Januar rief, etwas beunruhigt, Leonid Andrejewitsch Gorbowski bei Rudolf Sikorsky an. Wie sich herausstellte, hatte er sich eine halbe Stunde zuvor mit einem alten Freund, einem tagoranischen Xenologen, unterhalten, der seit zwei Jahren bei der Moskauer Universität akkreditiert gewesen war. Im Laufe der Unterhaltung hatte sich der Tagoraner wie beiläufig erkundigt, ob sich denn die vor einigen Tagen aufgetauchte Meldung über den ungewöhnlichen Fund im System von EN 9173 bestätigt hätte. Überrumpelt von der harmlosen Frage, hatte Gorbowski nur etwas Unverständliches gemurmelt: Schon lange sei er kein Fährtensucher mehr, das falle nicht in sein Interessengebiet, er sei gar nicht auf dem Laufenden, und dann erklärte er schließlich aufrichtig und erleichtert, er habe die Meldung gar nicht gelesen. Der Tagoraner brachte das Gespräch sofort auf ein anderes Thema, aber Gorbowski blieb von diesem Teil der Unterhaltung ein äußerst unangenehmer Nachgeschmack.
Rudolf Sikorsky war klar, dass das Gespräch ein Nachspiel haben würde - und er täuschte sich nicht.
Am 7. Januar bekam er unerwartet Besuch von dem hochgeschätzten Dr. As-Su, der soeben von der Tagora eingetroffen war. Von seiner Tätigkeit her war Dr. As-Su gewissermaßen Sikorskys Amtskollege, und das Ziel seines Besuchs bestand darin, eine ganze Reihe wichtiger Details zu besprechen, was die geplante Erweiterung des Aufgabenfeldes für die offiziellen Beobachter der Tagora auf der Erde betraf. Als der dienstliche Teil des Gesprächs beendet war und vor dem kleinen Dr. As-Su sein irdisches Lieblingsgetränk stand (kalter Malzkaffee mit synthetischem Honig), begannen die zwei hochrangigen Herren mit dem Austausch von amüsanten und schauerlichen historischen Anekdoten, wie sie sie seit langem mit großem Können und Vergnügen einander erzählten.
Dr. As-Su berichtete beispielsweise, wie tagoranische Bauarbeiter vor etwa 150 Erdenjahren beim Legen der Fundamente zur Dritten Großen Maschine im Basaltgrund des Subpolarkontinents eine seltsame Vorrichtung fanden. In irdischen Begriffen ließ sich diese am besten als ein intelligent konstruiertes Nest bezeichnen, und darin befanden sich zweihundertdrei Larven von Tagoranern in latentem Zustand. Das Alter des Fundes ließ sich nicht genau bestimmen. Es stand jedoch fest, dass das Nest lange vor der Großen Genetischen Revolution angelegt worden war - also noch zu der Zeit, als jeder Tagoraner in seiner Entwicklung ein Larvenstadium durchlief …
»Erstaunlich«, murmelte Sikorsky. »Sollte Ihr Volk schon zu dieser Zeit über eine derart entwickelte Technologie verfügt haben?«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Dr. As-Su. »Kein Zweifel, das war das Werk der Wanderer
»Aber wozu sollten sie das tun?«
»Diese Frage ist zu schwer zu beantworten. Wir haben es gar nicht erst versucht.«
»Und was ist dann mit diesen zweihundert kleinen Tagoranern geschehen?«
»Hm, da stellen Sie eine sonderbare Frage … Die Larven begannen sich spontan zu entwickeln, und wir haben die Vorrichtung dann mitsamt ihrem Inhalt sofort vernichtet. Können Sie sich ein Volk vorstellen, das in dieser Situation anders verfahren würde?«
»Ich kann«, sagte Sikorsky.
Am Tag darauf, dem 8. Januar’38, reiste der Hohe Botschafter der Geeinten Tagora aus gesundheitlichen Gründen in seine Heimat ab. Ein paar Tage später befand sich auf der Erde und auf allen anderen Planeten, wo Erdenmenschen arbeiteten, kein einziger Tagoraner mehr. Und nach einem weiteren Monat mussten alle Erdenmenschen, die auf der Tagora beschäftigt waren, ohne Ausnahme auf die Erde zurückkehren. Die Verbindungen zur Tagora rissen für fünfundzwanzig Jahre ab.

Das Persönlichkeitsgeheimnis Lew Abalkins (Fortsetzung)

Sie wurden alle am selben Tag geboren, am 6. Oktober’38. Es waren fünf Mädchen und acht Jungen, kräftige, laute und völlig gesunde menschliche Säuglinge. Als sie zur Welt kamen, war schon alles bereit. Medizinische Koryphäen, Mitglieder des Weltrates und Berater der »Kommission für die Dreizehn« nahmen sie in Empfang, untersuchten sie, wuschen und wickelten sie und schickten sie noch am selben Tag mit einem eigens dafür eingerichteten Schiff zur Erde. Schon gegen Abend befanden sie sich in dreizehn über alle Kontinente verstreuten Kinderheimen, wo sich sorgsame Ammen um die dreizehn Waisen und postumen Kinder kümmerten, die ihre Eltern niemals zu Gesicht bekommen würden und deren aller Mutter fortan die große, gütige Menschheit war. Die Legenden über ihre Herkunft waren von Rudolf Sikorsky selbst vorbereitet und mit einer Sondergenehmigung des Weltrates in das GGI eingegeben worden.
Das Schicksal Lew Wjatscheslawowitsch Abalkins wie auch das seiner zwölf »Geschwister« war von nun an und auf viele Jahre hinaus vorprogrammiert. Lange Zeit unterschied es sich nicht von den Schicksalen ihrer gewöhnlichen irdischen Altersgefährten. Wie hundert Millionen anderer Säuglinge im Kinderheim lag er zuerst, dann krabbelte, tapste und lief er umher. Um ihn herum waren ebensolche kleinen Kinder, und sorgsame Erwachsene kümmerten sich um ihn - genauso wie in hunderttausend anderen Kinderheimen auf der Erde.
Allerdings hatte er Glück wie nur wenige. Am selben Tag, als man ihn in das Heim brachte, begann dort Jadwiga Michailowna Lekanowa als einfache beobachtende Ärztin zu arbeiten. Sie war eine der bedeutendsten Spezialistinnen für Kinderpsychologie - und hatte sich aus irgendeinem Grund von den Höhen der reinen Wissenschaft herabbegeben, um zu der Tätigkeit zurückzukehren, mit der sie vor Jahrzehnten angefangen hatte … Und als der sechsjährige Lew Abalkin mit seiner gesamten Gruppe in die Internatsschule Nr. 241 in Syktywkar wechselte, kam ebendiese Jadwiga Michailowna zu dem Schluss, es sei nun Zeit für sie, mit Schulkindern zu arbeiten, und ließ sich als beobachtende Ärztin an dieselbe Schule versetzen.
Ljowa Abalkin wuchs heran und entwickelte sich wie ein völlig normaler Junge, vielleicht mit einer leichten Neigung zur Melancholie und Verschlossenheit, aber die Abweichungen seines Psychotypus von der Norm überschritten nie den Mittelwert und blieben weit unter den zulässigen Schwankungen. Mit seiner physischen Entwicklung sah es genauso gut aus. Er unterschied sich von den anderen weder durch übermäßige Zartheit noch zeichnete er sich durch besondere körperliche Fähigkeiten aus. Kurzum, er war ein kräftiger, gesunder und gewöhnlicher Junge, der unter seinen Klassenkameraden, die größtenteils Slawen waren, nur durch seine pechschwarzen glatten Haare auffiel, auf die er sehr stolz war und die er immer schulterlang tragen wollte. So war es bis zum November des Jahres’47.
Am 16. November entdeckte Jadwiga Michailowna bei einer Routineuntersuchung in Ljowas rechter Armbeuge einen kleinen blauen Fleck, der leicht angeschwollen war. Nun ist ein blauer Fleck bei einem Jungen keine Seltenheit, weshalb Jadwiga Michailowna ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Und sie hätte ihn sicherlich vergessen, hätte sich nach einer Woche, am 23. November, nicht herausgestellt, dass dieser Fleck noch immer da war und obendrein eine seltsame Veränderung durchgemacht hatte. Man konnte ihn eigentlich schon nicht mehr als blauen Fleck bezeichnen; eher war es eine Art Tätowierung - ein braungelbes kleines Mal in Form eines kyrillischen »she«. Vorsichtige Fragen ergaben, dass Ljowa Abalkin keine Ahnung hatte, wie und warum er dazu gekommen war. Offensichtlich hatte er es bisher nicht einmal bemerkt.
Nach einigem Zögern hielt es Jadwiga Michailowna für ihre Pflicht, Dr. Sikorsky von ihrer Entdeckung in Kenntnis zu setzen. Dieser nahm die Information zunächst ohne jedes Interesse auf; Ende Dezember aber rief er Jadwiga Michailowna plötzlich per Videofon an und erkundigte sich, was aus dem Muttermal bei Lew Abalkin geworden sei. Es sei unverändert, antwortete Jadwiga Michailowna. Sie war etwas verwundert. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, bat Dr. Sikorsky, dann fotografieren Sie diesen Fleck bitte so, dass der Junge es nicht merkt, und schicken mir das Foto.
Lew Abalkin war das erste der »Findelkinder«, bei dem das Zeichen in der rechten Armbeuge aufgetaucht war. Im Laufe der folgenden zwei Monate erschienen Muttermale von mehr oder weniger verschlungener Form bei weiteren acht »Findelkindern«: Anfangs tauchte stets ein leicht geschwollener blauer Fleck auf, ohne äußere Ursachen oder Schmerzempfindungen, und eine Woche später - ein braungelbes Zeichen. Ende’48 trugen alle dreizehn das »Siegel der Wanderer«. Und da wurde eine sehr erstaunliche und schreckliche Entdeckung gemacht, die zu dem Begriff »Zünder« führte.
Wer den Begriff prägte, lässt sich nicht mehr feststellen. Nach Rudolf Sikorskys Ansicht brachte er aber sehr genau, ja, fast bedrohlich die Sache auf den Punkt. Noch im Jahre’39, ein Jahr nach der Geburt der »Findelkinder«, hatten Xenotechniker, die mit der Demontage des leeren Inkubators beschäftigt waren, in seinem Innern einen langen Kasten aus Elektrin gefunden, der dreizehn graue runde Scheiben mit Hieroglyphen darauf enthielt. Im Innern des Inkubators waren damals noch weitaus rätselhaftere Dinge entdeckt worden als dieser Futteralkasten, weshalb ihm niemand besondere Beachtung schenkte. Das Futteral wurde ins Museum für Außerirdische Kulturen gebracht und in der sekretierten Ausgabe der »Materialien zum Sarkophag-Brutkasten« als Element des Lebenserhaltungssystems beschrieben. Erfolgreich überstand es den Vorstoß eines Forschers, der herauszufinden versucht hatte, was es war und wozu es diente … Danach überführte man es in die schon überfüllte Spezialabteilung für »Objekte der materiellen Kultur ungeklärter Bestimmung«, wo es wie gewünscht für ein ganzes Jahrzehnt vergessen wurde.
Anfang’49 betrat Rudolf Sikorskys Assistent für die Angelegenheit der »Findelkinder« (nennen wir ihn einmal Iwanow) das Arbeitszimmer seines Chefs und legte einen Projektor vor ihn hin, der auf Seite 211 von Band sechs der »Materialien zum Sarkophag« eingeschaltet war. Seine Exzellenz warf einen Blick darauf und erstarrte. Er sah eine Fotografie des »Lebenserhaltungselements 15/156 A«: dreizehn graue runde Scheiben, die in den Fassungen eines Bernsteinfutterals lagen. Und dreizehn verschlungene Hieroglyphen - eben jene, über die er schon aufgehört hatte, sich den Kopf zu zerbrechen, die er aber von dreizehn Fotos kindlicher Armbeugen gut kannte. Ein Zeichen pro Ellenbogen. Ein Zeichen pro Scheibe. Eine Scheibe pro Ellenbogen.
Das konnte kein Zufall sein; es musste etwas bedeuten. Etwas sehr Wichtiges. Rudolf Sikorskys erster Impuls war, das »Element 15/156 A« sofort aus dem Museum anzufordern und bei sich im Safe zu verstecken. Vor allen, vor sich selbst. Er war erschrocken. Einfach zutiefst erschrocken. Und am schlimmsten war, dass er nicht einmal begriff, wovor er sich fürchtete.
Iwanow war auch erschrocken. Sie sahen einander an und verstanden sich wortlos. Beiden stand ein und dasselbe Bild vor Augen: dreizehn sonnengebräunte Bomben liefen zerkratzt und mit fröhlichem Geschrei über Bächlein dahin und kletterten an verschiedenen Enden der Welt auf Bäumen herum; und hier, zwei Schritte entfernt, warteten dreizehn Zünder zu diesen Bomben in unheilvoller Stille auf ihre Stunde.
Sicher, es war eine schwache Minute. Nichts Schreckliches war geschehen und es gab keinen zwingenden Grund zu der Annahme, dass die Scheiben mit den Zeichen tatsächlich Zünder zu Bomben waren und ein verborgenes Programm zum Leben erwecken würden. Beide, Sikorsky und Iwanow, waren einfach schon zu sehr daran gewöhnt, das Schlimmste zu vermuten, wenn es um die »Findelkinder« ging. Und selbst wenn ihre panischen Vorstellungen sie nicht getrogen hätten, selbst dann war noch nichts Schreckliches geschehen. Denn man konnte die Zünder in jedem beliebigen Moment vernichten, in jedem beliebigen Moment aus dem Museum nehmen und auf den Mond schicken, an den Rand des bewohnten Alls, und, wenn nötig, noch weiter.
Rudolf Sikorsky rief den Direktor des Museums an und bat ihn, das Exponat Nummer soundso dem Weltrat zur Verfügung zu stellen und es zu ihm, Rudolf Sikorsky, in die Dienststelle zu schicken. Es folgte eine leicht verwunderte, tadellos höfliche, und doch unzweideutige Ablehnung. Denn wie sich herausstellte (davon hatte Sikorsky bislang keine Ahnung gehabt), wurden die Exponate jedes Museums - nicht nur des Museums für Außerirdische Kulturen, sondern jedes Museums auf der Erde - nicht herausgegeben, weder an Privatpersonen noch an den Weltrat. Sogar wenn der liebe Gott persönlich mit dem Exponat Nummer soundso arbeiten wollte, müsste er sich zu diesem Zweck im Museum einfinden, die entsprechenden Vollmachten vorweisen und die nötigen Untersuchungen dort, im Museum selbst, durchführen. Dazu würde man ihm, dem lieben Gott, übrigens auch alle erforderlichen Voraussetzungen schaffen: Laboratorien, jedwede Ausrüstung, Konsultation und so weiter und so fort.
Der Fall zeigte sich von einer unerwarteten Seite. Aber der erste Schock war schon vorüber - letzten Endes war es gut, dass die Bombe zur Wiedervereinigung mit dem Zünder zumindest »die entsprechenden Vollmachten« brauchte. Und schließlich lag es nur an ihm, Rudolf Sikorsky, dafür zu sorgen, dass sich nun das Museum in einen Safe verwandelte - wenn auch mit etwas größeren Abmessungen. Und überhaupt, was war denn so schlimm? Woher sollten die Bomben wissen, wo sich die Zünder befanden und dass es überhaupt welche gab? Nein, es war eine schwache Minute gewesen. Eine der wenigen Minuten dieser Art in seinem Leben.
Man nahm sich die Zünder gründlich vor. Ausgewählte Leute mit den entsprechenden Vollmachten und Empfehlungen führten in den bestens ausgestatteten Laboratorien des Museums eine Serie sorgsam geplanter Untersuchungen durch. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen aber waren gleich null - hätte es da nicht einen sehr seltsamen, ja geradezu tragischen Umstand gegeben.
Mit einem der Zünder wurde das Regenerationsexperiment durchgeführt. Das Experiment lieferte ein negatives Resultat, d. h. im Gegensatz zu vielen anderen Objekten der materiellen Kultur der Wanderer stellte sich der Zünder Nummer 12 (mit dem Zeichen »Fraktur-M«), nachdem er zerstört worden war, nicht wieder selbst her. Zwei Tage später geriet eine Gruppe von Schülern aus dem Internat »Tiemplado« - siebenundzwanzig Jungen und Mädchen und ein Lehrer - in den nördlichen Anden in einen Steinschlag. Viele trugen Schrammen und Verletzungen davon, blieben jedoch am Leben - bis auf Enda Lasco, Personalakte Nr. 12, Zeichen: »Fraktur-M«.
Gewiss, das konnte Zufall sein. Aber die Untersuchung der Zünder wurde eingestellt, und durch den Weltrat gelang es, sie generell zu verbieten.
Es gab einen weiteren Vorfall, jedoch viel später, im Jahre’62, als Rudolf Sikorsky unter dem Decknamen »der Wanderer« Resident auf dem Saraksch war.
Dank seiner Abwesenheit gelang es einer Gruppe von Psychologen, die zur Kommission für die Dreizehn gehörte, die Genehmigung zu erhalten, einem der »Findelkinder« sein Persönlichkeitsgeheimnis teilweise zu offenbaren. Für das Experiment wurde Kornej Jašmaa ausgewählt - Nummer 11, Zeichen »Elbrus«. Nach sorgfältiger Vorbereitung erzählte man ihm die ganze Wahrheit über seine Herkunft. Nur soweit es ihn selbst betraf. Keiner der anderen wurde erwähnt.
Kornej Jašmaa schloss damals gerade die Progressoren-Schule ab. Allen Untersuchungen nach zu urteilen, war er ein Mensch mit stabiler psychischer Konstitution, sehr starkem Willen und von seinen Anlagen her ein außergewöhnlicher Mensch. Die Psychologen hatten sich nicht geirrt: Kornej Jašmaa nahm die Information ungerührt auf - anscheinend interessierte ihn die Umwelt mehr als das Geheimnis der eigenen Herkunft. Die vorsichtige Warnung der Psychologen, dass ihm womöglich ein verborgenes Programm eingegeben sei, das seine Aktivitäten jederzeit gegen die Interessen der Menschheit richten konnte, beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Er gestand offen, dass er die potenzielle Gefahr, die von ihm ausging, zwar verstand, aber nicht im Geringsten daran glaubte. Er war mit der regelmäßigen Selbstbeobachtung einverstanden, die unter anderem die tägliche Untersuchung mit einem Emotionsindikator einschloss, und schlug sogar selbst Mentoskopien beliebiger Tiefen vor. Mit einem Wort: Die Kommission konnte zufrieden sein. Zumindest eines der »Findelkinder« war nun zu einem bewussten, starken Verbündeten der Erde geworden.
Als Rudolf Sikorsky von dem Experiment erfuhr, wurde er zuerst wütend, kam aber dann zu dem Schluss, dass das Experiment letzten Endes von Nutzen sein könnte. Bemüht um die Sicherheit der Erde, hatte er eigentlich von Anfang an darauf bestanden, das Persönlichkeitsgeheimnis der »Findelkinder« zu wahren. Wenn, beziehungsweise falls das Programm dann in den »Findelkindern« aktiv würde, war es seiner Meinung nach besser, wenn sie neben diesem unterbewussten Programm keine weiteren - bewussten - Informationen über sich selbst hätten und das, was mit ihnen passiert war. Ihm war lieber, sie irrten wild umher, ohne zu wissen, was sie suchten, und begingen sinnlose, sonderbare Taten. Zur Kontrolle aber war es letzten Endes von Vorteil, ein »Findelkind« (doch nicht mehr!) zu haben, das alle Informationen über sich selbst besaß. Wenn es überhaupt ein Programm gab, dann war es zweifellos so organisiert, dass keinerlei Bewusstsein existierte, das mit ihm fertig würde; andernfalls wäre die Mühe der Wanderer umsonst gewesen. Das Verhalten eines Menschen, der von dem Programm wusste, würde sich also ganz sicher stark von dem der anderen unterscheiden.
Die Psychologen indes dachten nicht daran, sich mit dem, was sie erreicht hatten, zu begnügen. Ermutigt vom Erfolg mit Kornej Jašmaa, wiederholten sie drei Jahre später (Rudolf Sikorsky saß noch immer auf dem Saraksch) dasselbe Experiment mit Thomas Nielson (Nummer 2, Zeichen »Schiefer Stern«), dem Aufseher eines Naturparks auf der Gorgona. Die Ergebnisse waren günstig, und ein paar Monate lang setzte Thomas Nielson seine Arbeit wohlbehalten fort, ohne von dem Persönlichkeitsgeheimnis irritiert zu sein. Er war überhaupt ein eher phlegmatischer Mensch und neigte nicht dazu, seine Gefühle zu zeigen.
Nielson führte alle empfohlenen Prozeduren zur Selbstbeobachtung durch und begegnete seiner Situation sogar mit einem gewissen, ihm eigenen schwarzen Humor. Die Mentoskopie allerdings verweigerte er kategorisch, wobei er sich auf rein persönliche Beweggründe berief. Am hundertachtundzwanzigsten Tag nach Beginn des Experiments aber kam Thomas Nielson auf der Gorgona unter Umständen ums Leben, die einen Selbstmord nicht ausschlossen.
Für die Kommission, insbesondere für die Psychologen war das ein schrecklicher Schlag. Der greise Pak Hin erklärte seinen Austritt aus der Kommission, verließ sein Institut, seine Schüler und Verwandten und ging ins selbst gewählte Exil. Am hundertzweiunddreißigsten Tag meldete ein Mitarbeiter der KomKon 2, zu dessen Aufgaben die monatliche Überprüfung des Bernsteinfutterals gehörte, panisch, dass der Zünder Nummer 02, Zeichen »Schiefer Stern«, spurlos verschwunden sei und in seiner Fassung, die mit den zitternden Härchen des Pseudoepithels ausgelegt war, nicht einmal Staub hinterlassen habe.
Nun stand außer Zweifel, dass zwischen jedem der »Findelkinder« und dem entsprechenden Zünder eine bestimmte, beinahe mystische Verbindung bestand. Und jedem Mitglied der Kommission war klar, dass es den Erdenmenschen in absehbarer Zeit wohl kaum gelingen würde, Licht in diese Geschichte zu bringen.
Gesammelte Werke 1
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