4. JUNI’78
Lew Abalkin bei Dr. Bromberg
Mit einem Mal beruhigten sie sich - gleichzeitig,
so als wären bei ihnen beiden im selben Moment die letzten
Energiereserven versiegt. Sie verstummten und hörten auf, einander
mit hasserfüllten Blicken zu durchbohren. Bromberg atmete tief aus,
holte ein altmodisches Taschentuch hervor und begann,
sich Gesicht und Hals abzuwischen. Ohne ihn anzusehen, fasste sich
Seine Exzellenz in die Brusttasche (ich erschrak - etwa um die
Pistole …?), holte eine Kapsel hervor, ließ ein weißes Kügelchen
auf seine Handfläche rollen und legte es sich unter die Zunge. Dann
reichte er Bromberg die Kapsel.
»Ich denke gar nicht dran!«, erklärte Bromberg und
wandte sich demonstrativ ab.
Seine Exzellenz hielt ihm weiter die Kapsel hin.
Bromberg schaute sie aus den Augenwinkeln an - wie ein Hahn. Dann
sagte er pathetisch: »Das Gift, das dir ein Weiser reicht, nimm an,
doch nimm den Balsam nicht aus Narrenhand …«
Er nahm die Kapsel und ließ auch auf seine
Handfläche ein weißes Kügelchen rollen.
»Ich brauche das nicht!«, verkündete er und warf
sich das Kügelchen in den Mund. »Noch nicht …«
»Isaac«, sagte Seine Exzellenz und schluckte. »Was
werden Sie machen, wenn ich tot bin?«
»Cachucha tanzen«, sagte Bromberg düster. »Reden
Sie kein dummes Zeug.«
»Isaac«, sagte Seine Exzellenz. »Wozu brauchen Sie
denn nun die Zünder? - Aber warten Sie, fangen wir nicht alles
wieder von vorne an. Ich habe keineswegs vor, mich in Ihre
Angelegenheiten einzumischen. Wenn Sie sich vorige oder nächste
Woche für die Zünder interessiert hätten, würde ich Ihnen diese
Frage jetzt nicht stellen. Aber Sie brauchen sie ausgerechnet
heute. Ausgerechnet in der Nacht, in der jemand anderer wegen der
Zünder hätte hierherkommen sollen. Wenn das ein Zufall ist, dann
sagen Sie es, und wir verabschieden uns. Ich habe Kopfschmerzen
…«
»Und wer sollte wegen der Zünder herkommen?«,
fragte Bromberg misstrauisch.
»Lew Abalkin«, sagte Seine Exzellenz müde.
»Wer ist das?«
»Sie kennen Lew Abalkin nicht?«
»Ich höre den Namen zum ersten Mal«, erwiderte
Bromberg.
»Das glaube ich«, sagte Seine Exzellenz.
»Das möchte ich meinen!«, entgegnete Bromberg von
oben herab.
»Ihnen glaube ich«, sagte Seine Exzellenz. »Aber
ich glaube nicht an Zufälle. Hören Sie, Isaac, ist das denn so
schwer - einfach und ohne Verrenkungen zu erzählen, warum Sie
gerade heute wegen der Zünder gekommen sind.«
»Mir passt das Wort ›Verrenkungen‹ nicht!«, sagte
Bromberg zänkisch, aber bereits weniger hitzig als zuvor.
»Ich nehme es zurück«, sagte Seine Exzellenz.
Bromberg begann wieder, sich mit dem Taschentuch
abzuwischen. »Ich habe keine Geheimnisse«, erklärte er. »Sie
wissen, Rudolf, dass ich Geheimnisse jeder Art zutiefst
verabscheue. Sie selbst haben mich in diese Situation gebracht, in
der ich Verrenkungen machen und Komödie spielen muss. Dabei ist
alles sehr einfach. Heute Morgen hat mich jemand aufgesucht.
Brauchen Sie unbedingt den Namen?«
»Nein.«
»Ein junger Mann. Worüber ich mit ihm gesprochen
habe, tut nichts zur Sache, nehme ich an. Das Gespräch hatte
privaten Charakter. Aber während der Unterhaltung bemerkte ich bei
ihm hier« - Bromberg tippte sich mit dem Finger auf die rechte
Armbeuge - »einen ziemlich seltsamen Leberfleck. Ich habe ihn sogar
gefragt: ›Was ist das - eine Tätowierung?‹ Sie wissen, Rudolf,
Tätowierungen sind mein Hobby. ›Nein‹, antwortete er. ›Es ist ein
Leberfleck.‹ Am ehesten glich es aber dem Buchstaben ›she‹ in
kyrillischer Schrift oder, sagen wir, dem japanischen Zeichen
›sanju‹ - ›dreißig‹. Fällt Ihnen dabei nichts ein, Rudolf?«
»Doch«, sagte Seine Exzellenz.
Mir fiel dabei auch etwas ein, etwas, was ich vor
kurzem gesehen hatte, was mir sonderbar, aber unwichtig erschienen
war.
»Was denn, Sie sind sofort draufgekommen?«, fragte
Bromberg neiderfüllt.
»Ja«, sagte Seine Exzellenz.
»Ich nicht gleich. Der junge Mann war schon längst
wieder gegangen, und ich saß immer noch da und versuchte mich zu
erinnern, wo ich so ein Zeichen schon einmal gesehen hatte. Und
zwar nicht einfach ein ähnliches, sondern haargenau dasselbe.
Schließlich fiel es mir ein. Ich musste mich vergewissern,
verstehen Sie? Ich hatte keine einzige Abbildung zur Hand. Ich
stürze also ins Museum - es ist geschlossen …«
»Mak«, sagte Seine Exzellenz, »sei so gut und gib
uns das Ding unter dem Schal.«
Ich folgte seiner Bitte.
Der Klotz war schwer und fühlte sich warm an. Ich
stellte ihn vor Seine Exzellenz auf den Tisch. Er zog ihn zu sich
heran. Jetzt sah ich, dass es in der Tat ein Futteral war - aus
einem glattpolierten, leuchtend bernsteinfarbenen Material; eine
sehr feine und ganz gerade Linie trennte den leicht gewölbten
Deckel von der massiven unteren Hälfte. Seine Exzellenz versuchte,
den Deckel anzuheben, doch seine Finger glitten ab; es gelang
nicht.
»Lassen Sie mich mal«, sagte Bromberg ungeduldig.
Er schob Seine Exzellenz beiseite, packte den Deckel mit beiden
Händen, hob ihn ab und legte ihn daneben.
Diese Teile nannte man also »Zünder«: graue, dicke,
runde Scheiben von vielleicht siebzig Millimetern im Durchmesser,
die in akkuraten Fassungen nebeneinanderlagen. Insgesamt gab es elf
Zünder; zwei weitere Fassungen waren leer. Man konnte sehen, dass
die Zünder an ihrer Unterseite von weißlichem Flaum bedeckt waren,
der Schimmel ähnelte. Die Härchen dieses Flaums bewegten sich
merklich - so, als wären sie lebendig, und das waren sie in
gewissem Sinne wohl auch …
Vor allem jedoch sprangen mir die ziemlich
komplizierten Hieroglyphen ins Auge, die auf die Oberfläche der
Zünder gemalt waren: auf jedem Zünder eine, und alle verschieden;
sie waren recht groß, rosabraun und leicht verwischt, als hätte man
sie mit farbiger Tinte auf feuchtes Papier gezeichnet. Eine davon
erkannte ich sofort: das kyrillische »she« oder, wenn man so will,
das japanische Zeichen »sanju«. Es war das kleine Original der
vergrößerten Kopie auf der Rückseite von Blatt Nr. 1 in der Mappe
Nr. 7. Der Zünder war der dritte von links, von mir aus gesehen,
und Seine Exzellenz, den langen Zeigefinger darauf gerichtet,
fragte: »Der?«
»Ja, ja«, antwortete Bromberg ungeduldig und schob
die Hand Seiner Exzellenz weg. »Stören Sie nicht. Sie verstehen gar
nichts …«
Er krallte die Fingernägel in die Ränder des
Zünders und begann ihn mit vorsichtigen Bewegungen aus der Fassung
herauszudrehen. Er murmelte: »Hier geht es überhaupt nicht darum …
Denken Sie etwa, ich könnte es verwechseln … Was für ein Unsinn …«
Und schließlich zog er den Zünder aus der Fassung und hob ihn
vorsichtig immer höher über das Futteral. Man sah, wie die dicke,
graue, runde Scheibe weißliche Fäden hinter sich herzog, die immer
dünner wurden, bis sie einer nach dem anderen durchrissen. Als der
letzte Faden gerissen war, drehte Bromberg die Scheibe mit der
Unterseite zuoberst, und ich entdeckte zwischen den vibrierenden
halbdurchsichtigen Härchen dieselbe Hieroglyphe, nur schwarz, klein
und sehr deutlich, als wäre sie in das graue Material
eingeprägt.
»Ja!«, rief Bromberg triumphierend. »Genau das
Gleiche! Ich wusste doch, dass ich mich nicht geirrt haben
kann.«
»Worin genau?«
»Die Größe!«, sagte Bromberg. »Größe, Einzelheiten,
Proportionen. Verstehen Sie, sein Leberfleck ähnelt diesem Zeichen
nicht einfach nur - er ist mit ihm vollkommen identisch
…« Er blickte Seine Exzellenz durchdringend an. »Hören Sie,
Rudolf, eine Hand wäscht die andere. Wie ist das - haben Sie sie
damit gezeichnet?«
»Natürlich nicht.«
»Also hatten sie es von Anfang an?«, fragte
Bromberg und klopfte sich mit dem Finger auf die rechte
Armbeuge.
»Nein. Die Zeichen sind an ihnen erschienen, als
sie zehn, zwölf Jahre alt waren.«
Bromberg legte den Zünder vorsichtig zurück in die
Fassung und ließ sich befriedigt in den Sessel sinken. »Nun ja«,
erklärte er. »So hatte ich das alles auch verstanden … Alsdann,
Herr Polizeipräsident: Was ist jetzt Ihre ganze Geheimhaltung wert?
Seine Nummer habe ich, und sobald der goldfingrige Phöbus den Tag
anbrechen lässt und die Dächer eurer architektonischen Ungeheuer
erhellt, setze ich mich mit ihm in Verbindung, und wir werden uns
nach Herzenslust unterhalten … Und versuchen Sie nicht, es mir
auszureden, Sikorsky!«, schrie er und fuchtelte Seiner Exzellenz
mit dem Finger vor der Nase herum. »Er ist von selbst zu mir
gekommen, und ich habe selbst - verstehen Sie? - selbst mit meinem
alten Kopf herausgefunden, wer vor mir steht, und jetzt gehört er
mir! Ich bin nicht in Ihre lausigen Geheimnisse eingedrungen! Nur
ein bisschen Glück, ein bisschen Findigkeit …«
»Gut, gut«, sagte Seine Exzellenz. »In Gottes
Namen. Keine Einwände. Er gehört Ihnen, treffen Sie sich mit ihm,
unterhalten Sie sich. Aber nur mit ihm, bitte. Mit keinem
anderen.«
»Naa-a …«, äußerte Bromberg mit ironischem
Zweifeln.
»Überhaupt, tun Sie, was Ihnen beliebt«, sagte
Seine Exzellenz plötzlich. »Das ist jetzt alles unwichtig. Aber
sagen Sie, Isaac, worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«
Bromberg faltete die Hände über dem Bauch und
drehte Däumchen. Der Sieg, den er gerade über Seine Exzellenz
errungen
hatte, war so groß und so offensichtlich, dass er sich nun
zweifellos etwas Großzügigkeit leisten konnte.
»Ich muss gestehen, das Gespräch war ziemlich
verworren«, sagte er. »Inzwischen wurde mir natürlich klar, dass
mich dieser Cro-Magnonide einfach an der Nase herumgeführt hat
…«
Heute oder, genauer gesagt, gestern früh war ein
junger Mann von vierzig, fünfundvierzig Jahren bei ihm erschienen
und hatte sich als Alexander Dymok vorgestellt, Konfigurator für
Landwirtschaftsautomaten. Mittelgroß, sehr blasses Gesicht, lange,
schwarze Haare wie ein Indianer. Er klagte, dass er nun schon seit
Monaten vergeblich herauszufinden versuche, unter welchen Umständen
seine Eltern verschwunden seien. Er erzählte Bromberg eine
rätselhafte, und in ihrer Rätselhaftigkeit sehr verführerische
Legende, die er angeblich selbst Schritt für Schritt
zusammengetragen hatte, und sparte nicht einmal die unglaubwürdigen
Gerüchte aus. Bromberg hatte diese Legende in allen Einzelheiten
notiert; sie jetzt wiederzugeben, schien ihm allerdings
überflüssig. Eigentlich hatte Alexander Dymok bei seinem Besuch nur
ein Ziel verfolgt: ob nicht Bromberg, der Welt bedeutendster Kenner
verbotener Wissenschaft, wenigstens ein bisschen Licht in diese
Geschichte bringen könnte.
Der Welt bedeutendster Kenner Bromberg zog seine
Karthotek zurate, fand aber nichts über das Ehepaar Dymok. Der
junge Mann war darüber sichtlich betrübt und schon im Begriff zu
gehen, als Bromberg einen glücklichen Einfall hatte: Es wäre
möglich, sagte er, dass die Eltern gar nicht Dymok geheißen hätten.
Es wäre auch möglich, dass seine ganze Legende gar nichts mit der
Wirklichkeit zu tun hätte. Er, Dr. Bromberg, werde versuchen sich
zu erinnern, ob es in den Jahren um Alexander Dymoks Geburt
(Februar’36) eventuell rätselhafte Ereignisse in der Wissenschaft
gegeben hatte, die später für die Veröffentlichung ausgeschlossen
wurden; denn
seine Eltern hätte er im Alter von einem oder zwei Jahren verloren
…
Der Kenner Bromberg griff wieder zu seiner
Kartothek, diesmal zum chronologischen Teil. Im Zeitabschnitt’33
bis’39 fand er insgesamt acht Vorfälle, darunter auch die
Geschichte mit dem Sarkophag-Brutkasten. Gemeinsam mit Alexander
Dymok gingen sie jeden dieser Fälle sorgsam durch und kamen zu der
Überzeugung, dass keiner davon mit dem Schicksal des Ehepaars Dymok
in Zusammenhang stehen konnte.
Und daraus »zog ich alter Dummkopf den Schluss,
dass mir das Schicksal damit eine Geschichte geschenkt hätte, die
mir seinerzeit entgangen war. Können Sie sich das vorstellen? Nicht
eins von Ihren lausigen Verboten, sondern das Verschwinden zweier
Biochemiker! Also das, Sikorsky, hätte ich Ihnen niemals
verziehen!« Und noch zwei geschlagene Stunden lang fragte Bromberg
Alexander Dymok aus, verlangte von ihm, er solle sich an die
winzigsten Einzelheiten erinnern, an jedes, selbst das unsinnigste
Gerücht, nahm ihm das feierliche Versprechen ab, sich einer
Tiefen-Mentoskopie zu unterziehen, so dass der junge Mann die
letzte Stunde hindurch offensichtlich nichts sehnlicher wünschte,
als sich möglichst schnell davonzumachen …
Und schon ganz am Ende des Gesprächs bemerkte
Bromberg rein zufällig diesen »Leberfleck«. Und dieser
»Leberfleck«, der doch anscheinend gar nichts mit der Sache zu tun
hatte, setzte sich aus unerklärlichen Gründen in seinem Kopf fest.
Der junge Mann war längst gegangen. Bromberg hatte schon etliche
Anfragen an das GGI gerichtet und mit zwei, drei Fachleuten über
das Ehepaar Dymok gesprochen (erfolglos), doch dieser verdammte
Fleck spukte ihm immer noch im Kopf herum. Erstens war sich
Bromberg ganz sicher, dass er es irgendwo schon einmal gesehen
hatte, und zweitens wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendwo in
dem Gespräch mit
Alexander Dymok von dem Leberfleck und von etwas, was damit
zusammenhing, die Rede gewesen war. Und erst als er das gesamte
Gespräch Satz für Satz aufs Peinlichste im Gedächtnis rekonstruiert
hatte, kam er auf den Sarkophag, erinnerte sich an die Zünder und
hatte plötzlich eine Ahnung, wer Alexander Dymok in Wirklichkeit
gewesen war …
Seine erste Regung war, den Jungen unverzüglich
anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Rätsel seiner Herkunft
gelöst sei. Aber die ihm, Bromberg, eigene wissenschaftliche
Gründlichkeit erforderte zuvor absolute Gewissheit, die keinerlei
andere Lesarten zuließ. Er, Bromberg, hatte schon viel
unglaublichere Zufälle erlebt. Deshalb rief er zuerst auf dem
schnellsten Weg im Museum an.
»Alles klar«, sagte Seine Exzellenz finster.
»Besten Dank, Isaac. Jetzt weiß er also von dem Sarkophag.«
»Und warum sollte er nicht davon wissen?«, rief
Bromberg.
»In der Tat«, sagte Seine Exzellenz langsam. »Warum
eigentlich nicht?«
Das Persönlichkeitsgeheimnis Lew Abalkins
Am 21. Dezember’37 erreichte eine Abteilung der
Fährtensucher unter der Leitung von Boris Fokin einen kleinen
namenlosen Planeten im System EN 9173. Die Gruppe landete auf einem
Felsplateau und hatte den Auftrag, die hier bereits im vorigen
Jahrhundert entdeckten Ruinen zu untersuchen, die den
Wanderern zugeschrieben wurden.
Am 24. Dezember sah man auf den Aufnahmen des
Intravisors im Felsgestein unter den Ruinen einen ausgedehnten Raum
in mehr als drei Metern Tiefe.
Am 25. Dezember drang Boris Fokin beim ersten
Versuch und ohne unvorhergesehene Zwischenfälle in diesen Raum vor.
Er war in Form einer Halbkugel angelegt und hatte einen Radius von
zehn Metern. Das Innere der Halbkugel war mit Elektrin verkleidet,
einem für die Zivilisation der Wanderer charakteristischen
Material, und beherbergte eine große, sperrige Apparatur, für die
einer der Fährtensucher leichthin die Bezeichnung »Sarkophag«
prägte.
Am 26. Dezember erbat und erhielt Boris Fokin von
der entsprechenden Abteilung der KomKon die Erlaubnis, den
Sarkophag vor Ort selbst zu untersuchen.
Fokin ging dabei wie immer äußerst methodisch und
vorsichtig vor, und war drei Tage lang mit dem Sarkophag
beschäftigt. Er konnte das Alter des Fundes bestimmen (vierzig- bis
fünfundvierzigtausend Jahre); fand heraus, dass der Sarkophag
Energie verbrauchte und stellte zweifelsfrei fest, dass zwischen
dem Sarkophag und den Ruinen darüber ein Zusammenhang bestand.
Schon damals gab es die Hypothese, und sie wurde im Nachhinein
bestätigt, dass die »Ruinen« auf diesem Planeten gar keine Ruinen
sind, sondern Teil eines ausgedehnten, den ganzen Planeten
umspannenden Systems zur Aufnahme und Transformation sämtlicher
Arten von Energie, planetarer wie kosmischer (seismische Vorgänge,
Fluktuationen des Magnetfeldes, meteorologische Erscheinungen, die
Strahlung des Zentralgestirns, kosmische Strahlen usw.).
Am 29. Dezember trat Boris Fokin mit Komow in
Verbindung und forderte ihn auf, er möge ihm den besten
Spezialisten für Embryologie schicken. Komow verlangte natürlich
eine Erklärung, doch Fokin reagierte ausweichend und schlug Komow
stattdessen vor, selbst zu kommen - aber unbedingt in Begleitung
eines Embryologen. Vor langer Zeit, in jungen Jahren aber, hatte
Komow einmal mit Fokin zusammengearbeitet und keinen sehr guten
Eindruck von ihm behalten; deshalb
dachte er gar nicht daran, selbst zu fliegen. Und der Embryologe,
den er schließlich zu ihm schickte, war nicht der beste, sondern
der Erste gewesen, der sich bereitfand. Es handelte sich um einen
gewissen Mark van Bleerkom, und Komow raufte sich später mehr als
einmal die Haare, wenn er an diese seine Entscheidung zurückdachte,
denn Mark van Bleerkom erwies sich als Busenfreund des nicht
unbekannten Isaac P. Bromberg …
Am 30. Dezember brach Mark van Bleerkom zu Boris
Fokin auf, und schon wenige Stunden später schickte er Komow eine
sehr erstaunliche Mitteilung in Klartext. In dieser Mitteilung
behauptete er, dass der sogenannte Sarkophag nichts anderes sei als
eine Art Embryo-Safe - und eine ganz und gar phantastische
Konstruktion. Der Safe enthalte dreizehn befruchtete Eizellen der
Art Homo sapiens, die alle lebensfähig zu sein schienen, sich aber
in latentem Zustand befänden.
Man muss zwei an dieser Geschichte Beteiligte
würdigen: Boris Fokin und das Mitglied der KomKon Gennadi Komow.
Fokin hatte mit einem sechsten Sinn erraten, dass es unangebracht
gewesen wäre, den Fund in alle Welt hinauszuposaunen. Mark van
Bleerkoms Funkspruch war die erste und letzte öffentliche Nachricht
in dem nun folgenden Funkverkehr der Landeabteilung mit der Erde.
Deshalb wurde die Geschichte in den Massenmedien der Erde nur in
Form einer knappen Meldung aufgegriffen, die später nicht bestätigt
wurde und daher fast keine Aufmerksamkeit erhielt.
Was nun Gennadi Komow anging, so hatte er
augenblicklich den Kern des Problems erfasst und es zudem noch
fertiggebracht, sich eine ganze Reihe weiterer, denkbarer Folgen
dieses Problems vorzustellen. Zunächst verlangte er von Fokin und
Bleerkom eine Bestätigung der eingegangenen Daten (per Sondercode
über den Blitzkanal). Als er sie erhalten hatte, rief er umgehend
eine beratende Sitzung aller Leiter
der KomKon ein, die zugleich Mitglieder des Weltrates waren.
Darunter befanden sich solche Koryphäen wie Leonid Gorbowski und
August Johann Bader; der junge Heißsporn Kyrill Alexandrow; der
vorsichtige und ewig zweifelnde Mahiro Shinoda und auch der
energische zweiundsechzigjährige Rudolf Sikorsky.
Komow informierte die Teilnehmer und fragte dann:
Was tun? Man konnte den Sarkophag wieder schließen, alles lassen
wie zuvor und sich in Zukunft mit passiver Beobachtung begnügen.
Oder man konnte versuchen, die Entwicklung der Eizellen in Gang zu
setzen und zu sehen, was daraus entstand. Schließlich konnte man,
um zukünftige Komplikationen zu vermeiden, den Fund
vernichten.
Selbstverständlich war sich Gennadi Komow, damals
schon ein erfahrener Mann, völlig im Klaren darüber, dass weder
diese noch ein Dutzend weiterer Beratungen das Problem lösen
würden. Mit seinem bewusst scharfen Auftreten verfolgte er einen
einzigen Zweck: die Versammelten zu schockieren und sie zur
Diskussion anzuregen.
Und Komow erreichte sein Ziel: Von allen
Teilnehmern der beratenden Sitzung bewahrten nur Leonid Gorbowskij
und Rudolf Sikorsky einen kühlen Kopf. Gorbowski, weil er ein
vernünftiger Optimist, und Sikorsky, weil er schon damals Leiter
der KomKon 2 war. Es wurden viele Worte gewechselt - ziemlich
hitzige ebenso wie betont gelassene, sehr leichtfertige und überaus
tiefgründige, mittlerweile längst vergessene und solche, die später
ins Lexikon der Vorträge, Legenden, Berichte und Empfehlungen
eingingen. Wie zu erwarten, bestand der einzige Beschluss der
Sitzung darin, sich am nächsten Tag in erweiterter Runde erneut zu
treffen; es sollten weitere Mitglieder des Weltrates teilnehmen -
Fachleute für Sozialpsychologie, Pädagogik und Massenmedien.
Die ganze Sitzung hindurch hatte Rudolf Sikorsky
geschwiegen. Er fühlte sich nicht hinreichend kompetent, um
sich für die eine oder andere Lösung des Problems auszusprechen.
Doch seine langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der
Experimentalgeschichte, wie auch alle ihm über die Tätigkeit der
Wanderer bekannten Tatsachen, führten ihn zu dem Schluss:
Welche Entscheidung der Weltrat letzten Endes auch fällte - diese
Entscheidung wie überhaupt alle Umstände der Angelegenheit mussten
auf unbestimmte Zeit in einem Kreis von Personen gehalten werden,
die das höchste Niveau sozialer Verantwortlichkeit erkennen ließen.
In diesem Sinne äußerte er sich kurz vor Ende der Sitzung. »Die
Entscheidung, alles so zu lassen, wie es ist, und sich auf passive
Beobachtung zu beschränken, ist in Wahrheit keine Entscheidung. An
wirklichen Entscheidungen gibt es nur zwei: vernichten oder die
Entwicklung in Gang setzen. Es ist unwichtig, wann eine von diesen
Entscheidungen getroffen wird - heute oder in hundert Jahren, doch
wird jede unbefriedigend sein. Den Sarkophag zu vernichten heißt,
etwas Unumkehrbares zu tun. Wir alle hier wissen, welchen Preis
eine unumkehrbare Tat hat. Die Entwicklung in Gang zu setzen aber
heißt, den Weg einzuschlagen, den uns die Wanderer vorgeben
- und deren Absichten sind uns, gelinde gesagt, völlig unklar. Ich
will keine Entscheidung vorwegnehmen und glaube auch nicht das
Recht zu haben, für welche Entscheidung auch immer zu stimmen. Das
Einzige, worum ich bitte und worauf ich bestehe, ist: Erlauben Sie
mir, unverzüglich Maßnahmen gegen ein Durchsickern der
Informationen zu ergreifen. Und sei es, um zu vermeiden, dass eine
Flut von Inkompetenz auf uns zurollt …«
Diese kleine Rede machte einigen Eindruck, und
Sikorsky erhielt von allen die Erlaubnis, entsprechende Maßnahmen
zu ergreifen - zumal allen klar war: Eile konnte erstens nur
schaden, und zweitens mussten unbedingt Voraussetzungen für eine
gründliche Arbeit geschaffen werden.
Am 31. Dezember fand die erweiterte Beratung statt.
Anwesend waren achtzehn Personen, darunter der von Gorbowski
eingeladene Vorsitzende des Weltrates für soziale Fragen. Alle
waren sich einig, dass der Sarkophag nur durch Zufall gefunden
worden war. Das aber bedeutete auch: vor der Zeit. Zudem musste
man, bevor eine Entscheidung gefällt wurde, versuchen, die
ursprüngliche Absicht der Wanderer zu verstehen, und wenn
nicht verstehen - so doch zumindest eine Vorstellung davon
gewinnen. Diesbezüglich wurden nun einige mehr oder weniger
exotische Hypothesen vorgestellt.
Kyrill Alexandrow, für seine anthropomorphistischen
Anschauungen bekannt, äußerte die Vermutung, der Sarkophag sei ein
Aufbewahrungsort für den genetischen Fonds der Wanderer.
Alle ihm bekannten Beweise für die nichthumanoide Natur der
Wanderer, erklärte er, seien im Grunde indirekt. In
Wirklichkeit könnten sich die Wanderer durchaus als
genetische Doppelgänger des Menschen erweisen. Eine solche Annahme
widerspräche auch keineswegs den zugänglichen Fakten. Davon
ausgehend schlug Alexandrow vor, alle Untersuchungen abzubrechen,
den Fund wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen und
das System von EN 9173 zu verlassen.
Nach Ansicht von August Johann Bader war der
Sarkophag ebenfalls ein Aufbewahrungsort für einen genetischen
Fonds, aber nicht der Wanderer, sondern der Erdenmenschen.
Vor fünfundvierzigtausend Jahren hätten die Wanderer eine
Degeneration der damals wenigen Stämme des Homo sapiens theoretisch
für möglich gehalten und versucht, auf diese Weise Maßnahmen zu
ergreifen, um die irdische Menschheit in der Zukunft
wiederherstellen zu können.
Unter derselben Parole »Wir wollen nicht schlecht
von den Wanderern denken« trat auch der greise Pak Hin auf.
Wie Bader war er überzeugt, dass man es mit einem irdischen
Genfonds zu tun hätte, nahm jedoch an, er sei von den
Wanderern eher zu Bildungszwecken angelegt worden. Der
Sarkophag sei eine Art »Zeitkapsel«, deren Öffnung es der
gegenwärtigen Menschheit ermögliche, sich mit den Besonderheiten
ihrer entfernten Vorfahren vertraut zu machen - etwa, was ihre
Gestalt, Anatomie und Physiologie anging.
Gennadi Komow stellte die Frage umfassender. Seiner
Meinung nach werde jede Zivilisation, die ein bestimmtes
Entwicklungsniveau erreicht habe, Kontakt mit einer anderen
Intelligenz anstreben. Der Kontakt zwischen humanoiden und
nichthumanoiden Zivilisationen jedoch gestalte sich äußerst
schwierig, wenn nicht unmöglich. Könnte es sein, dass man es hier
vielleicht mit dem Versuch zu tun hätte, eine vollkommen neue
Kontaktmethode anzuwenden? Nämlich: ein Mittlerwesen zu schaffen,
einen Humanoiden, in dessen Genotyp wesentliche Charakteristiken
der nichthumanoiden Psychologie kodiert seien. In diesem Sinne
müssten wir den Fund als Beginn einer völlig neuen Etappe sowohl in
der Geschichte der Erdenmenschen als auch der nichthumanoiden
Wanderer betrachten.
Komow vertrat die Ansicht, die Eizellen sollten
unverzüglich aktiviert werden. Ihn, Komow, beunruhige es dabei
nicht, dass der Fund eventuell verfrüht gewesen sei. Denn als die
Wanderer das Entwicklungstempo der Menschheit berechneten,
könnten sie sich leicht um ein paar Jahrhunderte geirrt
haben.
Komows Hypothese führte zu einer lebhaften
Diskussion, in deren Verlauf erstmals Zweifel laut wurden, ob die
moderne Pädagogik imstande sei, ihre Methoden auch erfolgreich bei
der Erziehung von Menschen anzuwenden, deren Psyche sich in
erheblichem Maß von der humanoiden unterschied.
Gleichzeitig stellte der überaus vorsichtige Mahiro
Shinoda, ein bedeutender Spezialist für die Wanderer, die
sehr vernünftige Frage, warum der verehrte Gennadi, wie auch einige
andere Genossen, so überzeugt seien davon, dass die Wanderer
gegenüber den Erdenmenschen freundlich gesinnt seien?
Es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass diese gegenüber irgendeiner
Rasse - ob humanoid oder nichthumanoid - zu einer wohlwollenden
Haltung fähig seien. Im Gegenteil, die Fakten (die freilich rar
waren) zeugten eher davon, dass die Wanderer gegenüber
fremder Intelligenz absolut gleichgültig seien und sie höchstens
als Mittel zum Erreichen ihrer eigenen Ziele betrachteten,
keinesfalls aber als Kontaktpartner. Ob der verehrte Gennadi nicht
den Eindruck habe, dass die von ihm vorgebrachte Hypothese ebenso
gut in der entgegengesetzten Richtung funktionierte: indem man
nämlich annahm, die hypothetischen Mittlerwesen sollten nach dem
Willen der Wanderer Aufgaben erfüllen, die aus unserer Sicht
eher negativ wären. Warum sollte man dieser Logik zufolge nicht
auch annehmen können, der Sarkophag sei eine ideologische
Zeitzünderbombe und die Mittlerwesen so etwas wie Diversanten -
programmiert auf die Unterwanderung unserer Zivilisation.
»Diversanten« sei freilich ein anrüchiges Wort, und so habe sich
bei uns ein neuer Begriff herausgebildet: Progressor - ein
Erdenmensch, dessen Tätigkeit auf die Erhaltung des Friedens unter
anderen humanoiden Zivilisationen gerichtet ist. Warum nicht
annehmen, die hypothetischen Mittlerwesen seien eine Art
Progressoren der Wanderer? Was wüssten wir letztlich von den
Ansichten der Wanderer über Tempo und Formen unseres, des
menschlichen Fortschritts?
Sofort spalteten sich die Teilnehmer in zwei
Fraktionen auf - die Optimisten und die Pessimisten. Der Standpunkt
der Optimisten schien dabei aber sehr viel plausibler zu sein. Was
nicht verwundert; denn es war schwer, wenn nicht unmöglich, sich
vorzustellen, eine Superzivilisation sei zu solch taktlosen
Experimenten mit ihren kleineren Brüdern im Geiste fähig. Nach
allem, was man über die naturgemäße Entwicklung der Vernunft
wusste, erschien der Standpunkt der Pessimisten künstlich,
unbegründet, archaisch. Dennoch blieb
die Gefahr einer Fehleinschätzung bestehen, war sie auch noch so
gering. Es mochten sich die Interpretatoren irren. Aber genauso gut
konnten sich auch die Wanderer selbst geirrt haben. Die
Folgen eines solchen Irrtums für das Schicksal der Erdenmenschheit
entzogen sich der Berechnung ebenso wie der Kontrolle.
Damals schon erschien vor dem innerem Auge Rudolf
Sikorskys das apokalyptische Bild eines Wesens, das sich weder
anatomisch noch physiologisch vom Menschen unterschied und auch
psychisch dem Menschen völlig entsprach - in seiner Logik, seinen
Gefühlen und in der Wahrnehmung seiner Umwelt. Ein Wesen, das
inmitten anderer Menschen lebt und arbeitet - und in sich die
Bedrohung eines gänzlich unbekannten Programms trägt. Das
Schrecklichste aber war, dass das Wesen selbst nichts von diesem
Programm wusste und nicht einmal dann von ihm erfahren würde, wenn
sich das Programm in einem nicht im Voraus bestimmbaren Augenblick
einschaltete, in ihm den Erdenmenschen zerstörte und das Wesen dazu
brachte … ja, zu was? Mit welchem Ziel? Schon damals führte sich
Rudolf Sikorsky ebenso klar wie hoffnungslos vor Augen, dass
niemand - und am wenigsten er selbst - das Recht hatte, sich damit
zu beruhigen, dass diese Möglichkeit überaus unwahrscheinlich und
phantastisch wäre.
Als die Beratung in vollem Gange war, erhielt
Gennadi Komow einen weiteren chiffrierten Funkspruch von Fokin. Er
las ihn durch - und erbleichte. Dann verkündete er mit brüchiger
Stimme: »Es sieht nicht gut aus - Fokin und van Bleerkom teilen
mit, dass bei allen dreizehn Eizellen die erste Teilung erfolgt
ist.«
Das war ein böses Neujahr für alle, die in die
Sache eingeweiht waren. Vom frühen Morgen des 1. bis zum Abend des
3. Januar des neuen Jahres’38 dauerte die praktisch ununterbrochene
Sitzung der spontan gebildeten »Kommission für den Brutkasten«. Der
Sarkophag wurde jetzt Brutkasten genannt,
und zur Debatte stand im Grunde nur eine Frage: wie unter
Berücksichtigung aller Umstände das Schicksal der dreizehn neuen
Erdenbürger gestaltet werden könnte.
Die Frage nach der Vernichtung des Brutkastens
wurde nicht mehr gestellt, obwohl allen Mitgliedern der Kommission
- auch jenen, die sich ursprünglich für die Aktivierung der
Eizellen ausgesprochen hatten - dabei nicht wohl in ihrer Haut war.
Es war ein unbestimmtes, ungutes Gefühl - eine Unruhe, die sie
nicht losließ. Es schien, als hätten sie am 31. Dezember in
gewissem Sinne ihre Selbstständigkeit eingebüßt und seien nun
genötigt, einem von außen aufgezwungenen Plan zu folgen.
Nichtsdestoweniger trug die Erörterung einen sehr konstruktiven
Charakter.
Schon in diesen drei Tagen formulierte man in
groben Zügen die Leitlinien für die Erziehung der künftigen
Neugeborenen. Man bestimmte ihre Ammen, beobachtenden Ärzte, Lehrer
und möglichen Ausbilder und legte fest, in welche Richtung sich die
anthropologischen, physiologischen und psychologischen Forschungen
zu bewegen hätten. Spezialisten für Xenotechnologie im Allgemeinen
sowie für die Xenotechnik der Wanderer im Besonderen wurden
bestimmt und umgehend zur Gruppe Fokins geschickt, um den
Sarkophag-Brutkasten auf das Sorgfältigste zu untersuchen und
Missgeschicken vorzubeugen. Vor allem aber entsandte man sie in der
Hoffnung, es möchte gelingen, Details dieses Apparates zu
entdecken, die dazu beitrügen, die bevorstehende Arbeit mit den
»Findelkindern« präzisieren und konkretisieren zu können. Es wurden
sogar unterschiedliche Varianten zur Steuerung der öffentlichen
Meinung erarbeitet - je nachdem, welche der Hypothesen über die
Ziele der Wanderer sich bewahrheitete.
Rudolf Sikorsky beteiligte sich nicht an der
Diskussion. Er hörte nur mit halbem Ohr zu und konzentrierte sich
allein darauf, jede Person zu erfassen, die mit der Entwicklung
dieser
Ereignisse in irgendeiner Weise zu tun haben würde. Die Liste
wuchs in deprimierendem Tempo, doch dagegen konnte er vorerst
nichts unternehmen. In diese seltsame, ja gefährliche Geschichte
würden so oder so viele Leute verwickelt sein.
Auf der Schlussbesprechung am Abend des 3. Januar,
wo Bilanz gezogen wurde und sich die spontan gebildeten
Kommissionen organisatorisch formierten, bat Sikorsky ums Wort und
erklärte etwa Folgendes: Wir haben in den letzten Tagen gute Arbeit
geleistet und uns mehr oder weniger auf die mögliche Entwicklung
der Ereignisse eingestellt - soweit das überhaupt möglich ist bei
unserem jetzigen Informationsstand und der jämmerlichen Lage, in
der wir uns nicht nach unserem, sondern nach dem Willen der
Wanderer befinden. Wir haben vereinbart, nichts zu
unternehmen, was unumkehrbar wäre; das ist im Grunde das
Wesentliche all unserer Beschlüsse. Aber! Als Leiter der KomKon 2,
einer Organisation, die verantwortlich ist für die Sicherheit der
irdischen Zivilisation als Ganzes, lege ich Ihnen jetzt eine Reihe
von Forderungen vor, die es bei unserer Tätigkeit fortan strikt zu
erfüllen gilt.
Erstens. Alle Arbeiten, die in irgendeiner Weise
mit dieser Geschichte in Zusammenhang stehen, sind geheim zu
halten. Angaben darüber dürfen unter keinen Umständen
veröffentlicht werden. Begründung: das jedem bekannte Gesetz zum
Persönlichkeitsgeheimnis.
Zweitens. Keines der »Findelkinder« darf in die
Umstände eingeweiht werden, unter denen es auf die Welt gekommen
ist. Begründung: dasselbe Gesetz.
Drittens. Sobald sie zur Welt gekommen sind, müssen
die »Findelkinder« getrennt werden. In der Folge sind Vorkehrungen
zu treffen, damit sie nicht nur nichts voneinander wissen, sondern
einander auch nie begegnen. Begründung: Erwägungen grundsätzlicher
Natur, die ich hier nicht näher ausführen will.
Viertens. Sie alle sollten sich auf außerirdische
Fachgebiete spezialisieren; dadurch wird ihnen die Rückkehr zur
Erde auf natürliche Weise erschwert - nämlich durch ihre Lebensund
Arbeitsumstände. Begründung: dieselben grundsätzlichen, logischen
Erwägungen. Vorerst müssen wir dem von den Wanderern
vorgezeichneten Weg folgen; gleichzeitig aber sollten wir alles
tun, um diesen Weg später wieder zu verlassen, und zwar je früher,
desto besser.
Wie zu erwarten, riefen »Die vier Forderungen
Sikorskys« großen Unwillen hervor. Denn wie alle übrigen Menschen
hassten auch die Teilnehmer der Sitzung jede Art von Geheimnis,
geheim gehaltenen Tatsachen und Themen, über die man nicht sprechen
durfte - sowie überhaupt die ganze KomKon 2. Aber wie Sikorsky es
vorausgesehen hatte, kamen die Psychologen und Soziologen, nachdem
sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatten, zur Vernunft und
standen ihm nun entschieden zur Seite. Mit dem Gesetz über das
Persönlichkeitsgeheimnis war nicht zu spaßen: Mühelos konnte man
sich eine ganze Reihe äußerst unangenehmer Situationen ausmalen,
die im Falle einer Verletzung der beiden ersten Forderungen
zukünftig entstehen mochten. Versuchen Sie sich in die Psyche eines
Menschen zu versetzen, der erfährt, dass er durch einen Inkubator
zur Welt gekommen ist, den unbekannte Monster vor
fünfundvierzigtausend Jahren mit unbekanntem Zweck in Gang gesetzt
haben, und der dazu noch weiß, dass auch alle anderen in seiner
Umgebung das wissen. Und wenn er nur über die geringste Spur von
Phantasie verfügt, wird ihm bald klar, dass er, ein Erdenmensch
durch und durch, der nichts anderes als die Erde kennt und liebt,
vielleicht eine schreckliche Gefahr für die Menschheit in sich
trägt. Das kann einen Menschen so traumatisieren, dass ihm nicht
einmal mehr die besten Fachleute helfen können …
Die Argumente der Psychologen wurden sodann von
einer plötzlichen und ungewohnt scharfen Rede Mahiro Shinodas
bekräftigt, der ganz offen die Meinung vertrat, es würde zu viel
an dreizehn noch ungeborene Rotznasen gedacht und viel zu wenig an
die potenzielle Gefahr, die sie für die alte Erde darstellen
konnten. Daraufhin wurden alle »Vier Forderungen« mit
Stimmenmehrheit angenommen, und Rudolf Sikorsky erhielt den
Auftrag, entsprechende Maßnahmen auszuarbeiten und umzusetzen. Und
das gerade noch rechtzeitig.
Am 5. Januar rief, etwas beunruhigt, Leonid
Andrejewitsch Gorbowski bei Rudolf Sikorsky an. Wie sich
herausstellte, hatte er sich eine halbe Stunde zuvor mit einem
alten Freund, einem tagoranischen Xenologen, unterhalten, der seit
zwei Jahren bei der Moskauer Universität akkreditiert gewesen war.
Im Laufe der Unterhaltung hatte sich der Tagoraner wie beiläufig
erkundigt, ob sich denn die vor einigen Tagen aufgetauchte Meldung
über den ungewöhnlichen Fund im System von EN 9173 bestätigt hätte.
Überrumpelt von der harmlosen Frage, hatte Gorbowski nur etwas
Unverständliches gemurmelt: Schon lange sei er kein Fährtensucher
mehr, das falle nicht in sein Interessengebiet, er sei gar nicht
auf dem Laufenden, und dann erklärte er schließlich aufrichtig und
erleichtert, er habe die Meldung gar nicht gelesen. Der Tagoraner
brachte das Gespräch sofort auf ein anderes Thema, aber Gorbowski
blieb von diesem Teil der Unterhaltung ein äußerst unangenehmer
Nachgeschmack.
Rudolf Sikorsky war klar, dass das Gespräch ein
Nachspiel haben würde - und er täuschte sich nicht.
Am 7. Januar bekam er unerwartet Besuch von dem
hochgeschätzten Dr. As-Su, der soeben von der Tagora eingetroffen
war. Von seiner Tätigkeit her war Dr. As-Su gewissermaßen Sikorskys
Amtskollege, und das Ziel seines Besuchs bestand darin, eine ganze
Reihe wichtiger Details zu besprechen, was die geplante Erweiterung
des Aufgabenfeldes für die offiziellen Beobachter der Tagora auf
der Erde betraf. Als
der dienstliche Teil des Gesprächs beendet war und vor dem kleinen
Dr. As-Su sein irdisches Lieblingsgetränk stand (kalter Malzkaffee
mit synthetischem Honig), begannen die zwei hochrangigen Herren mit
dem Austausch von amüsanten und schauerlichen historischen
Anekdoten, wie sie sie seit langem mit großem Können und Vergnügen
einander erzählten.
Dr. As-Su berichtete beispielsweise, wie
tagoranische Bauarbeiter vor etwa 150 Erdenjahren beim Legen der
Fundamente zur Dritten Großen Maschine im Basaltgrund des
Subpolarkontinents eine seltsame Vorrichtung fanden. In irdischen
Begriffen ließ sich diese am besten als ein intelligent
konstruiertes Nest bezeichnen, und darin befanden sich
zweihundertdrei Larven von Tagoranern in latentem Zustand. Das
Alter des Fundes ließ sich nicht genau bestimmen. Es stand jedoch
fest, dass das Nest lange vor der Großen Genetischen Revolution
angelegt worden war - also noch zu der Zeit, als jeder Tagoraner in
seiner Entwicklung ein Larvenstadium durchlief …
»Erstaunlich«, murmelte Sikorsky. »Sollte Ihr Volk
schon zu dieser Zeit über eine derart entwickelte Technologie
verfügt haben?«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Dr. As-Su. »Kein
Zweifel, das war das Werk der Wanderer.«
»Aber wozu sollten sie das tun?«
»Diese Frage ist zu schwer zu beantworten. Wir
haben es gar nicht erst versucht.«
»Und was ist dann mit diesen zweihundert kleinen
Tagoranern geschehen?«
»Hm, da stellen Sie eine sonderbare Frage … Die
Larven begannen sich spontan zu entwickeln, und wir haben die
Vorrichtung dann mitsamt ihrem Inhalt sofort vernichtet. Können Sie
sich ein Volk vorstellen, das in dieser Situation anders verfahren
würde?«
»Ich kann«, sagte Sikorsky.
Am Tag darauf, dem 8. Januar’38, reiste der Hohe
Botschafter der Geeinten Tagora aus gesundheitlichen Gründen in
seine Heimat ab. Ein paar Tage später befand sich auf der Erde und
auf allen anderen Planeten, wo Erdenmenschen arbeiteten, kein
einziger Tagoraner mehr. Und nach einem weiteren Monat mussten alle
Erdenmenschen, die auf der Tagora beschäftigt waren, ohne Ausnahme
auf die Erde zurückkehren. Die Verbindungen zur Tagora rissen für
fünfundzwanzig Jahre ab.
Das Persönlichkeitsgeheimnis Lew Abalkins (Fortsetzung)
Sie wurden alle am selben Tag geboren, am 6.
Oktober’38. Es waren fünf Mädchen und acht Jungen, kräftige, laute
und völlig gesunde menschliche Säuglinge. Als sie zur Welt kamen,
war schon alles bereit. Medizinische Koryphäen, Mitglieder des
Weltrates und Berater der »Kommission für die Dreizehn« nahmen sie
in Empfang, untersuchten sie, wuschen und wickelten sie und
schickten sie noch am selben Tag mit einem eigens dafür
eingerichteten Schiff zur Erde. Schon gegen Abend befanden sie sich
in dreizehn über alle Kontinente verstreuten Kinderheimen, wo sich
sorgsame Ammen um die dreizehn Waisen und postumen Kinder
kümmerten, die ihre Eltern niemals zu Gesicht bekommen würden und
deren aller Mutter fortan die große, gütige Menschheit war. Die
Legenden über ihre Herkunft waren von Rudolf Sikorsky selbst
vorbereitet und mit einer Sondergenehmigung des Weltrates in das
GGI eingegeben worden.
Das Schicksal Lew Wjatscheslawowitsch Abalkins wie
auch das seiner zwölf »Geschwister« war von nun an und auf viele
Jahre hinaus vorprogrammiert. Lange Zeit unterschied es sich nicht
von den Schicksalen ihrer gewöhnlichen irdischen Altersgefährten.
Wie hundert Millionen anderer Säuglinge im Kinderheim lag er
zuerst, dann krabbelte, tapste und lief er umher. Um ihn herum
waren ebensolche kleinen Kinder, und sorgsame Erwachsene kümmerten
sich um ihn - genauso wie in hunderttausend anderen Kinderheimen
auf der Erde.
Allerdings hatte er Glück wie nur wenige. Am selben
Tag, als man ihn in das Heim brachte, begann dort Jadwiga
Michailowna Lekanowa als einfache beobachtende Ärztin zu arbeiten.
Sie war eine der bedeutendsten Spezialistinnen für
Kinderpsychologie - und hatte sich aus irgendeinem Grund von den
Höhen der reinen Wissenschaft herabbegeben, um zu der Tätigkeit
zurückzukehren, mit der sie vor Jahrzehnten angefangen hatte … Und
als der sechsjährige Lew Abalkin mit seiner gesamten Gruppe in die
Internatsschule Nr. 241 in Syktywkar wechselte, kam ebendiese
Jadwiga Michailowna zu dem Schluss, es sei nun Zeit für sie, mit
Schulkindern zu arbeiten, und ließ sich als beobachtende Ärztin an
dieselbe Schule versetzen.
Ljowa Abalkin wuchs heran und entwickelte sich wie
ein völlig normaler Junge, vielleicht mit einer leichten Neigung
zur Melancholie und Verschlossenheit, aber die Abweichungen seines
Psychotypus von der Norm überschritten nie den Mittelwert und
blieben weit unter den zulässigen Schwankungen. Mit seiner
physischen Entwicklung sah es genauso gut aus. Er unterschied sich
von den anderen weder durch übermäßige Zartheit noch zeichnete er
sich durch besondere körperliche Fähigkeiten aus. Kurzum, er war
ein kräftiger, gesunder und gewöhnlicher Junge, der unter seinen
Klassenkameraden, die größtenteils Slawen waren, nur durch seine
pechschwarzen glatten Haare auffiel, auf die er sehr stolz war und
die er immer schulterlang tragen wollte. So war es bis zum November
des Jahres’47.
Am 16. November entdeckte Jadwiga Michailowna bei
einer Routineuntersuchung in Ljowas rechter Armbeuge einen kleinen
blauen Fleck, der leicht angeschwollen war. Nun ist ein blauer
Fleck bei einem Jungen keine Seltenheit, weshalb Jadwiga
Michailowna ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Und sie hätte
ihn sicherlich vergessen, hätte sich nach einer Woche, am 23.
November, nicht herausgestellt, dass dieser Fleck noch immer da war
und obendrein eine seltsame Veränderung durchgemacht hatte. Man
konnte ihn eigentlich schon nicht mehr als blauen Fleck bezeichnen;
eher war es eine Art Tätowierung - ein braungelbes kleines Mal in
Form eines kyrillischen »she«. Vorsichtige Fragen ergaben, dass
Ljowa Abalkin keine Ahnung hatte, wie und warum er dazu gekommen
war. Offensichtlich hatte er es bisher nicht einmal bemerkt.
Nach einigem Zögern hielt es Jadwiga Michailowna
für ihre Pflicht, Dr. Sikorsky von ihrer Entdeckung in Kenntnis zu
setzen. Dieser nahm die Information zunächst ohne jedes Interesse
auf; Ende Dezember aber rief er Jadwiga Michailowna plötzlich per
Videofon an und erkundigte sich, was aus dem Muttermal bei Lew
Abalkin geworden sei. Es sei unverändert, antwortete Jadwiga
Michailowna. Sie war etwas verwundert. Wenn es Ihnen keine Umstände
macht, bat Dr. Sikorsky, dann fotografieren Sie diesen Fleck bitte
so, dass der Junge es nicht merkt, und schicken mir das Foto.
Lew Abalkin war das erste der »Findelkinder«, bei
dem das Zeichen in der rechten Armbeuge aufgetaucht war. Im Laufe
der folgenden zwei Monate erschienen Muttermale von mehr oder
weniger verschlungener Form bei weiteren acht »Findelkindern«:
Anfangs tauchte stets ein leicht geschwollener blauer Fleck auf,
ohne äußere Ursachen oder Schmerzempfindungen, und eine Woche
später - ein braungelbes Zeichen. Ende’48 trugen alle dreizehn das
»Siegel der Wanderer«. Und da wurde eine sehr erstaunliche
und
schreckliche Entdeckung gemacht, die zu dem Begriff »Zünder«
führte.
Wer den Begriff prägte, lässt sich nicht mehr
feststellen. Nach Rudolf Sikorskys Ansicht brachte er aber sehr
genau, ja, fast bedrohlich die Sache auf den Punkt. Noch im
Jahre’39, ein Jahr nach der Geburt der »Findelkinder«, hatten
Xenotechniker, die mit der Demontage des leeren Inkubators
beschäftigt waren, in seinem Innern einen langen Kasten aus
Elektrin gefunden, der dreizehn graue runde Scheiben mit
Hieroglyphen darauf enthielt. Im Innern des Inkubators waren damals
noch weitaus rätselhaftere Dinge entdeckt worden als dieser
Futteralkasten, weshalb ihm niemand besondere Beachtung schenkte.
Das Futteral wurde ins Museum für Außerirdische Kulturen gebracht
und in der sekretierten Ausgabe der »Materialien zum
Sarkophag-Brutkasten« als Element des Lebenserhaltungssystems
beschrieben. Erfolgreich überstand es den Vorstoß eines Forschers,
der herauszufinden versucht hatte, was es war und wozu es diente …
Danach überführte man es in die schon überfüllte Spezialabteilung
für »Objekte der materiellen Kultur ungeklärter Bestimmung«, wo es
wie gewünscht für ein ganzes Jahrzehnt vergessen wurde.
Anfang’49 betrat Rudolf Sikorskys Assistent für die
Angelegenheit der »Findelkinder« (nennen wir ihn einmal Iwanow) das
Arbeitszimmer seines Chefs und legte einen Projektor vor ihn hin,
der auf Seite 211 von Band sechs der »Materialien zum Sarkophag«
eingeschaltet war. Seine Exzellenz warf einen Blick darauf und
erstarrte. Er sah eine Fotografie des »Lebenserhaltungselements
15/156 A«: dreizehn graue runde Scheiben, die in den Fassungen
eines Bernsteinfutterals lagen. Und dreizehn verschlungene
Hieroglyphen - eben jene, über die er schon aufgehört hatte, sich
den Kopf zu zerbrechen, die er aber von dreizehn Fotos kindlicher
Armbeugen gut kannte. Ein Zeichen pro Ellenbogen. Ein Zeichen pro
Scheibe. Eine Scheibe pro Ellenbogen.
Das konnte kein Zufall sein; es musste etwas
bedeuten. Etwas sehr Wichtiges. Rudolf Sikorskys erster Impuls war,
das »Element 15/156 A« sofort aus dem Museum anzufordern und bei
sich im Safe zu verstecken. Vor allen, vor sich selbst. Er war
erschrocken. Einfach zutiefst erschrocken. Und am schlimmsten war,
dass er nicht einmal begriff, wovor er sich fürchtete.
Iwanow war auch erschrocken. Sie sahen einander an
und verstanden sich wortlos. Beiden stand ein und dasselbe Bild vor
Augen: dreizehn sonnengebräunte Bomben liefen zerkratzt und mit
fröhlichem Geschrei über Bächlein dahin und kletterten an
verschiedenen Enden der Welt auf Bäumen herum; und hier, zwei
Schritte entfernt, warteten dreizehn Zünder zu diesen Bomben in
unheilvoller Stille auf ihre Stunde.
Sicher, es war eine schwache Minute. Nichts
Schreckliches war geschehen und es gab keinen zwingenden Grund zu
der Annahme, dass die Scheiben mit den Zeichen tatsächlich Zünder
zu Bomben waren und ein verborgenes Programm zum Leben erwecken
würden. Beide, Sikorsky und Iwanow, waren einfach schon zu sehr
daran gewöhnt, das Schlimmste zu vermuten, wenn es um die
»Findelkinder« ging. Und selbst wenn ihre panischen Vorstellungen
sie nicht getrogen hätten, selbst dann war noch nichts
Schreckliches geschehen. Denn man konnte die Zünder in jedem
beliebigen Moment vernichten, in jedem beliebigen Moment aus dem
Museum nehmen und auf den Mond schicken, an den Rand des bewohnten
Alls, und, wenn nötig, noch weiter.
Rudolf Sikorsky rief den Direktor des Museums an
und bat ihn, das Exponat Nummer soundso dem Weltrat zur Verfügung
zu stellen und es zu ihm, Rudolf Sikorsky, in die Dienststelle zu
schicken. Es folgte eine leicht verwunderte, tadellos höfliche, und
doch unzweideutige Ablehnung. Denn wie sich herausstellte (davon
hatte Sikorsky bislang keine Ahnung gehabt),
wurden die Exponate jedes Museums - nicht nur des Museums für
Außerirdische Kulturen, sondern jedes Museums auf der Erde - nicht
herausgegeben, weder an Privatpersonen noch an den Weltrat. Sogar
wenn der liebe Gott persönlich mit dem Exponat Nummer soundso
arbeiten wollte, müsste er sich zu diesem Zweck im Museum
einfinden, die entsprechenden Vollmachten vorweisen und die nötigen
Untersuchungen dort, im Museum selbst, durchführen. Dazu würde man
ihm, dem lieben Gott, übrigens auch alle erforderlichen
Voraussetzungen schaffen: Laboratorien, jedwede Ausrüstung,
Konsultation und so weiter und so fort.
Der Fall zeigte sich von einer unerwarteten Seite.
Aber der erste Schock war schon vorüber - letzten Endes war es gut,
dass die Bombe zur Wiedervereinigung mit dem Zünder zumindest »die
entsprechenden Vollmachten« brauchte. Und schließlich lag es nur an
ihm, Rudolf Sikorsky, dafür zu sorgen, dass sich nun das Museum in
einen Safe verwandelte - wenn auch mit etwas größeren Abmessungen.
Und überhaupt, was war denn so schlimm? Woher sollten die Bomben
wissen, wo sich die Zünder befanden und dass es überhaupt welche
gab? Nein, es war eine schwache Minute gewesen. Eine der wenigen
Minuten dieser Art in seinem Leben.
Man nahm sich die Zünder gründlich vor. Ausgewählte
Leute mit den entsprechenden Vollmachten und Empfehlungen führten
in den bestens ausgestatteten Laboratorien des Museums eine Serie
sorgsam geplanter Untersuchungen durch. Die Ergebnisse dieser
Untersuchungen aber waren gleich null - hätte es da nicht einen
sehr seltsamen, ja geradezu tragischen Umstand gegeben.
Mit einem der Zünder wurde das
Regenerationsexperiment durchgeführt. Das Experiment lieferte ein
negatives Resultat, d. h. im Gegensatz zu vielen anderen Objekten
der materiellen Kultur der Wanderer stellte sich der Zünder
Nummer 12 (mit dem Zeichen »Fraktur-M«), nachdem er zerstört
worden war, nicht wieder selbst her. Zwei Tage später geriet eine
Gruppe von Schülern aus dem Internat »Tiemplado« - siebenundzwanzig
Jungen und Mädchen und ein Lehrer - in den nördlichen Anden in
einen Steinschlag. Viele trugen Schrammen und Verletzungen davon,
blieben jedoch am Leben - bis auf Enda Lasco, Personalakte Nr. 12,
Zeichen: »Fraktur-M«.
Gewiss, das konnte Zufall sein. Aber die
Untersuchung der Zünder wurde eingestellt, und durch den Weltrat
gelang es, sie generell zu verbieten.
Es gab einen weiteren Vorfall, jedoch viel später,
im Jahre’62, als Rudolf Sikorsky unter dem Decknamen »der Wanderer«
Resident auf dem Saraksch war.
Dank seiner Abwesenheit gelang es einer Gruppe von
Psychologen, die zur Kommission für die Dreizehn gehörte, die
Genehmigung zu erhalten, einem der »Findelkinder« sein
Persönlichkeitsgeheimnis teilweise zu offenbaren. Für das
Experiment wurde Kornej Jašmaa ausgewählt - Nummer 11, Zeichen
»Elbrus«. Nach sorgfältiger Vorbereitung erzählte man ihm die ganze
Wahrheit über seine Herkunft. Nur soweit es ihn selbst betraf.
Keiner der anderen wurde erwähnt.
Kornej Jašmaa schloss damals gerade die
Progressoren-Schule ab. Allen Untersuchungen nach zu urteilen, war
er ein Mensch mit stabiler psychischer Konstitution, sehr starkem
Willen und von seinen Anlagen her ein außergewöhnlicher Mensch. Die
Psychologen hatten sich nicht geirrt: Kornej Jašmaa nahm die
Information ungerührt auf - anscheinend interessierte ihn die
Umwelt mehr als das Geheimnis der eigenen Herkunft. Die vorsichtige
Warnung der Psychologen, dass ihm womöglich ein verborgenes
Programm eingegeben sei, das seine Aktivitäten jederzeit gegen die
Interessen der Menschheit richten konnte, beunruhigte ihn nicht im
Geringsten. Er gestand offen, dass er die potenzielle Gefahr, die
von ihm ausging, zwar verstand, aber nicht im Geringsten
daran glaubte. Er war mit der regelmäßigen Selbstbeobachtung
einverstanden, die unter anderem die tägliche Untersuchung mit
einem Emotionsindikator einschloss, und schlug sogar selbst
Mentoskopien beliebiger Tiefen vor. Mit einem Wort: Die Kommission
konnte zufrieden sein. Zumindest eines der »Findelkinder« war nun
zu einem bewussten, starken Verbündeten der Erde geworden.
Als Rudolf Sikorsky von dem Experiment erfuhr,
wurde er zuerst wütend, kam aber dann zu dem Schluss, dass das
Experiment letzten Endes von Nutzen sein könnte. Bemüht um die
Sicherheit der Erde, hatte er eigentlich von Anfang an darauf
bestanden, das Persönlichkeitsgeheimnis der »Findelkinder« zu
wahren. Wenn, beziehungsweise falls das Programm dann in den
»Findelkindern« aktiv würde, war es seiner Meinung nach besser,
wenn sie neben diesem unterbewussten Programm keine weiteren -
bewussten - Informationen über sich selbst hätten und das, was mit
ihnen passiert war. Ihm war lieber, sie irrten wild umher, ohne zu
wissen, was sie suchten, und begingen sinnlose, sonderbare Taten.
Zur Kontrolle aber war es letzten Endes von Vorteil, ein
»Findelkind« (doch nicht mehr!) zu haben, das alle Informationen
über sich selbst besaß. Wenn es überhaupt ein Programm gab, dann
war es zweifellos so organisiert, dass keinerlei Bewusstsein
existierte, das mit ihm fertig würde; andernfalls wäre die Mühe der
Wanderer umsonst gewesen. Das Verhalten eines Menschen, der
von dem Programm wusste, würde sich also ganz sicher stark von dem
der anderen unterscheiden.
Die Psychologen indes dachten nicht daran, sich mit
dem, was sie erreicht hatten, zu begnügen. Ermutigt vom Erfolg mit
Kornej Jašmaa, wiederholten sie drei Jahre später (Rudolf Sikorsky
saß noch immer auf dem Saraksch) dasselbe Experiment mit Thomas
Nielson (Nummer 2, Zeichen »Schiefer Stern«), dem Aufseher eines
Naturparks auf der Gorgona. Die Ergebnisse waren günstig, und ein
paar Monate lang
setzte Thomas Nielson seine Arbeit wohlbehalten fort, ohne von dem
Persönlichkeitsgeheimnis irritiert zu sein. Er war überhaupt ein
eher phlegmatischer Mensch und neigte nicht dazu, seine Gefühle zu
zeigen.
Nielson führte alle empfohlenen Prozeduren zur
Selbstbeobachtung durch und begegnete seiner Situation sogar mit
einem gewissen, ihm eigenen schwarzen Humor. Die Mentoskopie
allerdings verweigerte er kategorisch, wobei er sich auf rein
persönliche Beweggründe berief. Am hundertachtundzwanzigsten Tag
nach Beginn des Experiments aber kam Thomas Nielson auf der Gorgona
unter Umständen ums Leben, die einen Selbstmord nicht
ausschlossen.
Für die Kommission, insbesondere für die
Psychologen war das ein schrecklicher Schlag. Der greise Pak Hin
erklärte seinen Austritt aus der Kommission, verließ sein Institut,
seine Schüler und Verwandten und ging ins selbst gewählte Exil. Am
hundertzweiunddreißigsten Tag meldete ein Mitarbeiter der KomKon 2,
zu dessen Aufgaben die monatliche Überprüfung des
Bernsteinfutterals gehörte, panisch, dass der Zünder Nummer 02,
Zeichen »Schiefer Stern«, spurlos verschwunden sei und in seiner
Fassung, die mit den zitternden Härchen des Pseudoepithels
ausgelegt war, nicht einmal Staub hinterlassen habe.
Nun stand außer Zweifel, dass zwischen jedem der
»Findelkinder« und dem entsprechenden Zünder eine bestimmte,
beinahe mystische Verbindung bestand. Und jedem Mitglied der
Kommission war klar, dass es den Erdenmenschen in absehbarer Zeit
wohl kaum gelingen würde, Licht in diese Geschichte zu
bringen.