ANHANG
BORIS STRUGATZKI
Die Maxim-Kammerer-Trilogie
Die Maxim-Kammerer-Trilogie (bestehend aus »Die
bewohnte Insel«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen
ersticken den Wind«) ist von den Autoren nicht als
zusammenhängender Text konzipiert worden. Jeder der drei Romane
entstand als eigenständiges Werk, und verbunden waren sie nur durch
den Helden - und natürlich durch ihren gemeinsamen Hintergrund: die
Welt des 22. Jahrhunderts.
Die bewohnte Insel
Es ist genau dokumentiert, wann dieser Roman
erdacht wurde. Am 12. Juni 1967 taucht im Arbeitsjournal der
Eintrag auf: »Man sollte für den Verlag eine Kurzbeschreibung für
einen optimistischen Roman über die Kontaktaufnahme verfassen.«
Interessanterweise steht diese betont muntere Notiz zwischen zwei
ausgesprochen düsteren vom 12. und 13. Juni 1967, in denen es um
die Ablehnung unserer langen Erzählung »Das Märchen von der Troika«
durch den Kinderbuchverlag und den Verlag Molodaja gwardija
geht.2 Ich erinnere
mich noch gut, wie wir beide, entmutigt und wütend, zueinander
sagten: »Ach, ihr wollt keine Satire? Gegenwärtige Probleme kümmern
euch nicht? Sehr gut! Ihr kriegt einen geistlosen, hirnlosen,
absolut harmlosen und von keinerlei Idee infizierten
Unterhaltungsroman über die Abenteuer eines Komsomolzen im 22.
Jahrhundert …« Es war, als hätten wir die Machthaber dafür
bestrafen wollen, dass sie unsere Ernsthaftigkeit und die Probleme,
die wir thematisierten, zurückgewiesen hatten. Komisch. Aber
damals, im Sommer und Herbst 1967, als alle Redaktionen in Verlagen
und Zeitschriften - eine nach der anderen, darunter sogar die uns
besonders wohlgesonnenen - »Das Märchen von der Troika« und »Die
hässlichen Schwäne« ablehnten, fanden wir das ganz und gar nicht
komisch.
Wir machten uns ohne Begeisterung an den Roman,
doch bald fesselte uns die Arbeit. Es erwies sich als äußerst
spannende Angelegenheit, einen harmlosen, geistlosen, rein der
Unterhaltung dienenden Roman zu schreiben! Zumal er uns schon bald
nicht mehr so harmlos vorkam. Die Strahlentürme, die Entarteten,
die Kämpfende Garde - alles rastete an seinem Platz ein wie die
Patronen in einem Magazin; alles fand sein Vorbild in der
Wirklichkeit; hinter allem zeigte sich eine verborgene Bedeutung.
Und das unabhängig von unserem Willen, wie von selbst, wie die
bunten Glassplitter in einem magischen Kaleidoskop, das aus Chaos
und Zufall ein elegantes, geordnetes und durchaus symmetrisches
Bild hervorbringt.
Das war schön - eine neue, nie dagewesene Welt zu
erfinden. Und noch schöner war es, diese Welt mit wohlbekannten
Attributen und Realien auszustatten. Ich sehe jetzt unser
Arbeitsjournal durch:
November 1967, das Schriftstellerheim in
Komarowo. Wir arbeiten nur tagsüber, aber wie wir arbeiten -
sieben, zehn, elf (!) Seiten pro Tag. Und dabei handelt es sich
nicht um
die Reinschrift eines schon vorhandenen Textes, sondern um einen
Entwurf, erschaffen und extrahiert aus dem Nichts … In diesem Tempo
schlossen wir die Rohfassung in nur zwei Arbeitstreffen ab, 296
Seiten in 32 Arbeitstagen. Und die Reinschrift ging sogar noch
schneller: zwölf bis sechzehn Seiten pro Tag, so dass wir schon im
Mai das fertige Manuskript in die Moskauer Filiale des
Kinderbuchverlags brachten und fast gleichzeitig zu der Leningrader
Zeitschrift Newa.
So wurde »Die bewohnte Insel«, der im Vergleich
zu unseren anderen Romanen sehr umfangreich war, im Laufe eines
halben Jahres geschrieben. Und die ganze weitere Geschichte handelt
allein davon, wie wir ihn mühevoll polierten, glätteten und
ausstaffierten. Wie wir die ideologischen Stolpersteine entfernten,
den Text anpassten, ihn in Übereinstimmung mit den
unterschiedlichen, oft völlig unvorhersehbaren Forderungen der
großmächtigen Zensurmaschine brachten.
»Was ist ein Telegrafenmast? - Eine gründlich
bearbeitete Kiefer.« In den Zustand eines Telegrafenmasts konnten
sie »Die bewohnte Insel« nicht bringen: Die Kiefer blieb immerhin
eine Kiefer, ungeachtet aller Anstrengungen der Ausäster in Zivil.
Aber Späne fielen trotzdem mehr als genug - und noch mehr litten
die Nerven und die Stimmung der Autoren. Dieser zermürbende Kampf
um die endgültige und restlose Desinfizierung dauerte fast zwei
Jahre.
Es würde den Rahmen sprengen, in allen
Einzelheiten vom Kampf um die Bewahrung des ursprünglichen Textes
zu erzählen. Nur so viel:
Bei der Newa verlangte man, alles zu
kürzen; Wörter wie »Heimat«, »Patriot« und »Vaterland« zu
streichen; Mak durfte nicht vergessen haben, wie Hitler hieß; wir
sollten die Rolle des Wanderers genauer umreißen; das Vorhandensein
sozialer Ungleichheit im Land der Unbekannten Väter betonen; die
Kommission für Galaktische Sicherheit durch
einen anderen Begriff mit einer anderen Abkürzung ersetzen
…3
Im Kinderbuchverlag verlangte man (zunächst):
unbedingt kürzen; den Naturalismus bei der Schilderung des Krieges
entfernen; die Gesellschaftsordnung im Land der Unbekannten Väter
undeutlicher machen; den Begriff »Garde« konsequent entfernen (und
ihn beispielsweise durch »Legion« ersetzen); Wörter wie
»Sozialdemokraten«, »Kommunisten« usw. streichen.
Und wie in jenen Jahren Wladimir Wyssozki in
seiner Ballade »Das Milizprotokoll« sang: Das alles war erst »ein
zarter Anfang« - das dicke Ende kam noch.
Anfang 1969 erschien in der Newa die
Zeitschriftenfassung des Romans, und sogleich geriet sie unter
Beschuss. Ungeachtet der allgemeinen Verhärtung des ideologischen
Klimas im Zusammenhang mit der tschechoslowakischen »Schande«;
ungeachtet des Entsetzens, das die vor Gehorsam zitternden
ideologischen Vorgesetzten erfasst hatte; ungeachtet der Tatsache,
dass just damals gleich mehrere Artikel vorbereitet und
veröffentlicht wurden, in denen die Phantastik der Strugatzkis
gegeißelt wurde - ungeachtet all dieser Umstände war es gelungen,
den Roman zu veröffentlichen. Und das um den Preis von im Grunde
nur geringen Einbußen. Das war ein Erfolg. Mehr noch - man kann es
einen Sieg nennen, der unwahrscheinlich erschien und mit dem
niemand mehr gerechnet hatte.
Doch noch war es nicht zu Ende. Die Buchausgabe
von »Die bewohnte Insel« hing im Kinderbuchverlag fest. Anscheinend
hatten jene Leute Recht, die meinten, die Quantität der Skandale um
die Strugatzkis (sechs Verrisse in der zentralen Presse
im Laufe eines halben Jahres) sei endlich in Qualität
umgeschlagen: Jemand irgendwo da oben habe wohl beschlossen, sich
die unfügsamen Burschen vorzunehmen und ein Exempel an ihnen zu
statuieren. Doch selbst diese Hypothese, die Eröffnung und
Mittelspiel der Partie recht gut erklärt, bietet keinerlei
Erklärung für das verhältnismäßig gut abgelaufene Endspiel.
Nachdem sich das Manuskript sechs Monate lang
nicht von der Stelle bewegt hatte, tauchte es plötzlich wieder auf
- geradewegs aus der »Hauptverwaltung für Literatur«4, gesprenkelt mit zahlreichen
Anmerkungen und versehen mit Anweisungen, die uns sogleich
ordnungsgemäß vom Lektor übermittelt wurden. Es war schon damals
schwer festzustellen (und heute erst recht nicht mehr
nachzuvollziehen), welche davon auf dem Mist des Zensur-Komitees
gewachsen waren und welche die Verlagsleitung formuliert hatte;
diesbezüglich bestanden und bestehen unterschiedliche Ansichten,
aber das Geheimnis wird sich wohl nie mehr lüften lassen. Die
Anweisungen jedenfalls, die den Autoren zur Ausführung übergeben
wurden, sahen vor, möglichst viele Realien des Lebens in der
Sowjetunion aus dem Roman zu entfernen (am besten alle, ohne
Ausnahme) und die russischen Namen der Helden zu streichen.
Im Januar 1970 trafen sich die Strugatzkis bei
ihrer Mutter in Leningrad und unternahmen binnen vier Tagen eine
gigantische Säuberungsaktion an dem Manuskript, wobei man freilich
weniger von Säuberung als von »Verschmutzung« sprechen sollte, im
buchstäblichen Sinne des Wortes.
Als Erstes fiel der stilistischen
Selbstverstümmelung der russische Mensch Maxim Rostislawski zum
Opfer, der zum Deutschen Maxim Kammerer wurde (und es bleiben wird,
von nun an bis in Ewigkeit, amen). Pawel Grigorjewitsch (alias der
Wanderer) wurde zu Sikorsky, und überhaupt bekam der Roman einen
leichten, aber deutlichen deutschen Akzent: aus den Panzern wurden
Panzerwagen, aus den Strafsoldaten Blitzträger, »Dummkopf« und
»Rotznase« erschienen als deutsche Wörter.5 Aus dem Roman verschwanden:
»Fußlappen«, »Häftlinge«, »Salat mit Seepilzen«, »Tabak und
Kölnischwasser«, »Orden«, »Spionageabwehr«, »Fruchtbonbons«, dazu
etliche Sprichwörter und Redensarten. Komplett und spurlos
verschwand auch das Zwischenkapitel »Irgendetwas stinkt hier«, und
aus den Unbekannten Vätern »Papa«, »Schwiegervater« und »Vetter«
wurden die Feuertragenden Schöpfer »Kanzler«, »Graf« und
»Baron«.
Es ist nicht möglich, hier alle Änderungen und
Säuberungen aufzuzählen, nicht einmal die wesentlichen - eine
Gruppe von Leuten, die das Œuvre der Strugatzkis erforscht, hat das
Romanmanuskript mit der Ausgabe im Kinderbuchverlag verglichen und
896 Abweichungen gefunden: Korrekturen, Streichungen, Einfügungen,
Ersetzungen … Achthundertsechsundneunzig!
Das war der Kulminationspunkt der Geschichte, die
Anfang 1971 mit dem Erscheinen des Buches endete - diese lehrreiche
Geschichte von der Veröffentlichung eines lustigen, ideologisch
absolut abstinenten und rein der Unterhaltung dienenden kleinen
Romans über einen Komsomolzen des
22. Jahrhunderts, den die Autoren hauptsächlich um des Geldes
willen erdacht und geschrieben hatten.
Eine interessante Frage: Wer hat nun in diesem
Kampf der Schriftsteller mit der Staatsmaschinerie gesiegt? Den
Autoren ist es immerhin gelungen, ihr Kind zur Welt zu bringen, und
sei es in stark veränderter Form. Aber ist es der Zensur und der
Obrigkeit gelungen, ihr Ziel zu erreichen - aus dem Roman den
Freigeist auszumerzen, die Anspielungen, die »ungelenkten
Assoziationen« und die Bedeutungen zwischen den Zeilen? In gewissem
Maße sicherlich. Der verstümmelte Text hatte zweifellos viel von
seiner Schärfe und satirischen Zielrichtung verloren, doch ich
glaube, es ist der Obrigkeit am Ende doch nicht gelungen, ihn
völlig zu kastrieren. Schließlich fanden sich noch verschiedene
wohlmeinende Leute, die bereitwillig auf dem Roman herumtrampelten.
Obwohl ihr kritisches Pathos selten über Anschuldigungen
hinausging, die Autoren zeigten »Missachtung für die sowjetische
Raumfahrt« (gemeint war die abfällige Haltung Maxims gegenüber
seiner Arbeit in der Gruppe für Freie Suche), war eine
ängstlich-ablehnende Haltung der Obrigkeit der »Bewohnten Insel«
gegenüber, sogar in der »berichtigten« Fassung, deutlich zu
spüren.
In der Ihnen vorliegenden Ausgabe ist der
ursprüngliche Text größtenteils wiederhergestellt worden. Natürlich
war es nicht möglich, Maxim Kammerer, dem geborenen Rostislawski,
seinen »Mädchennamen« zurückzugeben - er war inzwischen (wie
übrigens auch Pawel Grigorjewitsch als Rudolf Sikorsky) zum Helden
mehrerer Romane geworden, wo er just als Kammerer auftritt. Das
konnte man nur überall oder nirgends ändern; ich habe es lieber
nirgends geändert. Andere Änderungen, die die Autoren vornehmen
mussten, haben sich letztlich als so glücklich erwiesen, dass ich
beschlossen habe, sie im restaurierten Text beizubehalten - zum
Beispiel die seltsam klingenden »Zöglinge« anstelle banaler
»Häftlinge«
oder den »Rittmeister Tschatschu« statt des »Hauptmanns
Tschatschu«. Der Großteil der knapp neunhundert Entstellungen
jedoch wurde korrigiert und damit der Text in eine »kanonische
Fassung« gebracht.
Mir kommt in den Sinn, was der bekannte russische
Schriftsteller Swjatoslaw Loginow erzählte: Unlängst trat er vor
Schülern auf und versuchte, ihnen ein Bild von den unglaublichen
und absurden Schwierigkeiten zu vermitteln, denen sich ein
Schriftsteller Mitte der 1970er Jahre gegenübersah. Daraufhin
fragte jemand aus der Klasse verwundert: »Wenn es so schwer war,
gedruckt zu werden, warum haben Sie dann nicht Ihren eigenen
Verlage gegründet?« Man merkt an solchen Fragen, dass der heutige
Leser sich einfach nicht vorstellen kann, wie es in den 1960er und
1970er Jahren zuging, wie gnadenlos und ohne jedes Verständnis die
Literatur (die Kultur überhaupt) von der allmächtigen Partei- und
Staatsmaschinerie niedergedrückt wurde, auf welch einer schmalen
und schwankenden Brücke sich jeder Schriftsteller mit Selbstachtung
voranarbeiten musste. Einen Schritt nach rechts: Dort erwartete
einen der Paragraph 70 des Strafgesetzbuches 6 - Prozess, Lager, Irrenhaus, im
günstigsten Fall der Eintrag in die schwarze Liste, womit man an
die zehn Jahre aus dem Literaturbetrieb ausgesperrt war. Einen
Schritt nach links: Man fand sich in den Armen der Banditen und
Nichtskönner wieder - als Verräter an der eigenen Sache, mit einem
Gummigewissen, ein Judas, der die verfluchten Silberlinge zählte …
Der heutige Leser kann dieses Dilemma wohl nicht mehr verstehen,
der psychologische Abgrund zwischen ihm und den Angehörigen meiner
Generation hat sich schon aufgetan, und es ist kaum damit zu
rechnen, dass er von Texten
wie diesem Kommentar geschlossen werden kann. Die Freiheit ist wie
die Luft oder die Gesundheit - solange man sie hat, bemerkt man sie
nicht, man begreift nicht einmal, was es heißt, ohne sie oder
außerhalb von ihr zu sein.
Es gibt allerdings auch die Ansicht, dass gar
niemand Freiheit brauche - Hauptsache, man sei frei von der
Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen. Diese Ansicht ist derzeit
recht populär. Es heißt: »Die beste Art von Freiheit ist es, frei
von Sorgen zu sein.« Mag sein, mag sein … Aber das ist ein ganz
anderes Thema.
Als Kuriosum bleibt anzumerken, dass der 2008 von
Fjodor Bondartschuk gedrehte Film Die bewohnte Insel - ein
recht guter antitotalitärer Thriller, der der Handlung des Romans
genau folgt - vom Publikum wohlwollend aufgenommen wurde und dass
die Einzigen, die scharfe Kritik daran äußerten, unsere derzeitigen
Kommunisten waren, die den Film (»im Gegensatz zum Buch«!) für
nicht kommunistisch genug hielten.
Ein Käfer im Ameisenhaufen
Alles begann damit, dass vor langer, langer Zeit
mein kleiner Sohn völlig unerwartet für sich selbst und für seine
Umgebung ein Liedchen in der Art eines Abzählreims verfasste:
Er schrie diese sonderbaren, wilden und
irgendwie unkindlichen Verse auf unterschiedliche Arten heraus und
rannte dabei in der Wohnung herum. Ich aber betrachtete ihn und
dachte: Was für bemerkenswerte Worte! Das hat er sich doch
geschickt ausgedacht, der Lausebengel. Das könnte ein prima Motto
zu etwas sein … Und meine Phantasie malte mir trübe Bilder,
schreckliche und unglückliche Ungeheuer, tragisch einsam und von
keinem gewollt, hässlich, leidend, auf der Suche nach menschlicher
Nähe und Hilfe, doch statt Hilfe bekommen sie von den
verschreckten, verständnislosen Menschen eine Kugel verpasst
…8
Diese Empfindungen konnte ich auch Arkadi
vermitteln; es kam zu einem recht zusammenhanglosen, aber dennoch
fruchtbaren Austausch von Emotionen und Bildern, und es entstand
eine Idee, die zunächst noch vage und keineswegs ausformuliert war.
Fest stand nur, dass der Roman »Es standen die Tiere bei der Tür«
heißen und als Motto die »Verse eines kleinen Jungen« haben sollte
- zum ersten und zum letzten Mal bei den Strugatzkis entstand die
Idee eines neuen Werks aus dem künftigen Motto (oder aus dem Titel,
was in diesem Fall ein und dasselbe war).
Im September 1975 machen wir uns die ersten
Notizen zu dem künftigen Roman. Ein Sujet gibt es freilich noch
nicht, und es ist völlig unklar, wie sich die Handlung entwickeln
soll. Doch dann ändern sich die Pläne abrupt: Wir beginnen, am
Drehbuch für Andrej Tarkowskis Stalker zu schreiben (nach
Motiven unseres Romans »Picknick am Wegesrand«), und bei der Arbeit
an dem neuen Roman tritt eine lange Pause ein.
Im Laufe des Jahres 1976 wenden wir uns dann
wieder mehrmals dem Roman zu, erfinden weitere Details und
Episoden,
neue Helden, einzelne Sätze, aber nicht mehr. Und im November
beginnen wir plötzlich, ein neues Sujet auszuarbeiten, zu dem
vorher nicht einmal eine Idee vorhanden war: die Geschichte unseres
alten Bekannten Maxim, der mit seinem Freund, dem Kopfler Wepl,
durch eine tote Stadt auf dem unglücklichen Planeten Esperanza
geht; die armen »Tiere« scheinen ein für alle Mal aufgegeben und
vergessen zu sein. Im Februar 1977 beginnen wir mit der Rohfassung
und führen sie in einem einzigen Anlauf (bei einem Arbeitstreffen)
zu Ende. Und wir bemerken, dass etwas Seltsames dabei
herausgekommen ist - etwas ohne Anfang und Ende und sogar ohne
Titel. Irritiert und unzufrieden mit uns selbst legen wir das
Manuskript beiseite, das wir so weder erwartet noch angestrebt
hatten.
Erst im November 1978 wenden wir uns wieder dem
Text zu, und es ist bezeichnend, dass wir sofort beginnen, eine
erste Fassung zu schreiben - offensichtlich ist die Quantität bei
uns endlich in Qualität umgeschlagen. Es ist jetzt klar, wie das
Sujet aufgebaut ist (die Jagd nach dem nicht zu fassenden Lew
Abalkin) und wo wir unser bereits geschriebenes Stück mit Wepl auf
dem Planeten Esperanza unterbringen können. Diese erste Fassung
haben wir am 7. März 1979 abgeschlossen.
Es ist merkwürdig, dass dabei etwas in der Art
eines Kriminalromans herausgekommen ist - die Geschichte einer
Untersuchung, Fahndung und Ergreifung. Der Kriminalroman freilich
hat seine eigenen Gesetze: Insbesondere darf nichts unerklärt
bleiben, und es geht nicht an, dass Handlungsstränge einfach
abreißen. Bei uns jedoch gab es jede Menge solcher abgerissener
Stränge; wir hätten sie eigens zusammenführen müssen, doch dazu
hatten wir entschieden keine Lust. Die alte Abneigung der
Strugatzkis gegenüber jeglichen Erklärungen und Erläuterungen
flammte, nachdem wir den Roman abgeschlossen hatten, besonders
heftig auf:
1. Was ist auf dem Saraksch zwischen Tristan und
Abalkin vorgefallen?
2. Wie (und wozu) geriet Abalkin nach
Ossinuschka?
3. Wozu musste er mit Doktor Goannek reden?
4. Wozu musste er mit Maja reden?
5. Was wollte er von dem Lehrer?
6. Wozu hat er den Journalisten Kammerer
angerufen?
7. Was wollte er von Wepl?
8. Wie kam er auf Dr. Bromberg?
9. Wozu geht er gegen Ende des Romans ins Museum
für Außerirdische Kulturen?
10. Was ist dort im Museum eigentlich geschehen?
Und schließlich die grundlegende Frage:
11. Warum ist er, Abalkin (wenn er nicht
tatsächlich ein Werkzeug der Wanderer ist, und im Sinne der
Autoren ist er das natürlich nicht, sondern ein unglücklicher
Mensch mit einem tragischen Schicksal), warum also ist er nicht
gleich zu Beginn zu seinen klugen und durchaus wohlwollenden
Vorgesetzten gegangen und hat alle Umstände seines Falls im Guten
geklärt? Warum musste er auf dem Planeten hin und her jagen,
unerwartet auftauchen, plötzlich verschwinden und abermals
unverhofft an Orten und vor Menschen erscheinen, wo man ihn am
wenigsten erwartete?
In jedem ordentlichem Kriminalroman hätte man
all diese Fragen fein säuberlich ausbreiten und en détail
beantworten müssen. Aber wir schrieben keinen Kriminalroman. Wir
schrieben eine Geschichte darüber, wie sogar in der hellsten,
besten und gerechtesten Welt das Auftauchen einer Geheimpolizei
unweigerlich dazu führt, dass völlig unschuldige Menschen leiden
und sterben; und zwar unabhängig davon, welche
Form oder Ausrichtung diese Geheimpolizei besitzt, welche Ziele
sie verfolgt und aus was für ehrlichen, anständigen und edlen
Mitarbeitern sie auch besteht. Und im Rahmen einer solcherart
gestellten literarischen Aufgabe empfanden es die Autoren sowohl
als beengend wie auch als langweilig, sich mit der Klärung von
offenen, zweitrangigen Details der Handlung zu befassen.
In unserer Geschichte werden alle Ereignisse aus
der Perspektive des Helden - Maxim Kammerer - dargestellt, so dass
der Leser zu jedem Zeitpunkt immer genau so viel weiß wie der Held
und seine Beurteilungen zusammen mit dem Helden und auf Grundlage
der ihm zugänglichen (keineswegs vollständigen) Informationen
treffen muss. Ein alles erklärender Epilog war bei solch einer
literarischen Konstruktion überflüssig - zumal sich gezeigt hat,
dass die Leser die abgerissenen Stränge entweder überhaupt nicht
bemerkten oder sie selbst zusammenfügten, jeder auf seine Weise und
nicht ohne Erfolg.
Tatsächlich sind die Antworten auf die meisten
Fragen in verborgener Form über den ganzen Text verstreut, und ein
aufmerksamer Leser wird sie ohne große Mühe allein entdecken. Zum
Beispiel sollte man erraten können, dass Lew Abalkin rein zufällig
nach Ossinuschka gekommen ist (als er vor den Fahndern floh, von
denen er sich auf Schritt und Tritt verfolgt glaubte), und an
Doktor Goannek wandte er sich in der Hoffnung, dass der erfahrene
Arzt bestimmt einen Menschen von einem Roboter oder Androiden
unterscheiden könnte.
Anders verhält es sich jedoch mit der ersten
Frage. Um sie zu beantworten, genügt es nicht, den Text aufmerksam
zu lesen, der Leser muss sich eine Situation ausdenken, die
den Autoren natürlich in allen Einzelheiten bekannt war, im Roman
aber nur als ein Geflecht von Folgen einer bestimmten Tatsache
erscheint: Abalkin hat von irgendwoher (klar:
von Tristan) und irgendwie (eben das ist das Rätsel) in Erfahrung
gebracht, dass es ihm aus irgendeinem Grund verboten ist, sich auf
der Erde aufzuhalten, und dass dieses Verbot mit der KomKon 2
zusammenhängt (daher die Flucht Abalkins vom Saraksch, der
unerwartete und eigentlich unmögliche Anruf bei Seiner Exzellenz,
überhaupt alle Absonderlichkeiten seines Verhaltens). Natürlich
könnte ich diese sujetbildende Ausgangssituation hier darlegen,
möchte das aber nicht. Denn weder Maxim noch Seine Exzellenz
wissen, was zwischen Tristan und Abalkin auf dem Saraksch
vorgefallen ist. Sie sind gezwungen, Hypothesen aufzustellen - mehr
oder weniger glaubhafte -, und aufgrund ihrer Hypothesen zu
handeln. Dieser Prozess der Hypothesenbildung und des Treffens von
Entscheidungen macht das Wesen des Romans aus, und ich möchte, dass
der Leser parallel zu den Helden seine eigenen Hypothesen aufstellt
und seine eigenen Entscheidungen trifft - und zwar aufgrund der
Information, die ihm zur Verfügung steht. Denn hätte Seine
Exzellenz gewusst, was wirklich mit Tristan auf dem Saraksch
geschehen war, hätte er das Verhalten Abalkins ganz anders
aufgefasst, und unser Roman hätte einen anderen Verlauf genommen
und ein ganz anderes, viel weniger tragisches Ende gehabt.
Die Reinschrift schlossen wir Ende April 1979 ab,
und erst dann - keinen Tag früher! - entschieden wir uns für den
Titel »Ein Käfer im Ameisenhaufen« anstelle von »Es standen die
Tiere bei der Tür«. Von der ursprünglichen Idee war nur das Motto
geblieben. Aber um dieses Motto mussten wir buchstäblich auf Leben
und Tod mit einem verblödeten Lektor im Leningrader Verlag Lenisdat
kämpfen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die Autoren hätten
dieses Verschen nachträglich in den Roman eingefügt und dazu
(wozu?!) ein längst vergessenes Marschlied der Hitlerjugend (!)
abgewandelt. Dieser - wahre - Beweggrund des Lektors wurde uns
insgeheim von »unserem Mann bei Lenisdat« mitgeteilt, offiziell war
lediglich
von unerwünschten Anspielungen, Akzenten und Assoziationen die
Rede gewesen, die auf geheimnisvolle Weise mit den unglückseligen
»Versen eines kleinen Jungen« verknüpft sein sollten.
Das war zum Glück der einzige Zusammenstoß, den
wir wegen dieses Romans mit dem Lektorats-Zensur-Monster
hatten.
Die Wellen ersticken den Wind
Dieser Roman ist das zehnte und letzte Werk aus
dem Zyklus um die Welt des »Mittags«.
Die Geschichte der Entstehung (und
Veröffentlichung) dieses Romans hat nichts Außergewöhnliches oder
gar Sensationelles an sich. Wir begannen die Rohfassung am 27. März
1983 in Moskau und beendeten die Reinschrift am 27. Mai 1984
ebenfalls in Moskau. Die ganze Zeit über wurde unser Schöpferdrang
dadurch inspiriert und angeregt, dass wir uns vorgenommen hatten,
einen Roman zu schreiben, der im Idealfall ausschließlich aus
Dokumenten bestehen sollte, höchstens noch aus »dokumentierten«
Überlegungen und Ereignissen. Das war eine neue Form für uns, und
voller Begeisterung dachten wir uns die Formularköpfe für die
Berichte aus und auch die Berichte selbst mit den absichtlich
trockenen Formulierungen in Behördensprache und den sorgsam
durchdachten Ziffern. Die zahlreichen Namen von Zeugen, Analytikern
und Beteiligten der Ereignisse erzeugte ein kleines
Computerprogramm für uns, das wir eigens für unseren
Hewlett-Packard-Rechner geschrieben hatten (einen PC besaßen wir
damals nicht). Die erste Version der »Instruktion zur Durchführung
der Fukamisation von Neugeborenen« entwarf ganz professionell ein
Freund Arkadis: der Arzt Juri Jossifowitsch Tschernjakow.
Als unerwartet schwierig erwies es sich, einen
Titel zu finden. Anfangs (in Briefen und im Tagebuch) nannten wir
das Manuskript einfach den Toivo-Roman. Dann tauchte vorübergehend
die - aus irgendeinem Grund französische - Variante »Fait accompli«
auf, und erst ganz am Ende erscheint über der Rohfassung der Titel
»Die Wellen ersticken den Wind«, und zwar zunächst nur als Projekt
im Bericht Nr. 086/99. Diesen Titel - ruhig und vieldeutig, wie es
sich für einen Titel gehört - hielten wir für gelungen und
beschlossen, ihn für den ganzen Roman zu verwenden.
»Die Wellen ersticken den Wind« kann als Fazit
betrachtet werden: Alle unsere Helden sind hoffnungslos gealtert;
alle einstmals aufgeworfenen Probleme haben ihre Lösung gefunden
(oder sich als unlösbar erwiesen); ja, wir haben dem (mitdenkenden)
Leser sogar erklärt, was die Wanderer sind und woher sie
kommen - denn unsere Menten sind die Wanderer, genauer
gesagt jene Rasse, die von der irdischen Zivilisation selbst
hervorgebracht wurde: von der Zivilisation des Homo sapiens sapiens
(so heißt in der Wissenschaft die Art, der anzugehören wir alle die
Ehre haben). Eine weitere Geschichte, die wir für den
»Mittags«-Zyklus geplant hatten, haben wir nicht mehr geschrieben -
die Geschichte, wie Maxim Kammerer ins geheimnisvolle Innere des
schrecklichen Inselimperiums vordringt. Aber wer weiß, vielleicht
wird diese Geschichte eines Tages jemand anders schreiben …