VIERTER TEIL
Sträfling

13

Vom ersten Schuss barst eine der Ketten, und zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren geriet der eiserne Drache aus seiner eingefahrenen Spur. Er durchpflügte den Beton, brach in das Dickicht ein und drehte sich langsam auf der Stelle, schob die zitternden Bäume beiseite und stemmte die breite Front gegen das knickende Buschwerk. Und als der Drache ihnen sein mächtiges Heck mit dem Eisenblech und den rostigen Nieten zuwandte, jagte ihm Sef eine Sprengladung in den Motor, sehr sorgfältig und genau, um nur, Gott behüte, den Reaktor nicht zu treffen. Der Drache ächzte eisern, stieß glühende Rauchschwaden aus der Kupplung und blieb stehen - für immer. Etwas aber schien in seinem gepanzerten Inneren noch zu leben: Alarmsysteme schalteten sich ein und wieder aus, fauchten und spien Schaum. Er bebte schwach, scharrte mühsam mit der einen verbliebenen Kette, hob und senkte furchtbar, wenn auch vergebens, wie das Hinterteil einer zerquetschten Wespe, das lädierte Gitterrohr der Raketenstartrampe. Einige Sekunden verfolgte Sef diese Agonie, dann machte er kehrt und ging in den Wald. Den Granatwerfer schleifte er am Riemen hinter sich her. Maxim und Wildschwein folgten ihm und gelangten auf eine stille Wiese, die Sef sich wohl schon auf dem Herweg gemerkt hatte. Sie ließen sich ins Gras fallen, und Sef sagte: »Rauchen wir eine.«
Er drehte dem Einarmigen eine Zigarette, gab ihm Feuer und steckte auch sich eine an. Maxim lag auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt, und beobachtete noch immer, wie hinter den vereinzelt stehenden Bäumen der Eisendrache starb, die letzten Zahnräder kläglich kreischten und den zerfetzten Eingeweiden pfeifend radioaktiver Dampf entströmte.
»So macht man das, nur so«, dozierte Sef. »Versuchst du’s anders, reiß ich dir die Ohren ab.«
»Warum?«, fragte Maxim. »Ich wollte ihn zum Stehen bringen.«
»Die Granate hätte quer in die Rakete einschlagen können, und dann wär’s aus gewesen mit uns«, antwortete Sef.
»Ich habe auf die Kette gezielt.«
»Ins Heck muss man zielen.« Sef tat einen Lungenzug. »Und überhaupt, dräng dich nicht vor, solange du neu bist. Es sei denn, ich bitte dich darum. Klar?«
»Klar«, sagte Maxim.
Sefs Finessen interessierten ihn nicht. Der ganze Sef interessierte ihn nicht. Ihn interessierte Wildschwein. Doch Wildschwein schwieg wie immer gleichgültig; die künstliche Hand hatte er auf dem abgewetzten Futteral des Minensuchgeräts abgelegt. Alles war wie immer. Und alles war anders, als Maxim es sich wünschte.
Als die neu angekommenen Zöglinge vor einer Woche bei den Baracken antreten mussten, war Sef gleich auf Maxim zugesteuert und hatte ihn in seine Pioniergruppe 134 geholt. Maxim war froh darüber gewesen. Er hatte den feuerroten Bart und die stämmige Gestalt gleich wiedererkannt, und es tat ihm gut, dass man auch ihn in diesem stinkenden karierten Haufen, wo jeder auf jeden pfiff und sich keiner für den anderen interessierte, gefunden hatte. Zudem hatte Maxim guten Grund zu der Annahme, dass Sef, der seinerzeit berühmte Psychiater Allu Sef, der intelligent, gebildet und ganz anders war als das halbkriminelle Gesindel im Gefängniswaggon, als politischer Gefangener hier war und Verbindungen zum Untergrund unterhielt. Und als Sef ihm in der Baracke einen Schlafplatz neben dem des einarmigen Wildschwein zuwies, betrachtete Maxim die Sache als besiegelt. Doch das erwies sich bald als Irrtum. Wildschwein wollte keine Gespräche. Nach Maxims eilig geflüstertem Bericht über das Ende der Gruppe, den gesprengten Turm und den Prozess gähnte er und murmelte: »Da gibt’s noch ganz andere Sachen«, und drehte Maxim den Rücken zu. Der fühlte sich betrogen. Und dann kroch auch noch Sef zu ihm auf die Pritsche. »Hab ich mich jetzt vollgefressen!«, stöhnte er zufrieden und versuchte ohne jede Einleitung, frech, primitiv und aufdringlich, von Maxim Namen und Anlaufstellen zu erfahren. Vielleicht war er irgendwann ein namhafter Wissenschaftler und ein gebildeter, intelligenter Mensch gewesen. Vielleicht, ja, bestimmt hatte er auch Verbindung zum Untergrund gehabt - nun aber erweckte er den Eindruck eines gewöhnlichen, herausgefutterten Spitzels, der sich aus Langeweile vor dem Schlafen einen dummen, naiven Neuankömmling vorknöpfte. Nur mit Mühe konnte Maxim sich seiner erwehren, und als Sef schließlich laut zu schnarchen begann, lag er noch lange wach und dachte darüber nach, wie oft ihn hier schon Menschen und Umstände in die Irre geführt hatten.
Die Nerven gingen ihm durch. Er erinnerte sich an den Prozess, der offensichtlich schon vorbereitet worden war, bevor die Gruppe den Befehl erhielt, den Turm zu stürmen; und an die schriftlichen Denunziationen irgendeines Lumpen, der alles über die Gruppe wusste und womöglich eins ihrer Mitglieder war; und an den Film, der während des Angriffs vom Turm aus gedreht worden war, und an seine Scham, als er sich selbst auf dem Bildschirm erkannte, wie er mit der Maschinenpistole auf die Scheinwerfer, beziehungsweise die Jupiterlampen feuerte, die dieses furchtbare Spektakel erhellten. In der fest verriegelten Baracke war es widerlich schwül, die Zöglinge redeten im Schlaf, man wurde von Ungeziefer geplagt, und in einem entlegenen Winkel spielten Privilegierte beim Schein einer selbst gezogenen Kerze Karten und schrien einander heiser an.
Und am nächsten Tag wurde Maxim auch vom Wald verraten. Keinen Schritt konnte man tun, ohne auf Eisen zu stoßen: totes, durch und durch verrostetes Eisen. Verborgenes Eisen, das jederzeit bereit war zu morden; Eisen, das sich heimlich regte und auf einen zielte - oder Eisen, das blind und ohne Verstand die Reste der Straßen aufriss. Erde und Gras rochen nach Rost, in den Bodensenken blinkten radioaktive Pfützen, die Vögel sangen nicht, sondern schrien heiser, als ahnten sie ihren Tod voraus. Andere Tiere fehlten gänzlich, und es fehlte auch die Waldesstille - ununterbrochen, bald rechts, bald links, krachten und dröhnten Detonationen. Im Geäst ballte sich graublauer Qualm, und der Wind trug das Heulen altersschwacher Motoren heran.
Und so ging es Tag für Tag und Nacht für Nacht. Tags begaben sie sich in den Wald, der kein Wald war, sondern ein ehemals befestigtes Gebiet, vollgepfropft mit automatischem Kampfgerät, Panzerwagen, Flammen- und Gaswerfern, Selbstfahrkanonen und Raketen auf Kettenfahrzeugen. Das alles war in mehr als zwanzig Jahren nicht etwa abgestorben, sondern lebte sein unnützes, mechanisches Leben weiter: zielte noch immer, richtete sein Geschütz nach wie vor, spie Blei, Feuer und Tod und musste zerstört und gesprengt werden, um die Trasse frei zu bekommen für den Bau neuer Emittertürme. Und nachts fuhr Wildschwein fort zu schweigen, und Sef bedrängte Maxim wieder und wieder mit seinen Fragen, bisweilen direkt und geradezu dumm, ein andermal erstaunlich geschickt und spitzfindig. Und dann waren da noch das schlechte Essen und die merkwürdigen Lieder der Zwangsarbeiter; die Gardisten schlugen einem ins Gesicht, und zweimal täglich, während der Strahlenschübe, krümmten sich die Zöglinge im Wald und in den Baracken vor Schmerzen, und im Wind schaukelten erhängte Flüchtlinge.
Tag - Nacht, Tag - Nacht …
»Weshalb wollten Sie ihn anhalten?«, fragte Wildschwein plötzlich.
Maxim setzte sich auf. Es war die erste Frage, die der Einarmige an ihn richtete.
»Um zu sehen, wie er funktioniert.«
»Wollen Sie fliehen?«
Maxim heftete seinen Blick auf Sef. »Nein, nicht deshalb. Aber immerhin ist es ein Panzer, ein Kampffahrzeug.«
»Und wozu brauchen Sie ihn?« Wildschwein redete, als gäbe es den rothaarigen Spitzel nicht.
»Keine Ahnung!«, stieß Maxim hervor. »Darüber müsste ich noch nachdenken. Sind hier viele von dieser Sorte?«
»Ja«, mischte sich der rothaarige Störenfried ins Gespräch. »Panzer gibt’s genug, und an Dummköpfen hat’s auch nie gefehlt.« Er gähnte. »Wie oft das schon versucht wurde! Kriechen hinein, fummeln und fummeln, und dann geben sie auf. Einer dieser Idioten, so einer wie du, hat sich sogar in die Luft gejagt.«
»Ich würde mich nicht in die Luft jagen«, sagte Maxim kühl. »Dieses Fahrzeug ist unkompliziert.«
»Wozu brauchen Sie’s denn nun?«, fragte der Einarmige. Er lag auf dem Rücken und rauchte, die Zigarette eingeklemmt zwischen die künstlichen Finger. »Nehmen wir an, Sie setzen es in Gang. Was weiter?«
»Durchbruch über die Brücke.« Sef lachte auf.
»Warum nicht?«, entgegnete Maxim. Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Der Rothaarige war anscheinend doch kein Spitzel. Massaraksch, was wollten sie denn plötzlich von ihm?
»Sie kommen nicht bis zur Brücke«, sagte Wildschwein. »Bis dahin hat man Sie dreiunddreißigmal erschossen. Schaffen Sie’s aber doch, ist die Brücke wahrscheinlich hochgezogen.«
»Dann durch den Fluss.«
»Der ist radioaktiv.« Sef spie aus. »Wäre er für Menschen zugänglich, bräuchte man keinen Panzer. An jeder x-beliebigen Stelle könnte man durchschwimmen, die Ufer sind nicht bewacht.« Er spuckte noch einmal aus. »Übrigens wären sie es dann. Also spiel nicht den wilden Mann, mein Junge. Bist für lange hier, pass dich an! Tust du es, wird was draus. Hörst du aber nicht auf die Älteren, kannst du noch heute das Weltlicht erblicken.«
»Fliehen ist leicht«, widersprach Maxim. »Fliehen könnte ich auf der Stelle.«
»Schau einer an!« Sef mimte Bewunderung.
»… und wenn Sie vorhaben, hier weiter Konspiration zu spielen …« Maxim wandte sich demonstrativ an Wildschwein, doch Sef unterbrach ihn erneut.
»Ich beabsichtige, die heutige Norm zu schaffen.« Er stand auf. »Andernfalls kriegen wir nichts zu fressen. Also los!«
Während er watschelnd zwischen den Bäumen verschwand, fragte Maxim den Einarmigen: »Ist das etwa ein Politischer?«
Wildschwein warf ihm einen hastigen Blick zu. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Sie folgten Sef, bemüht, in seine Fußstapfen zu treten. Maxim ging als Letzter.
»Weswegen ist er eigentlich hier?«
»Er hat die Straße falsch überquert«, erwiderte Wildschwein, und wieder verlor Maxim die Lust zu reden.
Sie hatten noch keine hundert Schritte getan, als Sef »Halt!« kommandierte, und die Arbeit begann. »Hinlegen!«, schrie er wenig später. Sie warfen sich flach auf den Boden. Ein dicker Baum brach, gedehnt knirschend, vor ihnen um. Aus seiner Mitte heraus schob sich ein langes, dünnes Geschützrohr, das hin und her schwenkte, als nähme es Maß; dann folgte ein Surren, ein Knall, und aus der schwarzen Mündung stieg träge ein gelbes Rauchwölkchen auf. »Vergammelt«, sagte Sef lakonisch, stand als Erster auf und klopfte seine Hose ab. Den Baum mit der Kanone sprengten sie. Es folgte ein Minenfeld, dann eine Hügelfalle mit einem Maschinengewehr, das nicht vergammelt war, sondern sie lange an die Erde presste und so laut feuerte, dass es im ganzen Wald zu hören war. Danach gerieten sie in einen wahren Dschungel aus Stacheldraht, aus dem sie kaum mehr herausfanden, und als es ihnen schließlich gelang, kam plötzlich Feuer von oben, so dass es Explosionen gab und zu brennen begann. Maxim begriff überhaupt nichts, der Einarmige schwieg und lag ruhig mit dem Gesicht nach unten, Sef aber schoss mit dem Granatwerfer in die Luft und brüllte plötzlich: »Im Laufschritt, mir nach!« Sie rannten davon und dort, wo sie noch kurz zuvor gewesen waren, züngelten hohe Flammen. Sef fluchte fürchterlich; Wildschwein aber lachte vor sich hin. Sie drangen in ein wildes Dickicht, hörten ein Pfeifen und Fauchen, und durch das Astwerk quoll grünliches, widerlich stinkendes Gas. Wieder mussten sie fort, sich durch Gebüsch zwängen, wieder fluchte Sef, und dem Einarmigen wurde übel.
Schließlich wurde Sef müde und verkündete eine Pause. Sie fachten ein Feuer an, und Maxim - als Jüngster - kochte das Essen: Konservensuppe in dem ihm längst bekannten Kochgeschirr. Sef und der Einarmige lagen schmutzig und zerschunden neben ihm und rauchten.
Wildschwein wirkte mitgenommen, er war alt, für ihn war es hier am schwersten.
»Unbegreiflich, wie wir es geschafft haben, bei so einer Menge Technik pro Quadratmeter den Krieg zu verlieren«, sagte Maxim.
»Wie kommst du darauf, dass wir ihn verloren haben?«, erkundigte sich Sef träge.
»Gewonnen haben wir ja nicht«, sagte Maxim. »Sieger leben anders.«
»In einem modernen Krieg gibt es keine Sieger«, bemerkte der Einarmige. »Sie haben natürlich Recht. Wir haben den Krieg verloren. Alle haben diesen Krieg verloren. Gewonnen haben nur die Unbekannten Väter.«
»Die Unbekannten Väter haben es auch nicht leicht«. Maxim rührte die Suppe um.
»Ja«, sagte Sef ernst. »Schlaflose Nächte und quälende Gedanken an das Schicksal des Volkes. Müde und gütig, sehen sie alles, verstehen alles … Massaraksch, wie lange habe ich keine Zeitungen mehr gelesen, habe schon vergessen, wie’s weitergeht.«
»Treu und gütig«, berichtigte ihn der Einarmige. »Sich ganz dem Fortschritt und dem Kampf gegen das Chaos widmend.«
»Solche Gespräche bin ich nicht mehr gewöhnt«, murrte Sef. »Hier heißt’s ›Halt’s Maul, Zögling!‹, oder ›Ich zähle bis eins‹. He, Bürschchen, wie heißt du doch?«
»Maxim.«
»Ja, richtig. Rühre, Mak, rühre. Pass auf, dass sie nicht anbrennt!«
Maxim rührte. Und dann meinte Sef, es sei nun genug, er könne nicht länger warten. Schweigend löffelten sie ihre Suppe. Maxim spürte, dass sich irgendetwas verändert hatte, und es würde noch heute ausgesprochen werden … Doch nach dem Essen legte sich Wildschwein wieder hin und blickte zum Himmel, und Sef griff, unverständlich murmelnd, nach dem Kochgeschirr und wischte es mit einer Brotrinde aus.
»Man müsste sich etwas schießen«, sagte er. »Mein Wanst ist leer, als hätte ich keinen Krümel darin. Nur Appetit hab ich gekriegt.«
Maxim wurde verlegen, und er versuchte, ein Gespräch über die Jagd in dieser Gegend anzufangen, doch die anderen gingen nicht darauf ein. Der Einarmige lag mit geschlossenen Augen da und schlief anscheinend; Sef, der sich Maxims Überlegungen zu Ende angehört hatte, brummte nur: »Was kann’s hier für Jagd geben. Ist doch alles verseucht, radioaktiv«, und dann wälzte auch er sich auf den Rücken.
Maxim nahm das Kochgeschirr und ging zum Bach, der in der Nähe vorbeifloss. Das Wasser war klar, schien sauber und wohlschmeckend, so dass Maxim davon trinken wollte. Er schöpfte eine Handvoll und bemerkte, dass der Bach spürbar radioaktiv war; das Kochgeschirr würde er hier nicht auswaschen können, und trinken sollte er von dem Wasser besser auch nicht. Maxim hockte sich hin, legte das Kochgeschirr ins Gras und fing an zu grübeln.
Als Erstes kam ihm Rada in den Sinn, wie sie nach den Mahlzeiten das Geschirr gespült und nicht zugelassen hatte, dass er ihr half: Das sei Frauensache, hatte sie gesagt. Ihm fiel ein, dass sie ihn liebte, und das machte ihn stolz, denn bislang hatte noch keine Frau ihn geliebt. Er hätte Rada jetzt gern gesehen, war aber zugleich erleichtert, dass sie nicht da war. An diesen Ort gehörten nicht einmal die schlimmsten Männer; zwanzigtausend Reinigungskyber müsste man herschicken, vielleicht sogar alle Wälder mitsamt ihrem Inhalt vernichten und neue ziehen, die licht waren oder, wenn es sein musste, auch düster - aber sauber und von einer natürlichen Finsternis.
Dann erinnerte er sich, dass man ihn für immer in diese Wälder geschickt hatte. Er wunderte sich über die Naivität derjenigen, die ihn hierher verbannt hatten und glaubten, er würde, ohne je sein Ehrenwort gegeben zu haben, freiwillig dahinvegetieren und ihnen noch dazu helfen, eine Linie von Emittertürmen zu errichten. Im Sträflingswaggon hatte jemand erzählt, die Wälder würden Hunderte von Kilometern nach Süden reichen, und auf Militärtechnik träfe man sogar noch in der Wüste. Nein, danke, hier bleibe ich nicht. Massaraksch, gestern hab ich diese Türme gesprengt, und heute werde ich für sie das Gelände säubern? Ich habe genug von diesen Dummheiten.
Wildschwein glaubt mir nicht. Sef glaubt er, mir aber nicht. Ich wiederum misstraue Sef, wahrscheinlich zu Unrecht. Sicher bin ich in Wildschweins Augen ebenso aufdringlich und verdächtig, wie Sef es für mich ist. Na schön, Wildschwein glaubt mir nicht, also bin ich wieder allein. Ich könnte darauf hoffen, den General oder Klaue zu treffen, aber das ist zu unwahrscheinlich: Es heißt, es gibt hier über eine Million Zöglinge, und das Gebiet ist riesig. Nein, mit so einem Zusammentreffen ist nicht zu rechnen. Ich könnte versuchen, eine eigene Gruppe zusammenzubringen, aber seien wir ehrlich, Massaraksch, dafür eigne ich mich nicht. Vorerst jedenfalls nicht, bin viel zu vertrauensselig. Klären wir daher zuerst die Aufgabe. Was will ich?
Einige Minuten lang führte er sich die Aufgabe vor Augen und fand Folgendes heraus: Man musste die Unbekannten Väter stürzen. Wenn sie Militärs sind, sollen sie doch in der Armee dienen, sind sie Finanzleute, sollen sie sich mit den Finanzen befassen, was immer das heißen mag. Eine demokratische Regierung einsetzen - er hatte eine ungefähre Vorstellung, was das war und wusste, dass diese Republik zunächst bürgerlich-demokratisch sein würde. Das löste nicht alle Probleme, aber erlaubte, die Gesetzlosigkeit einzudämmen und die sinnlosen Ausgaben für die Türme und die Kriegsvorbereitungen zu streichen. Er musste sich freilich eingestehen, dass er nur vom ersten Punkt seines Programms eine genaue Vorstellung hatte: vom Sturz der Tyrannei. Was danach käme, war ihm noch völlig unklar. Zudem konnte er nicht sicher sein, ob die breite Masse der Bevölkerung seine Idee, die Tyrannei zu stürzen, gutheißen würde. Die Unbekannten Väter waren zwar offensichtlich Lügner und Halunken, aber im Volk zweifellos sehr beliebt. Was soll’s, dachte er, schauen wir nicht zu weit voraus. Lassen wir es beim ersten Punkt und sehen uns an, welche Hürden noch zu nehmen sind, bis ich den Unbekannten Vätern an die Gurgel kann. Erstens die Streitkräfte: die hervorragend dressierte Garde und die Armee, von der ich allerdings nur weiß, dass in irgendeiner ihrer Strafkompanien (sonderbare Bezeichnung!) mein Freund Gai dient. Zweitens - und noch wichtiger: die Anonymität der Unbekannten Väter. Wer sind sie, wo soll man sie suchen? Wo kommen sie her, wo halten sie sich auf, wie wird man einer von ihnen? Er versuchte sich zu erinnern, wie es auf der Erde zur Zeit der Revolutionen und Diktaturen gewesen war. Massaraksch! Ich weiß nur noch die Schlüsseldaten, die wichtigsten Namen und die grobe Kräfteverteilung, aber ich brauche Details, Analogien, Präzedenzfälle. Zum Beispiel der Faschismus. Wie war das doch gleich? Ich weiß noch, wie schrecklich es war, darüber zu lesen und zu hören. Da war irgendein Hilmer, widerlich, eine blutsaugende Spinne. Halt, das war also keine anonyme Regierung. Hm, nicht viel, was ich noch weiß. Aber das ist ja so lange her, und es war so abscheulich, und wer konnte denn wissen, dass ich in so eine Bredouille gerate? Die Leute vom Galaktischen Sicherheitsdienst oder vom Institut für Experimentalgeschichte müssten hier sein - die würden gleich sehen, was los ist. Vielleicht sollte ich versuchen, einen Sender zu bauen? Er lachte traurig bei der Erinnerung, dass er hier schon einmal an einen Sender gedacht hatte, in dieser Gegend, sogar ganz in der Nähe. Nein, ich muss wohl allein zurechtkommen. Na schön. Gegen eine Armee hilft nur ein Mittel: eine Armee. Gegen Anonymität und Geheimnisse: die Aufklärung. Alles ganz einfach.
Auf jeden Fall muss ich von hier weg. Zuerst versuche ich, eine Gruppe aufzubauen, doch wenn es nicht gelingt, gehe ich allein. Und einen Panzer brauche ich. Waffen gibt es hier ja genug - für hundert Armeen würden sie reichen. Haben in den zwanzig Jahren mächtig gelitten und sind zudem automatisch, aber ich werde sie schon herrichten. Traut mir Wildschwein wirklich nicht?, dachte er fast verzweifelt, griff dann nach dem Kochgeschirr und lief zurück zum Feuer.
Sef und Wildschwein schliefen nicht, sie lagen Kopf an Kopf und stritten leise, aber heftig. Als Sef Maxim erblickte, sagte er schnell: »Schluss jetzt!«, und erhob sich. Den gewaltigen roten Bart vorgereckt und die Augen aufgerissen, brüllte er los: »Wo treibst du dich rum, Massaraksch? Wer hat dir erlaubt, wegzurennen? Arbeiten müssen wir, sonst geben sie uns nichts zu fressen, dreiunddreißigmal Massaraksch!«
Und da geriet Maxim in Wut. Bestimmt zum ersten Mal im Leben fuhr er einen Menschen an, so laut er konnte: »Hol Sie der Teufel, Sef! Können Sie an nichts anderes denken als ans Essen? Den ganzen Tag hör ich von Ihnen: fressen, fressen, fressen! Ich gebe Ihnen meine Konserven, wenn es Sie so quält!«
Er warf das Kochgeschirr ins Gras, nahm seinen Rucksack und setzte ihn auf. Sef war von seinem Wutausbruch wie vor den Kopf geschlagen, setzte sich hin und blickte ihn verdutzt an. Dann gluckste er, schniefte und - brach in Gelächter aus. Der Einarmige stimmte ein, doch war das nur zu sehen, nicht zu hören. Zuletzt lachte auch Maxim, wenn auch ein wenig verlegen.
»Massaraksch!«, röchelte Sef schließlich. »Der hat ein Organ. Nein, Freundchen«, wandte er sich an Wildschwein, »denk an meine Worte. Aber eigentlich hatte ich gesagt: Schluss jetzt. Aufstehn!«, schrie er auf einmal los, »vorwärts, wenn ihr heute abend, ähm, fressen wollt …«
Und damit hatte es sich. Sie grölten noch ein wenig und lachten; dann wurden sie ernst und gingen weiter. Verbissen entschärfte Maxim Minen, brach Zwillings-MGs aus ihren Nestern, schraubte Sprengköpfe von Fliegerabwehrraketen, die aus offenen Luken ragten, und wieder gab es ringsum Feuer, zischte Tränengas, rochen sie den furchtbaren Kadavergestank umherliegender Tiere, die von den Automaten erschossen worden waren. Sie wurden noch schmutziger, noch zerlumpter, noch grimmiger, und Sef trieb Maxim heiser an: »Vorwärts, vorwärts! Willst du fressen, dann vorwärts!«. Und Wildschwein war nun ganz und gar erschöpft und schleppte sich weit hinter ihnen voran, auf seinen Minensucher gestützt wie auf einen Krückstock.
Nach diesen Stunden hatte Maxim endgültig genug von Sef, und er freute sich geradezu, als der Rotbart plötzlich aufheulte und mit Getöse in die Erde einbrach. Er wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel den Schweiß von der schmutzigen Stirn, trat näher und stand am Rand einer im Gras verborgenen Spalte. Sie war sehr tief und stockfinster, nichts war zu erkennen. Es drang nur ein Geruch von Kälte und Feuchtigkeit herauf, und man hörte Knirschen, Klirren und unverständliches Schimpfen. Hinkend kam Wildschwein dazu, blickte ebenfalls in die Tiefe und fragte: »Ist er dort? Was macht er da?«
»Sef!« Maxim bückte sich. »Wo sind Sie, Sef?«
Aus der Spalte klang es dumpf: »Kommt runter! Springt, es ist ganz weich.«
Maxim sah den Einarmigen an. Der schüttelte den Kopf.
»Das ist nichts für mich. Springen Sie, ich lasse Ihnen nachher ein Seil runter.«
»Wer da?«, schrie Sef auf einmal. »Ich schieße, Massaraksch!«
Maxim schob die Beine in die Spalte, stieß sich ab und sprang. Fast im selben Augenblick versank er bis zu den Knien in einer mürben Masse und fiel auf sein Hinterteil. Sef war irgendwo in der Nähe. Maxim schloss die Augen und blieb einige Sekunden sitzen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
»Komm her, Mak, hier ist jemand«, dröhnte Sef. »Wildschwein! Spring!«
Wildschwein entgegnete, er sei müde wie ein Hund und würde sich oben gerne ein wenig ausruhen.
»Wie du willst«, sagte Sef. »Aber wenn du mich fragst, ist das die Festung. Wirst es bereuen.«
Die Antwort des Einarmigen klang undeutlich, seine Stimme schwach - sicher war ihm wieder übel und ganz und gar nicht nach der Festung zumute. Maxim öffnete die Augen und blickte sich um. Er saß auf einem Erdhaufen inmitten eines langen Gangs mit unebenen Zementwänden. Das Loch in der Decke diente entweder der Ventilation, oder es stammte von einem Einschuss. Etwa zwanzig Schritte entfernt stand Sef. Auch er sah sich um, wobei er mit der Taschenlampe in alle Richtungen leuchtete.
»Was ist das hier?«, fragte Maxim.
»Weiß ich’s?«, erwiderte Sef streitsüchtig. »Vielleicht ein Unterstand. Oder tatsächlich die Festung. Hast du von ihr gehört?«
»Nein.« Maxim rutschte den Erdhaufen hinab.
»Also nicht.« Sef schien zerstreut. Er leuchtete immer noch mit der Taschenlampe die Wände ab. »Was weißt du überhaupt. Massaraksch, eben war da jemand.«
»Ein Mensch?«
»Keine Ahnung. Er schlich an der Wand entlang und verschwand. Was aber die Festung betrifft, mein Freund - das ist eine Sache, mit der wir an einem Tag unsere ganze Arbeit schaffen könnten. Aha, Spuren …«
Er kauerte sich nieder. Maxim hockte sich daneben und sah eine Reihe von Abdrücken im Staub neben der Wand.
»Sie sehen merkwürdig aus«, sagte er.
»Stimmt, mein Freund.« Sef sah sich wieder um. »Solche Spuren habe ich noch nie gesehen.«
»Als wäre jemand auf Fäusten gegangen«, überlegte Maxim. Er ballte eine Hand und drückte sie neben die Spur.
»So ähnlich«, stimmte Sef anerkennend zu. Er richtete den Lichtkegel in die Tiefe des Gangs. Etwas blinkte schwach, reflektierte - wahrscheinlich eine Biegung oder Sackgasse. »Sehen wir’s uns an?«
»Leise«, sagte Maxim. »Keinen Ton, und bewegen Sie sich nicht.«
Die Stille hier unter der Erde war so dicht wie feuchte Watte, und dennoch war der Gang nicht unbelebt. Da vorne stand jemand - Maxim konnte nicht genau sagen, wo und wie weit entfernt -, aber da, klein und an die Mauer gepresst war etwas, das einen schwachen, unbekannten Geruch verbreitete, sie beobachtete und ihre Anwesenheit missbilligte. Das Wesen war etwas ganz und gar Fremdes und seine Absichten unbekannt.
»Müssen wir unbedingt dorthin?«, fragte Maxim.
»Ich würde gern.«
»Weshalb?«
»Ich muss mir das ansehen, womöglich ist es die Festung. Hätten wir die gefunden, mein Freund, würde alles anders. Ich glaube nicht an sie, aber da man davon erzählt. Wer weiß. Vielleicht lügen doch nicht alle.«
»Da ist jemand«, flüsterte Maxim. »Ich begreife nur nicht, wer.«
»Ja? Hm, wenn es die Festung ist, leben hier, nach der Legende, entweder die Überreste ihrer Garnison … Sitzen da, verstehst du, und wissen nicht, dass die Kämpfe zu Ende sind, hatten mitten im Krieg ihre Neutralität erklärt, sich verbarrikadiert und verkündet, sie würden den ganzen Kontinent in die Luft sprengen, falls man zu ihnen vordränge.«
»Können sie das?«
»Wenn es die Festung ist, können sie alles. Es gibt ja oben immer noch ständig Schüsse und Detonationen, gut möglich, dass sie denken, der Krieg sei noch nicht vorbei. Irgendein Prinz hat hier kommandiert oder ein Herzog. Wäre gut, ihn zu treffen und mit ihm zu reden.«
Maxim lauschte wieder.
»Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Das ist weder Prinz noch Herzog. Ein Tier vielleicht, nein, auch kein Tier. Oder?«
»Was - ›oder‹?«
»Sie haben gesagt, entweder die Überreste der Garnison, oder …?«
»Ach so, das andere ist Unsinn, ein Ammenmärchen. Gehen wir und sehen nach.«
Sef lud den Granatwerfer, brachte ihn in Anschlag und tappte, mit der Taschenlampe leuchtend, vorwärts. Maxim hielt sich neben ihm. Einige Minuten bewegten sie sich den Gang entlang, dann stießen sie auf eine Wand und gingen nach rechts.
»Sie machen zu viel Lärm«, beklagte sich Maxim. »Da vorn passiert was, aber Sie schnaufen …«
»Was denn, soll ich die Luft anhalten?« Prompt zeigte Sef seine Krallen.
»Ihre Lampe stört mich auch.«
»Wieso? Es ist dunkel!«
»Ich sehe im Dunkeln«, sagte Maxim, »aber wegen Ihrer Funzel kann ich nichts erkennen. Lassen Sie mich vorgehen, und bleiben Sie hier. Sonst erfahren wir gar nichts.«
»Wie du willst.« Sefs Stimme klang ungewohnt unsicher.
Maxim kniff wieder die Augen zusammen, erholte sich von dem matten, flackernden Licht und glitt gebückt an der Mauer entlang, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Der Unbekannte konnte nicht weit sein, und mit jedem Schritt kam Maxim ihm näher. Der Gang nahm kein Ende. Rechts zeigten sich jetzt Türen, alle aus Eisen und ausnahmslos verschlossen. Von vorn zog es ein wenig. Die Luft war feucht, roch nach Moder und etwas Unbekanntem, Lebendigem und Warmem. Hinten rührte Sef sich vorsichtig; es war ihm nicht geheuer, und er hatte Angst zurückzubleiben. Maxim schmunzelte, als ihm das bewusst wurde; buchstäblich für eine Sekunde war er abgelenkt - und in dieser Sekunde verschwand das Wesen. Maxim verharrte erstaunt. Eben noch war es vor ihm gewesen, wenige Schritte entfernt. Und jetzt schien es sich in Luft aufgelöst zu haben. Aber da erschien es plötzlich hinter seinem Rücken, ganz nahe.
»Sef!«, rief Maxim.
»Ja!«, tönte dumpf die Antwort.
Maxim stellte sich vor, wie der Unbekannte zwischen ihnen den Kopf in Richtung der Stimmen dreht.
»Er steht zwischen uns«, sagte Maxim. »Kommen Sie nicht auf die Idee zu schießen.«
»Gut.« Sef schwieg kurze Zeit. »Ich sehe nichts. Wie ist er?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Maxim. »Weich.«
»Ein Tier?«
»Wohl nicht.«
»Du hast doch behauptet, du siehst im Dunkeln.«
»Aber nicht mit den Augen«, sagte Maxim. »Seien Sie still!«
»Nicht mit den Augen«, murmelte Sef und verstummte.
Der Unbekannte blieb noch eine Weile an derselben Stelle, dann durchquerte er den Gang, verschwand wieder und tauchte nach einiger Zeit plötzlich vor ihnen auf. Er ist auch neugierig, dachte Maxim. Er gab sich viel Mühe, Sympathie für dieses Wesen zu empfinden, doch etwas störte - sicher die unangenehme Verbindung von nichttierischem Intellekt mit halbtierischem Äußeren. Er tat wieder einen Schritt. Der Unbekannte wich zurück, hielt gleichbleibenden Abstand.
»Wie steht’s?«, fragte Sef.
»Unverändert«, antwortete Maxim. »Möglich, dass er uns irgendwohin führt oder lockt.«
»Werden wir mit ihm fertig?«
»Er wird uns nicht angreifen«, sagte Maxim. »Für ihn ist es auch interessant.«
Er verstummte, weil der Unbekannte wieder entwischt war, und bemerkte plötzlich, dass der Gang endete. Maxim befand sich in einem großen, tiefdunklen Raum und konnte fast nichts erkennen. Doch er spürte Metall und Glas, Rostgeruch - und Hochspannungsstrom. Einige Sekunden lang stand er reglos da und streckte, nachdem er herausgefunden hatte, wo der Schalter war, die Hand danach aus. Doch in dem Moment erschien das Wesen wieder. Und nicht allein. Mit ihm war ein zweites gekommen, ähnlich, aber nicht gleich. Sie standen an derselben Wand wie Maxim, er hörte ihren Atem - hastig und feucht. Er erstarrte, hoffte, sie würden näher herankommen, aber sie taten es nicht. Und dann drückte er, nachdem er mit aller Kraft die Pupillen zusammengezogen hatte, auf die Taste des Schalters.
Offenbar war die Leitung nicht in Ordnung, denn die Lampen flammten nur für den Bruchteil einer Sekunde auf, irgendwo knallten Sicherungen durch, und das Licht erlosch wieder. Immerhin aber hatte Maxim gesehen, dass die Wesen klein waren, etwa wie große Hunde. Sie standen auf allen vieren, hatten ein dunkles Fell und riesige, schwere Köpfe. Ihre Augen hatte Maxim so schnell nicht erkannt. Die Wesen waren im Nu verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
»Was ist los bei dir?«, fragte Sef beunruhigt. »Was war das für ein Blitz?«
»Ich hatte das Licht eingeschaltet. Kommen Sie her.«
»Und wo ist er? Hast du ihn gesehen?«
»Nur kurz. Sie ähneln doch eher Tieren. Hunde mit großen Köpfen.«
Über die Wand hüpfte der Widerschein der Taschenlampe. Sef redete im Gehen.
»Ah, Hunde. Die kenne ich, solche hausen im Wald. Lebend habe ich sie nie gesehen, aber schon oft erlegt.«
»Nein«, sagte Maxim zweifelnd. »Tiere sind das nicht.«
»Es sind Tiere.« Sefs Stimme hallte dumpf vom hohen Gewölbe dieses unterirdischen Raums wider. »Wir haben uns umsonst gefürchtet. Ich dachte schon, Vampire. Massaraksch! Das ist wirklich die Festung.«
Er blieb mitten im Raum stehen. Der Lichtkegel wanderte über Wände, Reihen von Skalenscheiben, Schalttafeln. Glas leuchtete auf, Nickel, verblichener Kunststoff.
»Ich gratuliere, Mak. Wir beide haben sie gefunden. Zu Unrecht hab ich nicht dran geglaubt, zu Unrecht. Und was ist das? Aha, das Elektronenhirn, alles steht hier unter Strom. Ach, der Schmied müsste her. Hör mal, verstehst du was davon?«
»Wovon?« Maxim trat heran.
»Von dieser Mechanik. Hier ist das Steuerpult! Wenn wir das beherrschen, gehört uns die ganze Region. Die ganze Technik oben wird von hier dirigiert. Ach, wenn man damit klarkäme, Massaraksch!«
Maxim nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand, hielt sie so, dass sie den ganzen Raum erhellte, und blickte sich um. Überall war Staub, gewiss schon viele Jahre, und auf dem Tisch in der Ecke lag ein auseinandergefaltetes, vermodertes Stück Papier; darauf stand ein schwarzbekleckerter Teller mit einer Gabel. Maxim ging an den Pulten entlang, berührte Stellschrauben, versuchte den Elektronenrechner einzuschalten, zog an einem Hebel, aber der blieb gleich in seiner Hand …
»Nein«, murmelte er dann. »Von hier kann man kaum etwas Nennenswertes steuern. Erstens ist alles viel zu primitiv - wie in einer Beobachtungsstation oder einem Kontrollpunkt, so behelfsmäßig. Auch der Rechner ist schwach, würde für keine zehn Panzer reichen. Und dann ist alles verfallen, nicht mal anrühren darf man es. Strom fließt zwar, aber die Spannung liegt unterhalb der Norm. Wahrscheinlich ist der Reaktor hinüber. Nein, Sef, das ist alles nicht so einfach, wie Sie meinen.«
Plötzlich sah Maxim die langen Röhren, die aus der Wand hervorstanden und in einer Augenmuschel aus Gummi zusammenliefen, anscheinend ein Okular. Er zog einen Aluminiumstuhl heran, setzte sich und führte sein Gesicht zur Muschel. Zu seinem Erstaunen war die Optik in einem hervorragendem Zustand. Noch mehr aber wunderte ihn, was er zu sehen bekam. Er hatte eine ihm gänzlich unbekannte Landschaft im Blickfeld: weißlich-gelbe Wüste, Sanddünen, das Skelett einer metallenen Anlage. Starker Wind wehte, der Sand trieb in Schwaden über die Dünen, der unklare Horizont wölbte sich zu einer Schale.
»Schauen Sie mal«, sagte er zu Sef. »Wo ist das?«
Sef lehnte den Granatwerfer ans Pult, trat heran und sah durch das Okular.
»Merkwürdig«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Das ist die Wüste. Die ist vierhundert Kilometer entfernt, mein Freund.« Er rückte vom Okular ab und sah Maxim an. »Wie viel Mühe sie in das alles investiert haben. Diese Lumpen! Und was kam dabei heraus? Der Wind streicht über den Sand. Und was war das für eine schöne Gegend! Als Junge war ich einmal dort, zur Erholung. Vor dem Krieg.« Er stand auf. »Fort von hier, zum Teufel«, sagte er bitter und griff nach der Lampe. »Wir zwei kapieren hier sowieso nichts. Müssen wir halt warten, bis sie den Schmied schnappen und einbuchten. Aber wahrscheinlich werden sie ihn nicht einbuchten, sondern erschießen. Was ist, gehen wir?«
»Ja.« Maxim musterte noch einmal die seltsamen Abdrücke auf dem Boden. »Das hier interessiert mich entschieden mehr«, bekannte er.
»Völlig umsonst«, winkte Sef ab. »Wahrscheinlich laufen hier alle möglichen Viecher rum.«
Er lud den Granatwerfer auf seinen Rücken und wandte sich zum Ausgang. Maxim folgte ihm, drehte sich aber mehrmals nach den Spuren um.
»Ich habe Hunger«, knurrte Sef.
Sie tappten den Gang entlang. Maxim schlug vor, eine der Türen aufzubrechen, aber Sef hielt das für zwecklos.
»Mit dieser Sache muss man sich ernsthaft befassen«, sagte er. »Was sollen wir Zeit vertrödeln, wir haben die Norm noch nicht geschafft. Hierher muss man jemanden bringen, der was davon versteht.«
»An Ihrer Stelle würde ich nicht zu sehr auf diese ›Festung‹ zählen«, wandte Maxim ein. »Erstens ist alles verrottet, und zweitens ist sie schon besetzt.«
»Von wem? Ach, du meinst die Hunde? Bist auch so einer. Andere faseln von Vampiren, und du …«
Sef verstummte. Durch den Gang gellte ein kehliger Schrei, der dann als vielfaches Echo von den Wänden zurückhallte und wieder verklang. Sofort antwortete aus der Ferne eine gleiche Stimme. Die Töne waren vertraut, doch Maxim konnte sich nicht entsinnen, wo er sie schon gehört hatte.
»Sie also schreien nachts so!«, staunte Sef. »Und wir dachten, es sind Vögel.«
»Klingt merkwürdig«, sagte Maxim.
»Merkwürdig? Ich weiß nicht«, widersprach Sef. »Eher schaurig. Wenn dieses Gebrüll in der Nacht durch den Wald schallt, rutscht einem das Herz in die Hose. Und was für Märchen darüber erzählt werden. Es gab einen Kriminellen, der sich brüstete, ihre Sprache zu verstehen. Er hat sie übersetzt.«
»Und was hat er übersetzt?«, fragte Maxim.
»Ach, dummes Zeug. Was ist das schon für eine Sprache.«
»Wo ist der Kriminelle?«
»Den haben sie aufgegessen«, sagte Sef. »Er war bei den Bauleuten. Sein Trupp hat sich im Wald verirrt, dann bekamen die Jungs Hunger, und da, na ja …«
Sie bogen nach links ein. Weit vor ihnen schimmerte der blasse Lichtfleck. Sef schaltete die Lampe aus und steckte sie in die Tasche. Er schritt jetzt voran, und als er unverhofft stehen blieb, wäre Maxim fast gegen ihn gestoßen.
»Massaraksch!«, knurrte Sef.
Mitten im Gang lag ein menschliches Skelett. Sef nahm den Granatwerfer von der Schulter und blickte sich um.
»Das war vorhin noch nicht hier«, brummte er.
»Ja«, stimmte Maxim zu. »Man hat es gerade erst hierhergelegt.«
Aus dem tiefen unterirdischen Gewölbe hinter ihnen erschallte plötzlich ein ganzer Chor von langgezogenen Kehllauten. Mit den widerhallenden Echos hörte es sich an, als heulten Tausende von Stimmen im Chor, als skandierten sie alle ein eigentümliches, viersilbiges Wort. Maxim glaubte Hohn herauszuhören, Spott oder Provokation. Dann verstummte der Chor so abrupt, wie er eingesetzt hatte. Sef atmete geräuschvoll aus und ließ den Granatwerfer sinken. Maxim sah sich das Skelett genauer an.
»Ich denke, das ist ein Fingerzeig«, sagte er.
»Das denke ich auch«, murmelte Sef. »Schnell weg!«
Sie hasteten bis zu dem Spalt in der Decke, stiegen auf den Erdhaufen und sahen über sich Wildschweins beunruhigtes Gesicht. Bäuchlings lag er am Rand des Durchbruchs und hatte ein Seil mit einer Schlinge herabgelassen.
»Was ist los bei euch?«, fragte er. »Habt ihr so geschrien?«
»Wir erzählen es dir gleich«, erwiderte Sef. »Hast du das Seil gesichert?«
Sie kletterten nach oben. Sef drehte für sich und den Einarmigen eine Zigarette, rauchte sie an und schwieg eine Weile; anscheinend wollte er sich erst eine Meinung über das Geschehene bilden.
»In Ordnung«, begann er endlich, »kurz gesagt, Folgendes: Das ist die Festung. Schalttafeln, Elektronenhirn und so weiter. Alles in jämmerlichem Zustand, aber wenigstens unter Strom. Wir werden es nutzen, müssen nur Leute finden, die etwas davon verstehen. Weiter.« Er zog an der Zigarette und stieß eine Rauchwolke aus, wie ein beschädigter Gaswerfer. »Also weiter. Allem Anschein nach leben dort die Hunde. Erinnerst du dich, ich hab dir von ihnen erzählt. Solche mit einem Kopf wie ein Bär. Sie waren es, die so geschrien haben. Vielleicht aber auch nicht, weil … Wie soll ich’s dir erklären … Während sich Mak und ich dort umschauten, hat jemand ein menschliches Gerippe in den Gang gelegt. Das ist alles.«
Wildschwein blickte erst ihn, dann Maxim an.
»Mutanten?«, fragte er.
»Möglich«, räumte Sef ein. »Ich habe gar niemand zu Gesicht bekommen, doch Mak meint, er hätte Hunde gesehen, nur nicht mit den Augen. Womit hast du sie eigentlich gesehen, Mak?«
»Auch mit den Augen«, sagte Maxim. »Ich möchte hinzufügen, dass außer diesen Hunden niemand dort war. Ich würde es wissen. Und eure Hunde sind nicht das, wofür ihr sie haltet. Das sind keine Tiere.«
Wildschwein erwiderte nichts. Er stand auf, wickelte das Seil auf, knüpfte es sich an den Gürtel und setzte sich wieder neben Sef.
»Weiß der Teufel«, brabbelte der. »Womöglich sind es tatsächlich keine Tiere. Hier ist alles denkbar, hier im Süden.«
»Vielleicht sind die Hunde Mutanten?«, rätselte Maxim.
»Nein«, widersprach Sef. »Mutanten sind einfach sehr missgestaltete Menschen. Kinder gewöhnlicher Leute. Mutanten! Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
»Ich weiß es«, sagte Maxim. »Aber die Frage ist doch, wie weit Mutation gehen kann.«
Für ein paar Minuten versanken sie in Gedanken. Dann meldete sich Sef zu Wort: »Da du schon alles weißt, müssen wir ja nichts mehr sagen. Genug geschwatzt. Auf!« Er erhob sich. »Es bleibt nicht mehr viel zu tun, aber die Zeit drängt. Und meine Lust zu fressen« - er zwinkerte Maxim zu - »ist geradezu pathologisch. Weißt du, was das bedeutet, ›pathologisch‹?«
»Ja«, sagte Maxim, und sie machten sich auf den Weg.
Eigentlich hätten sie noch das südwestliche Viertel des Quadrats säubern müssen, aber es kam nicht dazu. Denn hier hatte sich vor einiger Zeit eine gewaltige Explosion ereignet: Vom alten Wald fanden sich nur noch umgestürzte, halb verfaulte Baumstämme und verkohlte Stümpfe, und dazwischen wuchsen schon vereinzelt junge Bäume. Die Erde war schwarz versengt und mit Rostsplittern gespickt. Nach so einer Detonation funktionierte keine Technik mehr … Und Maxim ahnte, dass Sef sie nicht zum Arbeiten hierhergeführt hatte.
Aus dem Gebüsch kroch ihnen auf einmal ein behaarter Mann in schmutzigem Häftlingskittel entgegen. Maxim erkannte ihn: Es war Sefs ehemaliger Partner, der erste Mensch, den er auf diesem Planeten getroffen hatte, der wandelnde Weltschmerz.
»Wartet«, sagte Wildschwein. »Ich will mit ihm reden.«
Sef befahl Maxim, sich zu setzen, hockte sich neben ihn, wechselte die Schuhe und summte ein Liedchen der Kriminellen in seinen Bart: »Ich bin ein flotter Junge, mich kennt der ganze Kiez.« Wildschwein ging zu der traurigen Gestalt, beide zogen sich hinter die Sträucher zurück und flüsterten miteinander. Maxim konnte sie zwar ausgezeichnet hören, nicht aber verstehen, weil sie einen Jargon sprachen. Lediglich das Wort »Post«, das sie mehrfach wiederholten, war ihm geläufig. Bald aber hörte er nicht mehr zu. Er fühlte sich erschöpft und schmutzig. Es hatte heute zu viel sinnlose Nervenanspannung und unnütze Arbeit gegeben. Zu lange hatte er allen möglichen Dreck eingeatmet und zu viel Röntgenstrahlung abbekommen. Und an diesem ganzen Tag hatte er nichts Richtiges geleistet, nichts, was wirklich notwendig gewesen wäre. Und so hatte er gar keine Lust, in die Baracke zurückzukehren.
Dann verschwand der wandelnde Weltschmerz, und Wildschwein kehrte zurück. Er setzte sich vor Maxim auf einen Baumstumpf und sagte: »Unterhalten wir uns.«
»Alles in Ordnung?«, fragte Sef.
»Ja«, antwortete Wildschwein.
»Hab ich dir doch gesagt!« Sef hielt seine durchlöcherte Schuhsohle gegen das Licht. »Hab eben ein Gespür für solche Leute.«
»Also, Mak«, begann Wildschwein. »Wir haben Sie überprüft - soweit das in unserer Situation möglich ist. Der General bürgt für Sie. Ab heute unterstehen Sie mir.«
»Sehr erfreut.« Maxim lächelte schief. Er hätte gern hinzugefügt: Für Sie hat sich der General nicht verbürgt, ergänzte aber nur: »Ich höre.«
»Der General hat uns informiert, dass Ihnen weder Kernstrahlung noch die Emitter etwas ausmachen. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Das heißt, Sie könnten zu jedem beliebigen Zeitpunkt durch die Blaue Schlange schwimmen, ohne dass es Ihnen schadet?«
»Ich habe schon gesagt, meinetwegen kann ich sofort von hier fliehen.«
»Wir sind nicht daran interessiert, dass Sie fliehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind auch die Patrouillenwagen keine Gefahr für Sie?«
»Sie meinen die mobilen Emitter? Nein, die machen mir nichts aus.«
»Sehr gut.« Wildschwein schien zufrieden. »Damit steht Ihre Aufgabe für die folgenden Wochen fest. Sie werden Kurier. Sobald ich Ihnen den entsprechenden Befehl erteile, durchschwimmen Sie den Fluss und geben vom nächsten Postamt Telegramme auf. Den Text bekommen Sie von mir. Klar?«
»Ja, klar.« Maxim dehnte die Worte. »Doch ich hätte noch gern etwas anderes geklärt.«
Wildschwein verzog keine Miene. Er war ein hagerer, sehniger, zum Krüppel geschlagener alter Mann. Und ein unerbittlicher Kämpfer - von Kindesbeinen an. Eines jener furchtbaren, wenn auch Bewunderung hervorrufenden Wesen auf diesem Planeten, auf dem ein Menschenleben gar nichts zählte. Wildschwein kannte nichts als den Kampf, besaß nichts als den Kampf, hielt sich von allem fern außer dem Kampf - und in seinen aufmerksamen, zusammengekniffenen Augen konnte Maxim wie in einem Buch sein Schicksal für die kommenden Jahre herauslesen.
»Ja?«, sagte Wildschwein.
»Verständigen wir uns besser gleich.« Maxims Stimme klang fest. »Ich möchte nicht blindlings handeln. Ich habe nicht vor, mich mit Dingen zu beschäftigen, die meiner Meinung nach sinnlos und unnötig sind.«
»Zum Beispiel?«, fragte Wildschwein.
»Ich weiß, was Disziplin heißt. Und ich weiß, dass ohne Disziplin nichts aus unserer Arbeit wird. Doch ich meine, Disziplin muss auf Vernunft beruhen; der Untergebene muss sicher sein, dass ein Befehl vernünftig ist. Sie befehlen mir, Kurier zu sein. Ich bin dazu bereit, ich könnte mehr leisten, doch wenn es nötig ist, werde ich Kurier. Aber ich muss sicher sein, dass die Telegramme, die ich abschicke, nicht dazu führen, dass ohnedies unglückliche Menschen sinnlos sterben.«
Sef wollte sich gerade aufregen, als Wildschwein und Maxim ihm mit der gleichen Bewegung Einhalt geboten.
»Man hat mir befohlen, einen Turm zu sprengen«, fuhr Maxim fort. »Weshalb das nötig war, wurde mir nicht gesagt. Ich habe den Befehl ausgeführt, obwohl ich wusste, dass es ein dummes, tödliches Unterfangen war. Ich habe drei Kameraden verloren - und dann erwies sich das alles als eine Falle der Staatsanwaltschaft. Ich sage dazu: Schluss! Ich will keine weiteren Türme angreifen. Mehr noch, ich werde Operationen dieser Art mit allen Mitteln verhindern …«
»So ein Dummkopf!«, entfuhr es Sef. »Rotznase.«
»Inwiefern?«, fragte Maxim.
»Warten Sie, Sef«, sagte der Einarmige. Immer noch sah er Maxim unverwandt an. »Mit anderen Worten, Mak, Sie wollen alle Pläne des Stabs kennen?«
»Ja. Ich will nicht blindlings arbeiten.«
»Du bist frech, Bruderherz«, erklärte Sef. »Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unverschämt du bist. Aber trotzdem, er gefällt mir, Wildschwein. Und ich habe ein gutes Auge dafür.«
»Sie verlangen zu viel Vertrauen«, sagte Wildschwein kalt. »Das muss man sich erst mit niederen Arbeiten verdienen.«
»Und diese niederen Arbeiten bestehen darin, dass man idiotische Türme sprengt?«, fragte Maxim. »Ich bin zwar erst ein paar Monate im Untergrund, aber in dieser ganzen Zeit höre ich immer nur eins: Türme, Türme, Türme. Aber ich will keine Türme mehr sprengen, das ist sinnlos! Ich will gegen die Tyrannei angehen, gegen Hunger, Verfall, Korruption, Lüge. Ich verstehe, dass die Türme Sie quälen, körperlich, meine ich. Doch selbst was die Türme angeht, verhalten Sie sich töricht. Es liegt doch auf der Hand, dass sie nur Relaisstationen sind. Also muss man die Zentrale vernichten, und nicht jeden Turm einzeln.«
Wildschwein und Sef redeten gleichzeitig drauflos.
»Woher wissen Sie von der Zentrale?«, fragte Wildschwein.
»Wo willst du die Zentrale finden?«, fragte Sef.
»Dass es eine Zentrale geben muss, begreift doch jeder leidlich gebildete Ingenieur.« Geringschätzig verzog Maxim den Mund. »Wie man sie aber findet - gerade das ist die Aufgabe, mit der wir uns befassen müssen. Nicht in Maschinengewehrfeuer laufen, nicht umsonst Menschen in den Tod schicken. Die Zentrale suchen, das ist die Aufgabe.«
»Erstens wissen wir das auch ohne dich«, regte sich Sef auf. »Und zweitens, Massaraksch, ist niemand umsonst gefallen. Jeder leidlich gebildete Ingenieur, du rotzige Rotznase, begreift, dass wir das Relaissystem dadurch zerstören, dass wir einige Türme vernichten. So können wir einen ganzen Bezirk befreien! Aber dafür müssen wir Türme beseitigen. Und wir lernen es - verstehst du das oder nicht? Und wenn du noch einmal behauptest, Massaraksch, unsere Jungs sterben umsonst …«
»Moment«, unterbrach ihn Maxim. »Fassen Sie mich nicht an! Einen Bezirk befreien. Gut, und weiter?«
»Jede Rotznase kommt her und behauptet, wir sterben umsonst«, murrte Sef.
»Und weiter?«, wiederholte Maxim hartnäckig. »Die Gardisten installieren neue Emitter, und aus ist’s mit euch.«
»Teufel nochmal!«, fluchte Sef. »In der Zeit läuft doch die Bevölkerung dieses Bezirks zu uns über. Da wird es ihnen schwerfallen, sich einzumischen. Zehn sogenannte Missgeburten sind eins, zehntausend wütende Bauern etwas anderes.«
»Sef! Sef!«, mahnte Wildschwein.
Sef wehrte ungeduldig ab. »… Zehntausend wütende Bauern, die kapiert haben und nicht wieder vergessen werden, dass man sie zwanzig Jahre lang schamlos zum Narren gehalten hat.«
Der Einarmige winkte ab und drehte sich zur Seite.
»Warten Sie, warten Sie«, sagte Maxim. »Was erzählen Sie da? Warum sollten diese Leute das auf einmal verstehen? Sie halten das doch alles für Raketenabwehr. In Stücke werden sie Sie reißen!«
»Und wofür hältst du es?« Sef lächelte seltsam.
»Ich weiß, was los ist«, sagte Maxim. »Man hat es mir erzählt.«
»Wer?«
»Der Doktor und der General. Wieso - ist das ein Geheimnis?«
»Vielleicht lassen wir dieses Thema?«, fragte Wildschwein leise.
»Warum?«, wandte Sef ebenfalls sehr leise ein. »Warum sollen wir es lassen, Wildschwein? Du weißt, wie ich darüber denke. Du weißt, weshalb ich hier hocke, und bis zum Ende meines Lebens hier hocken werde. Und ich kenne deine Meinung. Also warum sollen wir nicht darüber reden? Wir sind einer Meinung, dass man es eigentlich an allen Straßenkreuzungen hinausschreien müsste. Aber wenn wir es dann tun könnten, erinnern wir uns plötzlich unserer Disziplin und lassen es bleiben. So spielen wir diesen Opportunisten, Liberalen und Aufklärern immer wieder in die Hände - all diesen verhinderten Vätern … Nun sitzt dieser Junge vor uns. Du siehst doch, wie er ist. Sollen etwa auch solche nicht Bescheid wissen?«
»Vielleicht dürfen gerade sie es nicht«, antwortete, noch immer sehr leise, der Einarmige.
Maxim, der kein Wort begriff, blickte von einem zum anderen. Sie schienen auf einmal nicht mehr sie selbst zu sein - wirkten gedrückt, niedergeschlagen. Nichts an Wildschwein erinnerte mehr an den stahlharten Kerl, an dem sich viele Staatsanwälte und Feldgerichte die Zähne ausgebissen hatten. Und auch das unverhohlen Vulgäre des Rotbarts war verschwunden; Sef wirkte stattdessen traurig, gekränkt, verzweifelt, gebrochen. Es machte den Eindruck, als wäre ihnen etwas eingefallen, das sie hätten vergessen sollen, und das sie sich auch ehrlich bemüht hatten zu vergessen.
»Ich erzähl’s ihm«, sagte Sef. Er bat weder um Rat noch um Erlaubnis. Er teilte seinen Entschluss einfach mit.
Wildschwein schwieg, und Sef fing an.
Was er erzählte, war ungeheuerlich - nicht nur an sich, sondern auch, weil es keinen Platz ließ für Zweifel. Sef sprach leise, ruhig und klug, in korrekter Sprache und sich höflich unterbrechend, wenn Wildschwein eine kurze Bemerkung machte. Und während Sef redete, bemühte sich Maxim, wenigstens eine Unzulänglichkeit in diesem Weltsystem zu finden, aber es gelang ihm nicht. Das neue Bild, das sich ihm bot, war zwar primitiv, aber wohlgeordnet und hoffnungslos logisch; es erklärte alle bislang bekannten Fakten und ließ keine Frage offen. Es war die größte und furchtbarste Entdeckung, die Maxim seit seiner Ankunft auf der bewohnten Insel machte …
Die Strahlen, die von den Türmen ausgingen, galten nicht den Entarteten, sondern beeinflussten das Nervensystem jedes menschlichen Wesens auf dem Planeten. Ihr physiologischer Wirkungsmechanismus war noch unbekannt, aber man wusste, wie sie sich auf den Bestrahlten auswirkten: Sein Gehirn verlor die Fähigkeit, die Realität kritisch zu analysieren. Der denkende Mensch verwandelte sich in einen gläubigen Menschen - so gläubig, dass es an Verzückung, Raserei und Fanatismus grenzte. Und von diesem Glauben ließ er sich auch dann nicht abbringen, wenn alle Tatsachen dagegensprachen. Befand sich jemand im Strahlenfeld, konnte man ihm mit den einfachsten Mitteln etwas suggerieren, und er nahm es als die reine und einzige Wahrheit an, war bereit, dafür zu leben, zu leiden und zu sterben.
Und dieses Strahlenfeld bestand immer - nicht wahrnehmbar, aber allgegenwärtig und alles durchdringend. Es wurde von dem gigantischen Netz der Türme, die über das ganze Land verteilt waren, aufrechterhalten. Wie ein riesiger Staubsauger entzog es Millionen von Menschen jegliche Zweifel darüber, was in den Zeitungen und Broschüren stand, was man im Radio oder im Fernsehen hörte, was die Lehrer an den Schulen und die Offiziere in den Kasernen bestätigten, was in Neonschrift als Losung quer über der Straße hing oder was in der Kirche von der Kanzel herab verkündet wurde. Die Unbekannten Väter lenkten den Willen und die Kräfte der Massen, wohin und wie es ihnen beliebte. Sie konnten die Massen dazu bringen, sie zu vergöttern, und brachten sie dazu. Sie konnten unbändigen Hass auf die äußeren und inneren Feinde schüren, und schürten ihn. Hatten sie den Wunsch, Millionen an die Kanonen und Maschinengewehre zu jagen, so würden Millionen begeistert in den Tod ziehen. Sie konnten Millionen von Menschen dazu bringen, einander in wessen Namen auch immer zu töten, oder, wenn ihnen der Sinn danach stand, eine Epidemie von Selbstmorden hervorrufen. Sie konnten alles tun.
Und zweimal täglich, um zehn Uhr morgens und um zehn Uhr abends, schaltete man diese riesigen Staubsauger auf volle Leistung. In dieser halben Stunde verloren die Menschen ganz und gar ihr Menschsein. Alle verborgenen Spannungen, die sich durch das Missverhältnis zwischen dem Suggerierten und der Realität in ihrem Unterbewusstsein aufgebaut hatten, brachen aus ihnen heraus - in einem Anfall von glühender Begeisterung und einer verzückten Ekstase von Unterwerfung und Sklaverei. Die starken Strahlenschläge unterdrückten die Reflexe und Instinkte der Menschen und ersetzten sie durch das ungeheuerliche Gefüge von Ehrfurcht und Pflichtgefühl gegenüber den Unbekannten Vätern. Der Bestrahlte verlor jegliche Fähigkeit, seine Vernunft zu gebrauchen, und handelte wie ein Roboter.
Gefährlich für die Unbekannten Väter waren nur die Menschen, die aufgrund physiologischer Besonderheiten gegen die Suggestionen immun waren. Man nannte sie »entartet«. Das ständige Feld zeigte bei ihnen keinerlei Wirkung; die Schübe riefen lediglich unerträgliche Schmerzen hervor. Es gab nicht viele Entartete - etwa ein Prozent der Bevölkerung -, aber sie waren die einzig Wachen in einem Reich von Schlafwandlern. Und nur sie waren in der Lage, die Situation nüchtern zu beurteilen, die Realität als solche wahrzunehmen, diese Welt zu beeinflussen, sie zu verändern und zu lenken. Und das Schändlichste war, dass die führende Elite, die man die Unbekannten Väter nannte, sich aus ebendiesem Kreis der Entarteten rekrutierte. Alle Unbekannten Väter waren »entartet« - aber längst nicht alle Entarteten waren Unbekannte Väter. Die, die nicht zu dieser Elite gehören konnten oder wollten, oder die nicht wussten, dass es eine solche gab - machthungrige, revolutionäre oder träge und resignierte Entartete -, erklärte man zu Feinden des militanten Staates. Und entsprechend wurde mit ihnen verfahren.
Maxim war so entsetzt und verzweifelt, als hätte er plötzlich entdeckt, dass seine bewohnte Insel von Marionetten anstelle von Menschen bevölkert war. Es gab keine Hoffnung. Sefs Plan, ein größeres Gebiet zu erobern, war ein Abenteuer. Sie hatten eine immense Maschinerie vor sich; sie war einerseits zu simpel, um sich weiterzuentwickeln, andererseits aber zu groß, um sie mit minimalen Mitteln zerstören zu können. Es gab in diesem Staat keine Macht, die in der Lage gewesen wäre, ein Volk zu befreien, das gar nicht ahnte, dass es unfrei - oder, wie Wildschwein es ausdrückte, aus dem Lauf der Geschichte herausgefallen war. Und die Maschinerie war in ihrem Kern unverletzbar, resistent gegen alle kleinen Störungen. Wurden Teile von ihr vernichtet, regenerierte sie sich sofort. Auf Reize reagierte sie eindeutig und augenblicklich, ohne sich um das Schicksal der einzelnen Elemente zu scheren. Hoffen ließ nur der Gedanke, dass das System ein Steuerpult besitzen musste, eine Zentrale, ein Gehirn. Theoretisch konnte man es zerstören, dann geriete es aus dem Gleichgewicht und es käme der Moment, in dem man versuchen könnte, diese Welt auf einen anderen Weg und auf das Gleis der Geschichte zurückzulenken. Doch der Standort der Zentrale war streng geheim und - wer sollte sie zerstören? Das war etwas anderes als der Angriff auf einen Turm. Eine solche Operation erforderte immense Mittel und eine ganze Armee strahlenunempfindlicher Mitstreiter. Oder einfache, leicht zu beschaffende Schutzmittel. Doch nichts dergleichen war vorhanden. Nicht einmal in Aussicht. Es gab zwar einige Hunderttausend Entartete, aber sie waren zersplittert, getrennt, verfolgt. Viele von ihnen waren zudem sogenannte Legale. Und selbst wenn es gelänge, die Entarteten zu vereinen und zu bewaffnen - die Unbekannten Väter zerschlügen den kleinen Trupp unverzüglich mit ihren mobilen Emittern.
Sef hatte längst aufgehört zu reden. Doch Maxim saß noch immer mit gesenktem Kopf da und bohrte mit einem Stock in der trockenen schwarzen Erde. Dann räusperte sich Sef und sagte verlegen: »Ja, Kumpel. So sieht’s aus.«
Anscheinend bereute er schon, dass er davon angefangen hatte.
»Worauf hofft ihr?«, fragte Maxim.
Sef und Wildschwein schwiegen. Maxim hob den Kopf und sah sie an, dann murmelte er: »Entschuldigt, ich … Das ist alles so … entschuldigt.«
»Wir müssen kämpfen.« Wildschweins Stimme klang ruhig. »Wir kämpfen, und wir werden kämpfen. Sef hat Ihnen eine der Strategien des Stabs genannt. Es gibt noch andere, ebenso anfechtbare, und kein einziges Mal in der Praxis erprobt. Verstehen Sie, bei uns ist alles erst im Werden. Eine in sich schlüssige Theorie bekommt man nicht in zwanzig Jahren hin, so aus dem Nichts.«
»Diese Strahlung«, begann Maxim langsam, »wirkt sie gleichmäßig auf alle Völker Ihrer Welt?«
Wildschwein und Sef sahen einander an.
»Ich verstehe nicht«, sagte Wildschwein.
»Ich meine Folgendes: Gibt es ein Volk, in dem wenigstens ein paar Tausend Menschen wie ich sind?«
»Kaum«, antwortete Sef. »Höchstens bei diesen … bei den Mutanten. Massaraksch, nimm’s mir nicht übel, Mak, doch du bist ja offensichtlich auch ein Mutant. Eine geglückte Mutation, wie sie pro Million einmal passiert.«
»Ich nehm’s nicht übel«, sagte Maxim. »Die Mutanten leben also dort, hinter den Wäldern?«
»Ja.« Wildschwein blickte ihn unverwandt an.
»Was ist da eigentlich?«
»Der Wald, und dann Wüste.«
»Und Mutanten?«
»Ja. Halbe Tiere. Verrückte Wilde. Aber bitte, Mak, hören Sie auf damit.«
»Haben Sie schon einmal welche gesehen?«
»Nur tote«, sagte Wildschwein. »Zuweilen fängt man sie im Wald und dann erhängt man sie vor den Baracken, um die Stimmung zu heben.«
»Weshalb?«
»Weil sie so einen schönen Hals haben«, raunzte Sef. »Dummkopf! Das sind Tiere! Unheilbar, und gefährlicher als jedes Tier. Ich habe sie gesehen, nicht mal im Traum stellst du dir so etwas vor.«
»Und warum zieht man die Türme bis dorthin?«, fragte Maxim. »Will man sie zähmen?«
»Hören Sie auf«, wiederholte der Einarmige. »Es ist hoffnungslos. Sie hassen uns. Aber machen Sie, was Sie wollen. Wir halten keinen.«
Sie schwiegen. Dann hörten sie aus der Ferne, hinter ihrem Rücken, ein bekanntes rasselndes Getöse. Sef setzte sich auf.
»Ein Panzer«, sagte er nachdenklich. »Erledigen wir ihn? Weit ist es nicht, im achtzehnten Quadrat. Nein, verschieben wir’s auf morgen.«
Maxim traf seine Entscheidung schnell. »Ich nehme ihn mir vor. Geht, ich hole euch ein.«
Sef sah ihn zweifelnd an. »Wirst du das schaffen? Womöglich fliegst du in die Luft.«
»Mak«, warnte Wildschwein. »Überlegen Sie sich das.«
Sef musterte Maxim, und dann grinste er. »Also deshalb brauchst du einen Panzer. Der Junge ist ein Fuchs! Nein, mich legst du nicht aufs Kreuz. Gut, hau ab, das Abendessen heb ich dir auf. Wenn du’s dir anders überlegst, komm. Und denk dran, viele Selbstfahrlafetten sind vermint. Sei vorsichtig, wenn du darin herumkramst. Gehen wir, Wildschwein. Er holt uns ein.«
Wildschwein wollte noch etwas sagen, aber Maxim war schon aufgestanden und lief auf die Schneise zu. Er mochte nicht mehr reden. Er beeilte sich und blickte nicht zurück. Den Granatwerfer hielt er unter dem Arm. Jetzt, da er sich dazu entschlossen hatte, war ihm leichter. Und entscheidend für sein Vorhaben waren sein Können und seine Erfahrung.

14

Gegen Morgen steuerte Maxim den Panzer auf die Chaussee und wendete ihn mit dem Bug nach Süden. Er hätte jetzt losfahren können, kletterte aber noch einmal aus der Kabine hinaus, sprang auf den zermalmten Beton und setzte sich an den Rand des Straßengrabens. Seine beschmierten Hände säuberte er im Gras. Der rostige Koloss tuckerte friedlich neben ihm; die scharfe Raketenspitze war in den trüben Himmel gerichtet.
Maxim hatte die Nacht durchgearbeitet, doch er spürte keine Müdigkeit. Das Fahrzeug war solide gebaut und befand sich in gutem Zustand. Es war nicht vermint und besaß sogar eine Handsteuerung. Sollte sich tatsächlich jemand mit so einem Gefährt in die Luft gesprengt haben, konnten nur Reaktorverschleiß oder technischer Unverstand die Ursache gewesen sein. Zwar kam der Reaktor nur auf ein Fünftel der normalen Leistung, und das Fahrwerk war schon ziemlich abgenutzt, aber Maxim war zufrieden - gestern hatte er nicht einmal darauf zu hoffen gewagt.
Es war gegen sechs Uhr morgens und bereits hell. Um diese Zeit ließ man die Sträflinge zu karierten Kolonnen antreten, hastig frühstücken und trieb sie dann hinaus zur Arbeit. Maxims Abwesenheit war mittlerweile gewiss bemerkt worden. Gut möglich, dass er jetzt als flüchtig galt und schon verurteilt war. Vielleicht hatte Sef auch eine Ausrede gefunden - Mak hat sich den Fuß verstaucht, ist verwundet oder sonst etwas.
Im Wald wurde es still. Die »Hunde«, deren gegenseitiges Geschrei die ganze Nacht über zu hören gewesen war, hatten sich beruhigt. Sicher waren sie in das unterirdische Gewölbe gekrochen und rieben sich kichernd die Pfoten bei dem Gedanken, wie sie gestern die Zweibeiner erschreckt hatten. Mit diesen »Hunden« würde man sich gründlich befassen müssen; vorerst allerdings war anderes wichtiger. Ob sie die Strahlung wahrnahmen? Merkwürdige Wesen. Als er nachts am Triebwerk herumbastelte, saßen zwei von ihnen geduldig hinter den Sträuchern und beobachteten ihn heimlich. Dann kam ein dritter hinzu und kletterte gar auf einen Baum, um besser sehen zu können. Maxim hatte sich aus der Luke gelehnt und ihm zugewunken, und um ihn zu necken, wiederholte er, so gut er konnte, das viersilbige Wort, das der Chor skandiert hatte. Der auf dem Baum wurde furchtbar wütend, sein Fell sträubte sich, die Augen funkelten, und er stieß kehlige Beleidigungen aus. Die beiden hinter den Sträuchern schockierte das offenbar so sehr, dass sie augenblicklich verschwanden und nicht mehr zurückkehrten. Der »Rohrspatz« aber konnte sich nicht beruhigen und kam noch lange nicht herunter. Er fauchte und spuckte, gab sich den Anschein, als wollte er angreifen, und bleckte seine weit auseinanderstehenden weißen Zähne. Erst gegen Morgen trollte er sich - er hatte wohl begriffen, dass Maxim nicht beabsichtigte, sich ehrlich mit ihm zu schlagen. Vernunftbegabt im menschlichen Sinne waren die »Hunde« wohl nicht, immerhin aber recht drollig und bestimmt eine organisierte Macht, da sie eine ganze Garnison mit dem Herzogprinzen an der Spitze aus der Festung verdrängt hatten. Wie wenig Informationen man hier doch hatte, immer nur Gerüchte und Legenden. Wie gern hätte sich Maxim jetzt gewaschen; er war voller Rost, zudem leckte der Reaktor, und die Strahlung brannte auf seiner Haut. Sollten Sef und der Einarmige mitfahren, müsste er ihn verkleiden, am besten mit drei oder vier Platten aus der Panzerung der Bordwände.
Tief im Wald knallte es und hallte als Echo wider: Die Pioniertrupps der Todeskandidaten begannen ihren Arbeitstag. Wie sinnlos das war. Noch ein Knall, ein Maschinengewehr knatterte und verstummte. Jetzt wurde es ganz hell, ein klarer Tag kündigte sich an, mit einem wolkenlosen, wie Milch schimmernden, weißen Himmel. Der Beton auf der Chaussee glänzte vom Tau; um den Panzer herum aber war alles trocken, er verstrahlte ungesunde Wärme.
Aus den Sträuchern, die bis an die Straße herangewachsen waren, traten auf einmal Sef und Wildschwein heraus. Als sie den Panzer sahen, gingen sie schneller. Maxim stand auf und lief ihnen entgegen.
»Du lebst!«, stellte Sef anstelle eines Grußes fest. »Ich hab’s mir gedacht. Deinen Brei, Bruder, hab ich, äh … Es war nichts da, worin ich ihn hätte tragen können. Aber dein Brot ist hier, hau rein.«
»Danke«, sagte Maxim und nahm den Brotkanten.
Wildschwein stand auf den Minensucher gestützt und blickte ihn an.
»Schluck runter und hau ab!«, fuhr Sef fort. »Da ist einer gekommen, um dich zu holen, Bruder. Ich glaube, sie wollen dich wieder verhören.«
»Wer?« Maxim hörte auf zu kauen.
»Er hat sich uns nicht vorgestellt«, knurrte Sef. »So ein Schwätzer - Orden vom Kopf bis zu den Zehen. Er schrie rum, dass man es im ganzen Lager hören konnte, wollte wissen, warum du nicht da bist, hätte mich fast abgeknallt. Ich aber hab nur große Augen gemacht und gemeldet: So und so, ist im Minenfeld den Heldentod gestorben.«
Er ging um den Panzer herum, murmelte: »Scheußliches Ding«, setzte sich an den Straßenrand und drehte eine Zigarette.
»Eigenartig.« Maxim biss nachdenklich von seinem Brotkanten ab. »Aber warum? Zur Nachuntersuchung?«
»Vielleicht ist es Fank?«, fragte Wildschwein leise.
»Fank? Mittelgroß, das Gesicht quadratisch, schuppige Haut?«
»Von wegen!«, unterbrach ihn Sef. »Lang wie eine Bohnenstange, saudumm und voller Pickel - Garde eben.«
»Dann ist es nicht Fank«, sagte Maxim.
»Vielleicht hat Fank ihn geschickt?«, fragte Wildschwein.
Maxim zuckte mit den Schultern und schob die letzte Rinde in den Mund. »Keine Ahnung. Früher dachte ich, Fank stünde mit dem Untergrund in Verbindung, aber jetzt weiß ich nicht mehr, was von ihm zu halten ist.«
»Dann sollten Sie wirklich besser abfahren«, riet Wildschwein, »obwohl ich, um ehrlich zu sein, nicht weiß, was schlimmer ist - die Mutanten oder diese Gardecharge.«
»Klar, mag er abzwitschern«, meldete sich Sef. »Dein Kurier wird er ohnehin nicht, und so liefert er uns wenigstens Informationen über den Süden - wenn sie ihm dort nicht die Haut abziehen.«
»Und Sie kommen nicht mit.« Maxims Worte klangen wie eine Feststellung.
Wildschwein schüttelte den Kopf. »Nein. Viel Glück.«
»Schmeiß die Rakete weg«, sagte Sef. »Sonst jagst du dich noch in die Luft. Und Folgendes: Du hast zwei Sperrposten vor dir. An denen kommst du leicht vorbei, darfst nur nicht anhalten. Sie sind nach Süden hin ausgerichtet. Dann allerdings wird es schwieriger: grauenvolle Strahlung, nichts zu fressen, Mutanten. Und dann nur noch Sand, kein Wasser.«
»Danke«, erwiderte Maxim. »Auf Wiedersehn.«
Er sprang auf die Raupenkette, öffnete die Luke und kroch in das aufgeheizte Halbdunkel. Seine Hände lagen schon auf den Hebeln, als ihm einfiel, dass noch eine Frage offen war. Er beugte sich hinaus.
»Warum verheimlicht man eigentlich vor den einfachen Mitgliedern des Untergrunds den wahren Zweck der Türme?«
Während Sef das Gesicht verzog und ausspuckte, antwortete Wildschwein niedergeschlagen: »Weil die Mehrheit im Stab darauf hofft, irgendwann einmal selbst an die Macht zu kommen und die Türme in der alten Weise weiterzunutzen, nur eben für andere Ziele.«
»Und was für ›andere Ziele‹?«, fragte Maxim finster. Einige Sekunden blickten sie einander in die Augen. Sef hatte sich abgewandt und leckte das Papier für seine nächste Zigarette. Da sagte Maxim: »Ich wünsche euch, dass ihr überlebt.« Er wandte sich wieder den Hebeln zu, und der Panzer dröhnte, rasselte und rollte auf knirschenden Ketten vorwärts.
Es machte wirklich keinen Spaß, ihn zu fahren. Einen Sitz gab es nicht, und der Haufen aus Zweigen und Gras, den Maxim in der Nacht aufgeschichtet hatte, rutschte schnell auseinander. Die Sicht war schlecht, schneller fahren konnte er auch nicht - schon bei dreißig Stundenkilometern stotterte das Triebwerk, und das Schmieröl brannte. Doch der atomare Schlitten war noch immer außerordentlich geländegängig. Ob Weg oder querfeldein - dem Panzer war es gleich, Sträucher und Rillen bemerkte er überhaupt nicht, umgestürzte Bäume quetschte er zu Krümeln und junge, durch die Betonritzen wachsende Bäumchen überrollte er mit Leichtigkeit. Ebenso wälzte er sich durch tiefe, mit schwarzem Wasser gefüllte Gruben und ließ gewaltige Fontänen hochspritzen. Auch die Richtung hielt er wunderbar. Es war allerdings schwer, sie zu ändern.
In der Kabine war es schmutzig und stickig, und die Chaussee verlief ziemlich gerade, so dass Maxim schließlich das Gas auf Handbetrieb feststellte, hinauskletterte und sich an den Lukenrand unter dem Tragrost der Rakete setzte. Der Panzer drängte vorwärts, als sei dies sein ureigener, von einem alten Programm vorgegebener Kurs. Er hatte etwas Schlichtes, Genügsames an sich, und Maxim, der Fahrzeuge mochte, klopfte ihm anerkennend auf die Panzerung.
So ließ es sich leben. Rechts und links glitt der Wald vorüber, das Triebwerk brummte gleichmäßig, die Strahlung spürte man hier oben kaum, und die recht saubere Luft kühlte angenehm die erhitzte Haut. Maxim sah zu der schwankenden Rakete hoch. Er sollte sie wirklich abwerfen. Es war unnötiger Ballast. Gefährlich war sie zwar nicht, sie würde nicht mehr explodieren, das hatte er in der Nacht überprüft. Aber sie wog sicher an die zehn Tonnen - warum also sollte er sie mitschleppen? Während sich der Panzer weiterwälzte, ging Maxim auf der Tragfläche herum und suchte den Befestigungsmechanismus. Als er ihn fand, stellte er fest, dass er völlig verrostet war, und hatte große Mühe, ihn in Gang zu bringen. Unterdessen rollte der Panzer an zwei Kurven in den Wald hinein und riss, wütend aufheulend, die Bäume nieder, so dass Maxim an die Hebel rannte, um den Koloss wieder auf Kurs zu bringen. Zu guter Letzt funktionierte der Mechanismus. Die Rakete senkte sich, krachte auf den Beton und rollte schwerfällig in den Straßengraben. Der Panzer machte einen Satz und fuhr nun sehr viel leichter. Und in dem Moment sah Maxim den ersten Sicherungsposten.
Am Waldrand standen zwei große Zelte und ein Kastenwagen, eine Gulaschkanone dampfte. Zwei Gardisten mit freiem Oberkörper wuschen sich; sie begossen einander mit Wasser aus der Feldflasche. Mitten auf der Fahrbahn stand eine Wache in schwarzem Umhang und blickte Maxim entgegen. Rechts neben der Chaussee standen zwei Pfähle, die durch einen Querbalken verbunden waren, und von diesem Querbalken hing etwas herab, etwas Weißes, Langes, das fast die Erde berührte. Maxim glitt in die Kabine hinunter, damit man nicht seinen karierten Kittel sehen konnte, und schob nur den Kopf aus der Luke. Der Posten musterte den Panzer verdutzt und ging zur Seite, sah sich dann hilflos nach dem Kastenwagen um. Die beiden Halbnackten hörten auf sich zu waschen und starrten ebenfalls herüber. Der Lärm der Raupenketten lockte noch mehr Männer aus den Zelten und dem Wagen; einer von ihnen trug eine Uniform mit Offiziersschnüren. Sie alle schienen sehr erstaunt, wenn auch nicht beunruhigt. Der Offizier deutete auf den Panzer, sagte etwas, und alle lachten. Als Maxim auf gleicher Höhe wie der Posten war, schrie der ihm etwas zu, unhörbar, weil das Triebwerk so dröhnte, und Maxim rief zur Antwort: »Alles in Ordnung, bleib, wo du bist!« Der Posten verstand auch nichts, schien aber zufrieden. Nachdem er den Panzer vorbeigelassen hatte, stellte er sich wieder mitten auf dem Weg in Positur.
Es war gut gelaufen.
Maxim wandte den Kopf und sah jetzt ganz aus der Nähe, was von dem Querbalken herabhing. Eine Sekunde starrte er es an, dann setzte er sich, kniff die Augen zusammen und griff, ohne jede Notwendigkeit, nach den Hebeln. Ich hätte nicht hinschauen sollen, dachte er. Der Teufel hat mich geritten, dass ich mich umdrehen musste. So wäre ich gefahren und gefahren und hätte nichts davon gewusst. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Nein, überlegte er dann, ich muss hinsehen, muss mich daran gewöhnen, es kennenlernen. Sich abzuwenden ist sinnlos; ich habe überhaupt nicht das Recht mich abzuwenden, da ich mir diese Sache nun einmal vorgenommen habe. Bestimmt war es ein Mutant. Der Tod kann Menschen nicht dermaßen verunstalten. Das Leben verunstaltet sie. Es wird auch mich verderben. Man kann dem nicht entgehen, Widerstand hat keinen Zweck. Ich muss mich dran gewöhnen. Vielleicht liegen Hunderte Kilometer Weg vor mir, die von Galgen gesäumt sind.
Als er sich das nächste Mal aus der Luke lehnte und zurückblickte, war der Kontrollposten nicht mehr zu sehen, auch der einsame Galgen war verschwunden. Schön wäre es, jetzt nach Hause zu fahren, träumte Maxim. Immer weiter zu fahren und zu fahren - und dann: zu Hause, Mama, Vater, die Jungs. Ankommen, aufwachen, sich waschen und ihnen dann den Albtraum von der bewohnten Insel erzählen. Er versuchte, sich die Erde vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Da war nur der seltsame Gedanke, dass es dort saubere, heitere Städte gab und viele gute und kluge Menschen, die einander alle vertrauten, kein Rost, kein Gestank, weder Strahlung noch schwarze Uniformen, keine rohen, viehischen Gesichter, unheimliche Legenden, vermischt mit einer noch unheimlicheren Wahrheit. Nichts von alledem. Und plötzlich dachte er, dass all dies ja auch auf der Erde hätte geschehen können, und dann wäre er jetzt so wie alle anderen ringsum - unwissend, betrogen, unterwürfig und ergeben. Du warst doch so erpicht auf eine richtige Aufgabe, dachte er. Bitte sehr, da hast du sie. Sie ist schwer und schmutzig, aber du wirst anderswo kaum eine finden, die so wichtig ist wie diese.
Vor ihm auf der Chaussee erschien ein Gefährt, das langsam in dieselbe Richtung kroch - nach Süden. Es war ein kleiner Raupenschlepper, der einen Hänger mit metallenem Gitterbalken zog. In der offenen Kabine saß ein Mann im Sträflingskittel und rauchte Pfeife; er warf einen gleichmütigen Blick auf den Panzer und Maxim und wandte sich ab. Was ist das für ein Trägerbalken?, grübelte Maxim. Diese Konturen … Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass es sich um ein Bauteil für einen Turm handelte. Es jetzt in den Straßengraben schieben, dachte er, und zweimal drüberrollen. Er starrte immer noch hin. Sein Gesichtsausdruck gefiel dem Sträfling anscheinend gar nicht, denn der bremste jäh und stellte einen Fuß auf die Raupenkette, bereit, nötigenfalls abzuspringen. Maxim drehte sich nach vorn.
Etwa zehn Minuten später entdeckte er den zweiten Kontrollpunkt. Es war der äußerste, südlichste Posten der karierten Sklaven, die ja vielleicht gar keine Sklaven waren, sondern die freiesten Menschen im Land. Maxim sah zwei mobile Häuschen mit blitzenden Zinkdächern und eine flache, künstliche Anhöhe, auf der ein niedriger Bunker mit schmalen, dunkel erscheinenden Schießscharten stand. Oberhalb des Bunkers waren schon die unteren Segmente eines Turms zu erkennen, und ringsum lagen Eisenträger herum, standen Kranwagen und Traktoren. Den Wald hatte man rechts und links der Chaussee auf einige Hundert Meter gerodet, an einer Stelle dieses offenen Geländes hantierten Menschen in karierter Kleidung. Hinter den Häuschen sah Maxim eine langgezogene Baracke, wie es sie auch im Lager gegeben hatte. Davor trockneten an Wäscheleinen graue Lumpen. Etwas weiter entfernt erhob sich neben der Chaussee ein hölzerner Wachtturm. Auf seiner Plattform patrouillierte ein Posten in grauer Armeeuniform und einem tief ins Gesicht gezogenen Helm. Dort stand auch, auf einem Dreifuß, ein Maschinengewehr. Unter dem Turm lungerten ein paar Soldaten; sie rauchten und schienen fast umzukommen vor Mücken und Langeweile.
Die passiere ich auch ohne Mühe, dachte Maxim. Ist ja am Ende der Welt, da pfeift man auf alles. Doch er irrte. Die Soldaten verloren ihr Interesse an den Mücken und musterten den Panzer. Ein hagerer Soldat, der Maxim an irgendjemanden erinnerte, rückte seinen Helm zurecht, trat mitten auf die Fahrbahn und hob den Arm. Das kannst du dir sparen, fuhr es Maxim durch den Kopf, das nützt dir nichts. Ich will hier durch, und ich komme hier durch. Er glitt hinab zu den Hebeln, machte es sich, so gut er konnte, bequem und stellte den Fuß auf das Gaspedal. Der Soldat auf der Chaussee stand noch immer mit erhobenem Arm da. Gleich gebe ich Gas, beschloss Maxim, lasse den Motor kräftig aufheulen, und dann wird er schon zur Seite springen. Falls er aber nicht springt - er verspürte ungewohnte Härte -, was soll’s: Krieg ist Krieg.
Da aber erkannte er plötzlich den Soldaten. Es war Gai. Abgemagert, hohlwangig, unrasiert, in einem sackigen Armeeoverall.
»Gai«, murmelte Maxim. »Menschenskind. Was mache ich jetzt?«
Er nahm den Fuß vom Gaspedal und kuppelte aus; der Panzer rollte langsamer, blieb stehen. Gai senkte den Arm und kam langsam heran. Vor Freude begann Maxim zu lachen. Wie es sich fügte! Er trat die Kupplung und war bereit.
»He!«, schrie Gai im Befehlston und schlug mit dem Kolben gegen die Panzerung. »Wer da?«
Maxim schwieg und schmunzelte nur in sich hinein.
»Ist da jemand?« Gais Stimme klang nun unsicher.
Gleich darauf polterten seine beschlagenen Absätze über die Panzerung, er öffnete die Luke und zwängte sich in die Kabine. Als er Maxim erblickte, sperrte er den Mund auf, aber Maxim bekam ihn am Overall zu fassen, zog ihn zu sich herunter, warf ihn auf die Zweige zu seinen Füßen und hielt ihn nieder. Der Panzer heulte fürchterlich los und stürzte vorwärts. Ich ruiniere das Triebwerk, dachte Maxim. Gai zuckte und wand sich. Der Helm war ihm ins Gesicht gerutscht, er sah nichts, strampelte aufs Geratewohl und versuchte, die Maschinenpistole unter sich hervorzuzerren. Dann auf einmal ein Dröhnen und Prasseln; anscheinend schoss man ihnen mit dem Maschinengewehr und MPs hinterher. Das war nicht gefährlich, aber unangenehm, und Maxim wartete ungeduldig darauf, dass die Wand des Waldes endlich näher rückte, immer näher … näher …
Die ersten Sträucher. Etwas Kariertes schreckte vom Weg zurück. Dann Bäume ringsum, und auf die Panzerung hagelten keine Kugeln mehr. Die Chaussee vor ihnen war auf viele Hundert Kilometer frei.
Gai gelang es schließlich, seine Waffe hervorzuziehen, doch im selben Moment zog Maxim ihm den Helm vom Kopf. Er sah Gais schweißnasses Gesicht und die gefletschten Zähne; aber allmählich wichen Angst, Wut und Mordlust von seinem Gesicht. Als sich nun zuerst Verwirrung, dann Erstaunen und zuletzt Freude darin widerspiegelte, begann Maxim zu lachen. Gai bewegte die Lippen, anscheinend murmelte er: »Massaraksch!« Maxim ließ die Hebel los und umarmte den Freund, schweißnass, wie er war, dünn und stopplig, und drückte ihn im Überschwang der Gefühle fest an sich. Dann ließ er ihn los, umklammerte seine Schultern und sagte: »Gai, Menschenskind, wie ich mich freue!«, doch er verstand kaum seine eigenen Worte. Er blickte durch den Sehschlitz: Die Chaussee war immer noch gerade; daher stellte er das Handgas wieder fest und kroch nach oben. Gai zerrte er mit sich.
»Massaraksch!«, knurrte Gai. Er war ziemlich mitgenommen. »Schon wieder du!«
»Freust du dich gar nicht? Ich freue mich wahnsinnig!« Maxim begriff erst jetzt, wie wenig Lust er gehabt hatte, allein in den Süden zu fahren.
»Was hat das zu bedeuten?«, schimpfte Gai. Seine Freude war längst verflogen, und er sah sich beunruhigt nach allen Seiten um. »Wohin? Weshalb?!«
»In den Süden«, erwiderte Maxim. »Ich habe genug von deinem gastfreundlichen Vaterland!«
»Flucht?«
»Ja.«
»Du bist verrückt! Man hat dir das Leben geschenkt!«
»Wer hat mir das Leben geschenkt? Das ist mein Leben! Es gehört mir!«
Sie mussten schreien, um einander zu hören, und unwillkürlich ergab sich anstelle eines freundschaftlichen Gesprächs ein Streit. Maxim sprang in die Kabine hinunter und verringerte die Drehzahl.
Der Panzer fuhr jetzt langsamer, aber das Heulen und Rasseln war dafür weniger laut. Als Maxim wieder nach oben kletterte, fand er Gai finster und entschlossen vor.
»Ich bin verpflichtet, dich zurückzubringen«, erklärte er.
»Ich hingegen habe die Pflicht, dich von hier fortzubringen«, sagte Maxim.
»Ich verstehe nicht, was du willst. Du bist verrückt! Von hier kann man nicht fliehen, du musst zurück. Massaraksch, zurück kannst du auch nicht, sie erschießen dich. Im Süden aber fressen sie uns auf. Versink in der Erde mit deinem Irrsinn! Du hängst mir an wie Falschgeld.«
»Warte, schrei nicht so«, bat Maxim. »Lass es mich dir erklären.«
»Ich will nichts hören. Halt den Panzer an!«
»Nun warte doch«, redete Maxim auf ihn ein. »Ich erzähl’s dir.«
Doch Gai wünschte nicht, dass man ihm etwas erzählte, Gai forderte, dieses ungesetzlich entwendete Fahrzeug unverzüglich zu stoppen und in die Zone zurückzuführen. Zweimal, dreimal, ein viertes Mal nannte er Maxim einen Holzkopf. Sein »Massaraksch« übertönte den Motorenlärm. Die Lage, Massaraksch, sei grauenhaft. Sie sei ausweglos, Massaraksch. Vor ihnen, Massaraksch, liege der sichere Tod, hinter ihnen auch, Massaraksch. Maxim sei immer ein hirnverbrannter Irrer gewesen, Massaraksch, doch dieser neue Unfug, Massaraksch, dürfte wohl sein letzter sein, Massaraksch und Massaraksch.
Maxim unterbrach ihn nicht. Ihm war eingefallen, dass das Strahlenfeld des letzten Turms hier irgendwo enden musste, sie es wahrscheinlich schon hinter sich gelassen hatten. Der letzte Sicherungsposten lag bestimmt am Rand des äußersten Feldes. Sollte sich Gai ruhig aussprechen, Worte zählten nicht auf der bewohnten Insel. Schimpfe nur, schimpf, ich hol dich raus, hast da nichts mehr zu suchen. Mit einem muss man ja anfangen, und du wirst der Erste sein. Ich will nicht, dass du eine Marionette bleibst, selbst wenn dir das gefällt.
Nachdem Gai ihn ausreichend beschimpft hatte, sprang er in die Kabine und hantierte dort herum. Offenbar hatte er vor, das Fahrzeug zum Stehen zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Dann kam er wieder zum Vorschein, nunmehr im Helm, schweigsam und sehr geschäftig. Er wollte abspringen und zu Fuß zurückgehen. Er war furchtbar zornig. Doch nun hielt Maxim ihn an den Hosen fest, zog ihn neben sich und begann, ihm ihre Situation zu erläutern.
Er redete mehr als eine Stunde auf ihn ein, unterbrach sich nur manchmal, damit er den Panzer in den Kurven neu ausrichten konnte. Maxim redete, und Gai hörte zu. Anfangs hatte er noch versucht, sich davonzustehlen, die Erzählung zu unterbrechen oder sich die Ohren zuzuhalten, aber Maxim hatte geredet und geredet, wieder und wieder dasselbe gesagt, erläutert, kommentiert. Und jetzt endlich hörte Gai ihm zu, wurde nachdenklich, ließ den Kopf hängen, fuhr sich mit beiden Händen unter den Helm und wühlte in seinen Haaren. Dann aber ging er plötzlich in die Offensive und fragte Maxim, woher er das alles wisse, wer es beweisen könne, und wie man so etwas überhaupt glauben könne, wo es ganz offensichtlich frei erfunden sei. Aber Maxim schlug ihn mit Fakten, und als diese nicht reichten, schwor er, die Wahrheit zu sagen, und als auch das nicht half, bezeichnete er Gai als Ignoranten, als Marionette und Roboter. Der Panzer indes fuhr immer weiter nach Süden, drang tiefer und tiefer in das Land der Mutanten.
»Na schön«, schloss Maxim wütend. »Gleich überprüfen wir das. Nach meiner Rechnung haben wir längst das Strahlenfeld verlassen, und es ist jetzt etwa zehn vor zehn. Was tut ihr alle um zehn?«
»Punkt zehn Uhr nehmen wir Aufstellung«, sagte Gai finster.
»Genau. Ihr stellt euch in Reih und Glied und geratet vor Begeisterung geradezu außer euch. Du entsinnst dich?«
»Diese Begeisterung tragen wir im Herzen«, erklärte Gai.
»Nein, sie trichtern sie euch in eure leeren Schädel ein«, widersprach Maxim. »Aber lassen wir das, wir werden sehen, was für Begeisterung du im Herzen trägst. Wie spät ist es?«
»Sieben vor«, antwortete Gai, noch immer finster.
Einige Zeit fuhren sie schweigend.
»Na?«, meldete sich Maxim.
Gai blickte auf seine Uhr und stimmte unsicher an: »Gardisten, voran, alle Feinde bezwungen …«
Maxim musterte ihn belustigt. Gai kam aus dem Takt und verwechselte die Wörter.
»Hör auf, mich anzustarren«, knurrte er ärgerlich. »Das stört. Und überhaupt, wie soll man singen - außerhalb des Glieds?«
»Keine Ausflüchte!«, sagte Maxim. »Du hast außerhalb des Glieds mitunter genauso gegrölt wie im Glied. Angst konnte man kriegen vor dir und Onkel Kaan. Einer schreit ›Gardisten, voran …‹, der andere leiert ›Ruhm den Vätern …‹. Und das vor Rada. Na, wo bleibt deine Begeisterung, wo deine Liebe zu den Vätern?«
»Untersteh dich!«, brauste Gai auf. »Wage nicht, so über die Unbekannten Väter zu reden. Selbst wenn deine Geschichten wahr sein sollten, können sie nur bedeuten, dass man die Väter hintergangen hat.«
»Wer hat sie denn hintergangen?«
»Na … Da könnten viele …«
»Also sind die Väter gar nicht allmächtig? Sie wissen gar nicht alles?«
»Über dieses Thema will ich nicht sprechen«, erklärte Gai.
Dann ließ er den Kopf hängen und krümmte sich zusammen. Sein Gesicht war noch mehr eingefallen, der Blick getrübt, seine Unterlippe hing herab. Maxim erinnerte sich plötzlich an Zwiebel-Fischta und den Schönen Ketri aus dem Gefangenenwaggon - sie waren rauschgiftsüchtig gewesen, unglückselige Menschen, gewöhnt an die stärksten Drogen. Ohne ihren »Stoff« litten sie furchtbar, konnten weder essen noch trinken und hockten tagelang genau so herum, wie jetzt Gai: mit glanzlosen Augen und hängender Lippe.
»Tut dir etwas weh?«, fragte er.
»Nein.« Gais Stimme klang matt.
»Weshalb guckst du dann so düster?«
»Bloß so, irgendwie …« Gai lockerte seinen Kragen und drehte den Hals. »Mir ist schlecht. Ich lege mich hin, in Ordnung?«
Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand er in der Luke und warf sich auf die Zweige, die Beine angezogen. So ist das also, dachte Maxim. Gar nicht so einfach, wie ich geglaubt habe. Er wurde unruhig. Gai hat seinen Strahlenstoß nicht bekommen, das Feld haben wir vor fast zwei Stunden verlassen. Er hat sein ganzes Leben darin verbracht - womöglich schadet es ihm, darauf zu verzichten? Wenn er nun krank wird? Das fehlte noch, so ein Mist. Er blickte in Gais bleiches Gesicht, und seine Angst wuchs. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, sprang in die Kabine hinunter, stoppte das Triebwerk, schleppte Gai nach draußen und legte ihn ins Gras neben der Chaussee.
Gai schlief. Er brabbelte im Traum und zuckte heftig. Dann übermannte ihn Schüttelfrost, er krümmte sich, kroch ganz in sich zusammen und steckte sich die Fäuste in die Achselhöhlen, als sollte ihm davon warm werden. Maxim bettete Gais Kopf auf seine Knie, drückte die Finger gegen seine Schläfen und versuchte, sich zu sammeln. Er hatte lange keine Psychomassage gemacht, doch er wusste, dass es darauf ankam, völlig abzuschalten, sich zu konzentrieren und das Nervensystem des Kranken in das eigene, gesunde einzubeziehen. So saß er zehn oder fünfzehn Minuten. Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass es Gai besser ging: Sein Gesicht war leicht gerötet, er atmete gleichmäßig und fror nicht mehr. Maxim bereitete ihm ein Kissen aus Gras, blieb noch eine Weile neben ihm sitzen und verjagte die Mücken. Doch dann fiel ihm ein, dass sie noch weit zu fahren hatten und der Reaktor undicht war. Für Gai stellte das eine Gefahr dar, also musste er etwas dagegen unternehmen. Er stand auf und ging zum Panzer zurück.
Es kostete ihn einige Mühe, die Bordpanzerungsplatten von den verrosteten Nieten zu lösen und sie dann an der Keramikwand zu befestigen, die den Reaktor und das Triebwerk von der Fahrerkabine trennte. Als er sich die letzte vornahm, spürte er auf einmal Fremde in der Nähe. Vorsichtig beugte er sich aus der Luke - und erstarrte.
Zehn Schritte vor ihm standen drei Gestalten. Er identifizierte sie nicht gleich als Menschen, aber sie waren bekleidet. Zwei von ihnen trugen eine lange, dünne Stange auf den Schultern, von der, den blutigen Kopf nach unten, ein kleines, hirschähnliches Huftier hing. Und am Hals des Dritten baumelte, quer über seiner Hühnerbrust, ein klobiges Gewehr ungewöhnlichen Typs. Mutanten, dachte Maxim. Das sind sie also, die Mutanten. Erzählungen und Legenden, die er gehört hatte, tauchten aus seiner Erinnerung auf und wurden sehr glaubhaft: Sie ziehen einem bei lebendigem Leibe die Haut ab, sind Menschenfresser, Wilde, Tiere. Er biss die Zähne zusammen, sprang hinaus auf die Panzerung und erhob sich zu voller Größe. Der mit dem Gewehr trippelte komisch auf seinen kurzen Säbelbeinen, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er reckte nur eine Hand mit zwei langen, vielgliedrigen Fingern in die Luft, fiepte laut und krächzte: »Willst du essen?«
Maxim öffnete die verklebten Lippen: »Ja.«
»Schießt du auch nicht?«, wollte der Besitzer des Gewehrs wissen.
»Nein.« Maxim lächelte. »Auf keinen Fall.«

15

Gai saß an einem grob gezimmerten Tisch und reinigte seine Maschinenpistole. Es war Vormittag, etwa Viertel nach zehn, und die Welt um ihn herum wirkte grau, karg und farblos. Sie ließ keinen Platz für Freude oder eine andere, lebendige Gemütsregung - alles war matt und krank. Er hatte keine Lust zu denken, wollte weder etwas sehen noch hören, nicht einmal schlafen, nur den Kopf auf den Tisch legen, die Arme sinken lassen und sterben. Sterben und Schluss.
Das Zimmer war klein und besaß nur ein einziges Fenster ohne Glasscheibe; es ging auf die riesige, rötlich-graue Wüste hinaus, die gestrüppüberwuchert und von Ruinen übersät war. Die ausgeblichenen Tapeten hatten sich stellenweise von den Wänden gelöst; das Parkett war geborsten und in einer Ecke verkohlt. Von den früheren Bewohnern zeugte nur noch eine große Fotografie unter gesprungenem Glas, auf der bei genauerem Hinsehen ein älterer Herr mit albernem Backenbart und einem lächerlichen Hut, der an einen Blechteller erinnerte, zu erkennen war.
Hätten doch seine Augen all das nicht gesehen! Könnte er doch jetzt nur aufheulen oder verrecken wie der letzte räudige Hund! Aber Maxim hat befohlen: »Waffe reinigen! Jedes Mal«, hatte er gesagt und mit dem Finger hart auf den Tisch geklopft, »jedes Mal, wenn du anfängst durchzudrehen, setzt du dich hin und reinigst deine MP.« Also musste er es tun. Maxim war Maxim. Ohne ihn hätte Gai sich längst zum Sterben hingelegt. Er hatte Maxim gebeten: »Lass mich nicht allein, wenn es mich packt, bleib bei mir, hilf mir.« Aber nein, Maxim hatte entgegnet, Gai müsse sich jetzt selbst helfen. Es sei nicht lebensgefährlich und würde auf jeden Fall vorbeigehen. Aber er müsse sich eben überwinden und versuchen, damit fertigzuwerden.
Gut, dachte Gai müde, versuche ich eben, damit fertigzuwerden. Maxim ist Maxim. Kein Mensch, kein Schöpfer, kein Gott - eben Maxim. Er hatte noch gesagt: »Werde wütend! Wenn es dich wieder erwischt, denke daran, woher du es hast, wer es dir angetan hat und warum. Und dann werde wütend, sammle Hass in dir an! Du wirst ihn bald brauchen: bist nicht allein, von deiner Sorte gibt’s vierzig Millionen, die verdummt wurden, verstrahlt und vergiftet.« Das war schwer zu glauben, Massaraksch. Sein ganzes Leben lang hatte Gai in der Truppe verbracht, immer hatten sie gewusst, wo es langging, es war alles so einfach, alle waren zusammen gewesen. Und es hatte gutgetan, einer von Millionen zu sein, so zu sein wie alle. Aber nein, da musste Maxim kommen, ihn für sich einnehmen und ihm die Karriere verpfuschen, ihn buchstäblich am Kragen aus dem Glied zerren und in dieses neue Dasein verfrachten, wo er das Ziel nicht verstand und auch nicht, wovon sie leben sollten, wo man, Massaraksch und Massaraksch, über alles selbst nachdenken musste! Früher hatte er keine Ahnung gehabt, was es heißt, selbst nachzudenken! Es hatte Befehle gegeben, und dann hieß es darüber nachdenken, wie man sie am besten ausführte. Aber dann hatte Maxim ihn am Kragen gepackt, ihn mit dem Gesicht in die andere Richtung gedreht - zum Vertrauten, zum Nest, zum Allerteuersten - und gesagt: Das ist Müll, Geschmeiß, Gemeinheit, Lüge. Du schaust hin - und tatsächlich, da gibt es wenig Gutes. Dir wird übel, wenn du an deine Vergangenheit denkst. An die Jungs zurückzudenken ist auch zum Kotzen, und erst Rittmeister Tschatschu! Wütend schob Gai das Schloss an seinen Platz und ließ es einrasten. Wieder übermannte ihn Kraftlosigkeit und Apathie. Sein Wille reichte schon nicht mehr aus, um das Magazin einzusetzen. Schlimm stand es, ach, schlimm.
Quietschend öffnete sich die verzogene Tür, und ein kleines, eifriges Gesicht schaute herein. Man hätte es sogar hübsch nennen können, wären nicht der kahle Schädel und die entzündeten, wimpernlosen Lider gewesen. Es war Tanga, die Tochter der Nachbarn.
»Onkel Mak befiehlt, Sie sollen zum Platz kommen. Alle sind schon versammelt, nur auf Sie warten sie noch.«
Gai warf ihr einen finsteren Blick zu. Ein gebrechlicher kleiner Körper in einem Kleid aus grobem Sackleinen, braungefleckte Strohhalmärmchen, krumme Beine, in den Knien geschwollen - er spürte Brechreiz, und zugleich schämte er sich seines Widerwillens. Sie war ein Kind, und wer trug schließlich die Schuld?! Er wandte die Augen ab.
»Ich komme nicht. Sag, dass ich mich nicht gut fühle. Ich bin krank.«
Die Tür knarzte, und als er wieder hochsah, war das Mädchen verschwunden. Verdrossen warf er die Maschinenpistole auf die Pritsche, trat ans Fenster und lehnte sich hinaus. Er sah, wie die Kleine in schnellem Tempo durch einen Hohlweg zwischen Mauerresten wirbelte - die frühere Straße. Ein dicker Knirps heftete sich ihr an die Fersen, humpelte ein paar Schrittchen, plumpste hin, hob den Kopf, blieb ein wenig liegen und plärrte dann in furchtbarem Bass los. Aus den Ruinen stürzte die Mutter zu ihm. Gai fuhr zurück, schüttelte den Kopf und ging wieder zum Tisch. Nein, daran kann ich mich nicht gewöhnen, verflucht soll ich sein. Aber käme mir derjenige vor die Flinte, der dafür verantwortlich ist - ich schösse nicht daneben. Trotzdem, warum finde ich mich nicht damit ab? Ich habe in diesem einen Monat Dinge gesehen, die für hundert Albträume reichen.
Die Mutanten lebten in kleinen Gemeinschaften. Manche nomadisierten - ernährten sich von der Jagd, suchten einen besseren Ort oder gar den Weg nach Norden. Dabei mussten sie allerdings die Maschinengewehre der Gardisten umgehen und die entsetzlichen Regionen, in denen sie den Verstand verloren oder auf der Stelle an schrecklichen Kopfschmerzen starben. Andere hatten sich auf Farmen und Gehöften niedergelassen, die nach den Explosionen noch standen. Eine Atombombe war direkt über der Stadt explodiert, zwei andere in der Umgebung - dort befand sich jetzt ein riesiges, kilometerlanges Feld einer grell glänzenden Schlacke. Die sesshaften Mutanten bauten dürftigen, degenerierten Weizen an, bestellten seltsame Gärten, in denen die Tomaten klein waren wie Beeren und die Beeren groß wie Tomaten, und züchteten grausiges Vieh, das man nicht anschauen mochte, geschweige denn essen. Sie waren ein bedauernswertes Volk, diese Missgeburten des Südens, über die man allen möglichen Unsinn faselte, über die auch er, Gai, alles Mögliche erzählt hatte. In Wirklichkeit waren es stille, kränkelnde und völlig entstellte Karikaturen von Menschen. Normal sahen nur die Greise aus, doch von ihnen gab es nur noch wenige, und sie siechten dahin, würden bald sterben. Ihre Nachkommen wirkten erst recht wie Todeskandidaten. Kinder wurden viele geboren, aber fast alle starben schon bei der Geburt oder als Säuglinge. Die am Leben blieben, waren schwach, fürchterlich missgestalt und immerzu von unbekannten Gebrechen gequält, dabei aber sehr lieb, folgsam und klug. Was sollte er es leugnen: Die Mutanten waren keine schlechten Menschen. Sie waren gutmütig, gastfreundlich, auf Eintracht und Frieden bedacht. Nur ansehen durfte man sie nicht! Sogar Maxim hatte es anfangs geschüttelt, dann freilich hatte er sich daran gewöhnt. Ihm fiel das leicht, er hatte sich unter Kontrolle.
Gai setzte das Magazin ein, stützte die Wange auf die Faust und versank in Gedanken. Ja, Maxim …
Diesmal hat er sich allerdings etwas völlig Absurdes vorgenommen. Er will die Mutanten sammeln, bewaffnen und mit ihnen die Garde zurückdrängen, fürs Erste bis hinter die Blaue Schlange. Ein Witz, wahrhaftig! Sie stehen kaum auf ihren Beinen; viele sterben schon bei geringfügiger Anstrengung: Da hebt einer einen Sack voll Korn und fällt tot um. Er aber will sie gegen die Garde führen. Unausgebildet sind sie, schwach und fügsam - was sollen sie ausrichten? Selbst wenn er ihre Aufklärer einbezöge, brauchte es gegen diese ganze Armee - von Maxim mal abgesehen - nur einen Rittmeister, und wäre Maxim dabei, einen Rittmeister mit Kompanie. Anscheinend weiß Maxim das auch. Und trotzdem ist er einen geschlagenen Monat durch den Wald gelaufen, von Siedlung zu Siedlung, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, um die alten und geachteten Leute, auf die man hört, zu agitieren. Ist gerannt und hat mich überallhin mitgeschleppt, kennt keine Ruhe. Die Alten wollen nicht recht und lassen auch ihre Aufklärer nicht ziehen. Und nun soll ich zu dieser Versammlung, aber ich gehe nicht.
Langsam hellte sich die Welt wieder auf. Ihm wurde schon nicht mehr ganz so schlecht, wenn er umher sah, das Blut pulsierte schneller durch die Adern, und er hatte die vage Hoffnung, die Versammlung könne scheitern, Maxim käme herein und würde sagen: Schluss, hier haben wir nichts mehr zu schaffen. Und dass sie weiterführen nach Süden, in die Wüste, wo, wie es hieß, zwar auch missgebildete Mutanten lebten, diese aber nicht so unheimlich wären, sondern menschenähnlicher und nicht so krank. Man sagte, sie lebten dort in einer Art Staat, sogar eine Armee gäbe es. Vielleicht könnte man mit ihnen einig werden. Es hieß aber auch, dass dort alles strahlte, dass Bombe auf Bombe gefallen sei - mit Absicht und nur, um das Gebiet radioaktiv zu verseuchen. Angeblich hatte es solche speziellen Bomben gegeben.
Bei dem Gedanken an Radioaktivität griff Gai in seinen Rucksack, zog eine Schachtel mit gelben Tabletten heraus und warf sich zwei davon in den Mund. Sie schmeckten so entsetzlich bitter, dass er eine Grimasse schnitt - scheußliches Zeug, aber notwendig, denn alles hier war verseucht. In der Wüste würde er sie wohl handvollweise lutschen müssen. Dank an den Herzogprinzen: Ohne seine Pillen wäre er, Gai, erledigt. Der Herzogprinz war ein Mordskerl, verlor nie den Kopf, verzweifelte nie an dieser Hölle, sondern half und heilte, machte Krankenbesuche und hatte sogar eine Medikamentenfabrik errichtet. Außerdem hatte er erzählt, das Land der Unbekannten Väter sei nur ein Stück, ein kleiner Zipfel des früheren Imperiums, und auch die Hauptstadt sei damals eine andere gewesen. Sie liege dreihundert Kilometer weiter südlich, und noch heute gebe es dort beeindruckende Ruinen.
Die Tür sprang auf, und Maxim stürmte ins Zimmer - in kurzer Hose, flink, braungebrannt und offensichtlich ziemlich verärgert. Gai schmollte und blickte zum Fenster hinaus.
»Jetzt spiel mir nichts vor«, sagte Maxim. »Los, gehen wir.«
»Ich will nicht«, erwiderte Gai. »Hol doch alle der Teufel! Sie widern mich an, ich kann nicht.«
»Unsinn!«, schnitt ihm Maxim das Wort ab. »Wunderbare Menschen sind das. Sie schätzen dich. Benimm dich nicht wie ein Kleinkind.«
»Von wegen ›schätzen‹«, murrte Gai.
»Und wie sie dich schätzen! Erst neulich hat der Herzogprinz darum gebeten, dass du hierbleibst. ›Ich‹, hat er gesagt, ›sterbe bald und es braucht einen richtigen Mann, um mich zu ersetzen.‹«
»Na ja, ersetzen …«, knurrte Gai, spürte aber, wie sich seine Stimmung unwillkürlich besserte.
»Boschku hat mich auch angesprochen. Er hat Hemmungen, sich direkt an dich zu wenden. ›Gai sollte bei uns bleiben‹, meinte er, ›er könnte uns unterrichten und beschützen, er würde gute Jungs ausbilden.‹ Du weißt, wie Boschku redet?«
Gai errötete beinahe vor Freude, räusperte sich und murmelte - wobei er noch immer düster aus dem Fenster starrte: »Also schön. Soll ich die MP mitnehmen?«
»Nimm sie mit«, riet Maxim. »Kann alles Mögliche passieren.«
Gai klemmte sich die Maschinenpistole unter den Arm, und sie verließen das Zimmer - er voran, Maxim dicht hinter ihm. Sie stiegen die morsche Treppe hinunter, wichen den Kindern aus, die vor der Tür im Staub spielten, und gingen die Straße entlang zum Platz. Ach, »Straße«, »Platz« - davon existierten nur noch die Namen … So viele Menschen waren auf einen Schlag umgekommen. Es hieß, früher sei hier eine große, schöne Stadt gewesen mit Museen, einem Theater, einem Zirkus, mit Hunderennen. Die Kirchen sollen besonders schön gewesen sein; aus aller Welt seien Leute gekommen, um sie anzusehen. Und jetzt - nichts als Müll. Man begreift nicht einmal, was sich früher wo befand. Anstelle des Zirkus gibt es einen Sumpf mit Krokodilen. In der ehemaligen U-Bahn leben jetzt Vampire, und nachts ist es gefährlich, durch die Stadt zu gehen. Diese Schweine! Sie haben das Land zugrunde gerichtet. Und nicht genug, dass sie die Menschen verstümmelt und niedergemetzelt haben - sie mussten auch noch Viecher aussetzen, die es hier nie zuvor gegeben hat. Und nicht nur hier.
Wie der Herzogprinz berichtete, lebten bis zum Krieg Tiere im Wald, die Hunden ähnelten - er hatte zwar vergessen, wie sie hießen, aber es waren intelligente, gutmütige Tiere. Sie verstanden alles, und sie zu dressieren war das reinste Vergnügen. Dann aber fing man an, sie für Kriegszwecke auszurichten: sich mit Minen unter Panzer zu legen, Verwundete wegzuschleppen, Behälter mit biologischen Kampfstoffen zum Gegner zu bringen und so weiter. Dann fand sich ein schlauer Bursche, der ihre Sprache entschlüsselte. Denn sie hatten tatsächlich eine Sprache, noch dazu eine ziemlich komplizierte. Sie ahmten gerne nach, und ihr Kehlkopf war so beschaffen, dass man einige von ihnen sogar die menschliche Sprache lehren konnte - nicht alles natürlich, doch fünfzig bis siebzig Wörter behielten sie. Auf jeden Fall waren es wundersame Tiere. Man sagt, sie seien ausgestorben. Wir hätten mit ihnen befreundet sein sollen, hätten voneinander lernen und uns gegenseitig helfen können. Aber nein, man brachte ihnen bei zu kämpfen, militärische Informationen des Gegners auszukundschaften. Und dann begann der Krieg, und man scherte sich nicht mehr um sie, überhaupt scherte man sich um gar nichts mehr. Schon tauchten die Vampire auf - ebenfalls Mutanten, aber keine menschlichen, sondern tierische und äußerst gefährlich. Für das Sondergebiet Süd wurde sogar ein Befehl ausgegeben, wie sie bekämpft werden sollten. Aber der Herzogprinz sagt gerade heraus: Mit uns allen hier geht’s zu Ende, nur die Vampire werden überleben.
Gai fiel ein, wie Boschku und seine Jäger einmal einen Hirsch im Wald erlegt hatten, der auch von den Vampiren verfolgt worden war, so dass sie sich schließlich um die Beute schlugen. Aber was waren die Mutanten schon für Kämpfer: Jeder schoss einmal aus seiner uralten Flinte; dann warfen sie die Waffen weg, setzten sich hin und bedeckten ihre Augen mit den Händen, um das Sterben nicht mit ansehen zu müssen. Sogar Maxim war fassungslos. Das heißt, nicht fassungslos, aber auch er wollte nicht Hand anlegen. Also hatte ich allein in die Bresche zu springen. Als das Magazin leer war, nahm ich den Kolben. Gut, dass es nur sechs Vampire waren. Zwei haben wir erledigt, einer ist entwischt, und die übrigen drei, die verwundet und bewusstlos waren, fesselten wir, um sie am Morgen ins Dorf zu bringen und dort hinzurichten. In der Nacht aber bemerke ich, wie Maxim leise aufsteht und sich zu ihnen schleicht. Kauert eine Weile neben ihnen und kuriert sie, indem er ihnen die Hände auflegt. Dann bindet er sie los und sie - nicht dumm - rennen so schnell sie können davon. Ich frage ihn: »Was machst du, Mak? Warum?« - »Weiß ich selbst nicht«, antwortet er, »ich fühle aber, dass man sie nicht hinrichten darf. Weder Menschen darf man hinrichten«, sagt er, »noch diese hier. Das sind keine Hunde - aber auch keine Vampire.«
Aber es geht ja nicht nur um die Vampire! Was es hier für Fledermäuse gibt! Die, zum Beispiel, die dem »Hexenmeister« dienen. Fliegendes Grauen ist das - keine Maus! Und wer trippelt nachts durch die Dörfer und stiehlt die Kinder? Dabei betritt er nicht einmal das Haus: Die Kinder kommen von allein, im Schlaf, zu ihm heraus. Zugegeben, das kann dummes Geschwätz sein, aber einiges habe ich auch schon gesehen. Ich weiß noch wie heute, wie der Herzogprinz uns den nächstgelegenen Einstieg zur Festung zeigen wollte. Wir gehen also hin. Vor uns liegt eine friedliche grüne Lichtung, darauf ein kleiner Hügel und darunter die Höhle. Als wir genauer hinsehen - Herr im Himmel!: Die Wiese vor dem Schacht ist mit verendeten Vampiren übersät, mindestens zwanzig Stück. Aber nicht etwa verstümmelt oder verwundet; kein Tropfen Blut hängt am Gras. Und das Erstaunlichste: Maxim untersucht sie und meint, sie sind nicht tot, nur starr, als hätte sie jemand hypnotisiert. Wer denn?, fragt sich. Nein, diese Gegend ist schrecklich! Menschen können hier nur am Tage herumlaufen, und auch das nur mit äußerster Vorsicht. Ohne Maxim hätte ich längst das Weite gesucht, nur eine Staubwolke wäre von mir geblieben. Aber, ganz ehrlich: Wohin sollte ich gehen? Ringsum gibt es Wälder voller Ungetier, der Panzer liegt im Sumpf. Soll ich zurück zu meinen Kameraden? Es scheint am natürlichsten, sich zu den eigenen Leuten durchzuschlagen. Doch was sind das schon für »eigene« Leute! Genau betrachtet, sind sie auch nur Missgeburten oder Marionetten, da hat Maxim Recht. Was sind das für Menschen, wenn man sie lenken kann wie Maschinen? Nein, das ist nichts mehr für mich, es ist abscheulich.
Sie hatten den Platz erreicht - eine große, öde Fläche mit einem halb zerschmolzenen schwarzen Denkmal in der Mitte. Dann gingen sie auf das unversehrte Häuschen zu, in dem für gewöhnlich die Ältesten zusammentrafen, um Gerüchte auszutauschen, über die Aussaat und die Jagd zu beraten oder einfach ein bisschen zusammenzusitzen, zu dösen und den Erzählungen des Herzogprinzen über frühere Zeiten zu lauschen.
In einem großen, sauberen Zimmer warteten bereits die anderen. Keinen von ihnen mochte man ansehen. Sogar der Herzogprinz, der kein Mutant war, hatte ein Gesicht voller Brandnarben und war völlig entstellt. Maxim und Gai traten ein, grüßten und setzten sich in den Kreis, direkt auf den Fußboden. Boschku, der neben der Kochstelle hockte, nahm einen Kessel vom Feuer und schenkte jedem von ihnen einen guten, starken, wenn auch ungesüßten Tee ein. Gais Tasse war besonders schön, aus unbezahlbarem Königsporzellan. Er stellte sie vor sich hin, stützte den Kolben seiner MP zwischen die Knie, lehnte die Stirn gegen den gekerbten Lauf und schloss die Augen, um niemanden ansehen zu müssen.
Der Herzogprinz eröffnete die Versammlung. Er war weder Herzog noch Prinz, sondern der ehemalige Chefchirurg der Festung. Als man diese seinerzeit mit Atombomben belegte, revoltierte die Garnison und hisste die weiße Flagge. So kam es, dass die eigenen Leute just über der weißen Flagge eine Kernsynthesebombe zündeten. Den richtigen Prinzen, ihren Kommandeur, rissen die Soldaten in Stücke, gerieten in Fahrt und erschlugen alle Offiziere dazu. Dann aber fiel ihnen ein, dass nun niemand mehr da war, um das Kommando zu übernehmen. Eine Truppenführung aber brauchten sie, denn der Krieg ging ja weiter, der Gegner würde angreifen, aber auch die eigenen Leute würden sie attackieren. Doch von den Soldaten kannte sich niemand in der Festung aus, so dass sie zu einer einzigen, gigantischen Falle wurde. Dann explodierten die bakteriologischen Bomben - das ganze Arsenal - und eine Seuche brach aus. Kurz, die Hälfte der Soldaten floh in alle Himmelsrichtungen, von den Übrigen starben drei Viertel. Den Rest scharte der Chefchirurg um sich - ihn hatte man während des Aufruhrs verschont: Immerhin war er Arzt. Irgendwann fing man an, ihn den Prinzen oder den Herzog zu nennen, anfangs aus Spaß, später gewöhnte man sich daran, und Maxim sagte, um keine Frage offenzulassen: Herzogprinz.
»Freunde«, begann der Herzogprinz. »Wir haben heute Vorschläge unseres Freundes Mak zu erörtern. Sehr wichtige Vorschläge. Wie wichtig sie sind, könnt ihr daran ermessen, dass Hexenmeister selbst gekommen ist und vielleicht auch mit uns sprechen wird.«
Gai hob den Kopf. Tatsächlich: Den Rücken gegen die Wand gelehnt, saß Hexenmeister höchstselbst in einer Ecke. Sah man ihn an, überlief es einen eiskalt, doch ihn nicht anzusehen war unmöglich. Ein bemerkenswerter Mensch! Selbst Maxim schaute gewissermaßen zu ihm auf; einmal hatte er zu Gai gesagt: »Hexenmeister, Bruderherz, das ist jemand!« Hexenmeister war klein von Wuchs, untersetzt, gepflegt, hatte kurze, kräftige Arme und Beine und wirkte insgesamt nicht ganz so hässlich wie die anderen. Zumindest war er keine Missgeburt. Dichtes, kräftiges Haar bedeckte seinen riesigen Schädel wie ein silbriger Pelz, und sein kleiner Mund war seltsam geformt - so als pfiffe Hexenmeister immerzu durch die Zähne. Sein Gesicht wirkte trotz der Tränensäcke hager, und in den großen schmalen Augen saßen die Pupillen vertikal - wie bei einer Schlange. Hexenmeister sprach wenig, ging selten unter Menschen und wohnte allein in einem entlegenen Keller am Stadtrand. Wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten genoss er jedoch große Autorität. Erstens hielt man ihn für sehr klug - Hexenmeister wusste alles, obwohl er nicht älter war als zwanzig und die Stadt nie verlassen hatte. Gab es Probleme, trug man sie ihm demütig vor, um seinen Rat zu erhalten. Meistens antwortete er nicht, was bedeutete, dass die Sache unwichtig war: Entscheide, wie du willst, es wird richtig verlaufen. Ging es aber um Lebenswichtiges - das Wetter, beispielsweise, oder die Frage, was wann zu säen sei -, äußerte er stets seine Meinung, und er hatte sich noch nie geirrt. Nur die Ältesten durften zu ihm, und sie schwiegen darüber, was sie dort erlebten. Man munkelte, dass Hexenmeister, selbst wenn er einen Rat gab, den Mund nicht öffnete, sondern die Leute nur ansah - und ihnen selbst klarwurde, was zu tun sei. Zweitens besaß er Macht über die Tierwelt. Niemals beanspruchte er Speisen oder Kleidung von der Gemeinschaft - mit allem versorgten ihn die Tiere, sowohl höher entwickelte als auch Frösche und Insekten. Seine wichtigsten Dienstboten aber waren die großen Fledermäuse, mit denen er sich, wie es hieß, verständigen konnte, so dass sie ihm gehorchten. Weiterhin wurde erzählt, er wisse Unerklärbares - Dinge, die zu begreifen unmöglich sei. Aber was Hexenmeister darüber sagte, schien Gai nur eine Ansammlung von Worten zu sein: schwarze Ödnis vor dem Aufflammen des Weltlichts; tote, eisige Wüste nach seinem Erlöschen; Endlosigkeit mit vielen Weltlichtern. Keiner wusste, was das bedeutete, Maxim aber wiegte den Kopf und brummte begeistert: »Was für ein Intellekt!«
Hexenmeister sah niemanden an. Der Nachtvogel auf seiner Schulter trat, blind und plump, von einem Bein aufs andere. Und von Zeit zu Zeit holte Hexenmeister Bröckchen aus der Tasche und schob sie ihm in den Schnabel; der Vogel erstarrte für einen Augenblick, reckte dann seinen Hals und schluckte.
»Es sind sehr wichtige Vorschläge«, fuhr der Herzogprinz fort, »und deshalb bitte ich euch, aufmerksam zuzuhören. Du, Boschku, koche recht starken Tee, mein Freund, denn wie ich sehe, nicken manche von euch schon ein. Das aber wollen wir verhindern. Nehmt alle Kraft zusammen, womöglich entscheidet sich jetzt euer Schicksal.«
Die Versammelten raunten zustimmend. Einen Glotzäugigen zerrten sie an den Ohren von der Wand weg, wo er es sich zum Schlafen bequem gemacht hatte, und setzten ihn in die erste Reihe. »Aber ich wollte doch gar nicht …«, murmelte er, »das war nur so, ich meine, man sollte sich kurz fassen, sonst habe ich, ehe es zum Ende kommt, den Anfang schon wieder vergessen.«
»Gut«, stimmte der Herzogprinz zu. »Also kurz: Die Soldaten drängen uns nach Süden, in die Wüste. Sie kennen kein Pardon und lassen nicht mit sich reden. Aus den Familien, die sich nach Norden durchzuschlagen versuchten, ist keiner zurückgekehrt. Wir müssen annehmen, dass alle umgekommen sind. Das heißt, in zehn, fünfzehn Jahren werden wir endgültig in die Wüste abgedrängt sein und dort, ohne Wasser und etwas zu essen, sterben. Man erzählt, dass dort auch Menschen leben. Ich glaube nicht daran, doch viele der verehrten Ältesten glauben es und versichern, die Wüstenbewohner seien genauso grausam und blutrünstig wie die Soldaten. Wir hingegen lieben den Frieden und können nicht kämpfen. Viele von uns werden sterben und den endgültigen Untergang wohl nicht mehr erleben. Aber jetzt führen wir das Volk und sind verpflichtet, nicht nur an uns, sondern auch an unsere Kinder zu denken. Boschku«, unterbrach er sich, »bitte reiche dem verehrten Bäcker etwas Tee. Mir scheint, er ist eingeschlafen.«
Man weckte den Bäcker, drückte ihm eine heiße Tasse in die fleckige Hand. Er verbrühte sich, schimpfte, und der Herzogprinz fuhr fort: »Unser Freund Mak zeigt einen Ausweg. Er kam von der Seite der Soldaten. Er hasst sie und sagt, dass wir von ihnen keine Gnade erwarten dürfen; sie alle wurden von ihren Tyrannen verdummt und sind besessen von dem Wunsch, uns zu vernichten. Anfangs wollte Mak uns bewaffnen und in den Kampf führen, doch er musste sich überzeugen, dass wir zu schwach dafür sind. Nun hat er beschlossen, zu den Wüstenbewohnern vorzudringen - auch er glaubt an sie - und sie dafür zu gewinnen, mit ihm gegen die Soldaten ins Feld zu ziehen. Was wird nun von uns verlangt? Wir sollen das Vorhaben billigen, die Wüstenbewohner durch unser Gebiet passieren lassen und sie, solange der Krieg andauert, mit Lebensmitteln versorgen. Zudem bittet unser Freund Mak, ihm zu erlauben, alle unsere Aufklärer, sofern sie dies wünschen, zu versammeln, damit er sie kämpfen lehrt und hinter die Blaue Schlange bringt, um dort den Aufstand zu beginnen. So steht es, kurz gesagt. Wir müssen uns jetzt entscheiden, und ich bitte um Wortmeldungen.«
Gai sah Maxim von der Seite an. Maxim saß mit untergeschlagenen Beinen da - groß, braungebrannt und unverrückbar wie ein Fels. Fast wirke er wie ein riesiger Akkumulator, der sich jeden Moment entladen konnte. Er starrte in den hintersten Winkel, zu Hexenmeister, spürte aber sofort Gais Blick und wandte ihm das Gesicht zu. Und auf einmal wurde Gai bewusst, dass Maxim nicht mehr derselbe war wie früher. Lange schon vermisste er das vertraute, strahlende Lächeln von früher, er sang keine Gebirgslieder mehr, und seine Augen, die einst zärtlich oder auf gutmütige Weise spöttisch gestrahlt hatten, waren hart geworden - und so starr, als gehörten sie nicht Maxim, sondern Rittmeister Tschatschu. Ebenso hatte Mak aufgehört, wie ein lustiger neugieriger Hund in allen Ecken herumzuschnüffeln. Er war zurückhaltend geworden, streng, beharrlich, sehr erwachsen und konzentriert, als ziele er auf einen ihm allein sichtbaren Punkt. Er hatte sich sehr verändert, seit man ihm ein ganzes Magazin aus einer schweren Armeepistole verpasst hatte. Früher empfand er Mitleid mit allen und jedem, jetzt aber dauerte ihn niemand. Vielleicht musste es so sein. Und trotzdem, eine fürchterliche Sache hatte er sich da ausgedacht! Ein Gemetzel würde das werden, ein unvorstellbares Blutbad.
»Irgendwie habe ich’s nicht verstanden«, meldete sich eine kahlköpfige Missgeburt, der Kleidung nach kein Hiesiger. »Was will er eigentlich? Dass die Barbaren aus der Wüste zu uns kommen? Die werden uns doch alle ermorden, ich kenne sie! Sie werden alle erschlagen, keinen einzigen am Leben lassen!«
»Sie kommen entweder in friedlicher Absicht«, erläuterte Mak, »oder überhaupt nicht.«
»Lieber überhaupt nicht«, erwiderte der Glatzkopf. »Mit den Barbaren sollte man sich nicht einlassen. Da wäre es besser, gleich in die Maschinengewehre der Soldaten zu laufen. Man würde wenigstens wie von eigener Hand sterben; mein Vater war Soldat.«
»Das stimmt natürlich«, begann Boschku nachdenklich. »Aber andererseits wäre es ja auch möglich, dass die Barbaren die Soldaten vertreiben und uns nicht anrühren. Dann ginge es uns allen besser.«
»Warum sollen sie uns nicht anrühren?«, widersprach der Glotzäugige. »Seit jeher rühren alle uns an, und jetzt plötzlich nicht?«
»Er wird es doch mit ihnen besprechen«, erklärte Boschku. »So in etwa: Rührt die Waldbewohner nicht an oder bleibt, wo ihr seid.«
»Wer? Wer wird das besprechen?« Der Bäcker drehte sich um.
»Na, Mak. Mak wird eine Absprache mit ihnen treffen.«
»Ach, Mak. Nun, wenn Mak es tut, lassen sie uns vielleicht in Frieden.«
»Möchtest du Tee?«, fragte Boschku. »Schläfst ja ein, Bäcker.«
»Verschon mich mit deinem Tee!«
»Trink doch, wenigstens ein Tässchen. Ist doch nicht schwer.«
Der Glotzäugige stand abrupt auf. »Ich gehe«, sagte er. »Das hier führt zu nichts! Sie bringen Mak um, und uns verschonen sie erst recht nicht. Wozu auch? So oder so ist’s bald aus mit uns. In meiner Gemeinschaft werden seit zwei Jahren keine Kinder mehr geboren. Bis ich sterbe, möchte ich in Ruhe leben, das genügt mir. Entscheidet, wie ihr denkt, mir ist alles gleich.«
Gekrümmt und unbeholfen stolperte er hinaus und fiel fast über die Schwelle.
»Ja, Mak.« Blutegel wiegte den Kopf. »Verzeih, aber wir glauben niemandem. Wie kann man den Barbaren trauen? Sie leben in der Wüste, kauen Sand, trinken Sand, grässliche Gestalten, wie aus Eisendraht geflochten, können weder lachen noch weinen. Was sind wir schon für sie? Moos unter den Füßen! Nehmen wir an, sie kommen und besiegen die Soldaten. Dann lassen sie sich hier nieder - und brennen uns den Wald ab. Denn was sollen sie damit? Sie lieben die Wüste. Jedenfalls wäre auch das für uns das Ende. Nein, ich traue dem nicht, ich glaub’s nicht, Mak. Dein Vorhaben bringt nichts.«
»Stimmt«, pflichtete ihm der Bäcker bei. »Wir brauchen das nicht, Mak. Lass uns in Ruhe sterben, schone uns. Du hasst die Soldaten, willst sie vernichten, aber was haben wir damit zu tun? Wir hassen niemanden. Hab Erbarmen. Mit uns hatte noch nie jemand Mitleid. Und obwohl du ein guter Mensch bist, hast du auch keins. Ich habe doch Recht, was, Mak?«
Gai blickte wieder zu Maxim hinüber und wandte verwirrt die Augen ab.
Denn Maxim wurde rot. Er wurde so rot, dass ihm die Tränen rollten, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit einer Hand.
»Das stimmt nicht«, sagte er. »Ich bedaure euch. Aber eben nicht nur euch. Ich …«
»Nein, Mak«, fiel ihm der Bäcker ins Wort. »Du sollst nur uns bemitleiden. Wir sind die allerunglücklichsten Menschen der Welt, und du weißt das. Vergiss deinen Hass. Habe Mitleid, sonst nichts.«
»Wieso sollte er Mitleid haben«, ließ sich Haselnussstrauch vernehmen, der bis zu den Augen mit schmutzigen Binden umwickelt war. »Er ist doch selbst Soldat. Wann hätten denn je Soldaten mit uns gefühlt? Der Soldat ist noch nicht geboren, der sich erbarmen würde.«
»Aber, aber, meine Lieben!«, unterbrach ihn streng der Herzogprinz. »Mak ist unser Freund. Er will uns Gutes, unsere Feinde vernichten.«
»Doch heraus kommt dabei Folgendes«, meldete sich der kahlköpfige Fremde. »Sogar wenn wir annehmen, dass die Barbaren stärker sind als die Soldaten und diese schlagen, ihre verfluchten Türme zerstören und den gesamten Norden erobern. Sollen sie. Uns ist’s darum nicht leid. Sollen sie sich gegenseitig abschlachten. Aber: Was nützt uns das? Mit uns ist es dann endgültig vorbei, denn dann haben wir im Süden Barbaren und im Norden Barbaren, und über uns auch. Nur - sie brauchen uns nicht, und deshalb werden sie uns alle umbringen. Das ist die eine Variante. Jetzt nehmen wir an, die Soldaten wehren den Angriff der Barbaren ab und werfen sie zurück. Dann rollt dieser ganze Krieg über uns hinweg nach Süden. Was dann? Ebenfalls Ende: im Norden Soldaten, im Süden Soldaten und über uns auch. Und die Soldaten kennen wir.«
Die Versammelten lärmten und redeten durcheinander. Der Kahlkopf habe es richtig dargelegt, alles stimme … Er aber war noch nicht fertig.
»Lasst mich doch ausreden!«, rief er aufgebracht. »Was macht ihr für einen Lärm? Das ist ja nicht alles! Es gibt noch die Möglichkeit, dass sich Soldaten und Barbaren gegenseitig abschlachten. Dann, scheint es, könnten wir leben. Doch nein, es klappt wieder nicht. Wegen der Vampire! Solange die Soldaten da sind, verstecken sie sich. Sie fürchten die Kugeln, denn die Soldaten haben Befehl, auf die Vampire zu schießen. Sind aber die Soldaten nicht mehr am Leben, besteht für uns keine Rettung. Die Vampire fressen uns mit Haut und Haaren auf.«
Dieser Gedanke traf die Anwesenden wie ein Blitz.
»Recht hat er«, tönten Stimmen. »Wie schlau sie aber auch sind, dort, in ihren Sümpfen … Ja, Brüder, die Vampire haben wir vergessen. Aber sie schlafen nicht, sie warten, bis ihre Zeit gekommen ist. Soll’s laufen, wie es läuft, Mak, wir brauchen das nicht. Zwanzig Jahre lang haben wir mehr schlecht als recht gelebt und werden noch zwanzig durchhalten, vielleicht länger.«
»Auch die Aufklärer haltet von ihm fern!«, begann der Kahle noch einmal. »Selbst wenn sie es anders wollen. Ihnen ist alles gleich, sie wohnen ja nicht einmal zu Hause. Sechsfinger steckt Tag und Nacht drüben, plündert dort und trinkt - es ist eine Schande! Sie haben’s gut, brauchen die verfluchten Türme nicht zu fürchten, denn sie kriegen keine Schmerzen. Doch was wird aus der Gemeinschaft? Das Wild zieht nach Norden. Wer anders kann es uns von dort zutreiben als die Aufklärer? Gebt sie ihm nicht! Nehmt sie lieber an die Kandare, sie sind schon außer Rand und Band! Verüben dort Morde, entführen Soldaten und quälen sie, als wären das keine Menschen. Lasst sie nicht gehen! Sie schlagen noch ganz über die Stränge.«
»Nicht fortlassen, nicht fortlassen«, bekräftigte die Menge. »Was sollen wir ohne sie machen? Wir haben sie geboren und großgezogen, sie mit Essen und Trinken versorgt, das müssen sie doch fühlen; aber nein, sie schauen weg und tun einfach, was sie wollen.«
Der Glatzköpfige beruhigte sich endlich, sank auf seinen Platz und schlürfte gierig den kalt gewordenen Tee. Auch die anderen wurden still, saßen reglos da und waren bemüht, Maxim nicht anzusehen.
Boschku nickte verzagt. »Wie unglückselig aber auch unser Leben ist! Nirgendwoher kommt Rettung. Was haben wir nur getan, und wem?«
»Unsere Geburt war sinnlos, daran liegt’s«, sagte Haselnussstrauch. »Gedankenlos hat man uns in die Welt gesetzt, zur Unzeit.« Er hielt seine leere Tasse hoch. »Auch wir zeugen ohne Notwendigkeit. Für den Untergang. Ja, ja, für den Untergang.«
»Das Gleichgewicht«, krächzte plötzlich jemand laut. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Mak. Aber sie wollten mich nicht verstehen.«
Es war nicht festzustellen, woher diese Stimme kam. Alle schwiegen, die Augen leidvoll niedergeschlagen. Nur der Vogel auf Hexenmeisters Schulter trippelte hin und her und klappte seinen gelben Schnabel auf und zu. Hexenmeister selbst bewegte sich nicht, hielt die Lider geschlossen und die trockenen schmalen Lippen zusammengepresst.
»Ich hoffe, nun begreifen Sie!« Es schien, als führe der Vogel fort. »Sie wollen dieses Gleichgewicht stören. Schön, das wäre möglich, es liegt in Ihrer Macht. Aber man fragt sich: wozu? Bittet Sie jemand darum? Sie haben richtig entschieden, als Sie sich an die Ärmsten und Unglücklichsten wandten, an Menschen, die im Gleichgewicht der Kräfte die schwächste Position haben. Aber nicht einmal sie möchten dieses Gleichgewicht stören. Wer oder was leitet Sie also?«
Der Vogel plusterte sich auf und steckte den Kopf unter den Flügel, die Stimme aber dröhnte weiter, und nun wurde Gai bewusst, dass Hexenmeister sprach, ohne den Mund zu öffnen oder auch nur einen Muskel im Gesicht zu verziehen. Es war unheimlich, nicht nur für Gai, sondern für alle Anwesenden, sogar für den Herzogprinzen. Einzig Mak musterte Hexenmeister finster und sogar herausfordernd.
»Die Ungeduld des alarmierten Gewissens!«, deklamierte Hexenmeister. »Ihr Gewissen ist verwöhnt durch Ihre ständige Aufmerksamkeit! Es stöhnt schon beim kleinsten Mangel, und Ihr Verstand beugt sich ihm ehrfürchtig, statt es zornig in seine Schranken zu weisen. Kaum empört es sich über eine bestehende Ordnung der Dinge, sucht er gehorsam und eilfertig Wege, um diese Ordnung zu verändern. Doch die Ordnung folgt ihren eigenen Gesetzen; und diese resultieren aus den Bestrebungen riesiger Menschenmassen. Will man also die Ordnung ändern, muss man bei den Bestrebungen anfangen. Folglich haben wir auf der einen Seite die Bestrebungen der Massen, andererseits aber Ihr Gewissen, das Ihre Bestrebungen widerspiegelt. Ihr Gewissen drängt Sie, die Dinge umzuordnen - was bedeutet, die Gesetzmäßigkeiten einer Ordnung zu verletzen, die aus dem Streben der Masse entstanden sind; das aber heißt, die Bestrebungen von Millionen nach dem Bild und der Analogie Ihres eigenen Trachtens zu wandeln. Das ist lächerlich und antihistorisch. Ihr vom Gewissen umnebelter, betäubter Verstand hat seine Fähigkeit verloren, das reale Wohl der Menge von einem imaginären, durch Ihr Gewissen diktierten Wohl zu unterscheiden. Seinen Verstand jedoch muss man klar halten. Wenn Sie das nicht wollen oder nicht können - umso schlimmer für Sie! Und nicht nur für Sie. Sie werden einwenden, in der Welt, aus der Sie kamen, könne man ohne reines Gewissen nicht leben. Dann hören Sie auf zu leben! Das wäre kein schlechter Ausweg - sowohl für Sie als auch für andere.«
Hexenmeister verstummte, und alle Köpfe drehten sich zu Maxim. Gai hatte nicht recht fassen können, was diese Rede bedeutete. Wahrscheinlich war sie der Nachhall eines alten Streits, und bestimmt hielt Hexenmeister Maxim für einen klugen, aber launischen Menschen, der eher seinen Grillen folgte als der Notwendigkeit. Das kränkte. Maxim war zwar ein merkwürdiger Mensch, aber er schonte sich nie, wollte allen immer Gutes tun - nicht aus einer Laune heraus, sondern aus tiefster Überzeugung. Freilich, die vierzig Millionen, die durch die Strahlen verdummt waren, wünschten keinerlei Veränderung. Aber sie wurden an der Nase herumgeführt. Das war ungerecht.
»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, widersprach Maxim kalt. »Brennt das Gewissen, stellt es dadurch Aufgaben, die der Verstand zu erfüllen hat. Das Gewissen zeigt Ideale, der Verstand sucht Wege zu ihnen. Das ist ja gerade seine Aufgabe! Ohne Gewissen würde er nur für sich arbeiten, leerlaufen. Was aber den Widerspruch zwischen meinem Streben und dem der Masse angeht - es gibt ein eindeutiges Leitbild: geistige und physische Freiheit des Menschen. In dieser Welt sind sich die Massen dieses Ziels noch nicht bewusst, und der Weg dorthin ist schwer. Aber irgendwann muss man beginnen. Gerade Menschen mit einem aufmerksamen Gewissen sollten die Massen wachrütteln, sie nicht in einem viehischen Zustand schlafen lassen, sondern zum Kampf gegen die Unterdrückung führen. Selbst wenn die Massen diese Unterdrückung nicht empfinden.«
»Richtig«, Hexenmeister stimmte unerwarteterweise bereitwillig zu, »das Gewissen zeigt tatsächlich Ideale. Aber sie heißen eben deshalb Ideale, weil sie in krassem Missverhältnis zur Realität stehen. Und darum sucht der Verstand, der kalte, ruhige Verstand, wenn er ans Werk geht, Mittel, um diese Ideale zu erreichen. Wenn sich dann zeigt, dass sich diese Mittel nicht in den Rahmen der Ideale fügen, muss man diesen Rahmen erweitern und das Gewissen ein wenig dehnen, korrigieren, anpassen. Nur das will ich sagen, nur das wiederhole ich: Man darf sein Gewissen nicht zu sehr hätscheln, sondern muss es so oft wie möglich dem rauen Wind der Realität aussetzen, ohne Furcht, dass es Flecken oder eine harte Kruste bekommen könnte. Aber das wissen Sie selbst. Sie haben nur noch nicht gelernt, die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Aber auch das werden Sie lernen. Jetzt hat Ihnen Ihr Gewissen die Aufgabe gestellt, die Tyrannei der Unbekannten Väter zu stürzen. Der Verstand hat die Situation analysiert und vorgeschlagen: Weil es keine Möglichkeit gibt, die Gewaltherrschaft von innen zu beenden, zerschlagen wir sie von außen, hetzen die Barbaren auf sie. Mögen sie dabei die Waldbewohner zertreten, mögen sich in der Blauen Schlange die Leichen dammhoch türmen, soll doch ein großer Krieg kommen, der, vielleicht!, zum Sturz der Despoten führt - das alles dient schließlich einem edlen Ideal. Also gut, hat das Gewissen stirnrunzelnd zugestimmt, muss ich für die edle Sache eben ein bisschen verrohen.«
»Massaraksch!«, zischte Maxim, tiefrot im Gesicht und böse, wie Gai ihn nie gesehen hatte. »Ja, Massaraksch! Ja! Alles ist genau so, wie Sie es sagen. Was bleibt mir anderes übrig? Jenseits der Blauen Schlange sind die Menschen wandelnde Holzklötze. Vierzig Millionen Sklaven.«
»Richtig, richtig«, pflichtete Hexenmeister bei. »Eine andere Sache aber ist, dass Ihr Plan als solcher nichts taugt. Die Barbaren werden an den Türmen scheitern und zurückweichen, und unsere Aufklärer sind ohnehin zu nichts Ernsthaftem in der Lage. Mit Ihrem Plan könnten Sie sich genauso gut mit dem Inselimperium verbünden … Aber darum geht es nicht. Ich fürchte, Sie kommen überhaupt zu spät, Mak. Sie hätten vor fünfzig Jahren herkommen sollen, als es noch keine Türme gab und keinen Krieg, als noch Hoffnung bestand, seine Ideale an Millionen weiterzugeben. Jetzt gibt es diese Hoffnung nicht mehr, jetzt ist das Zeitalter der Türme gekommen. Es sei denn, sie schleppen diese Millionen einzeln hierher, wie sie den Jungen mit der MP hergeschleppt haben. Glauben Sie jetzt nicht, ich wollte Ihnen etwas ausreden. Ich sehe deutlich, Sie sind stark, Sie sind eine Kraft, Maxim. Und allein Ihre Anwesenheit in unserer kleinen Welt bedeutet schon eine Störung ihres Gleichgewichts. Also handeln Sie! Doch möge Ihr Gewissen Sie nicht daran hindern, klar zu denken, und möge Ihr Verstand sich nicht scheuen, es nötigenfalls beiseitezuschieben. Außerdem rate ich Ihnen, an Folgendes zu denken: Wie es in Ihrer Welt ist, weiß ich nicht, bei uns aber bleibt keine Kraft lange ohne einen Herren. Es wird sich jemand finden, der versucht, sie willfährig zu machen, zu unterwerfen - unbemerkt oder unter einem passenden Vorwand. Das war’s, was ich sagen wollte.«
Hexenmeister erhob sich unerwartet gewandt, und der Vogel auf seiner Schulter setzte sich und spreizte die Flügel. Dann ging er mit leichtem, gleitendem Schritt an der Wand entlang und verschwand hinter der Tür. Und sofort folgten ihm die Versammelten: ächzend, stöhnend, schwer atmend, ohne von dem Gesagten viel verstanden zu haben, doch augenscheinlich froh, dass alles beim Alten blieb. Dass Hexenmeister ein gefahrvolles Unterfangen verhindert, also Mitleid mit ihnen gezeigt hatte und nicht zuließ, dass man sie kränkte. Dass sie nun weiterleben konnten wie bisher, zumal noch eine Ewigkeit vor ihnen lag, zehn Jahre etwa, womöglich mehr. Als Letzter verschwand Boschku mit seinem leeren Teekessel. Nur Gai, Maxim und der Herzogprinz blieben im Zimmer, und in einer Ecke, von der geistigen Anstrengung ermattet und in tiefem Schlaf, der Bäcker. Gais Kopf war verwirrt, seine Seele auch. Begriffen hatte er nur eins: die Unseligkeit seines Lebens. In der ersten Hälfte war er eine Marionette gewesen, ein Hampelmann in jemandes Händen, und den Rest musste er anscheinend als heimatloser Vagabund zubringen, ohne Freunde, ohne Zukunft.
»Sind Sie jetzt sehr niedergeschlagen, Mak?«, fragte der Herzogprinz schuldbewusst.
»Nein, nein, nicht sehr«, antwortete Maxim. »Eher umgekehrt: Ich bin erleichtert. Hexenmeister hat Recht, mein Gewissen ist noch nicht bereit für solche Unternehmungen. Wahrscheinlich muss ich noch länger umherziehen, mich umschauen. Das Gewissen trainieren.« Er lachte unangenehm. »Was würden Sie mir raten, Herzogprinz?«
Der Alte stand ächzend auf, rieb sich die mittlerweile taub gewordenen Hüften und wanderte durch das Zimmer.
»Erstens rate ich Ihnen, nicht in die Wüste zu gehen«, begann er. »Sogar wenn es Barbaren gibt, finden Sie dort nicht, was Sie brauchen. Vielleicht lohnt es sich aber tatsächlich, Kontakt zu den Inselbewohnern zu knüpfen, wie Hexenmeister vorgeschlagen hat - obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht weiß, wie das zu bewerkstelligen wäre. Wahrscheinlich müsste man zum Meer vordringen und dort beginnen - sofern das Inselimperium nicht auch ein Mythos ist und man zudem nicht weiß, ob seine Bewohner überhaupt mit Ihnen reden wollen. Am besten fände ich, Sie würden in den Norden zurückkehren und dort im Alleingang handeln. Bedenken Sie, was Hexenmeister gesagt hat: Sie sind stark, Sie sind eine Kraft, und jeder wird versuchen, diese Kraft für seine Zwecke zu nutzen. Die Geschichte unseres Reichs kennt nicht wenige Fälle, in denen es starke und mutige Einzelgänger bis auf den Thron geschafft haben. Wenn auch gerade sie es waren, die dann die grausamsten Traditionen der Tyrannei begründet haben. Aber das betrifft Sie ja nicht, Sie sind nicht so und werden es kaum werden. Wenn ich Sie recht verstehe, ist auf einen Aufstand der Massen nicht zu hoffen, also kommt ein Bürgerkrieg - wie auch der Krieg überhaupt - nicht infrage. Sie sollten allein handeln, als Diversant. Es ist richtig, was Sie sagen: Das System der Türme muss über eine Zentrale verfügen. Und wer sie beherrscht, hält die Macht im Norden in seinen Händen. Das sollten Sie sich gut merken.«
»Ich fürchte, das ist nichts für mich«, sagte Maxim zögernd. »Ich kann nicht erklären, warum, aber ich weiß es. Ich will diese Zentrale nicht beherrschen. In einem allerdings haben Sie Recht: Mir bleibt weder hier noch in der Wüste etwas zu tun. Die Wüste ist zu weit entfernt, und hier gibt es niemanden, auf den ich mich stützen könnte. Ich muss noch viel kennenlernen: Pandea, Honti, die Berge, das Inselimperium. Haben Sie von den weißen Submarines gehört? Nein? Aber ich habe davon gehört, auch Gai. Und wir kennen einen, der sie gesehen und gegen sie gekämpft hat. Das heißt: Sie können kämpfen. Also gut.« Maxim sprang auf. »Wir wollen keine Zeit verlieren. Danke, Herzogprinz. Sie haben uns sehr geholfen. Gehen wir, Gai.«
Sie traten auf den Platz hinaus und blieben vor dem angeschmolzenen Denkmal stehen. Traurig sah Gai sich um. Die gelben Ruinen flirrten vor Hitze, es war dunstig und schwül, es stank, und doch mochte er diese Welt nicht verlassen. Sie war schrecklich, aber schon so vertraut. Er hatte keine Lust, sich wieder durch die Wälder zu schleppen und sich all den dunklen Zufällen auszusetzen, die einen dort auf Schritt und Tritt erwarteten. Lieber würde er in sein winziges Zimmer zurückkehren, mit der kahlköpfigen Tanga spielen, ihr endlich das versprochene Pfeifchen aus einer leeren Patronenhülse basteln … Jawohl, Massaraksch, für das arme Mädchen wäre ihm ein Schuss in die Luft nicht zu schade.
»Wohin wollen Sie jetzt gehen?«, fragte der Herzogprinz, wobei er sein Gesicht mit dem abgetragenen, verblichenen Hut gegen den Staub schützte.
»Nach Westen«, antwortete Maxim. »Zum Meer. Ist das weit von hier?«
»Dreihundert Kilometer.« Der Herzogprinz wurde nachdenklich. »Und man muss durch stark verseuchte Gebiete. Hören Sie, vielleicht machen wir es so …« Dann verstummte er plötzlich und schwieg. Gai trat schon ungeduldig von einem Bein aufs andere. Maxim aber hatte es nicht eilig, er wartete. »Ach, wozu brauch ich es«, sagte schließlich der Herzogprinz. »Um ehrlich zu sein, habe ich es für mich bewahrt. Ich dachte, wenn es ganz schlimm kommt, wenn die Nerven versagen, setze ich mich rein und fliege nach Hause, selbst wenn man mich dort erschießt. Aber was soll es jetzt noch, es ist zu spät.«
»Ein Flugzeug?« Maxim blickte den Herzogprinz voller Hoffnung an.
»Ja. Der ›Bergadler‹. Sagt Ihnen dieser Name etwas? Nein, natürlich nicht. Und Ihnen, junger Mann? Auch nicht. Seinerzeit war das der berühmteste Bomber, meine Herren. Seiner Kaiserlichen Hoheit Prinz Kirnus persönlicher Vier-Goldbanner-Leibbomber ›Bergadler‹. Ich erinnere mich, die Soldaten mussten das auswendig lernen. ›Soldat Sowieso, nenne den persönlichen Bomber Seiner Kaiserlichen Hoheit!‹ Und er sagte es auf, ja, diesen Bomber habe ich. Erst wollte ich damit die Verwundeten evakuieren, doch es waren zu viele. Dann, als sie alle tot waren … Ach, was soll ich’s erzählen. Nehmen Sie ihn, mein Freund. Fliegen Sie. Der Treibstoff reicht für halb um die Welt.«
»Danke«, sagte Maxim. »Danke, Herzogprinz. Ich werde Sie nie vergessen.«
»Was heißt, mich …«, murmelte der Alte. »Wenn Sie etwas erreichen, mein Freund, dann vergessen Sie diese Leute hier nicht.«
»Ich erreiche etwas«, versprach Maxim. »Ich schaffe es, Massaraksch! Es muss klappen, Gewissen hin, Gewissen her. Und ich vergesse nie jemanden.«

16

Gai war noch nie mit einem Flugzeug geflogen, und es war überhaupt das erste Mal, dass er eines sah. Polizeihubschrauber oder die Flugplattformen des Stabs waren ihm öfter vor Augen gekommen. Einmal hatte er sogar an einer Razzia aus der Luft teilgenommen; seine Gruppe war einfach in einen Hubschrauber verfrachtet und an der Chaussee wieder abgesetzt worden. Dort drängte ein Haufen Sträflinge, die wegen der schlechten Verpflegung rebellierten, in Richtung Brücke. Dieser Flug war Gai in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben, denn der Hubschrauber war sehr niedrig geflogen und hatte sie dermaßen durchgeschüttelt, dass sich ihnen fast die Eingeweide umstülpten. Hinzu kamen das ohrenbetäubende Getöse des Rotors, der Benzingestank und das Maschinenöl, das von überallher spritzte.
Aber das hier war etwas ganz anderes.
Der »Bergadler«, Leibbomber Seiner Kaiserlichen Hoheit, versetzte Gai in Erstaunen. Es war ein ungeheures Vehikel, und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es überhaupt in die Luft aufsteigen könnte. Der schmale Rumpf, verziert mit zahlreichen goldenen Emblemen, war lang wie eine Straße. Ehrfurchtgebietend und majestätisch breiteten sich die mächtigen Tragflächen aus, unter denen eine ganze Brigade hätte Unterschlupf finden können. Sie waren dachhoch, und dennoch berührten die Blätter der sechs riesigen Propeller beinahe die Erde. Der Bomber stand auf drei Rädern, jedes davon mehr als fünf Meter hoch, zwei Räder trugen den Bug, das dritte stützte das Heck. Wie ein silbernes Band ragte eine leichte Aluminiumleiter hinauf in die schwindelerregende Höhe der gläsern glänzenden Pilotenkabine. Ja, es war ein würdiges Symbol des alten Imperiums, ein Symbol großer Vergangenheit, ein Symbol der Macht über den ganzen Kontinent. Gai hatte den Kopf in den Nacken geworfen, seine Knie wurden weich, er zitterte vor Ehrfurcht - und war wie vor den Kopf geschlagen, als Mak plötzlich sagte: »Das ist’ne Kiste, Massaraksch! Entschuldigen Sie, Herzogprinz, ist mir so rausgerutscht.«
»Ein anderes habe ich nicht«, erwiderte der Herzogprinz trocken. »Aber es ist der beste Bomber der Welt. Seinerzeit hat Seine Kaiserliche Hoheit mit ihm …«
»Ja, ja, selbstverständlich«, stimmte Maxim eilig zu. »Ich war nur so überrascht.«
Oben in der Kabine kannte Gais Entzücken keine Grenzen. Nicht nur, dass sie rundherum verglast war - hinzu kamen die vielen ihm unbekannten Instrumente, erstaunlich bequeme und weiche Sessel, mysteriöse Hebel und Schalter, Bündel verschiedenfarbiger Kabel, und merkwürdige Helme, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, lagen für sie bereit. Der Herzogprinz gab Maxim hastig ein paar Instruktionen, wobei er auf die Instrumente zeigte und die Hebel bewegte. Zerstreut murmelte Mak: »Ja, schon klar, schon klar …« Gai hatten sie in einen Sessel gesetzt und ihm die Maschinenpistole auf die Knie gelegt, damit sie, Gott behüte, ja keine Schramme abbekäme. So saß er da, machte große Augen und schaute überwältigt von einer Seite der Kabine zur anderen.
Der Bomber stand in einem alten, heruntergekommenen Hangar am Waldrand; davor erstreckte sich ein großes und vollkommen ebenes graugrünes Feld - ohne den kleinsten Hügel, den kleinsten Busch; dahinter, etwa fünf Kilometer entfernt, begann wieder Wald. Und über all dem lag der weiße Himmel, der vom Pilotensitz aus ganz nahe schien, nur einen Steinwurf entfernt. Gai war sehr aufgeregt und hatte später fast keine Erinnerung mehr an den Abschied vom Herzogprinzen. Der Alte sagte wohl etwas, und Maxim sagte etwas, sie lachten auch, der Herzogprinz vergoss ein paar Tränen, das Türchen schlug zu. Gai bemerkte plötzlich, dass er schon mit einem breiten Gurt angeschnallt war und sah, wie Maxim im Nachbarsessel flink und sicher ein paar Hebel und Tasten bediente.
Die Messgeräte leuchteten auf, es knallte, rumorte, knatterte, die Kabine bebte, und lautes Dröhnen erfüllte alles ringsum. Der Herzogprinz, klein, weit unten inmitten der niedergedrückten Sträucher und des sich wellenden Grases, griff mit beiden Händen nach seinem Hut und wich zurück. Gai drehte sich um. Die riesigen Propellerblätter waren verschwunden, zu trüben Kreisen verschmolzen, und auf einmal geriet das große Feld dort unten in Bewegung und glitt ihnen entgegen, schneller und schneller. Fort war der Herzogprinz, fort der Hangar - es gab nur noch das Feld, das ungestüm auf sie zuraste, erbarmungsloses Rütteln, Donnern und Tosen … Als Gai mühsam den Kopf wandte, merkte er entsetzt, dass die gigantischen Flügel gleichmäßig schlingerten und jeden Augenblick abzubrechen drohten - aber plötzlich hörte das Rütteln auf, das Feld stürzte in die Tiefe, und ein watteweiches Gefühl durchflutete Gai vom Kopf bis zu den Füßen. Und dann war das Feld schon nicht mehr zu sehen, auch der Wald war weg, verwandelt in eine schwarzgrüne Bürste, eine endlose Flickendecke, und diese Decke blieb langsam zurück. Und da begriff Gai, dass er flog.
Begeistert blickte er zu Maxim hinüber. Mak hatte den linken Arm lässig auf die Seitenlehne gestützt und bewegte mit der rechten Hand sacht den größten und wohl wichtigsten Hebel. Seine Augen waren zusammengekniffen, die Lippen geschürzt, so als pfiffe er. Ja, er war ein großer Mensch. Groß und unerreichbar. Wahrscheinlich kann er alles, überlegte Gai. Er steuert diese komplizierte Maschine, obwohl er sie heute zum ersten Mal im Leben sieht. Das ist ja schließlich kein Panzer oder Lastwagen, sondern ein Flugzeug - einer der legendären Bomber. Ich wusste nicht mal, dass es sie noch gibt. Er aber geht damit um wie mit einem Spielzeug, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, als durch die Luft zu fliegen. Unbegreiflich! Einerseits scheint vieles hier für ihn neu zu sein, andererseits aber kann er sich augenblicklich darauf einstellen und das Nötige tun. Und das nicht nur bei Maschinen. Nicht nur sie erkennen in ihm sofort ihren Meister. Hätte er es gewollt, wäre auch Rittmeister Tschatschu Arm in Arm mit ihm gegangen. Hexenmeister, den man vor Angst kaum anzusehen wagt, betrachtet ihn als seinesgleichen. Und der Herzogprinz, Oberst, Chefchirurg - ein Aristokrat, kann man sagen, hat sofort etwas Hoheitsvolles in ihm gespürt. Hat ihm so ein Flugzeug anvertraut, sogar geschenkt. Und ich wollte ihm Rada geben. Was ist sie schon für ihn? Eine flüchtige Schwärmerei. Braucht er etwa Rada? Eine Gräfin müsste es sein oder eine Prinzessin. Aber mit mir hat er sich angefreundet, ausgerechnet. Würde er jetzt verlangen, dass ich mich hinunterstürzte - schon möglich, dass ich spränge. Weil er es ist, Maxim! Und was ich durch ihn schon alles gesehen und kennengelernt habe, so viel sieht und erfährt man sonst im Leben nicht. Und es wird noch mehr werden, und wie viel ich noch von ihm lernen kann.
Maxim fühlte Gais Blicke auf sich ruhen, spürte seine Begeisterung und Ergebenheit. Er wandte ihm das Gesicht zu, lächelte breit, so wie früher, und Gai konnte sich nur mühsam zurückhalten, Maxims mächtige braungebrannte Pranke zu packen, sie an sich zu drücken und dankbar zu küssen. O mein Gebieter, mein Schild und mein Stolz, befiehl - ich stehe vor dir, bin hier, bin bereit. Ich schleudre mich ins Feuer, lass mich eins werden mit der Flamme. Tausenden von Feinden, weit aufgerissenen Rachen, Millionen von Kugeln entgegen. Wo sind sie, wo sind deine Gegner? Wo sind diese abscheulichen Schwachköpfe in ihren grässlichen schwarzen Uniformen? Wo ist dieser boshafte Winzling von Offizier, der gewagt hat, die Hand gegen dich zu erheben? O du schwarzer Schurke, ich zerfetze dich mit meinen Nägeln, ich beiße dir die Kehle durch - aber nicht jetzt, nein. Mein Herrscher befiehlt, er möchte etwas von mir. Mak, Mak, ich beschwöre dich, schenk mir dein Lächeln wieder, warum lächelst du nicht mehr? Ja, ja, ich bin dumm, ich verstehe dich nicht, ich höre dich nicht, hier ist es so laut, deine gehorsame Maschine dröhnt. Ach, darum geht es, Massaraksch, was bin ich für ein Idiot, ja, natürlich, der Helm. Ja, ja, sofort. Ich begreife, hier ist der Helm, wie im Panzer. Ich höre, Herrlicher! Befiehl! Nein, nein, ich will nicht zur Besinnung kommen! Mir geschieht nichts Schlimmes, ich bin nur ganz der Deine, möchte sterben für dich, befiehl! Ja, ich werde schweigen, ich halte den Mund. Es zerreißt mir die Lunge, doch ich werde still sein, da du es sagst. Ein Turm? Was für ein Turm? Ah, ja, ich sehe ihn. Diese schwarzen Verbrecher, diese gemeinen Menschenfresser, Kindermörder, überall haben sie diese Türme hingesetzt, aber wir werden sie hinwegfegen, sie mit ehernem Stiefel und in den Augen Glut zertreten. Steure dein gehorsames Flugzeug zu dem schändlichen Turm und gib mir eine Bombe, ich springe mit ihr ab, ich werde ihn nicht verfehlen, du wirst sehen! Eine Bombe gib mir, eine Bombe! Ins Feuer! Oh! Oooh!
… Gai atmete schwer und zerrte am Kragen seines Overalls. Seine Ohren klangen, die Welt vor den Augen schwankte und verschwamm. Noch lag sie im Nebel, aber er löste sich rasch auf. Nur die Muskeln schmerzten noch, und es kratzte unangenehm im Hals. Dann sah Gai Maxims Gesicht, es war dunkel, finster, fast brutal. Die Erinnerung an etwas Wonnevolles tauchte in ihm auf und verflog im selben Augenblick wieder. Dafür hatte Gai jetzt das große Bedürfnis, die Hacken zusammenzuschlagen und strammzustehen. Aber er begriff, dass das unpassend war, und auch, dass Maxim sich ärgerte.
»Habe ich was angestellt?«, fragte er schuldbewusst und blickte sich zaghaft um.
»Ich habe was angestellt«, antwortete Maxim. »Ich hatte diesen Mist ganz vergessen.«
»Was denn?«
Maxim drehte sich wieder zum Steuerpult, legte die Hand auf einen Hebel und sah nach vorn.
»Die Türme«, sagte er schließlich.
»Was für Türme?«
»Ich habe zu weit nach Norden gehalten«, knurrte Maxim. »Wir sind in einen Strahlenstoß geraten.«
Gai wurde verlegen. »Hab ich die Hymne gegrölt?«
»Schlimmer«, erwiderte Maxim. »Aber lassen wir das. Von nun an passen wir besser auf.«
Gai wandte sich voller Scham ab, versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte, und betrachtete die Welt, die unter ihm lag. Türme waren nicht mehr zu sehen, ebenso wenig der Hangar und das Feld, von dem aus sie aufgestiegen waren. Die Flickendecke rutschte langsam unter ihnen weg, und dann kam ein Fluss, eine trübe, metallisch blinkende Schlange, die weiter vorne ganz im Nebel verschwand. Und irgendwo dort musste das Meer wie eine Wand zum Himmel emporragen … Was habe ich nur zusammengeschwatzt?, dachte Gai. Großen Blödsinn wahrscheinlich, denn Maxim ist sehr verstimmt und beunruhigt. Massaraksch, womöglich sind meine Angewohnheiten aus der Gardistenzeit wieder hervorgebrochen, und ich habe ihn gekränkt? Wo ist nur dieser verfluchte Turm! Die Gelegenheit wäre günstig, eine Bombe darauf zu werfen.
Plötzlich schlingerte das Flugzeug. Gai biss sich auf die Zunge, und Maxim umklammerte den Hebel jetzt mit beiden Händen. Irgendetwas stimmte nicht, etwas war geschehen. Beklommen blickte Gai nach hinten und registrierte erleichtert, dass der Flügel noch an seinem Platz war und auch die Propeller sich noch drehten. Dann aber sah er hoch und bemerkte, dass sich im fahlweißen Himmel über ihnen langsam rußschwarze Flecken verteilten. Wie Tusche im Wasser …
»Was ist das?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte Maxim. »Merkwürdige Sache.« Er fügte noch zwei Wörter hinzu, die Gai nicht verstand, und erklärte dann zögerlich: »Eine Attacke von Himmelsgestein. Aber das ist Unsinn, so etwas gibt es nicht. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei null Komma null null … Ja, ziehe ich es denn an?«
Er wiederholte die unverständlichen Wörter und verstummte.
Gai wollte fragen, was Himmelsgestein ist, doch da bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus eine seltsame Bewegung rechts unten. Er schaute genauer hin. Über der schmutziggrünen Decke des Waldes schwoll langsam und schwerfällig eine gelbliche Blase an. Er begriff nicht sofort, dass es Rauch war; dann blitzte es in ihrem Inneren, ein langer schwarzer Gegenstand glitt daraus empor, und in derselben Sekunde krümmte sich unheimlich der Horizont, stand wie eine Mauer vor ihnen, und Gai musste sich an den Armlehnen festhalten. Die Maschinenpistole rutschte von seinen Knien und polterte über den Fußboden. »Massaraksch!«, hörte er Maxims Stimme in den Kopfhörern. »Gott im Himmel! Ich Idiot!« Der Horizont richtete sich wieder aus. Gai suchte nach dem gelben Qualm, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er blickte nach vorn und sah plötzlich, wie direkt vor ihnen eine Fontäne verschiedenfarbiger Funken aufspritzte. Wieder blähte sich eine gelbe Wolke, blitzte Feuer, wieder stieg ein langer schwarzer Gegenstand in die Höhe und barst zu einer blendend weißen Kugel. Gai schlug die Hände vor die Augen. Die weiße Kugel verblasste, bekam schwarze Flecken und wurde zu einem gigantischen Klecks. Der Boden unter ihren Füßen stürzte fort. Gai riss den Mund auf und rang nach Luft, für einen Moment schien ihm, als stülpte sich sein Magen um. In der Kabine war es dunkel geworden, schwarze Rauchschwaden schwebten auf sie zu und seitlich vorbei. Wieder änderte sich der Horizont, nun lag der Wald zur Linken. Gai schloss die Augen und krümmte sich in Erwartung eines Schlags, eines Schmerzes, des Todes. Er bekam keine Luft mehr, alles ringsum ruckte und wankte. »Massaraksch«, schrie Maxim in den Kopfhörern. »Dreiunddreißigmal Massaraksch.« Und da hämmerte es kurz und heftig gegen die Bordwand, so, als feuerte man aus einem Maschinengewehr auf sie, ein eisiger Luftzug traf Gai hart ins Gesicht, sein Helm verrutschte. Er kauerte sich zusammen und versuchte, den Kopf vor dem Dröhnen und dem Gegenwind zu schützen. Aus, dachte er, es ist aus. Sie schießen auf uns. Gleich holen sie uns runter, und wir verbrennen. Aber nichts geschah. Der Bomber schüttelte sich noch ein paarmal, fiel in einige Luftlöcher, aus denen er wieder auftauchte - und dann verstummten plötzlich die Triebwerke. Es wurde unheimlich still. Nur das Heulen des Windes war zu hören, der durch die Einschusslöcher drang.
Gai wartete ein wenig und hob dann vorsichtig den Kopf, bemüht, das Gesicht nicht der Zugluft auszusetzen. Maxim war an seinem Platz. Den Körper gespannt, hielt er noch immer mit beiden Händen den Hebel fest und starrte auf die Armaturen, dann wieder nach vorn. Unter seiner braunen Haut zeichneten sich die Muskeln ab. Der Bomber flog jetzt seltsam, mit unnatürlich emporgerecktem Bug. Die Motoren schwiegen. Gai sah nach hinten und erstarrte.
Ein Flügel brannte.
»Feuer!«, schrie er und versuchte aufzuspringen. Doch der Gurt hielt ihn fest.
»Sitz ruhig!«, sagte Maxim durch die Zähne. Er wandte sich nicht um.
Gai riss sich zusammen und starrte geradeaus. Sie hatten schon sehr an Höhe verloren. Schwarze und grüne Flecken flimmerten vor seinen Augen. Und vorn erhob sich bereits die schimmernde, stahlgraue Oberfläche des Meeres. Zerschellen werden wir!, durchfuhr es ihn, und sein Herz stockte. Verfluchter Herzogprinz mit seinem verfluchten Bomber, Massaraksch! Auch so ein Überbleibsel des Imperiums. Und dabei könnten wir so schön ruhig und sorglos dahinwandern. Stattdessen werden wir gleich verbrennen. Und wenn wir nicht verbrennen, dann bersten wir, und bersten wir nicht, dann versinken wir im Meer. Maxim ist das gleich, er wird sowieso wieder auferstehen, aber für mich ist es das Ende. Ich will nicht.
»Zapple nicht so«, sagte Maxim. »Halt dich fest. Gleich …«
Der Wald unter ihnen war plötzlich fort. Gai sah die gekräuselte Wasserfläche direkt auf sich zurasen und kniff die Augen zusammen.
Ein Stoß. Dann ein Knirschen. Furchterregendes Zischen. Noch ein Stoß. Und noch einer. Alles ist aus. Vorbei. Aus und vorbei … Gai schreit auf vor Entsetzen. Eine gewaltige Kraft packt ihn und versucht, ihn aus dem Sessel zu reißen, zusammen mit dem Gurt, schleudert ihn dann aber enttäuscht zurück, und alles ringsum zerspringt und bricht, Brandgeruch breitet sich aus, warmes Wasser sprüht … Dann endlich Stille. Wenig später Rieseln und Plätschern. Etwas prasselt, zischt. Langsam hebt und senkt sich der Boden. Jetzt kann man wohl wieder die Augen öffnen und sich ansehen, wie es da ist, im Jenseits …
Gai schlug die Augen auf und erblickte Maxim, der, über ihn gebeugt, seinen Gurt löste. »Kannst du schwimmen?«
Aha, wir sind also am Leben.
»Kann ich«, antwortete Gai.
»Dann los.«
Gai stand vorsichtig auf. Er erwartete heftige Schmerzen in seinem gemarterten, zerquälten Körper, aber der erwies sich als völlig unversehrt. Der Bomber schaukelte sacht im Wasser. Sein linker Flügel fehlte, der rechte baumelte noch an einem durchlöcherten Stück Metall. In gerader Linie vor dem Bug war das Ufer - offensichtlich hatte sich das Flugzeug um hundertachtzig Grad gedreht.
Maxim nahm die Maschinenpistole, warf sie sich über die Schulter und stieß die Luke auf. Im selben Augenblick flutete Wasser herein, es stank fürchterlich nach Benzin, und der Boden unter den Füßen kippte langsam in Schieflage.
»Vorwärts!«, kommandierte Maxim, und Gai, der sich neben ihm seinen Weg bahnte, sprang gehorsam in die Wellen.
Er versank bis über den Kopf, tauchte auf, prustete und paddelte auf die Küste zu. Sie war nahe, ein fester, begehbarer Strand und ohne Gefahr zu erreichen. Maxim hielt sich in der Nähe, zerteilte lautlos das Wasser. Massaraksch, auch schwimmen konnte er wie ein Fisch, als wäre er im Meer geboren. Gai keuchte und strampelte aus aller Kraft mit Armen und Beinen. Sein Overall und die Stiefel behinderten ihn, und er war froh, als er mit dem Fuß auf sandigen Grund stieß. Bis zum Ufer blieb zwar noch ein ganzes Stück, aber er stellte sich mit beiden Füßen auf den Grund und ging den Weg dorthin zu Fuß - mit vorgestreckten Armen, durch schmutziges, ölbeflecktes Wasser. Maxim schwamm weiter, er überholte ihn und betrat als Erster den glatten, ebenmäßigen Sand. Er stand schon breitbeinig da und sah zum Himmel, als Gai auf ihn zu wankte. Dort oben zerflossen die schwarzen Flecken …
»Wir haben Glück gehabt«, sagte Maxim. »Etwa zehn Stück haben sie hochgejagt.«
»Was ist?« Gai schnippte gegen seine Ohren, um das Wasser herauszuschütteln.
»Raketen. Die hatte ich ganz vergessen. Wie viele Jahre haben sie gewartet, dass wir über sie hinwegfliegen - jetzt war es so weit. Wieso habe ich bloß nicht daran gedacht!«
Gai fiel ein, dass auch er es hätte wissen müssen. Schon vor zwei Stunden hätte er Mak warnen sollen: Wir können nicht drüberfliegen, der Wald ist voller Raketenschächte … Nein, Herzogprinz, vielen Dank natürlich, aber Sie sollten besser allein mit Ihrem Bomber fliegen. Er sah auf das Meer hinaus. Der »Bergadler« war fast versunken, nur sein lädiertes, mehrstöckiges Heck ragte noch aus dem Wasser heraus.
»Na gut«, sagte Gai. »Wie ich sehe, kommen wir nicht bis zum Inselimperium. Was machen wir jetzt?«
»Zunächst einmal nehmen wir unsere Medizin ein. Nimm«, antwortete Maxim.
»Weshalb?«, fragte Gai. Er mochte die Pillen vom Herzogprinzen überhaupt nicht.
»Das Wasser ist hochgradig verseucht«, erklärte Maxim. »Meine Haut brennt. Gib gleich jedem von uns vier oder fünf Stück.«
Hastig holte Gai eines der Röhrchen heraus, schüttete sich zehn von den gelben Kügelchen in die Hand, und jeder von ihnen schluckte fünf.
»Und jetzt los«, befahl Maxim. »Nimm deine MP.«
Gai griff nach seiner Maschinenpistole, spuckte das beißend Bittere aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, und ging hinter Maxim am Ufer entlang. Sie sanken im Sand ein, und es war heiß, so heiß, dass der Overall im Nu trocknete; nur in den Stiefeln gluckste noch das Wasser. Maxim schritt schnell und sicher voraus, als wüsste er genau, wohin sie zu gehen hätten - dabei war nichts weiter zu sehen als das Meer zur Linken, der weite Strand zur rechten und vor ihnen vereinzelte Dünen, hinter denen immer wieder zerzauste Spitzen von Waldbäumen hervorlugten.
Sie legten etwa drei Kilometer zurück, und die ganze Zeit über grübelte Gai, wohin sie gingen und wo sie sich überhaupt befanden. Fragen wollte er nicht, er wollte es selbst herausfinden. Aber auch nachdem er sich alle Details ins Gedächtnis gerufen hatte, erriet er nur, dass irgendwo vor ihnen das Mündungsgebiet der Blauen Schlange lag und sie sich nach Norden bewegten - und er verstand bis jetzt weder wohin noch wozu. Vom Nachdenken hatte er bald genug. Seine Waffe umklammernd, fiel er in leichten Trab, hatte Mak schnell eingeholt und fragte geradeheraus, was sie für Pläne hätten.
Maxim antwortete bereitwillig, sie hätten keine konkreten Pläne und könnten nur auf Zufälle und Gelegenheiten warten. Zudem bliebe die Hoffnung, dass ein weißes Submarine sich dem Ufer näherte und sie es eher erreichten als die Gardisten. Da es jedoch ein sehr zweifelhaftes Vergnügen sei, im heißen trockenen Sand auf diesen Moment zu warten, müssten sie versuchen, den Kurort zu erreichen, der ganz in der Nähe liegen müsse. Die Stadt sei natürlich längst zerstört, aber die Brunnen würden sicher noch funktionieren, und sie hätten ein Dach über dem Kopf. Sie würden im Kurort übernachten und dann weitersehen. Möglich, dass sie viele Dutzend Tage an dieser Küste verbringen müssten.
Vorsichtig wandte Gai ein, der Plan erscheine ihm etwas merkwürdig. Mak stimmte ihm zu und fragte ihn seinerseits, ob nicht er, Gai, einen anderen, besseren wüsste? Gai verneinte, vergaß aber nicht, Mak vor den Panzerpatrouillen der Garde zu warnen, die, soweit er wisse, die Küste entlang weit nach Süden vordrangen. Maxims Miene verfinsterte sich. Er knurrte, das sei schlecht, und sie dürften sich keinesfalls überrumpeln lassen; dann befragte er ihn detailliert nach der Taktik der Patrouillen. Als Gai ihm berichtete, dass die Panzer weniger das Ufer als vielmehr das Meer kontrollierten und man sich in den Dünen leicht vor ihnen verbergen konnte, beruhigte sich Mak und pfiff sogar einen kleinen Marsch vor sich hin, den Gai noch nicht kannte.
Im Takt dieses Marsches stapften sie weitere zwei Kilometer. Inzwischen überlegte Gai, was sie tun konnten, würden sie tatsächlich von einer Streife bemerkt. Dann legte er seinen Plan Maxim dar.
»Wenn sie uns entdecken«, begann er, »erzählen wir ihnen, die Missgeburten hätten mich entführt, du hättest sie verfolgt und mich ihnen wieder abgejagt. Dann wären wir durch den Wald geirrt und seien schließlich hier gelandet.«
»Und was nützt uns das?« Maxim schien nicht sonderlich begeistert.
»Das nützt uns«, antwortete Gai verärgert, »dass sie uns wenigstens nicht an Ort und Stelle erschießen.«
»Nein«, sagte Maxim bestimmt. »Erschießen lasse ich mich nicht mehr, und auch dich wird keiner erschießen.«
»Und wenn sie einen Panzer haben?«
»Ja, na und? Pah, ein Panzer …«
Maxim schwieg kurze Zeit und fügte dann nachdenklich hinzu: »Weißt du, es wäre gar nicht schlecht, einen Panzer zu kapern.«
Offensichtlich gefiel ihm dieser Gedanke.
»Ausgezeichnete Idee, Gai«, fuhr Maxim fort. »So machen wir’s. Wir nehmen ihnen einen Panzer weg. Sobald sie auftauchen, ballerst du mit der MP in die Luft, ich lege die Hände auf den Rücken, und du treibst mich direkt zu ihnen. Der Rest ist meine Sache. Aber halte dich im Hintergrund, komm mir nicht in die Quere, und gib vor allem keinen Schuss mehr ab.«
Gai fing Feuer und schlug gleich vor, auf den Dünen weiterzugehen, damit man sie schon von fern sehen könnte. Sie kletterten nach oben.
Und erblickten sofort ein weißes Submarine.
 
Hinter den Dünen lag eine kleine flache Bucht, und das Unterseeboot ragte etwa hundert Meter vom Ufer entfernt aus dem Wasser. Einem Submarine ähnelte es allerdings gar nicht, noch weniger war es weiß. Gai vermutete zunächst, es handle sich um den Kadaver eines riesigen zweihöckrigen Tieres oder um einen bizarren Felsen. Maxim aber begriff gleich, was sie da vor sich hatten und meinte, das Submarine liege sicher schon einige Jahre dort, verlassen und in den Grund gesunken.
So war es auch. Als sie die Bucht erreichten und zum Wasser hinunterstiegen, sah Gai die Rostflecken, sowohl am langen Rumpf als auch an den Aufbauten. Die weiße Farbe war abgeblättert und der Geschützstand seitlich weggekippt, so dass die Kanonenmündung auf das Wasser wies. In der Panzerung klafften schwarze Löcher mit rußigen Rändern. Dort lebte sicher nichts mehr.
»Ist das ein weißes Submarine?«, fragte Maxim. »Hast du schon mal welche gesehen?«
»Meiner Meinung nach ist es eins«, antwortete Gai. »An der Küste habe ich nie gedient, aber uns wurden Fotos gezeigt und Mentogramme. Man hat sie uns auch beschrieben. Sogar einen Mentofilm gab es - ›Panzer bei der Küstenverteidigung‹. Es ist eins. Man kann es sich so vorstellen: Es wurde bei Sturm in die Bucht getrieben, ist dort gestrandet, und dann kam eine Patrouille. Siehst du, wie sie es zerschossen haben? Das ist keine Außenhaut mehr, das ist ein Sieb.«
»Sieht ganz so aus«, murmelte Maxim, während er es eingehend betrachtete. »Schauen wir’s uns an?«
Gai wurde verlegen. »Wir könnten, natürlich«, sagte er unsicher.
»Was ist?«
»Wie soll ich’s dir erklären?«
Wirklich, wie sollte er es erklären? Einmal nachts, in der dunklen Kaserne, hatte Korporal Serembesch, der alte Haudegen, erzählt, auf den weißen Submarines befänden sich keine gewöhnlichen Seeleute: Es seien Tote, die entweder eine zweite Dienstzeit ableisteten, oder im Dienst so feige gewesen waren, dass sie vor lauter Angst gestorben seien und jetzt auf diese Weise ihren Dienst zu Ende bringen mussten. Meeresdämonen durchstöberten den Meeresgrund, um die Ertrunkenen aufzulesen und Mannschaften aus ihnen zusammenzustellen. Aber so etwas konnte er Mak nicht erzählen; der würde nur lachen, obwohl es da gar nichts zu lachen gab. Soldat Leptu, zum Beispiel, ein degradierter Offizier, hatte einmal im Rausch erzählt: »Ist alles Unsinn, Jungs: All eure Missgeburten, die Mutanten, die radioaktive Strahlung - all das überlebt man, damit wird man fertig. Aber betet zu Gott, dass es euch nicht auf ein weißes Submarine verschlägt. Besser gleich absaufen, Jungs, als so eins auch nur mit der Hand zu berühren. Und glaubt mir, ich weiß es.« Sie hatten keine Ahnung, warum Leptu degradiert worden war, doch zuvor hatte er ein Küstenschutzboot befehligt …
»Weißt du«, begann Gai eindringlich, »es gibt manchen Aberglauben, alle möglichen Legenden. Ich will sie dir nicht erzählen, aber Rittmeister Tschatschu hat einmal erwähnt, die Submarines seien verseucht und es sei strikt verboten, an Bord zu gehen. Es existiert sogar ein solcher Befehl. Es heißt, abgeschossene Submarines würden …«
»In Ordnung.« Maxim ließ ihn nicht ausreden. »Du bleibst hier, und ich gehe. Mal sehen, was das für eine Seuche ist.«
Gai öffnete den Mund, doch ehe er ein Wort sagen konnte, war Maxim ins Wasser gesprungen und untergetaucht. Er blieb verschwunden; Gai stockte schon der Atem vom langen Warten, als der schwarzhaarige Schopf endlich wieder zum Vorschein kam - vor der abgeblätterten Bordwand, genau unter einem Einschussloch. Gewandt und mühelos, wie eine Fliege die Wand, erklomm Maxim das schiefe Deck, schwang sich im Nu auf den Bugaufbau - und verschwand. Gai schnappte nach Luft, trat von einem Fuß auf den anderen und ging dann am Wasser hin und her, ohne die Augen von dem Unterseeboot abzuwenden.
Es war still, nicht einmal Wellen gab es in dieser leblosen Bucht, nur einen leeren weißen Himmel, unbelebte weiße Dünen - alles heiß, trocken und starr. Hasserfüllt musterte Gai den verrosteten Kadaver. Dass wir aber auch so ein Pech haben: Andere dienen Jahre und bekommen kein einziges Submarine zu Gesicht; wir aber brauchen nur vom Himmel zu fallen, ein Stündchen zu marschieren - und schon haben wir eins vor der Nase. Hervorragend. Wie konnte ich mich nur auf so etwas einlassen? Nur wegen Maxim. Für ihn ist alles immer einfach, als hätte man nichts zu bedenken oder zu fürchten. Vielleicht hatte ich auch deshalb keine Angst, weil ich mir das Submarine in voller Funktion ausgemalt hatte, weiß, schnittig, auf Deck Matrosen, ebenfalls in weiß. Stattdessen nun diese eiserne Leiche. Auch die Gegend hier ist tot, kein Lüftchen regt sich. Dabei war es vorhin windig, ich erinnere mich genau: Als wir gingen, blies mir eine erfrischende Brise entgegen. Gai blickte beklommen umher, setzte sich dann in den Sand, legte die Maschinenpistole neben sich und begann, langsam seinen rechten Stiefel abzustreifen. So eine Stille aber auch! Was, wenn nun Mak nicht mehr zurückkehrte? Wenn dieses eiserne Aas ihn verschluckte und nicht einmal mehr sein Geist da wäre … Nur nichts herbeischreien, toi, toi, toi …
Plötzlich zuckte er zusammen, der Stiefel fiel ihm aus der Hand, denn er hörte einen langgezogenen, unheimlichen Ton … Er klang, als kratzten Teufel mit schartigen Messern über eine sündige Seele. O Gott! Aber nein, es war nur die verrostete Luke gewesen, die sich quietschend geöffnet hatte … Also nein, wahrhaftig, sogar der Schweiß ist mir ausgebrochen. Maxim hat die Luke geöffnet, also wird er gleich herausklettern … Nein, er kommt doch nicht …
Einige Minuten lang reckte Gai den Hals, spitzte die Ohren und spähte zu dem Submarine hinüber. Stille. Die gleiche schauerliche Stille wie zuvor, ja, noch schauerlicher als vor dem Rostgeheul. Womöglich war die Luke nicht geöffnet, sondern zugeschlagen worden? Oder sie war von selbst zugefallen? Angststarren Auges sah Gai folgendes Bild vor sich: Eine schwere Eisentür fällt hinter Maxim ins Schloss, wie von selbst, und dann schiebt sich ein schwerer Riegel davor. Gai leckte über seine trockenen Lippen, schluckte, obwohl er kein Tröpfchen Speichel mehr im Mund hatte, und schrie: »He, Mak!« Aber es war gar kein Schrei, sondern nur ein Fiepen. Gott, wäre wenigstens ein Laut zu hören! »He, he!«, rief er verzweifelt. »E-e …«, gaben die Dünen finster zurück, und wieder wurde alles still.
Absolut still. Zum Schreien hatte Gai keine Kraft mehr.
Ohne den Blick von dem Submarine zu wenden, tastete Gai nach der MP, entsicherte sie mit zitternden Fingern und jagte einen Schuss in die Bucht. Es knallte kurz und kraftlos, wie durch Watte. Aus der glatten Wasseroberfläche spritzten kleine Fontänen hoch, Kreise liefen auseinander. Gai hob den Lauf etwas höher und drückte noch einmal ab. Dann hörte er etwas: Die Kugeln hämmerten auf Metall, Querschläger kreischten, das Echo hallte. Und - nichts. Absolut nichts. Kein Laut, als wäre er allein, schon immer allein gewesen. Als hätte es ihn auf rätselhafte Weise hierherverschlagen, als wäre er im Fieberwahn an diesen unbelebten Ort geraten und könnte nun nicht mehr aufwachen und zur Besinnung kommen. Und müsste für immer allein hierbleiben.
Vollkommen außer sich vor Angst, ging Gai - so wie er war, mit einem Stiefel - ins Wasser, anfangs langsam, dann immer schneller, schließlich rannte er, zog die Beine nach oben, bis zum Gürtel schon im Wasser, schluchzte laut und schimpfte vor sich hin. Der rostige Koloss rückte näher. Mal schleppte sich Gai vorwärts, das Wasser mit den Armen vor sich wegschaufelnd, mal stürzte er sich ins Wasser und schwamm. Er erreichte das Schiff, versuchte hochzuklettern, schaffte es aber nicht, schwamm dann um das Heck herum, klammerte sich an den Leinen fest und zog sich auf Deck. Dabei stieß er immer wieder gegen die rostige Bordwand, so dass die Haut an Armen und Beinen aufriss und abschürfte. Tränenüberströmt hielt er inne. Ihm war völlig klar, dass dies sein Ende bedeutete. »He - he!«, rief er. Dann versagte ihm die Stimme.
Stille.
Das Deck war leer. An den durchlöcherten, rostigen Wänden klebten trockene Wasserpflanzen - was aussah, als sei das Metall von filzigem Haar überzogen. Der Bugaufbau hing wie ein großer Pilz über Gais Kopf, und seitlich klaffte ein breiter Riss in der Panzerung. Gai lief zur Rückseite des Aufbaus und entdeckte die noch feuchten Eisenbügel, die nach oben zur Luke führten. Er warf sich die Maschinenpistole über die Schulter und stieg hinauf. Es dauerte lange; eine halbe Ewigkeit stieg er in dieser bedrückenden Stille seinem unvermeidlichen, ewigen Tod entgegen. Er kletterte bis ganz nach oben und verharrte dort auf allen vieren. Das Ungeheuer erwartete ihn schon - mit weit offenem, wohl seit hundert Jahren nicht mehr geschlossenem Schlund, dessen Scharniere schon wieder Rost angesetzt hatten: Bitte näher zu treten! Gai kroch zur Luke und blickte ins Dunkel hinab. In seinem Kopf drehte sich alles, ihm wurde übel. Aus dem eisernen Rachen quoll die Stille wie eine kompakte Masse hervor - Jahr um Jahr angestaute, modrige Stille. Plötzlich stellte Gai sich vor, wie dort, in dieser gelben, der Fäulnis anheimgefallenen Welt, und von der tonnenschweren Stille fast erdrückt, sein Freund Mak kämpfte, allein gegen alle, wie er mit letzter Kraft um sein Leben rang, wie er rief: »Gai! Gai!« Und wie die Stille lächelnd seinen Ruf verschluckte und sich wieder auf ihn wälzte, ihn unter sich erdrückte, würgte, zerquetschte. Gai konnte es nicht mehr ertragen und kletterte in die Luke.
Er weinte, schluchzte, beeilte sich, verlor aber dann den Halt und stürzte polternd einige Meter in die Tiefe. Er fand sich in einem eisernen Schacht wieder - trübe beleuchtet von ein paar verstaubten Lämpchen. Auf dem Boden lag feiner Sand, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Gai sprang auf - noch immer war er in Eile, noch immer hatte er große Angst, zu spät zu kommen - und lief aufs Geratewohl los. »Ich bin hier, Mak! Ich komme …«
»Was schreist du denn?«, fragte Maxim verärgert, der wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. »Was ist passiert? Hast du dir in den Finger geschnitten?«
Gai blieb stehen und senkte die Arme. Er war einer Ohnmacht nahe und musste sich gegen das Schott stützen. Sein Herz hämmerte wild, wie Trommelwirbel dröhnten die Schläge in seinen Ohren, und die Stimme versagte ihm den Dienst. Maxim sah ihn einige Zeit verwundert an und schien dann zu verstehen. Er zwängte sich in den Gang - wieder quietschte durchdringend die Tür - und trat zu ihm, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn, drückte ihn an sich und umarmte ihn. Einige Sekunden lang lag Gai in seligem Vergessen an seiner Brust, bis er allmählich zu sich kam.
»Ich dachte … man hätte dich hier … dass du hier … dass man dich …«
»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn Maxim sanft. »Es ist meine Schuld, ich hätte dich gleich rufen sollen. Aber hier gibt es so seltsame Dinge, verstehst du.«
Gai machte sich frei, wischte sich mit seinem nassen Ärmel über die Nase, fuhr sich mit der nassen Hand übers Gesicht - und schämte sich.
»Du kommst und kommst nicht«, sagte er böse, mit niedergeschlagenem Blick. »Ich rufe, schieße. War es wirklich so schwer zu antworten?«
»Massaraksch, ich habe nichts gehört«, erwiderte Maxim schuldbewusst. »Weißt du, es gibt ein großartiges Radio hier. Ich habe gar nicht gewusst, dass man so leistungsstarke bei euch baut.«
»Radio, Radio …«, brabbelte Gai und schob sich durch die halbgeöffnete Tür. »Du amüsierst dich, während ich deinetwegen fast um den Verstand komme. Was ist das hier?«
Gai stand jetzt in einem ziemlich großen Raum. Auf dem Boden lag ein vermoderter Teppich, an der Decke hingen drei halbrunde Leuchten, von denen aber nur eine brannte. In der Mitte stand ein runder Tisch, um ihn herum einige Sessel. An den Wänden waren merkwürdige gerahmte Fotos und Bilder zu sehen; die Reste einer Samttapete hingen in Fetzen herab. In einer Ecke knackte und heulte ein großer Rundfunkempfänger - etwas Derartiges hatte Gai noch nie gesehen.
»Das hier ist der Gemeinschaftsraum«, antwortete Maxim. »Schau dich um, hier gibt’s einiges zu sehen.«
»Und die Besatzung?«, fragte Gai.
»Keiner da. Weder Lebende noch Tote. Die unteren Räume sind alle unter Wasser. Ich vermute, sie liegen dort.«
Gai blickte ihn erstaunt an. Maxim hatte sich abgewandt, er schien niedergeschlagen.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann er. »Es war wahrscheinlich besser für uns, dass wir es nicht bis zum Inselimperium geschafft haben. Sieh dich mal um.«
Er setzte sich ans Radio und betätigte die Feinregler. Gai wusste nicht, womit er beginnen sollte, und ging schließlich zur Wand hinüber und betrachtete die Fotos. Einige Zeit konnte er mit ihnen gar nichts anfangen. Dann verstand er: Es waren Röntgenaufnahmen. Die Zähne gebleckt, grinsten ihn Schädel an, unscharf, einer wie der andere. Auf jeder Aufnahme prangte eine unleserliche Unterschrift - wie auf einem Autogramm. Die Mitglieder der Mannschaft? Berühmtheiten? Gai zuckte mit den Schultern. Onkel Kaan würde sich damit vielleicht auskennen, aber unsereins, als einfacher Mensch?
In der hinteren Ecke hing ein großes Plakat, sehr malerisch und schön, ein Dreifarbdruck … freilich etwas angeschimmelt … Es zeigte das blaue Meer, aus dessen Wellen - einen Fuß schon auf dem schwarzen Ufer - ein stattlicher Mann trat; er trug eine unbekannte Uniform, war sehr muskulös und hatte einen unproportional kleinen Kopf, der zur Hälfte aus dem mächtigen Hals bestand. In der einen Hand hielt er eine Papierrolle mit unverständlichem Text, mit der anderen stieß er eine brennende Fackel ins Festland, an der sich eine Stadt entzündete. Missgeburten der hässlichsten Sorte krümmten sich in den Flammen; ein weiteres Dutzend von ihnen lief auf allen vieren davon. Auf dem oberen Teil des Plakats prangte ein großer schnörkeliger Schriftzug. Die Buchstaben waren vertraut, die Worte aber unaussprechlich.
Je länger Gai das Plakat betrachtete, desto weniger gefiel es ihm. Es erinnerte ihn an ein anderes, das früher in der Kaserne gehangen hatte: Ein schwarzer Supergardist, ebenfalls mit sehr kleinem Kopf und gewaltigen Muskeln, schnitt einer abscheulichen orangefarbenen Schlange, die aus dem Meer tauchte, mit einer riesengroßen Schere den Kopf ab. Auf der einen Klinge stand »Kämpfende Garde«, auf der anderen »Unsere ruhmreiche Armee«. Soso, sagte Gai zu sich, während er einen letzten Blick auf das Plakat warf. Das werden wir noch sehen. Wir werden sehen, wer wem Zunder gibt, Massaraksch!
Er wandte sich von dem Plakat ab, drehte sich um und blieb wie versteinert stehen: Von dem hübschen lackierten Regal gegenüber starrten ihn die glasigen Augen eines bekannten Gesichts an: Dunkelblonde Ponyfransen über den Augenbrauen, auffällige Narbe auf der rechten Wange, quadratische Gesichtsform - das war Rittmeister Pudurasch, ein Nationalheld. Er war Befehlshaber einer Kompanie in der Brigade der Toten-doch-Unvergessenen gewesen; er hatte elf weiße Submarines versenkt und war in ungleichem Kampf gefallen. Sein Porträt, geschmückt mit einem Kranz Strohblumen, hing in jeder Kaserne, seine Büste zierte jeden Appellplatz. Und hier nun - geschrumpft, die Haut gelb und leblos - war sein Kopf, aber warum? Gai wich zurück, ja, der Kopf war echt. Und daneben stand noch einer: ein fremdes, spitzes Gesicht. Und noch einer. Ein weiterer. Massaraksch, wie viele es waren!
»Mak!«, stöhnte Gai. »Hast du das gesehen?«
»Ja«, antwortete Maxim.
»Das sind Köpfe!«, stotterte Gai. »Richtige Köpfe.«
»Sieh dir die Alben auf dem Tisch an.«
Mühsam löste Gai seinen Blick von der schaurigen Sammlung, drehte sich um und trat zögerlich an den Tisch. Im Radio schrie jemand in einer fremden Sprache, Musik ertönte, und dann sprach wieder jemand mit einer sich einschmeichelnden, samtweichen, ausdrucksvollen Stimme.
Gai nahm das erstbeste Album und schlug den festen Lederdeckel auf. Ein Porträt. Ein merkwürdiges langes Gesicht mit weichem Backenbart von den Wangen bis zu den Schultern, die Haare über der Stirn wegrasiert, eine Hakennase, ungewöhnlicher Schnitt der Augen. Ein unangenehmes Gesicht, man konnte sich nicht vorstellen, dass es lächelte. Eine unbekannte Uniform, darauf in zwei Reihen Medaillen und Abzeichen. War bestimmt ein hohes Tier. Gai blätterte weiter. Derselbe Kerl inmitten anderer, ebensolcher, auf der Kommandobrücke eines weißen Submarine. Auch hier schaut er finster, die anderen dagegen grinsen breit. Unscharf im Hintergrund eine Art Strandpromenade, Gebäude, verschwommene Silhouetten von Palmen oder Kakteen. Nächste Seite. Gai stockte der Atem: ein brennender »Drache« mit schief gerutschtem Turm; aus der offenen Luke hängt der Körper eines Panzergardisten, zwei andere liegen abseits übereinander, und auf ihnen steht breitbeinig dieser Kerl, eine Pistole in der gesenkten Hand und auf dem Kopf eine Kappe, die nach vorne spitz zuläuft. Vom »Drachen« steigt dichter schwarzer Rauch auf. Gai erkannte die Gegend sofort: Es war dieses Ufer, mit seinem Sandstrand und den Dünen dahinter. Gai war innerlich aufs Äußerste angespannt, als er das Blatt wendete - nicht ohne Grund. Nun sah er eine Gruppe Mutanten, etwa zwanzig Personen und alle nackt - ein ganzer Haufen Missgeburten, mit einer Leine gefesselt. Einige Piraten mit Spitzhauben auf den Köpfen und schwelenden Fackeln, daneben wieder dieser Kerl; offensichtlich erteilt er einen Befehl, die rechte Hand hat er ausgestreckt, die linke liegt auf dem Griff eines Dolches. Wie unheimlich diese Missgeburten waren, man traute sich kaum hinzusehen. Aber es kam noch schlimmer.
Dieselben Mutanten, schon verkohlt. Der Typ steht abseits, mit dem Rücken zu den Leichen, und riecht an einer Blume, während er sich anscheinend mit jemandem unterhält.
Ein riesiger Baum im Wald, behängt mit toten Körpern. Manche hängen an den Armen, andere an den Beinen. Diesmal sind es keine Missgeburten - einer trägt den karierten Overall eines Zöglings, ein anderer eine schwarze Gardistenjacke.
Ein Greis, an einen Pfahl gebunden. Das Gesicht verzerrt, er schreit, hat die Augen zusammengekniffen. Auch hier wieder dieser Kerl - sorgsam überprüft er eine medizinische Spritze.
Und noch mehr erhängte, brennende, versengte Mutanten, Sträflinge, Gardisten, Fischer, Bauern, Männer, Frauen, Greise, Kinder. Ein ganzer Strand voll kleiner Kinder und der Kerl, wie er hinter einem schweren MG hockt. Sie schleifen Frauen … wieder der Kerl mit der Spritze, die untere Gesichtshälfte von einer weißen Maske verdeckt … ein Haufen abgeschnittener Köpfe, der Kerl stochert mit einem Spazierstock in dem Haufen. Hier lächelt er … Eine Panoramaaufnahme: das Ufer, vier brennende Panzer auf den Dünen, im Vordergrund zwei kleine schwarze Gestalten mit erhobenen Armen. Es reichte. Gai schlug das Album zu und schleuderte es von sich. Einige Sekunden saß er still, dann warf er fluchend alle Alben auf den Boden.
»Mit denen willst du dich einigen?!«, schrie er Maxim an, der ihm den Rücken zuwandte. »Die willst du zu uns bringen? Diesen Henker?« Er stürzte zu den Alben und trampelte mit dem Fuß darauf.
Maxim schaltete das Radio ab.
»Spiel nicht verrückt«, sagte er. »Ich will überhaupt nichts mehr. Und du hast keinen Grund, mich anzubrüllen. Ihr seid selbst schuld, habt eure Chancen verschlafen, Massaraksch, habt alles ruiniert, ausgeraubt, seid verroht wie Vieh! Was soll man jetzt mit euch machen?« Er stand plötzlich vor Gai, packte ihn am Schlafittchen. »Was soll ich jetzt mit euch tun?«, fauchte er. »Was? Was? Du weißt es nicht? Rede doch!«
Gai schwieg und versuchte zaghaft, sich aus dem Griff zu lösen. Maxim ließ ihn los.
»Ich kann’s dir sagen«, fuhr er düster fort. »Keinen darf man hierherbringen. Überall sind Bestien. Die müsste man jagen.« Er hob eins der Alben vom Boden auf und schlug heftig die Seiten um. »Was für eine Welt habt ihr versaut!«, sagte er. »Was für eine Welt! Sieh her!«
Gai schielte über Maks Arm. Diesmal erblickte er keine Gräuel, sondern Landschaftsaufnahmen aus verschiedenen Gegenden. Farbfotos von erstaunlicher Schärfe und Schönheit: blaue Buchten, gesäumt von üppigem Grün, strahlend weiße Städte am Meer, ein Wasserfall in einer Bergschlucht, eine erstklassige Autobahn mit einem Strom verschiedenfarbener Wagen, irgendwelche alten Schlösser, Schneegipfel über den Wolken, jemand, der auf Skiern fröhlich hangabwärts gleitet, lachende Mädchen, die in der Brandung spielen.
»Wo ist das alles geblieben?«, fragte Maxim. »Was habt ihr damit gemacht, ihr verfluchten Kinder von verfluchten Vätern? In Stücke geschlagen, verkommen lassen, gegen Eisen eingetauscht, Menschenskind …« Er legte das Album auf den Tisch. »Gehen wir.«
Wütend stemmte er sich gegen die Tür, stieß sie weit auf - sie knarzte und kreischte - und stürmte durch den Gang.
Auf Deck fragte er: »Hast du Hunger?«
»Hm, ja«, antwortete Gai.
»Gut«, sagte Maxim. »Gleich werden wir essen. Schwimmen wir los.«
Gai erreichte als Erster das Ufer, streifte sofort seinen Stiefel ab, zog sich aus und breitete die Sachen zum Trocknen auf den Sand. Maxim blieb noch im Wasser, und Gai beobachtete ihn besorgt: Allzu tief tauchte sein Freund, zu lange blieb er unter Wasser. Das durfte man nicht, es war gefährlich, wie konnte ihm die Atemluft reichen? Endlich kam Mak heraus: Er zog einen großen, wuchtigen Fisch an den Kiemen hinter sich her. Der guckte verdattert, als könne er nicht fassen, dass ihn jemand mit bloßen Händen gefangen hatte. Maxim schleuderte ihn auf den Sand. »Ich denke, der ist richtig, wenig radioaktiv. Bestimmt auch ein Mutant. Schluck deine Tabletten, ich mache ihn inzwischen zurecht. Man kann ihn roh essen, ich bring’s dir bei - Sashimi heißt das. Kennst du nicht? Gib mal das Messer her.«
Dann, als sie sich satt gegessen hatten - nichts dran auszusetzen, war durchaus genießbar - und nackt im heißen Sand lagen, fragte Maxim nach langem Schweigen: »Wenn wir einer Patrouille in die Arme gelaufen wären und uns ergeben hätten, wohin hätten sie uns gebracht?«
»Wie - ›wohin‹? Dich dahin, wo du deine Strafe zu verbüßen hast, mich an meinen Dienstort … Wieso?«
»Ist das sicher?«
»Sicherer geht’s nicht. Die entsprechende Instruktion stammt vom Generalkommandeur persönlich. Warum fragst du?«
»Jetzt gehen wir die Gardisten suchen«, sagte Maxim.
»Um einen Panzer zu kapern?«
»Nein. Wir nehmen deine Legende: Du wurdest von Missgeburten geraubt, und der Zögling hat dich gerettet.«
»Wir ergeben uns?« Gai setzte sich auf. »Wie denn das? Ich auch? Ich soll zurück unter die Strahlen?«
Maxim schwieg.
»Dann werde ich ja wieder zur Marionette«, flüsterte Gai hilflos.
»Nein«, sagte Maxim. »Das heißt ja, natürlich, aber es wird nicht mehr so sein wie früher. Du wirst zwar ein bisschen zur Marionette, aber jetzt wirst du an etwas anderes, an das Richtige glauben. Das ist natürlich auch nicht besonders gut, aber schon besser, viel besser …«
»Aber warum?«, schrie Gai verzweifelt. »Warum ist das nötig?«
Maxim fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Siehst du, Gai, mein Freund … Es ist Krieg! Entweder haben wir Honti überfallen, oder Honti hat uns angegriffen, ich weiß es nicht. Aber mit einem Wort: Es ist Krieg.«
Entsetzt starrte Gai ihn an. Krieg … ein Atomkrieg, andere gibt es ja nicht mehr … Rada … Gott, aber weshalb denn? Wieder alles von vorn, wieder Hunger, Leid, Flüchtlinge …
»Wir müssen jetzt dort hin«, fuhr Maxim fort. »Die Mobilmachung ist bereits verkündet, alle sind zu den Waffen gerufen. Sogar die Zöglinge wurden amnestiert. Jetzt heißt es ab ins Glied. Und wir beide, Gai, sollten zusammen sein. Du bist ja bei einer Strafeinheit. Es wäre schön, wenn ich dir unterstellt würde.«
Gai hörte kaum zu. Die Finger in die Haare gekrallt, wiegte er sich hin und her und wiederholte immer wieder: »Weshalb. Weshalb. Verflucht sollt ihr sein! Dreiunddreißigmal verflucht.«
Maxim rüttelte ihn an der Schulter. »Nimm dich zusammen«, sagte er streng. »Lass dich nicht gehen! Wir müssen jetzt kämpfen, zum Zusammenklappen bleibt keine Zeit.« Er erhob sich und wischte wieder über sein Gesicht. »Freilich, eure verdammten Türme. Aber Krieg, ein Atomkrieg! Massaraksch, aber auch die Türme werden ihnen nicht helfen …«
»Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie sich!«
 
Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie sich! Ich komme zu spät.
Zu Befehl. Rada Gaal … Sie wurde dem Kompetenzbereich des Herrn Generalstaatsanwalt entzogen und befindet sich in unserer Hand.
Wo?
Bei uns, in der Villa »Kristallschwan«. Ich erachte es als meine Pflicht, noch einmal meine Zweifel am Sinn dieser Aktion auszudrücken. Diese Frau wird uns kaum helfen können, mit Mak fertigzuwerden. Solche wie sie vergisst man leicht, und selbst wenn er …
Sie meinen, Schlaukopf sei dümmer als Sie?
Nein, aber …
Weiß Schlaukopf, wer die Frau entführt hat?
Ich fürchte, ja.
Schön, soll er’s wissen … Das wäre dazu wohl alles. Was weiter?
Sandi Tschitschaku hat den Hampelmann getroffen. Der Hampelmann ist offenbar bereit, ihn mit dem Onkel zusammenzubringen, sofern …
Stop. Was für ein Tschitschaku? Der Breitstirnige Tschik?
Ja.
Der Untergrund interessiert mich im Moment nicht. Was Mak betrifft, war das alles? Dann Folgendes: Dieser verfluchte Krieg hat alle Pläne durcheinandergebracht. Ich verreise jetzt und komme in dreißig, vierzig Tagen wieder. In dieser Zeit, Fank, müssen Sie den Fall Mak abschließen. Bei meiner Rückkehr hat der Mann hier zu sein, in diesem Haus. Übertragen Sie ihm eine Funktion, soll er arbeiten. Beschneiden Sie seine Freiheiten nicht, aber geben Sie ihm zu verstehen - sehr, sehr dezent -, dass Radas Schicksal an seinem Verhalten hängt. Verhindern Sie um jeden Preis, dass sich die beiden sehen. Zeigen Sie ihm das Institut, erzählen Sie, woran wir arbeiten, selbstredend in vernünftigen Grenzen. Erzählen Sie auch von mir, schildern Sie mich als klugen, gütigen, gerechten Menschen und bedeutenden Wissenschaftler. Geben Sie ihm meine Artikel, außer den streng geheimen. Deuten Sie an, ich stünde in Opposition zur Regierung. Er darf nicht den geringsten Wunsch verspüren, das Institut zu verlassen. Das ist meinerseits alles. Haben Sie Fragen?
Ja. Wie steht es mit Bewachung?
Lassen wir. Sie wäre zwecklos.
Beschatten?
Nur äußerst vorsichtig. Oder lieber gar nicht. Verschrecken Sie ihn nicht. Hauptsache: Er darf keine Lust bekommen, das Institut zu verlassen. Massaraksch, in so einer Zeit muss ich verreisen. War das jetzt alles?
Eine letzte Frage, verzeihen Sie, Wanderer.
Ja?
Wer ist er eigentlich? Wozu brauchen Sie ihn?
Der Wanderer stand auf, trat ans Fenster und sagte, ohne sich umzuwenden: Ich fürchte ihn, Fank. Dieser Mensch ist sehr, sehr, sehr gefährlich.

17

Zweihundert Kilometer vor der hontianischen Grenze steckte der Militärzug auf dem Abstellgleis einer schmutzigen, tristen Station fest. So lief der frischgebackene Untersoldat Sef, nachdem er sich mit dem Wachposten gütlich geeinigt hatte, schnell zum Hydranten, um Wasser für das Kochen zu holen, und kehrte mit einem Kofferradio zurück. Er berichtete, auf der Station herrsche das reine Chaos, man verlade zwei Brigaden gleichzeitig, die Generale schnauzten einander an und seien nicht bei der Sache. So habe er, Sef, sich unter all die umherwimmelnden Ordonnanzen, Offiziersburschen und Adjutanten gemischt und einem von ihnen das Radio abgeknöpft.
Im beheizten Güterwagen reagierte man auf diese Nachricht mit einem deftigen, patriotischen Gelächter. Alle vierzig Mann scharten sich sogleich um Sef und versuchten, einen Platz zu ergattern, fluchten und schlugen, wenn gedrängelt wurde, einander ins Gesicht, beschwerten sich übereinander, bis Maxim schließlich raunzte: »Ruhe, ihr Dreckskerle!« Da wurden sie still. Sef schaltete das Radio ein und suchte nacheinander alle Sender.
Bald erfuhren sie sehr interessante Dinge. Erstens stellte sich heraus, dass der Krieg noch gar nicht angefangen hatte. Der Sender »Die Stimme der Väter«, der die ganze letzte Woche hindurch über blutige Schlachten auf dem eigenen Territorium lamentierte, hatte schlichtweg gelogen. Keinerlei blutige Schlachten waren geschlagen worden. Die »Hontianische Patriotische Liga« posaunte entsetzt in die Welt hinaus, diese Banditen und Usurpatoren - die sogenannten Unbekannten Väter - nähmen die niederträchtige Provokation ihrer Knechte, der berüchtigten »Gerechtigkeitsunion von Honti« zum Vorwand, ihre gepanzerten Horden an der Grenze zum leidgeprüften Honti zu konzentrieren. Die »Gerechtigkeitsunion« ihrerseits belegte die »Hontianischen Patrioten« - diese bezahlten Agenten der Unbekannten Väter - ebenfalls mit den schlimmsten Beschimpfungen. Sie schilderte ausführlich, wie man die von den vorangegangenen Kämpfen ermatteten Einheiten mit überlegenen Kräften über die Grenze gedrängt und ihnen die Möglichkeit verwehrt hatte zurückzukehren. Dies wiederum diene den sogenannten Unbekannten Vätern als Vorwand für eine barbarische Invasion, die man nun jede Minute erwarten müsse. Sowohl die »Liga« als auch die »Union« hielten es dabei in fast übereinstimmenden Formulierungen und Phrasen für ihre Pflicht, den unverschämten Aggressor zu warnen, dass der Gegenschlag vernichtend sein werde, und spielten vage auf gewisse Atomfallen an.
Der pandeische Rundfunk hingegen beschrieb die Lage in ruhigen Tönen und erklärte unumwunden, dem Staat Pandea sei jedwede Entwicklung dieses Konflikts recht. Die privaten Stationen in Honti und Pandea unterhielten ihre Zuhörer mit fröhlicher Musik und frivolen Quizsendungen, und die beiden Regierungssender der Unbekannten Väter übertrugen ununterbrochen Reportagen von Hasskundgebungen im Wechsel mit Soldatenmärschen. Sef erwischte auch fremdsprachige Sendungen, die aber nur er verstand. So teilte er den anderen mit, dass das Fürstentum Ondol offensichtlich noch existiere, mehr noch - dass es seine räuberischen Angriffe auf die Insel Hazzalg fortsetze. (Außer Sef hatte keiner im Waggon je von diesem Fürstentum oder von der genannten Insel gehört.) Vor allem aber konnten sie über den Empfänger die wechselseitigen, unvorstellbar groben Beschimpfungen der Befehlshaber verschiedener Truppenteile und -verbände mithören, die sobald wie möglich über die zwei völlig ramponierten Eisenbahnlinien ins Hauptaufmarschgebiet vordringen wollten.
»Wieder sind wir nicht zum Krieg bereit, Massaraksch«, sagte Sef und schaltete das Radio aus. Damit war die Diskussion eröffnet.
Man widersprach ihm. Nach Ansicht der meisten rückte mit ihnen eine gewaltige Streitmacht vor, und die Hontianer würden schnell erledigt sein. Für die Kriminellen war das Wichtigste, die Grenze zu überschreiten: Dann sei wieder jeder sein eigener Herr, und sie könnten jede eroberte Stadt drei Tage lang plündern. Die Politischen, also die Entarteten, sahen die Lage düsterer; sie erwarteten von der Zukunft nichts Gutes und erklärten ohne Umschweife, man führe sie zur Schlachtbank: Sie sollten mit ihrem eigenen Körper die Atomminen auslösen, keiner von ihnen werde überleben und es sei am allerbesten, sich in Frontnähe gut zu verstecken, damit sie niemand finde. Die Standpunkte der Streitenden waren so gegensätzlich, dass kein echtes Gespräch zustande kam und der Disput bald in den immer gleichen Beschimpfungen über die gemeinen Schweine endete, die ihnen schon den zweiten Tag nichts zu fressen gegeben und den ihnen zugeteilten Schnaps selbst gesoffen hatten. Darüber würden die Soldaten der Strafeinheit nun die ganze Nacht schimpfen, so dass sich Sef und Maxim von der Menge entfernten und sich auf ihre Pritschen legten, die aus ungehobelten Brettern schief zusammengenagelt waren.
Sef war hungrig und wütend, er wollte schlafen, aber Maxim hinderte ihn daran. »Schlafen kannst du später«, sagte er streng. »Morgen sind wir vielleicht schon an der Front, und bis jetzt haben wir noch über nichts gesprochen.« Sef brummte in seinen Bart, dass es nichts zu bereden gäbe, der Morgen sei klüger als der Abend. Maxim habe doch selbst Augen im Kopf und müsse sehen, in welcher Lage sie sich befänden - mit diesen Kerlen sei unmöglich etwas anzufangen. Maxim wandte ein, davon sei vorerst auch keine Rede, doch habe er immer noch nicht begriffen, weshalb dieser Krieg angezettelt worden sei und wem er nütze, und Sef solle doch bitte schön nicht schlafen, wenn man sich mit ihm unterhalte, sondern seine Meinung äußern.
Sef jedoch hatte dazu keine Lust. Wie käme er denn dazu? Er müsse sehr dringend etwas fressen und hätte es wohl mit einem Milchbart zu tun, der nicht die einfachsten Schlüsse ziehen könne und noch dazu auf Revolution aus sei. Dann knurrte er, gähnte und kratzte sich, wickelte seine Fußlappen neu, schimpfte wieder, und wurde dann - ermuntert, angespornt und getrieben - endlich gesprächig und legte Mak seine Auffassung über die Gründe des Krieges dar.
Seiner Meinung nach gab es mindestens drei, wobei diese sich entweder zu gleichen Teilen auswirkten, oder einer die anderen dominierte. Womöglich existierte sogar noch ein vierter, der aber ihm, Sef, bisher nicht eingefallen sei. In erster Linie ginge es um die Ökonomie, denn jeder wisse: Ist die Wirtschaft räudig, fängt man am besten einen Krieg an, um allen auf einmal das Maul zu stopfen. Wildschwein, der den Einfluss der Ökonomie auf die Politik von vorne bis hinten studiert hatte, habe diesen Krieg schon vor fünf Jahren vorausgesagt. Die Türme seien das eine - Mangel etwas ganz anderes: Einem Hungrigen könne man nicht lange einreden, er sei satt; das verkrafte seine Psyche nicht. Und ein verrücktes Volk zu regieren mache wenig Spaß, zumal Verrückte unempfänglich seien gegen die Strahlung. Der zweite mögliche Grund sei ideologischer Natur. Die Staatsideologie im Land der Väter fuße auf einer äußeren Bedrohung. Anfangs sei das einfach nur eine Lüge gewesen, um Disziplin in die Nachkriegs-Anarchie zu bringen. Dann aber hätten sich diejenigen von der Macht zurückgezogen, die diese Lüge erfunden hatten, ihre Nachfolger aber glaubten nun tatsächlich, Honti wolle ihre Reichtümer plündern. Und wenn man bedenke, dass Honti eine ehemalige Provinz des alten Reiches sei, die sich in schweren Zeiten für unabhängig erklärt hatte, kämen noch kolonialistische Aspekte hinzu: die Dreckskerle wieder zurück ins Reich zu holen und sie vorher hart zu bestrafen. Und schließlich sei noch ein innenpolitischer Grund denkbar. Es gebe schon viele Jahre Streit zwischen dem Departement für Volksgesundheit und den Militärs. Im Prinzip ginge es darum, wer wen schlucke. Das Volksgesundheitsdepartement sei eine unersättliche, ja, unheimliche Organisation. Wenn sich die Kriegshandlungen nun aber einigermaßen erfolgreich entwickelten, könnten die Herren Generale diesen Verein mühelos an die Kandare nehmen. Käme bei dem Krieg jedoch nichts Gescheites heraus, gerieten die Generale unter Druck. Insofern könne man letztlich auch nicht ausschließen, dass dieser ganze Krieg eine ausgeklügelte Provokation des Departements für Volksgesundheit sei. Übrigens sähe es sowieso danach aus - wenn man von dem Durcheinander ausgehe, das hier überall herrsche, und auch davon, dass sie schon seit einer Woche alles Mögliche in die Welt hinaustrompeteten, die Kämpfe aber, wie sich zeigte, noch nicht einmal begonnen hatten. Vielleicht, Massaraksch, auch gar nicht beginnen würden.
Als Sef an diesem Punkt angelangt war, polterten und ruckten die Puffer, und der Wagen erzitterte. Von draußen waren Schreie, Pfiffe und Hufgetrappel zu hören, und dann setzte sich der Zug mit der Panzer-Strafbrigade in Bewegung. »Und wieder gab’s kein Fressen, keinen Schnaps …«, grölten die Kriminellen.
»Gut«, setzte Maxim das Gespräch fort. »Das klingt alles sehr glaubhaft. Aber wie stellst du dir den Verlauf des Krieges vor, wenn er nun doch beginnt? Was passiert dann?«
Sef raunzte aggressiv, er sei ja wohl kein General, erklärte dann aber trotzdem, wie sich die Dinge für ihn darstellten: »Den Hontianern ist es gelungen, sich in der kurzen Atempause zwischen Welt- und Bürgerkrieg durch einen mächtigen Atomminengürtel gegen ihre einstige Kolonialmacht abzugrenzen. Außerdem verfügen sie zweifellos über Atomartillerie, und ihre Machthaber waren klug genug, diese Reichtümer nicht während des Bürgerkriegs zu verpulvern, sondern für uns aufzusparen. Demzufolge wird sich unsere Invasion etwa folgendermaßen abspielen: An die Spitze des Marsches stellen sie drei oder vier Strafbrigaden der Panzertruppen, lassen reguläre Armee-Einheiten nachdrängen, und hinter den Armisten folgen die Sperrabteilungen der Gardisten mit schweren Panzern, auf denen Emitter installiert sind. Entartete wie ich stürmen vorwärts, um den Strahlenschlägen zu entgehen; die Kriminellen und die Armee drängen in der ihnen suggerierten Kampfbegeisterung nach vorne. Abweichler von dieser Norm, und die wird es zweifellos geben, fallen im Feuer der Mistkerle von der Garde. Wenn die Hontianer keine Idioten sind, werden sie aus weitreichenden Geschützen die Sperreinheiten beschießen. Doch man muss wohl eher davon ausgehen, dass sie Idioten sind und daher damit beschäftigt sein werden, sich gegenseitig umzubringen: Die Liga stürzt sich in den Kriegswirren auf die Union, und die Union geht der Liga an die Gurgel. Inzwischen aber dringen unsere tapferen Heere tief in das feindliche Gebiet ein. Und dann, Mak, beginnt das Allerinteressanteste, das du und ich aber leider nicht mehr erleben werden: Unser glorreicher Panzerstrom beginnt, sich über das Land zu verteilen, verliert dabei seine Geschlossenheit und verlässt unausweichlich den Wirkungsbereich der Emitter. Wenn du, was Gai betrifft, die Wahrheit gesagt hast, dann kriegen diese ›versprengten Soldaten‹ unverzüglich ihren Strahlen-Katzenjammer, der umso stärker sein wird, als die Gardisten während des Durchbruchs nach Honti sicher nicht mit Strahlenstößen sparen werden, um die Soldaten kräftig anzutreiben … Massaraksch!«, rief Sef. »Ich sehe geradezu, wie sich diese Kretins aus den Panzern herauswinden, zu Boden sinken und darum bitten, sie zu erschießen. Und die guten Hontianer, erst recht ihre Soldaten, durch den Krieg vollkommen verroht, werden es ihnen kaum abschlagen … Das wird ein beispielloses Blutbad, Mak!«
Der Zug fuhr jetzt schneller, der Waggon schaukelte heftig. In der Ecke gegenüber saßen die Kriminellen über einem Würfelspiel; die Lampe unter der Decke schlenkerte, und auf einer der unteren Schlafpritschen brabbelte jemand monoton - wahrscheinlich betete er.
Es stank nach Schweiß, Schmutz und Latrine, der Tabakrauch brannte in den Augen.
»Ich denke, dass man das im Generalstab berücksichtigt«, fuhr Sef fort, »und deshalb wird es keine forcierten Angriffe geben. Es wird ein träger Stellungskrieg. Aber bei all ihrer Dummheit werden die Hontianer irgendwann begreifen, was los ist, und Jagd auf die Emitter machen … Nein, ich weiß auch nicht, was wird«, schloss er. »Ich weiß nicht mal, ob sie uns morgen früh zu fressen geben. Fürchte, sie geben uns wieder nichts, weshalb sollten sie auch …«
Sie schwiegen. Dann fragte Maxim: »Bist du sicher, dass wir richtig handeln? Dass hier unser Platz ist?«
»Befehl vom Stab«, knurrte Sef. »Befehl, schön und gut«, wandte Maxim ein, »aber wir haben auch Köpfe auf den Schultern. Möglicherweise wäre es richtiger gewesen, mit Wildschwein zusammen abzuhauen. Vielleicht wären wir in der Hauptstadt nützlicher.«
»Vielleicht«, murmelte Sef. »Vielleicht auch nicht. Du hast doch gehört, Wildschwein rechnet mit Atombombenabwürfen. Dabei werden viele Türme fallen und freie Regionen entstehen. Wenn es aber nicht zu Bombardements kommt? Keiner weiß Genaues, Mak. Ich kann mir gut vorstellen, was für ein Durcheinander jetzt im Stab herrscht. Die Rechten wittern Morgenluft: Jeden Moment können in der Regierung Köpfe rollen, und dann wird dieses ganze Gesindel auf die frei gewordenen Plätze drängen.« Er versank in Gedanken, zauste sich den Bart. »Wildschwein hat von Atombomben gefaselt, aber ich glaube, er ist nicht ihretwegen in der Hauptstadt. Ich kenne ihn, er will diesen Elitaristen schon lange an den Kragen. Gut möglich, dass auch im Stab die Köpfe rollen.«
»Auch dort geht es also drunter und drüber«, sagte Maxim langsam. »Auch sie sind nicht vorbereitet.«
»Wie könnten sie?«, erwiderte Sef. »Die einen träumen davon, die Türme zu vernichten, andere wollen sie behalten. Der Untergrund ist keine politische Partei - ein Mischmasch ist das, Salat mit Seepilzen!«
»Ja, ich weiß«, sagte Maxim, »ein einziger Salat …«
Der Untergrund war nicht nur keine Partei, er war nicht einmal ein Bündnis von Parteien. Die Umstände hatten den Stab in zwei unversöhnliche Lager gespalten: in die absoluten Gegner der Türme und in die absoluten Befürworter. Alle diese Leute standen mehr oder weniger in Opposition zur bestehenden Ordnung, aber, Massaraksch, wie unterschiedlich waren ihre Beweggründe!
Da gab es die Biologisten, denen es völlig gleich war, wer sich an der Macht befand - der Papa; der Spross einer Familie großer Geldleute; der Anführer eines Clans von Bankiers und Industriellen oder eine demokratische Union der Werktätigen. Sie wollten allein, dass die verfluchten Türme verschwänden und sie endlich wieder wie Menschen leben könnten, das heißt, wie früher, in der Vorkriegszeit. Dann gab es die Aristokraten - Überreste der privilegierten Klassen des alten Reichs. Sie bildeten sich immer noch ein, es läge hier ein langanhaltendes Missverständnis vor, und das Volk sei dem legitimen Erben des Kaiserthrons - einem trostlosen, groben Kerl, der soff und an Nasenbluten litt - bis heute treu. Nur diese gemeinen Türme, eine verbrecherische Erfindung von eidbrüchigen Professoren der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, hinderten das gute, einfache Volk daran, seine aufrichtige Ergebenheit für den legitimen Herrscher zum Ausdruck zu bringen. Und dann gab es noch die Revolutionäre, die ebenfalls für die bedingungslose Zerstörung der Türme eintraten - hiesige Kommunisten und Sozialisten, wie zum Beispiel Wildschein. Sie waren in der Theorie beschlagen und von den Klassenkämpfen der Vorkriegszeit kampfgestählt; für sie war die Zerstörung der Türme nur eine notwendige Voraussetzung für die Rückkehr zum natürlichen Verlauf der Geschichte, das Fanal für eine Reihe von Revolutionen, an deren Ende eine gerechte Gesellschaftsordnung stehen sollte. Ihnen hatten sich auch die aufrührerisch gestimmten Intellektuellen wie Sef oder der tote Gel Ketschef angeschlossen - ehrliche Menschen, die das System der Türme für widerwärtig und gefährlich hielten und glaubten, es werde die Menschheit in eine Sackgasse führen.
Zum anderen Lager des Untergrunds zählten die Elitaristen, die Liberalen und die Aufklärer. Sie alle waren für die Beibehaltung der Türme. Die Elitaristen - der äußerste rechte Flügel des Untergrunds - waren, wie Sef es ausdrückte, eine Bande von Machtgierigen, die es in die Regierung drängte und dabei bisher keinen Erfolg gehabt hatten: Ein gewisser Kalu der Spitzbube, früher ein prominenter Führer dieser faschistischen Gruppierung, hatte es mittlerweile bis ins Departement für Propaganda geschafft. Die Politbanditen waren bereit, mit aller Gewalt und ohne Bedenken bei der Wahl ihrer Mittel gegen jede Regierung zu kämpfen, der sie nicht selbst angehörten. Die Liberalen waren eigentlich gegen die Türme und gegen die Unbekannten Väter; am meisten jedoch fürchteten sie einen Bürgerkrieg. Sie waren patriotisch, sorgten sich um Ruhm und Macht des Staates und befürchteten daher, die Vernichtung der Türme werde ins Chaos führen, zur Schändung der Heiligtümer und zum irreparablen Zerfall der Nation. Was nun die Aufklärer anging, so waren das zweifellos ehrliche, aufrichtige und kluge Leute. Sie hassten die Tyrannei der Unbekannten Väter, waren kategorisch gegen die Verwendung der Türme zum Betrug an den Massen, hielten sie aber für ein machtvolles Werkzeug zur Erziehung des Volkes. Der heutige Mensch sei von Natur aus ein Wilder, sagten sie, ein Tier. Ihn mit klassischen Methoden zu erziehen, würde viele Jahrhunderte dauern. Ziel der Aufklärer war es daher, das Tier im Menschen auszubrennen, seine animalischen Instinkte abzutöten, ihn das Gute und die Nächstenliebe zu lehren und ihm den Hass auf Unwissenheit, Lüge und Gleichgültigkeit einzuflößen. Diese edle Aufgabe, so die Aufklärer, könne man mit Hilfe der Türme im Laufe einer einzigen Generation bewältigen.
Kommunisten gab es nur wenige - fast alle waren im Krieg oder während des Umsturzes umgebracht worden. Die Aristokraten nahm niemand ernst; die Liberalen wiederum waren zu passiv und wussten oft selbst nicht, was sie wollten. Die einflussreichsten Gruppierungen mit den meisten Anhängern stellten daher die Biologisten, die Elitaristen und die Aufklärer dar. Sie hatten allerdings nahezu nichts gemeinsam. So bestand der Untergrund aus den unterschiedlichsten Gruppierungen, die zwar allesamt für parlamentarische Regierungsformen eintraten, aber weder über ein einheitliches Programm noch über eine einheitliche Führung, eine einheitliche Strategie oder Taktik verfügten.
»Ja, ein Salat«, wiederholte Maxim. »Traurig. Ich hatte gehofft, ihr würdet trotz allem den Krieg irgendwie nutzen - die Schwierigkeiten, die mögliche revolutionäre Situation.«
»Der Untergrund hat doch überhaupt keine Ahnung.« Sefs Gesicht wurde finster. »Woher soll der Untergrund denn wissen, was das bedeutet - Krieg mit Emittern im Nacken?«
»Keinen Heller seid ihr wert!« Maxim konnte sich nicht mehr beherrschen.
Jetzt brauste auch Sef auf. »He, du!«, schimpfte er. »Mal sachte, ja! Wer bist du denn, dass du unseren Wert bestimmen dürftest? Woher kommst du, Massaraksch, dass du dieses und jenes von uns forderst? Du willst einen Kampfauftrag? Bitte sehr: Alles sehen, überleben, zurückkehren, Bericht erstatten. Das erscheint dir zu einfach? Wunderbar. Umso besser für uns. Und jetzt Schluss damit. Ich will schlafen.«
Er drehte Maxim den Rücken zu und herrschte plötzlich die Würfelspieler an: »He, ihr Totengräber! Schlafenszeit! Los, auf die Pritschen!«
Maxim legte sich auf den Rücken, schob die Hände unter den Kopf und starrte an die niedrige Decke des Waggons; dort kroch irgendetwas. Leise und böse beschimpften sich die »Totengräber«, die jetzt schlafen gingen. Der Nachbar zur Linken stöhnte und winselte im Schlaf. Er war todgeweiht und schlief wohl zum letzten Mal in seinem Leben. Auch alle anderen, die da schnarchten, schnauften und sich hin und her wälzten, verbrachten vermutlich ihre allerletzte Nacht. Die Welt war fahlgelb, stickig und hoffnungslos. Die Räder polterten, die Lokomotive heulte, Brandgeruch drang durch das kleine, vergitterte Fenster, und dahinter glitt ein trostloses Land ohne Hoffnung dahin, ein Land von Sklaven, Verdammten und von wandelnden Marionetten.
Alles hier ist morsch, dachte Maxim. Kein einziger lebendiger Mensch. Kein klarer Kopf. Wieder bin ich reingefallen, weil ich auf jemanden, auf irgendetwas gebaut habe. Hier darf man auf nichts hoffen. Auf keinen Menschen sich verlassen. Nur auf sich selbst. Doch was bin ich allein? Soweit ich die Geschichte kenne, kann einer allein absolut nichts erreichen. Vielleicht hat Hexenmeister Recht? Vielleicht sollte ich mich raushalten? Ruhig und ohne Gefühl, von der Höhe meines Wissens um die unausbleibliche Zukunft zusehen, wie es siedet, brodelt und zerschmilzt. Wie sich die naiven, linkischen, ungeschickten Kämpfer erheben, um kurz danach zu fallen. Beobachten, wie der Krieg sie zu Damaszener Klingen schmiedet und zur Härtung in Ströme blutigen Drecks taucht. Zusehen, wie es Leichen auf die Schmiedeschlacke hagelt? Nein, ich kann das nicht. Schon in solchen Kategorien zu denken, ist widerwärtig. Grauenhafte Sache - dieses festgefügte Gleichgewicht der Kräfte. Aber Hexenmeister hat auch gesagt, ich sei stark, eine Kraft in diesem Gleichgewicht. Und da es einen konkreten Feind gibt, findet diese Kraft jetzt ihren Angriffspunkt … Nein, die werden mich hier plattmachen, durchfuhr es ihn plötzlich. Bestimmt. Aber nicht morgen!, sagte er sich entschieden. Erst, wenn ich als Kraft in Erscheinung getreten bin, nicht vorher. Und auch das wollen wir erst mal sehen. Das Zentrum, dachte er, die Zentrale. Die muss man suchen, darauf die Organisation lenken. Und ich werde es tun. Ich werde ihnen beibringen, sich mit den wichtigen Dingen zu befassen. Auch dir, mein Freund, bringe ich das bei. Wie er schnarcht. Schnarch nur, schnarch, morgen hole ich dich hier raus. Aber Schluss jetzt, ich muss schlafen. Wann werde ich endlich wieder wie ein Mensch schlafen? In einem schönen großen Zimmer, auf frischen Laken. Was ist das hier für eine Sitte, so häufig ein und dasselbe Laken zu benutzen? Ja, ein frisches Laken, und vor dem Einschlafen ein gutes Buch lesen, dann die Trennwand zum Garten aufschieben, das Licht löschen. Am Morgen mit Vater frühstücken und ihm von diesem Waggon erzählen. Mama darf davon natürlich nichts hören. Mama, denk dran, ich lebe. Alles in Ordnung, auch morgen wird mir nichts passieren. Und der Zug fährt und fährt, hat schon lange nicht gehalten. Offenbar ist jetzt doch irgendwem irgendwo klargeworden, dass ohne uns der Krieg nicht anfängt. Wie mag es wohl Gai gehen, in seinem Korporalswagen? Wahrscheinlich elend, dort sind ja alle ganz kriegsbegeistert. An Rada habe ich lange nicht gedacht. Ich werde jetzt an Rada denken. Nein. Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Gut, Maxim, mein Freund, armes Kanonenfutter, schlaf jetzt. Er erteilte sich diesen Befehl und schlief auf der Stelle ein.
Im Traum sah er die Sonne, den Mond, die Sterne. Alle auf einmal, so ein seltsamer Traum war das.
 
Ihm war nur kurze Ruhe vergönnt. Der Zug hielt, quietschend rollte die schwere Tür zur Seite, und eine kräftige Stimme schnauzte: »Vierte Kompanie, raustreten!« Die Uhr zeigte fünf Uhr morgens, es tagte, war neblig, feiner Regen sprühte. Krampfhaft gähnend und von Kälteschauern geschüttelt, kletterten die Männer der Strafbrigade träge aus dem Waggon. Die Korporale standen schon bereit. Ungeduldig und wütend packten sie die Männer an den Beinen, zerrten sie auf den Boden, brieten den besonders phlegmatischen eins über und brüllten: »Abteilungsweise antreten! … Wohin willst du, du Vieh? Aus welchem Zug …? He, du mit der Fresse, wie oft soll man’s dir noch sagen …? Was ist denn mit euch da? Lausige Bande!«
Irgendwie fanden die Abteilungen dann zusammen und nahmen vor den Waggons Aufstellung. Ein armes Würstchen, das sich im Nebel verirrt hatte, lief umher und suchte seinen Zug - von allen Seiten schrie man auf ihn ein. Und Sef, unausgeschlafen und schlecht gelaunt, krächzte mürrisch, aber vernehmlich: »Nur zu, nur zu, stellt uns auf, wir fechten euch heute richtig was aus!« Ein Korporal, der gerade vorbeilief, versetzte ihm eine Ohrfeige, woraufhin Maxim seinen Fuß vorstreckte - und schon lag der Korporal im Dreck. Die Männer lachten laut und voller Genugtuung los. »Brigade, stillgestanden!«, brüllte ein Unsichtbarer. Mit sich überschlagenden Stimmen trugen die Bataillonskommandeure das Kommando weiter. Dann griffen es die Kompaniechefs auf. Die Zugführer aber hasteten immerzu hin und her, denn keiner stand still: Die Strafsoldaten hatten die Hände in die Ärmel gesteckt, waren vor Kälte ganz in sich zusammengekrochen und tänzelten auf der Stelle, und die Glücklichen, die mit Reichtümern gesegnet waren, rauchten. In den Reihen wurde gemunkelt, dass man ihnen heute bestimmt wieder nichts zu fressen gebe und sie sich doch einfach zum Teufel scheren sollten mit ihrem Krieg. »Brigade, rührt euch!«, schrie nun Sef laut. »Zur Pause wegtreten!« Die Mannschaften wollten schon auseinanderlaufen, als die Korporale abermals hin und her hetzten, und man auf einmal glänzende schwarze Mäntel sah: An den Waggons entlang kamen Gardisten gerannt, in auseinandergezogener Reihe, die Maschinenpistolen im Anschlag. Erschrockenes Schweigen folgte, die Mannschaften nahmen hastig Aufstellung, richteten sich aus. Jemand von den Strafsoldaten faltete nach alter Gewohnheit sogar die Hände hinter dem Kopf und stellte sich breitbeinig hin.
Eine eiserne Stimme tönte leise, aber gut vernehmbar aus dem Nebel: »Wenn einer von euch Saukerlen das Maul aufreißt, wird geschossen.« Alle erstarrten. Die Minuten zogen sich, schleppten sich dahin, voller Anspannung und böser Erwartung. Der Dunst lichtete sich nun etwas, ließ ein schäbiges Bahnhofsgebäude, feuchte Schienen und Telegrafenmasten erkennen. Rechts, vor der Front der Brigade, hob sich dunkel eine kleine Gruppe von Männern ab. Sie sprachen leise miteinander, dann bellte jemand gereizt: »Befehl ausführen!«
Maxim schielte nach hinten. Dort standen reglos die Gardisten, starrten misstrauisch und hasserfüllt unter ihren Kapuzen hervor.
Aus dem Grüppchen löste sich eine plumpe Figur im Tarnanzug. Es war der Befehlshaber der Strafbrigade, Ex-Oberst der Panzertruppen Anipsu, degradiert und in Haft genommen wegen Schwarzhandels mit staatlichem Kraftstoff.
Er stellte sich vor die Soldaten, fuchtelte mit seinem Stock, riss den Kopf herum und begann seine Rede: »Soldaten! Nein - ich habe mich nicht versprochen: Ich wende mich an euch als Soldaten, obwohl wir alle - ich inbegriffen - noch immer den Abschaum der Gesellschaft bilden. Seid dankbar, dass man euch erlaubt, an den heutigen Kämpfen teilzunehmen. In einigen Stunden werdet ihr fast alle krepiert sein, und das ist gut so. Diejenigen aber, die davonkommen, erwartet ein herrliches Leben: Verpflegung nach Soldatensatz, Schnaps und so weiter. Gleich werden wir Stellung beziehen, und ihr steigt in eure Fahrzeuge. Verlangt wird eine Kleinigkeit - etwa hundertfünfzig Kilometer auf den Ketten vorzudringen. Zu Panzerschützen taugt ihr wie Flaschen zum Hammer, das wisst ihr selbst, aber dafür ist alles, was ihr bekommt, euer. Nehmt es. Das sage ich euch, euer Kampfgefährte Anipsu. Einen Weg zurück gibt es nicht, nur einen nach vorn. Weicht einer zurück, vernichte ich ihn auf der Stelle. Das betrifft vor allem die Fahrer. Es gibt keine Fragen. Brigade! Rechts - um! Nach vorn - aufschließen! … He, ihr Stöcke, ihr Tausendfüßler! Aufschließen war befohlen! Korporale, Massaraksch! Wo guckt ihr denn hin? Eine Herde ist das … Zu Viererreihen ordnen! Korporale, ordnet diese Schweine in Viererreihen! Massaraksch …«
Mit Hilfe der Gardisten gelang es den Korporalen, die Brigade zu einem Marschblock zu formieren. Wieder erscholl das Kommando »Stillgestanden!«. Maxim stand nun dicht beim Brigadekommandeur. Der Ex-Oberst war vollkommen betrunken. Auf seinen Stock gestützt, schwankte er hin und her, wackelte mit dem Kopf und wischte sich immer wieder mit der Faust über seine brutale Visage. Die Bataillonskommandeure, ebenfalls völlig betrunken, hielten sich hinter seinem Rücken - einer kicherte wie blöde, ein anderer versuchte mit stumpfsinniger Hartnäckigkeit, sich eine Zigarette anzustecken, und der dritte griff immerzu nach seiner Pistolentasche und stierte mit blutunterlaufenen Augen in die Reihen. In der Kolonne schnupperte man neidisch dem Geruch des Alkohols hinterher, beifällige Bemerkungen wurden laut. »Los, los …«, knurrte Sef. »Wir fechten’s euch schon aus.« Ärgerlich boxte Maxim ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Halt den Mund«, presste er durch die Zähne. »Es reicht jetzt.«
Unterdessen traten zwei Männer auf den Oberst zu - ein Rittmeister mit Pfeife im Mund und ein massiger Ziviler, in Hut und langem Mantel, den Kragen hochgeschlagen. Der Zivilist kam Maxim irgendwie bekannt vor, und er musterte ihn genauer. Gerade sagte der Mann etwas halblaut zum Oberst. »Hä?«, fragte der und sah den Dicken mit trübem Blick an. Wieder sagte der Zivilist etwas und wies mit dem Daumen über die Schulter auf die Strafbrigade. Der Rittmeister paffte derweil gleichgültig seine Pfeife. »Wozu das?«, bellte der Oberst. Der Zivilist holte ein Schreiben hervor, aber der Oberst schob es mit einer Handbewegung weg. »Geb ich nicht raus«, murrte er. »Alle hier müssen krepieren wie ein Mann.« Der Dicke ließ nicht locker. »Darauf pfeif ich!«, schrie der Oberst. »Auch auf euer Departement pfeif ich. Alle werden krepieren. Hab ich Recht?«, fragte er den Rittmeister, der ihm nicht widersprach. Da packte der Zivilist den Oberst am Uniformärmel und zog ihn zu sich heran; dabei plumpste dieser mitsamt seinem Stock beinahe in den Dreck. Der kichernde Bataillonskommandeur lachte daraufhin laut und blöde los. Das Gesicht des Obersten verfärbte sich dunkel; zornig griff er in seine Pistolentasche und zerrte eine große Armeepistole hervor. »Ich zähle bis zehn!«, schrie er den Zivilisten an. »Eins … zwei …« Der Dicke spuckte aus und schritt an der Kolonne vorbei davon; den Männern blickte er dabei ins Gesicht. Der Oberst jedoch zählte weiter, und als er bei zehn angelangt war, eröffnete er das Feuer. Da endlich wachte der Rittmeister auf und überredete den Oberst, seine Waffe wegzustecken. »Alle müssen krepieren«, schrie der Oberst. »Zusammen mit mir … Brigade! Hört auf mein Kommando! Im Gleichschritt - marsch!«
Und die Brigade setzte sich in Bewegung. In einer aufgeweichten, kettenzerfahrenen Spur stiegen die Strafsoldaten rutschend und sich aneinander festhaltend zu einem morastigen Talweg hinab. Sie bogen ein und entfernten sich allmählich von der Bahnlinie; dann stießen die Zugführer hinzu. Gai ging neben Mak. Er war blass und schwieg lange, obwohl Sef ihn sofort gefragt hatte, was man so höre. Der Talweg wurde allmählich breiter, Strauchwerk zeichnete sich ab, dann ein Wäldchen. Am Wegrand stand, die Ketten in den Schlamm gewühlt, ein riesiger, klobiger Panzer: uraltes Modell, völlig anders als die Patrouillenpanzer des Küstenschutzes, mit kleinem quadratischem Turm und winziger Kanone. Neben ihm hantierten düster dreinschauende Männer in ölverschmierten Jacken. Die Strafsoldaten trotteten ungeordnet vorwärts, hatten ihre Hände in den Taschen und die steifen Kragen hochgeschlagen. Viele schielten verstohlen zur Seite - gab es keine Möglichkeit zu verschwinden? Die Büsche waren verlockend, aber auf den Hängen über dem Talweg wachten alle zwei-, dreihundert Schritt die schwarzen Gardisten mit ihren Maschinenpistolen. Von vorne schoben sich durch große Pfützen drei Tankwagen heran. Ihre Fahrer blickten finster drein und würdigten die Strafsoldaten keines Blickes. Der Regen nahm zu, die Stimmung verschlechterte sich. Sie gingen schweigend weiter, gefügig wie Vieh, und blickten immer seltener um sich.
»Hör mal, Zugführer«, murmelte Sef, »gibt man uns wirklich nichts zu fressen?«
Gai holte einen Brotkanten aus der Tasche und drückte ihn Sef in die Hand.
»Das ist alles«, sagte er. »Bis zum Grabe.«
Sef ließ das Brot in seinem Bart verschwinden, und sofort begannen seine Kiefer zu mahlen. Ein Wahnsinn ist das, dachte Maxim. Alle wissen, dass sie in den sicheren Tod gehen, und trotzdem gehen sie. Heißt das, sie hoffen noch auf etwas? Hat vielleicht jeder einen Plan? Aber nein, sie wissen ja nichts von der Strahlung … Jeder denkt, irgendwo da vorne biege ich ab, springe aus dem Panzer und werfe mich auf die Erde, sollen doch die anderen Idioten vorstürmen. Und was die Strahlung betrifft, so müsste man Flugblätter schreiben, es auf öffentlichen Plätzen hinausschreien, es über den Rundfunk verbreiten. Freilich laufen die Radios nur auf zwei Frequenzen - egal, dann nutzen wir eben die Sendepausen. Überhaupt sollte man die Leute nicht mehr gegen die Türme einsetzen, sondern für die Konterpropaganda. Aber das kommt alles noch, später … Jetzt darf ich mich nicht ablenken lassen, muss auf alles achten, die kleinste Spalte suchen. Am Bahnhof waren keine Panzer und keine Kanonen, sondern nur die Schützen der Garde. Das habe ich zu bedenken. Der Talweg ist erfreulich tief, und die Bewachung zieht man bestimmt ab, sobald wir durch sind. Doch nein, die Wachen haben damit gar nichts zu tun - sobald die Emitter eingeschaltet sind, werden alle vorwärtsstürmen. Deutlich sah er das Bild vor sich, wie die Emitter sich in die Reihen bohrten und die Panzer der Strafsoldaten aufheulend voranstürzten. Ihnen nach strömten Scharen von Armisten … Sie werden den gesamten Frontstreifen bestrahlen, dachte er. Die Tiefe dieses Streifens lässt sich schwer bestimmen, der Wirkungsradius der Emitter ist ja nicht bekannt. Zwei, drei Kilometer dürften es sein. Auf einer Breite von zwei oder drei Kilometern bleibt also kein einziger Mensch mit klarem Kopf. Außer mir. Nein, es sind nicht nur zwei, drei Kilometer. Es sind mehr. Sämtliche stationären Anlagen, die Türme - alles werden sie einschalten, und das auf maximale Leistung. Der ganze Grenzbezirk verliert den Verstand. Massaraksch, was mache ich nur mit Sef, der hält das doch nicht aus. Maxim sah zu ihm hinüber; der Bart des weltberühmten Arztes bewegte sich gemächlich, er kaute noch immer den Brotkanten … Macht nichts, Sef wird es aushalten. Schlimmstenfalls muss ich ihm helfen, obwohl ich fürchte, dass dafür keine Zeit bleibt. Dazu noch Gai - ihn darf ich überhaupt nicht aus den Augen lassen. Ich muss mich anstrengen. Aber was soll’s. Letzten Endes werde ich in diesem trüben Chaos sowieso der Anführer sein, und niemand wird mich aufhalten können, es auch nicht wollen …
Sie ließen das Wäldchen hinter sich und hörten auf einmal ununterbrochenes Lautsprechergemurmel, das Knattern von Auspuffen und Gezeter. Auf einem nach Norden hin sanft ansteigenden, grasbewachsenen Hang standen drei Reihen Panzer. Zwischen ihnen patrouillierten Soldaten, ballten sich graublau die Abgaswolken.
»Da sind ja unsere Särge!«, rief jemand in den vorderen Reihen laut und fröhlich.
»Sieh dir an, was sie uns geben«, sagte Gai. »Vorkriegspanzer, Reichsplunder, Konservenbüchsen. Hör mal, Mak, müssen wir wirklich hier verrecken? Denn das ist der sichere Tod.«
»Wie weit ist es von hier bis zur Grenze?«, fragte Maxim. »Und was ist überhaupt hinter dem Hügel?«
»Eine Ebene«, antwortete Gai. »Flach wie ein Tisch. Etwa drei Kilometer entfernt liegt die Grenze, dahinter wieder Hügel, sie ziehen sich.«
»Kein Fluss?«
»Nein.«
»Schluchten?«
»N-nein, ich erinnere mich nicht. Weshalb?«
Maxim griff nach seiner Hand und drückte sie fest.
»Verlier nicht den Mut, Gai. Alles wird gut.«
Voll verzweifelter Hoffnung blickte ihn Gai an. Seine Augen waren eingesunken, die Jochbeine traten hervor. »Meinst du wirklich?«, flüsterte er. »Ich sehe allerdings keinen Ausweg. Die Waffe haben sie mir weggenommen, in den Panzern sind nur Übungsgranaten, und die Maschinengewehre fehlen. Vor uns liegt der Tod und hinter uns auch.«
»Aha«, bemerkte Sef hämisch und stocherte in seinen Zähnen. »Machst dir wohl in die Hosen? Das ist was anderes, als Sträflingen aufs Maul zu schlagen.«
Die Kolonne zwängte sich in eine der Lücken zwischen den Panzerreihen und stoppte. Es wurde schwierig, sich zu unterhalten. Direkt auf dem Boden hatte man riesige Lautsprecher aufgestellt, aus denen ein sonorer Bass vom Tonband verkündete: »Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind. Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und vorwärts. Gegen den Feind … Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind. Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und vorwärts …« Mitten im Wort brach die Stimme, und der Oberst brüllte los. Er stand auf dem Kühler seines Geländewagens, die Bataillonsführer hielten ihn an den Beinen fest.
»Soldaten!«, brüllte der Oberst. »Genug die Zunge gewetzt. Vor euch stehen die Panzer. An die Maschinen! Vor allem die Fahrer, auf die anderen pfeif ich. Jeder aber, der zurückbleibt …« Er holte seine Pistole hervor und zeigte sie hoch. »Klar, ihr verlausten Schweine? Meine Herren Kompanieführer, bringen Sie die Besatzungen zu den Panzern!«
Sie drängten durcheinander. Der Oberst, der auf dem Kühler hin und her schwankte, grölte noch immer, war aber nicht mehr zu hören, weil die Lautsprecher wieder vom Feind faselten, der auf sie warte … Alle Strafsoldaten stürzten nun zur dritten Panzerreihe, wo es zu einer Prügelei kam. Beschlagene Stiefel wirbelten durch die Luft; die graue Menge wimmelte um die Panzer. Einige setzten sich nun ruckelnd in Bewegung, und die Soldaten, die noch darauf herumkletterten, stürzten hinunter. Der Oberst war vor Anstrengung blau angelaufen und gab über die Köpfe hinweg einen Schuss ab. Sofort liefen aus dem Wald in schwarzer Kette die Gardisten herbei.
»Gehen wir.« Maxim nahm Gai und Sef fest bei den Schultern und führte sie im Laufschritt zu einem Panzer am äußersten Rand der ersten Reihe; er war voller Flecken, dunkel und ließ das Rohr kraftlos hängen.
»Warte«, stammelte Gai verwirrt und blickte sich um. »Wir gehören doch zur vierten Kompanie, die steht da hinten, in der zweiten Linie.«
»Komm schon, los, komm!« Maxim wurde ärgerlich. »Vielleicht willst du auch noch den Zug befehligen?«
»Einmal Soldat, immer Soldat«, knurrte Sef.
Plötzlich packte jemand Maxim hinten am Gürtel. Ohne hinzusehen, versuchte er, sich wieder loszureißen, aber es gelang ihm nicht. Er drehte sich um. Mit einer Hand an ihn geklammert, mit der anderen die blutige Nase wischend, humpelte das vierte Besatzungsmitglied hinter ihm her: der Fahrer, ein Krimineller mit dem Spitznamen »Haken«.
»Ach«, sagte Maxim. »Dich hatte ich ganz vergessen. Los, los, nicht zurückbleiben.«
Er ärgerte sich, dass er in dem ganzen Durcheinander seinen vierten Mann vergessen hatte, dem laut Plan eine nicht unbedeutende Rolle zukam. Doch nun knatterten die Maschinenpistolen der Garde los, sprangen pfeifend Kugeln über die Panzerungen. Sie duckten sich und rannten weiter. Hinter ihrem Panzer blieben sie stehen.
»Hört auf mein Kommando!«, befahl Maxim. »Haken, wirf den Motor an. Sef, in den Turm! Gai, überprüfe die unteren Luken. Aber sorgsam, sonst reiß ich dir den Kopf ab!«
Er ging um den Panzer herum und untersuchte die Ketten. In der Nähe wurde geschossen und gebrüllt, die Lautsprecher brabbelten monoton, aber Maxim hatte den festen Vorsatz, sich durch nichts ablenken zu lassen. Gerade schärfte er sich ein: »Lautsprecher - Gai - nicht vergessen«. Die Ketten waren mehr oder weniger in Ordnung, aber die Antriebsräder machten ihm Sorge. Was soll’s, dachte er, wird schon gehen, lange will ich ja nicht mit ihm fahren. Gai kroch geschickt unter dem Panzer hervor, schmutzig und mit zerschundenen Händen.
»Die Luken sind eingerostet!«, rief er. »Ich habe sie nicht zugemacht, sollen sie offen bleiben. Richtig so?«
»Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind!«, mahnte die Tonbandstimme. »Nur vorwärts, vorwärts. Hebel anziehen …«
Maxim packte Gai am Kragen und zog ihn zu sich heran.
»Liebst du mich wie einen Bruder?«, fragte er und blickte seinem Freund fest in die Augen. »Vertraust du mir?«
»Ja«, antwortete Gai.
»Höre nur auf mich. Gehorche sonst niemandem. Alles, was sie sagen, ist Lüge. Ich bin dein Freund, ich allein. Merk dir das. Ich befehle: Merk dir das.«
Gai, ganz verwirrt, nickte ein paarmal und wiederholte leise: »Ja, ja. Ja. Nur du. Sonst niemand.«
»Mak!«, schrie ihnen jemand direkt in die Ohren.
Maxim wandte sich um. Vor ihm stand der Zivilist im langen Regenmantel, jetzt allerdings ohne Hut. Massaraksch … quadratisches Gesicht, auf dem sich die Haut schälte, rote, verquollene Augen … Fank! Eine blutige Schramme auf der Wange, die Lippe zerschlagen …
»Massaraksch!« Fank versuchte, den Lärm zu übertönen. »Sind Sie taub geworden, oder was? Erkennen Sie mich?«
»Fank!«, sagte Maxim. »Woher kommen Sie denn?«
Fank wischte sich das Blut von der Lippe. »Verschwinden wir!«, rief er. »Schnell!«
»Wohin?«
»Fort, zum Teufel! Los!«
Er packte Maxim am Overall und zerrte ihn weg. Maxim aber schob seine Hand zurück.
»Sie bringen uns um!«, schrie er. »Die Gardisten!«
Fank schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Passierschein für Sie!« Und er ergänzte, weil Maxim sich nicht rührte: »Ich suche Sie im ganzen Land. Habe Sie kaum gefunden. Kommen Sie, schnell!«
»Ich bin nicht allein«, schrie Maxim.
»Ich verstehe nicht!«
»Ich bin nicht allein!«, wiederholte Maxim noch lauter. »Wir sind zu dritt. Allein gehe ich nicht!«
»Reden Sie keinen Blödsinn! Was soll dieser idiotische Edelmut? Sind Sie lebensmüde?« Fank schluckte, griff sich an die Kehle, und seine Worte erstarben im Husten.
Maxim sah um sich. Gai ließ kein Auge von ihm - bleich, mit zitternden Lippen, an seinen Ärmel geklammert; er hatte alles gehört.
Zwei Gardisten trieben mit Kolbenhieben einen blutbeschmierten Strafsoldaten in den Nachbarpanzer.
»Es ist ein Passierschein!« Fanks Stimme überschlug sich. »Einer!« Er hob einen Finger.
Maxim schüttelte den Kopf.
»Wir sind zu dritt!« Er zeigte drei Finger. »Ohne sie gehe ich nirgendwohin.«
Jetzt schob sich Sefs mächtiger Bart wie ein Reisigbesen aus der Seitenluke. Fank fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Offenbar wusste er nicht, was er tun sollte.
»Wer sind Sie?«, rief Maxim. »Wozu brauchen Sie mich?«
Fank warf ihm einen flüchtigen Blick zu und musterte Gai. »Soll der hier mit?«, fauchte er.
»Ja. Und dieser auch!«
Fanks Augen wurden wild. Er griff unter seinen Mantel, zog eine Pistole hervor und richtete ihren Lauf auf Gai. Mit aller Kraft schlug Maxim seine Hand nach oben, und die Pistole flog hoch in die Luft. Maxim, der selbst noch nicht begriffen hatte, was geschehen war, schaute ihr verstohlen hinterher. Fank krümmte sich und barg die verletzte Hand in seiner Achselhöhle. Und da schlug Gai ihm, knapp und präzise, so wie er es in den Übungen gelernt hatte, gegen den Hals, und Fank stürzte nieder, das Gesicht nach unten. Neben ihnen standen plötzlich Gardisten, verschwitzt, zähnefletschend und nahezu ausgezehrt von ihrer Wut.
»In den Panzer!«, herrschte Maxim Gai an, bückte sich und packte Fank unter den Armen.
Fank war schwer und passte nur mit Mühe durch die Luke. Als Maxim ihm hinterherkletterte, bekam er wie zum Abschied noch einen Kolbenschlag versetzt. Im Panzer war es so kalt und dunkel, wie in einer Gruft. Es roch intensiv nach Diesel.
Sef zerrte Fank von der Luke weg und legte ihn auf den Fußboden. »Was ist das für einer?«, murrte er.
Bevor Maxim antworten konnte, hatte Haken, der den Starter lange und vergeblich gequält hatte, endlich den Motor in Gang gebracht. Alles ringsum ruckelte und dröhnte. Maxim winkte ab, kletterte in den Turm und lehnte sich hinaus. Zwischen den Panzern sah man jetzt nur noch Gardisten. Alle Motoren liefen, es herrschte ein Höllenlärm, und eine stickige, dicke Abgaswolke verdunkelte den Hang. Einige Panzer waren bereits losgefahren, da und dort ragten Köpfe aus den Türmen. Ein Strafsoldat, der sich aus dem benachbarten Fahrzeug beugte, machte Maxim Zeichen und verzog dabei sein angeschwollenes Gesicht, das voller blauer Flecken war, zu einer Grimasse. Dann verschwand er plötzlich, die Motoren heulten mit doppelter Kraft auf, und rasselnd stürmten alle Panzer gleichzeitig den Hang hinan.
Maxim spürte, wie er um den Leib gefasst und hinuntergezogen wurde. Er bückte sich und sah in Gais weit aufgerissene, irr starrende Augen - wie damals im Bomber. Gai hängte sich an ihn, murmelte ununterbrochen vor sich hin. Sein Gesicht war abstoßend und hatte nichts mehr von seiner Jungenhaftigkeit, dem naiven Mut; Maxim las darin nur Wahnsinn und die Bereitschaft zu töten. Es geht los, dachte er voll Abscheu und versuchte, den armen Gai von sich wegzuschieben. Es geht los … Sie haben die Emitter eingeschaltet …
Ruckelnd und vibrierend wühlte sich der Panzer zum Kamm hinauf. Unter seinen Ketten flogen dicke Grasklumpen hervor. Hinter ihnen war durch die dunkle Rauchwolke nichts mehr zu erkennen; vor ihnen breitete sich eine graue lehmige Ebene aus, schimmerten in der Ferne die flachen Hügel auf hontianischer Seite, und die Panzerlawine rollte mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf sie zu. Reihen gab es nicht mehr, alle Fahrzeuge rasten um die Wette, stießen einander an, drehten sinnlos ihre Türme. Einer der Panzer verlor in voller Fahrt eine Kette, kreiste dann auf der Stelle und kippte um. Nun riss auch die zweite Kette und flog wie eine schwere, glänzende Schlange durch die Luft; die Triebräder aber rotierten weiter. Dann sprangen aus den unteren Luken zwei graue Gestalten heraus und liefen, die Arme schwenkend, vorwärts, vorwärts, nur vorwärts gegen den tückischen Feind … Auf einmal blitzte es. Durch das Rasseln und Tosen brach mit einem hellem Knall ein Kanonenschuss, und gleich darauf feuerten auch die anderen Panzer: Lange rote Zungen schnellten aus ihren Rohren. Dann verharrten die Panzer auf der Stelle, stießen dichten schwarzen Qualm aus, und eine Minute später waren sie in einer gelbschwarzen Wolke verschwunden. Maxim schaute zu. Ihm fehlte die Kraft, den Blick von diesem schrecklich absurden, aber grandiosen Schauspiel abzuwenden. Dabei löste er immer wieder geduldig Gais Hände, die ihn wie ein Schraubstock festhielten. Und Gai? Zerrte, rief, beschwor, dürstete danach, ihn, Maxim, mit eigener Brust gegen alle Gefahren abzuschirmen … Menschen, Marionetten, Tiere … Menschen.
Dann besann sich Maxim. Es war an der Zeit, die Steuerung zu übernehmen. Er ließ sich hinuntergleiten, klopfte im Vorübergehen Gai auf die Schulter, klammerte sich an einen Metallbügel und sah sich in dem engen, ruckelnden Kasten um. Fast erstickte er am Gasolingestank. Jetzt entdeckte er Fanks totenbleiches Gesicht mit den verdrehten Augen und Sef, der sich unter dem Granatenbehälter zusammengekrümmt hatte. Er stieß Gai, der ihn wieder bedrängte, zurück und kroch durch zum Fahrer.
Haken hatte die Hebel angezogen und gab Vollgas. Er sang und grölte so laut, dass er das Getöse des Panzers übertönte und Maxim sogar die Worte seines »Dankesliedes« verstehen konnte. Maxim musste ihn jetzt irgendwie zur Ruhe bringen, seinen Platz einnehmen und in all dem Qualm ein geeignetes Versteck finden - einen Hohlweg, eine tiefe Furche oder einen Hügel, wo sie vor den Atomexplosionen Deckung fänden. Aber es lief nicht nach Plan. Kaum hatte Maxim versucht, die verkrampften Fäuste des Fahrers von den Hebeln zu lösen, als sich der ergebene Gai von der Seite heranschlich und Haken, der seinem Gebieter nicht gehorcht hatte, einen gewaltigen Schraubenschlüssel quer über die Schläfe hieb. Haken rutschte in sich zusammen und gab die Hebel frei. Wütend schleuderte Maxim Gai beiseite, aber es war zu spät. Es blieb keine Zeit für Entsetzen oder Mitleid; er zerrte den Leichnam fort, setzte sich und griff nach dem Steuer.
Durch die Kontrollluke war fast nichts zu sehen - nur ein kleiner Ausschnitt des spärlich mit Gras bewachsenen Lehmbodens und, weiter entfernt, ein dichter dunkler Schleier, der von einem Brand herrührte. Unmöglich, in diesem Rauch etwas auszumachen. Es blieb nur eins: die Geschwindigkeit zu drosseln und so lange vorsichtig weiterzufahren, bis der Panzer die Hügel erreichte. Aber auch das war gefährlich, denn die Atomminen konnten auch vorher explodieren, und dann würden sie erblinden, verbrennen … Gai drängte sich mal von rechts, mal von links an ihn heran, schaute ihn an und lauerte auf Befehle.
»Macht nichts, mein Freund …«, brummte Maxim, als er ihn mit den Ellenbogen zurückschob. »Das geht vorbei … Alles geht vorbei, alles … Hab noch ein wenig Geduld …«
Gai sah, dass Mak etwas sagte, und weinte vor Kummer, dass er wieder, genau wie damals im Bomber, kein einziges Wort verstand.
Gesammelte Werke 1
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