VIERTER TEIL
Sträfling
13
Vom ersten Schuss barst eine der Ketten, und zum
ersten Mal seit über zwanzig Jahren geriet der eiserne Drache aus
seiner eingefahrenen Spur. Er durchpflügte den Beton, brach in das
Dickicht ein und drehte sich langsam auf der Stelle, schob die
zitternden Bäume beiseite und stemmte die breite Front gegen das
knickende Buschwerk. Und als der Drache ihnen sein mächtiges Heck
mit dem Eisenblech und den rostigen Nieten zuwandte, jagte ihm Sef
eine Sprengladung in den Motor, sehr sorgfältig und genau, um nur,
Gott behüte, den Reaktor nicht zu treffen. Der Drache ächzte
eisern, stieß glühende Rauchschwaden aus der Kupplung und blieb
stehen - für immer. Etwas aber schien in seinem gepanzerten Inneren
noch zu leben: Alarmsysteme schalteten sich ein und wieder aus,
fauchten und spien Schaum. Er bebte schwach, scharrte mühsam mit
der einen verbliebenen Kette, hob und senkte furchtbar, wenn auch
vergebens, wie das Hinterteil einer zerquetschten Wespe, das
lädierte Gitterrohr der Raketenstartrampe. Einige Sekunden
verfolgte Sef diese Agonie, dann machte er kehrt und ging in den
Wald. Den Granatwerfer schleifte er am Riemen hinter sich her.
Maxim und Wildschwein folgten ihm und gelangten auf eine stille
Wiese, die Sef sich wohl schon auf dem Herweg gemerkt hatte. Sie
ließen sich ins Gras fallen, und Sef sagte: »Rauchen wir
eine.«
Er drehte dem Einarmigen eine Zigarette, gab ihm
Feuer und steckte auch sich eine an. Maxim lag auf dem Bauch, das
Kinn in die Hände gestützt, und beobachtete noch immer, wie hinter
den vereinzelt stehenden Bäumen der Eisendrache starb, die letzten
Zahnräder kläglich kreischten und den zerfetzten Eingeweiden
pfeifend radioaktiver Dampf entströmte.
»So macht man das, nur so«, dozierte Sef.
»Versuchst du’s anders, reiß ich dir die Ohren ab.«
»Warum?«, fragte Maxim. »Ich wollte ihn zum Stehen
bringen.«
»Die Granate hätte quer in die Rakete einschlagen
können, und dann wär’s aus gewesen mit uns«, antwortete Sef.
»Ich habe auf die Kette gezielt.«
»Ins Heck muss man zielen.« Sef tat einen
Lungenzug. »Und überhaupt, dräng dich nicht vor, solange du neu
bist. Es sei denn, ich bitte dich darum. Klar?«
»Klar«, sagte Maxim.
Sefs Finessen interessierten ihn nicht. Der ganze
Sef interessierte ihn nicht. Ihn interessierte Wildschwein. Doch
Wildschwein schwieg wie immer gleichgültig; die künstliche Hand
hatte er auf dem abgewetzten Futteral des Minensuchgeräts abgelegt.
Alles war wie immer. Und alles war anders, als Maxim es sich
wünschte.
Als die neu angekommenen Zöglinge vor einer Woche
bei den Baracken antreten mussten, war Sef gleich auf Maxim
zugesteuert und hatte ihn in seine Pioniergruppe 134 geholt. Maxim
war froh darüber gewesen. Er hatte den feuerroten Bart und die
stämmige Gestalt gleich wiedererkannt, und es tat ihm gut, dass man
auch ihn in diesem stinkenden karierten Haufen, wo jeder auf jeden
pfiff und sich keiner für den anderen interessierte, gefunden
hatte. Zudem hatte Maxim
guten Grund zu der Annahme, dass Sef, der seinerzeit berühmte
Psychiater Allu Sef, der intelligent, gebildet und ganz anders war
als das halbkriminelle Gesindel im Gefängniswaggon, als politischer
Gefangener hier war und Verbindungen zum Untergrund unterhielt. Und
als Sef ihm in der Baracke einen Schlafplatz neben dem des
einarmigen Wildschwein zuwies, betrachtete Maxim die Sache als
besiegelt. Doch das erwies sich bald als Irrtum. Wildschwein wollte
keine Gespräche. Nach Maxims eilig geflüstertem Bericht über das
Ende der Gruppe, den gesprengten Turm und den Prozess gähnte er und
murmelte: »Da gibt’s noch ganz andere Sachen«, und drehte Maxim den
Rücken zu. Der fühlte sich betrogen. Und dann kroch auch noch Sef
zu ihm auf die Pritsche. »Hab ich mich jetzt vollgefressen!«,
stöhnte er zufrieden und versuchte ohne jede Einleitung, frech,
primitiv und aufdringlich, von Maxim Namen und Anlaufstellen zu
erfahren. Vielleicht war er irgendwann ein namhafter
Wissenschaftler und ein gebildeter, intelligenter Mensch gewesen.
Vielleicht, ja, bestimmt hatte er auch Verbindung zum Untergrund
gehabt - nun aber erweckte er den Eindruck eines gewöhnlichen,
herausgefutterten Spitzels, der sich aus Langeweile vor dem
Schlafen einen dummen, naiven Neuankömmling vorknöpfte. Nur mit
Mühe konnte Maxim sich seiner erwehren, und als Sef schließlich
laut zu schnarchen begann, lag er noch lange wach und dachte
darüber nach, wie oft ihn hier schon Menschen und Umstände in die
Irre geführt hatten.
Die Nerven gingen ihm durch. Er erinnerte sich an
den Prozess, der offensichtlich schon vorbereitet worden war, bevor
die Gruppe den Befehl erhielt, den Turm zu stürmen; und an die
schriftlichen Denunziationen irgendeines Lumpen, der alles über die
Gruppe wusste und womöglich eins ihrer Mitglieder war; und an den
Film, der während des Angriffs vom Turm aus gedreht worden war, und
an seine Scham, als er sich selbst auf dem Bildschirm erkannte, wie
er mit der Maschinenpistole
auf die Scheinwerfer, beziehungsweise die Jupiterlampen feuerte,
die dieses furchtbare Spektakel erhellten. In der fest verriegelten
Baracke war es widerlich schwül, die Zöglinge redeten im Schlaf,
man wurde von Ungeziefer geplagt, und in einem entlegenen Winkel
spielten Privilegierte beim Schein einer selbst gezogenen Kerze
Karten und schrien einander heiser an.
Und am nächsten Tag wurde Maxim auch vom Wald
verraten. Keinen Schritt konnte man tun, ohne auf Eisen zu stoßen:
totes, durch und durch verrostetes Eisen. Verborgenes Eisen, das
jederzeit bereit war zu morden; Eisen, das sich heimlich regte und
auf einen zielte - oder Eisen, das blind und ohne Verstand die
Reste der Straßen aufriss. Erde und Gras rochen nach Rost, in den
Bodensenken blinkten radioaktive Pfützen, die Vögel sangen nicht,
sondern schrien heiser, als ahnten sie ihren Tod voraus. Andere
Tiere fehlten gänzlich, und es fehlte auch die Waldesstille -
ununterbrochen, bald rechts, bald links, krachten und dröhnten
Detonationen. Im Geäst ballte sich graublauer Qualm, und der Wind
trug das Heulen altersschwacher Motoren heran.
Und so ging es Tag für Tag und Nacht für Nacht.
Tags begaben sie sich in den Wald, der kein Wald war, sondern ein
ehemals befestigtes Gebiet, vollgepfropft mit automatischem
Kampfgerät, Panzerwagen, Flammen- und Gaswerfern, Selbstfahrkanonen
und Raketen auf Kettenfahrzeugen. Das alles war in mehr als zwanzig
Jahren nicht etwa abgestorben, sondern lebte sein unnützes,
mechanisches Leben weiter: zielte noch immer, richtete sein
Geschütz nach wie vor, spie Blei, Feuer und Tod und musste zerstört
und gesprengt werden, um die Trasse frei zu bekommen für den Bau
neuer Emittertürme. Und nachts fuhr Wildschwein fort zu schweigen,
und Sef bedrängte Maxim wieder und wieder mit seinen Fragen,
bisweilen direkt und geradezu dumm, ein andermal erstaunlich
geschickt und spitzfindig. Und dann waren da noch das
schlechte Essen und die merkwürdigen Lieder der Zwangsarbeiter;
die Gardisten schlugen einem ins Gesicht, und zweimal täglich,
während der Strahlenschübe, krümmten sich die Zöglinge im Wald und
in den Baracken vor Schmerzen, und im Wind schaukelten erhängte
Flüchtlinge.
Tag - Nacht, Tag - Nacht …
»Weshalb wollten Sie ihn anhalten?«, fragte
Wildschwein plötzlich.
Maxim setzte sich auf. Es war die erste Frage, die
der Einarmige an ihn richtete.
»Um zu sehen, wie er funktioniert.«
»Wollen Sie fliehen?«
Maxim heftete seinen Blick auf Sef. »Nein, nicht
deshalb. Aber immerhin ist es ein Panzer, ein Kampffahrzeug.«
»Und wozu brauchen Sie ihn?« Wildschwein redete,
als gäbe es den rothaarigen Spitzel nicht.
»Keine Ahnung!«, stieß Maxim hervor. »Darüber
müsste ich noch nachdenken. Sind hier viele von dieser
Sorte?«
»Ja«, mischte sich der rothaarige Störenfried ins
Gespräch. »Panzer gibt’s genug, und an Dummköpfen hat’s auch nie
gefehlt.« Er gähnte. »Wie oft das schon versucht wurde! Kriechen
hinein, fummeln und fummeln, und dann geben sie auf. Einer dieser
Idioten, so einer wie du, hat sich sogar in die Luft gejagt.«
»Ich würde mich nicht in die Luft jagen«, sagte
Maxim kühl. »Dieses Fahrzeug ist unkompliziert.«
»Wozu brauchen Sie’s denn nun?«, fragte der
Einarmige. Er lag auf dem Rücken und rauchte, die Zigarette
eingeklemmt zwischen die künstlichen Finger. »Nehmen wir an, Sie
setzen es in Gang. Was weiter?«
»Durchbruch über die Brücke.« Sef lachte auf.
»Warum nicht?«, entgegnete Maxim. Er wusste nicht
recht, wie er sich verhalten sollte. Der Rothaarige war anscheinend
doch kein Spitzel. Massaraksch, was wollten sie denn plötzlich von
ihm?
»Sie kommen nicht bis zur Brücke«, sagte
Wildschwein. »Bis dahin hat man Sie dreiunddreißigmal erschossen.
Schaffen Sie’s aber doch, ist die Brücke wahrscheinlich
hochgezogen.«
»Dann durch den Fluss.«
»Der ist radioaktiv.« Sef spie aus. »Wäre er für
Menschen zugänglich, bräuchte man keinen Panzer. An jeder
x-beliebigen Stelle könnte man durchschwimmen, die Ufer sind nicht
bewacht.« Er spuckte noch einmal aus. »Übrigens wären sie es dann.
Also spiel nicht den wilden Mann, mein Junge. Bist für lange hier,
pass dich an! Tust du es, wird was draus. Hörst du aber nicht auf
die Älteren, kannst du noch heute das Weltlicht erblicken.«
»Fliehen ist leicht«, widersprach Maxim. »Fliehen
könnte ich auf der Stelle.«
»Schau einer an!« Sef mimte Bewunderung.
»… und wenn Sie vorhaben, hier weiter Konspiration
zu spielen …« Maxim wandte sich demonstrativ an Wildschwein, doch
Sef unterbrach ihn erneut.
»Ich beabsichtige, die heutige Norm zu schaffen.«
Er stand auf. »Andernfalls kriegen wir nichts zu fressen. Also
los!«
Während er watschelnd zwischen den Bäumen
verschwand, fragte Maxim den Einarmigen: »Ist das etwa ein
Politischer?«
Wildschwein warf ihm einen hastigen Blick zu. »Wie
kommen Sie denn darauf?«
Sie folgten Sef, bemüht, in seine Fußstapfen zu
treten. Maxim ging als Letzter.
»Weswegen ist er eigentlich hier?«
»Er hat die Straße falsch überquert«, erwiderte
Wildschwein, und wieder verlor Maxim die Lust zu reden.
Sie hatten noch keine hundert Schritte getan, als
Sef »Halt!« kommandierte, und die Arbeit begann. »Hinlegen!«,
schrie er wenig später. Sie warfen sich flach auf den Boden. Ein
dicker
Baum brach, gedehnt knirschend, vor ihnen um. Aus seiner Mitte
heraus schob sich ein langes, dünnes Geschützrohr, das hin und her
schwenkte, als nähme es Maß; dann folgte ein Surren, ein Knall, und
aus der schwarzen Mündung stieg träge ein gelbes Rauchwölkchen auf.
»Vergammelt«, sagte Sef lakonisch, stand als Erster auf und klopfte
seine Hose ab. Den Baum mit der Kanone sprengten sie. Es folgte ein
Minenfeld, dann eine Hügelfalle mit einem Maschinengewehr, das
nicht vergammelt war, sondern sie lange an die Erde presste und so
laut feuerte, dass es im ganzen Wald zu hören war. Danach gerieten
sie in einen wahren Dschungel aus Stacheldraht, aus dem sie kaum
mehr herausfanden, und als es ihnen schließlich gelang, kam
plötzlich Feuer von oben, so dass es Explosionen gab und zu brennen
begann. Maxim begriff überhaupt nichts, der Einarmige schwieg und
lag ruhig mit dem Gesicht nach unten, Sef aber schoss mit dem
Granatwerfer in die Luft und brüllte plötzlich: »Im Laufschritt,
mir nach!« Sie rannten davon und dort, wo sie noch kurz zuvor
gewesen waren, züngelten hohe Flammen. Sef fluchte fürchterlich;
Wildschwein aber lachte vor sich hin. Sie drangen in ein wildes
Dickicht, hörten ein Pfeifen und Fauchen, und durch das Astwerk
quoll grünliches, widerlich stinkendes Gas. Wieder mussten sie
fort, sich durch Gebüsch zwängen, wieder fluchte Sef, und dem
Einarmigen wurde übel.
Schließlich wurde Sef müde und verkündete eine
Pause. Sie fachten ein Feuer an, und Maxim - als Jüngster - kochte
das Essen: Konservensuppe in dem ihm längst bekannten Kochgeschirr.
Sef und der Einarmige lagen schmutzig und zerschunden neben ihm und
rauchten.
Wildschwein wirkte mitgenommen, er war alt, für ihn
war es hier am schwersten.
»Unbegreiflich, wie wir es geschafft haben, bei so
einer Menge Technik pro Quadratmeter den Krieg zu verlieren«, sagte
Maxim.
»Wie kommst du darauf, dass wir ihn verloren
haben?«, erkundigte sich Sef träge.
»Gewonnen haben wir ja nicht«, sagte Maxim. »Sieger
leben anders.«
»In einem modernen Krieg gibt es keine Sieger«,
bemerkte der Einarmige. »Sie haben natürlich Recht. Wir haben den
Krieg verloren. Alle haben diesen Krieg verloren. Gewonnen haben
nur die Unbekannten Väter.«
»Die Unbekannten Väter haben es auch nicht leicht«.
Maxim rührte die Suppe um.
»Ja«, sagte Sef ernst. »Schlaflose Nächte und
quälende Gedanken an das Schicksal des Volkes. Müde und gütig,
sehen sie alles, verstehen alles … Massaraksch, wie lange habe ich
keine Zeitungen mehr gelesen, habe schon vergessen, wie’s
weitergeht.«
»Treu und gütig«, berichtigte ihn der Einarmige.
»Sich ganz dem Fortschritt und dem Kampf gegen das Chaos
widmend.«
»Solche Gespräche bin ich nicht mehr gewöhnt«,
murrte Sef. »Hier heißt’s ›Halt’s Maul, Zögling!‹, oder ›Ich zähle
bis eins‹. He, Bürschchen, wie heißt du doch?«
»Maxim.«
»Ja, richtig. Rühre, Mak, rühre. Pass auf, dass sie
nicht anbrennt!«
Maxim rührte. Und dann meinte Sef, es sei nun
genug, er könne nicht länger warten. Schweigend löffelten sie ihre
Suppe. Maxim spürte, dass sich irgendetwas verändert hatte, und es
würde noch heute ausgesprochen werden … Doch nach dem Essen legte
sich Wildschwein wieder hin und blickte zum Himmel, und Sef griff,
unverständlich murmelnd, nach dem Kochgeschirr und wischte es mit
einer Brotrinde aus.
»Man müsste sich etwas schießen«, sagte er. »Mein
Wanst ist leer, als hätte ich keinen Krümel darin. Nur Appetit hab
ich gekriegt.«
Maxim wurde verlegen, und er versuchte, ein
Gespräch über die Jagd in dieser Gegend anzufangen, doch die
anderen gingen nicht darauf ein. Der Einarmige lag mit
geschlossenen Augen da und schlief anscheinend; Sef, der sich
Maxims Überlegungen zu Ende angehört hatte, brummte nur: »Was
kann’s hier für Jagd geben. Ist doch alles verseucht, radioaktiv«,
und dann wälzte auch er sich auf den Rücken.
Maxim nahm das Kochgeschirr und ging zum Bach, der
in der Nähe vorbeifloss. Das Wasser war klar, schien sauber und
wohlschmeckend, so dass Maxim davon trinken wollte. Er schöpfte
eine Handvoll und bemerkte, dass der Bach spürbar radioaktiv war;
das Kochgeschirr würde er hier nicht auswaschen können, und trinken
sollte er von dem Wasser besser auch nicht. Maxim hockte sich hin,
legte das Kochgeschirr ins Gras und fing an zu grübeln.
Als Erstes kam ihm Rada in den Sinn, wie sie nach
den Mahlzeiten das Geschirr gespült und nicht zugelassen hatte,
dass er ihr half: Das sei Frauensache, hatte sie gesagt. Ihm fiel
ein, dass sie ihn liebte, und das machte ihn stolz, denn bislang
hatte noch keine Frau ihn geliebt. Er hätte Rada jetzt gern
gesehen, war aber zugleich erleichtert, dass sie nicht da war. An
diesen Ort gehörten nicht einmal die schlimmsten Männer;
zwanzigtausend Reinigungskyber müsste man herschicken, vielleicht
sogar alle Wälder mitsamt ihrem Inhalt vernichten und neue ziehen,
die licht waren oder, wenn es sein musste, auch düster - aber
sauber und von einer natürlichen Finsternis.
Dann erinnerte er sich, dass man ihn für immer in
diese Wälder geschickt hatte. Er wunderte sich über die Naivität
derjenigen, die ihn hierher verbannt hatten und glaubten, er würde,
ohne je sein Ehrenwort gegeben zu haben, freiwillig dahinvegetieren
und ihnen noch dazu helfen, eine Linie von Emittertürmen zu
errichten. Im Sträflingswaggon hatte jemand erzählt, die Wälder
würden Hunderte von Kilometern
nach Süden reichen, und auf Militärtechnik träfe man sogar noch in
der Wüste. Nein, danke, hier bleibe ich nicht. Massaraksch, gestern
hab ich diese Türme gesprengt, und heute werde ich für sie das
Gelände säubern? Ich habe genug von diesen Dummheiten.
Wildschwein glaubt mir nicht. Sef glaubt er, mir
aber nicht. Ich wiederum misstraue Sef, wahrscheinlich zu Unrecht.
Sicher bin ich in Wildschweins Augen ebenso aufdringlich und
verdächtig, wie Sef es für mich ist. Na schön, Wildschwein glaubt
mir nicht, also bin ich wieder allein. Ich könnte darauf hoffen,
den General oder Klaue zu treffen, aber das ist zu
unwahrscheinlich: Es heißt, es gibt hier über eine Million
Zöglinge, und das Gebiet ist riesig. Nein, mit so einem
Zusammentreffen ist nicht zu rechnen. Ich könnte versuchen, eine
eigene Gruppe zusammenzubringen, aber seien wir ehrlich,
Massaraksch, dafür eigne ich mich nicht. Vorerst jedenfalls nicht,
bin viel zu vertrauensselig. Klären wir daher zuerst die Aufgabe.
Was will ich?
Einige Minuten lang führte er sich die Aufgabe vor
Augen und fand Folgendes heraus: Man musste die Unbekannten Väter
stürzen. Wenn sie Militärs sind, sollen sie doch in der Armee
dienen, sind sie Finanzleute, sollen sie sich mit den Finanzen
befassen, was immer das heißen mag. Eine demokratische Regierung
einsetzen - er hatte eine ungefähre Vorstellung, was das war und
wusste, dass diese Republik zunächst bürgerlich-demokratisch sein
würde. Das löste nicht alle Probleme, aber erlaubte, die
Gesetzlosigkeit einzudämmen und die sinnlosen Ausgaben für die
Türme und die Kriegsvorbereitungen zu streichen. Er musste sich
freilich eingestehen, dass er nur vom ersten Punkt seines Programms
eine genaue Vorstellung hatte: vom Sturz der Tyrannei. Was danach
käme, war ihm noch völlig unklar. Zudem konnte er nicht sicher
sein, ob die breite Masse der Bevölkerung seine Idee, die Tyrannei
zu stürzen, gutheißen würde. Die Unbekannten Väter
waren zwar offensichtlich Lügner und Halunken, aber im Volk
zweifellos sehr beliebt. Was soll’s, dachte er, schauen wir nicht
zu weit voraus. Lassen wir es beim ersten Punkt und sehen uns an,
welche Hürden noch zu nehmen sind, bis ich den Unbekannten Vätern
an die Gurgel kann. Erstens die Streitkräfte: die hervorragend
dressierte Garde und die Armee, von der ich allerdings nur weiß,
dass in irgendeiner ihrer Strafkompanien (sonderbare Bezeichnung!)
mein Freund Gai dient. Zweitens - und noch wichtiger: die
Anonymität der Unbekannten Väter. Wer sind sie, wo soll man sie
suchen? Wo kommen sie her, wo halten sie sich auf, wie wird man
einer von ihnen? Er versuchte sich zu erinnern, wie es auf der Erde
zur Zeit der Revolutionen und Diktaturen gewesen war. Massaraksch!
Ich weiß nur noch die Schlüsseldaten, die wichtigsten Namen und die
grobe Kräfteverteilung, aber ich brauche Details, Analogien,
Präzedenzfälle. Zum Beispiel der Faschismus. Wie war das doch
gleich? Ich weiß noch, wie schrecklich es war, darüber zu lesen und
zu hören. Da war irgendein Hilmer, widerlich, eine blutsaugende
Spinne. Halt, das war also keine anonyme Regierung. Hm, nicht viel,
was ich noch weiß. Aber das ist ja so lange her, und es war so
abscheulich, und wer konnte denn wissen, dass ich in so eine
Bredouille gerate? Die Leute vom Galaktischen Sicherheitsdienst
oder vom Institut für Experimentalgeschichte müssten hier sein -
die würden gleich sehen, was los ist. Vielleicht sollte ich
versuchen, einen Sender zu bauen? Er lachte traurig bei der
Erinnerung, dass er hier schon einmal an einen Sender gedacht
hatte, in dieser Gegend, sogar ganz in der Nähe. Nein, ich muss
wohl allein zurechtkommen. Na schön. Gegen eine Armee hilft nur ein
Mittel: eine Armee. Gegen Anonymität und Geheimnisse: die
Aufklärung. Alles ganz einfach.
Auf jeden Fall muss ich von hier weg. Zuerst
versuche ich, eine Gruppe aufzubauen, doch wenn es nicht gelingt,
gehe ich allein. Und einen Panzer brauche ich. Waffen gibt es hier
ja
genug - für hundert Armeen würden sie reichen. Haben in den
zwanzig Jahren mächtig gelitten und sind zudem automatisch, aber
ich werde sie schon herrichten. Traut mir Wildschwein wirklich
nicht?, dachte er fast verzweifelt, griff dann nach dem
Kochgeschirr und lief zurück zum Feuer.
Sef und Wildschwein schliefen nicht, sie lagen Kopf
an Kopf und stritten leise, aber heftig. Als Sef Maxim erblickte,
sagte er schnell: »Schluss jetzt!«, und erhob sich. Den gewaltigen
roten Bart vorgereckt und die Augen aufgerissen, brüllte er los:
»Wo treibst du dich rum, Massaraksch? Wer hat dir erlaubt,
wegzurennen? Arbeiten müssen wir, sonst geben sie uns nichts zu
fressen, dreiunddreißigmal Massaraksch!«
Und da geriet Maxim in Wut. Bestimmt zum ersten Mal
im Leben fuhr er einen Menschen an, so laut er konnte: »Hol Sie der
Teufel, Sef! Können Sie an nichts anderes denken als ans Essen? Den
ganzen Tag hör ich von Ihnen: fressen, fressen, fressen! Ich gebe
Ihnen meine Konserven, wenn es Sie so quält!«
Er warf das Kochgeschirr ins Gras, nahm seinen
Rucksack und setzte ihn auf. Sef war von seinem Wutausbruch wie vor
den Kopf geschlagen, setzte sich hin und blickte ihn verdutzt an.
Dann gluckste er, schniefte und - brach in Gelächter aus. Der
Einarmige stimmte ein, doch war das nur zu sehen, nicht zu hören.
Zuletzt lachte auch Maxim, wenn auch ein wenig verlegen.
»Massaraksch!«, röchelte Sef schließlich. »Der hat
ein Organ. Nein, Freundchen«, wandte er sich an Wildschwein, »denk
an meine Worte. Aber eigentlich hatte ich gesagt: Schluss jetzt.
Aufstehn!«, schrie er auf einmal los, »vorwärts, wenn ihr heute
abend, ähm, fressen wollt …«
Und damit hatte es sich. Sie grölten noch ein wenig
und lachten; dann wurden sie ernst und gingen weiter. Verbissen
entschärfte Maxim Minen, brach Zwillings-MGs aus ihren Nestern,
schraubte Sprengköpfe von Fliegerabwehrraketen,
die aus offenen Luken ragten, und wieder gab es ringsum Feuer,
zischte Tränengas, rochen sie den furchtbaren Kadavergestank
umherliegender Tiere, die von den Automaten erschossen worden
waren. Sie wurden noch schmutziger, noch zerlumpter, noch
grimmiger, und Sef trieb Maxim heiser an: »Vorwärts, vorwärts!
Willst du fressen, dann vorwärts!«. Und Wildschwein war nun ganz
und gar erschöpft und schleppte sich weit hinter ihnen voran, auf
seinen Minensucher gestützt wie auf einen Krückstock.
Nach diesen Stunden hatte Maxim endgültig genug von
Sef, und er freute sich geradezu, als der Rotbart plötzlich
aufheulte und mit Getöse in die Erde einbrach. Er wischte sich mit
einem schmutzigen Ärmel den Schweiß von der schmutzigen Stirn, trat
näher und stand am Rand einer im Gras verborgenen Spalte. Sie war
sehr tief und stockfinster, nichts war zu erkennen. Es drang nur
ein Geruch von Kälte und Feuchtigkeit herauf, und man hörte
Knirschen, Klirren und unverständliches Schimpfen. Hinkend kam
Wildschwein dazu, blickte ebenfalls in die Tiefe und fragte: »Ist
er dort? Was macht er da?«
»Sef!« Maxim bückte sich. »Wo sind Sie, Sef?«
Aus der Spalte klang es dumpf: »Kommt runter!
Springt, es ist ganz weich.«
Maxim sah den Einarmigen an. Der schüttelte den
Kopf.
»Das ist nichts für mich. Springen Sie, ich lasse
Ihnen nachher ein Seil runter.«
»Wer da?«, schrie Sef auf einmal. »Ich schieße,
Massaraksch!«
Maxim schob die Beine in die Spalte, stieß sich ab
und sprang. Fast im selben Augenblick versank er bis zu den Knien
in einer mürben Masse und fiel auf sein Hinterteil. Sef war
irgendwo in der Nähe. Maxim schloss die Augen und blieb einige
Sekunden sitzen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
»Komm her, Mak, hier ist jemand«, dröhnte Sef.
»Wildschwein! Spring!«
Wildschwein entgegnete, er sei müde wie ein Hund
und würde sich oben gerne ein wenig ausruhen.
»Wie du willst«, sagte Sef. »Aber wenn du mich
fragst, ist das die Festung. Wirst es bereuen.«
Die Antwort des Einarmigen klang undeutlich, seine
Stimme schwach - sicher war ihm wieder übel und ganz und gar nicht
nach der Festung zumute. Maxim öffnete die Augen und blickte sich
um. Er saß auf einem Erdhaufen inmitten eines langen Gangs mit
unebenen Zementwänden. Das Loch in der Decke diente entweder der
Ventilation, oder es stammte von einem Einschuss. Etwa zwanzig
Schritte entfernt stand Sef. Auch er sah sich um, wobei er mit der
Taschenlampe in alle Richtungen leuchtete.
»Was ist das hier?«, fragte Maxim.
»Weiß ich’s?«, erwiderte Sef streitsüchtig.
»Vielleicht ein Unterstand. Oder tatsächlich die Festung. Hast du
von ihr gehört?«
»Nein.« Maxim rutschte den Erdhaufen hinab.
»Also nicht.« Sef schien zerstreut. Er leuchtete
immer noch mit der Taschenlampe die Wände ab. »Was weißt du
überhaupt. Massaraksch, eben war da jemand.«
»Ein Mensch?«
»Keine Ahnung. Er schlich an der Wand entlang und
verschwand. Was aber die Festung betrifft, mein Freund - das ist
eine Sache, mit der wir an einem Tag unsere ganze Arbeit schaffen
könnten. Aha, Spuren …«
Er kauerte sich nieder. Maxim hockte sich daneben
und sah eine Reihe von Abdrücken im Staub neben der Wand.
»Sie sehen merkwürdig aus«, sagte er.
»Stimmt, mein Freund.« Sef sah sich wieder um.
»Solche Spuren habe ich noch nie gesehen.«
»Als wäre jemand auf Fäusten gegangen«, überlegte
Maxim. Er ballte eine Hand und drückte sie neben die Spur.
»So ähnlich«, stimmte Sef anerkennend zu. Er
richtete den Lichtkegel in die Tiefe des Gangs. Etwas blinkte
schwach, reflektierte - wahrscheinlich eine Biegung oder Sackgasse.
»Sehen wir’s uns an?«
»Leise«, sagte Maxim. »Keinen Ton, und bewegen Sie
sich nicht.«
Die Stille hier unter der Erde war so dicht wie
feuchte Watte, und dennoch war der Gang nicht unbelebt. Da vorne
stand jemand - Maxim konnte nicht genau sagen, wo und wie weit
entfernt -, aber da, klein und an die Mauer gepresst war etwas, das
einen schwachen, unbekannten Geruch verbreitete, sie beobachtete
und ihre Anwesenheit missbilligte. Das Wesen war etwas ganz und gar
Fremdes und seine Absichten unbekannt.
»Müssen wir unbedingt dorthin?«, fragte
Maxim.
»Ich würde gern.«
»Weshalb?«
»Ich muss mir das ansehen, womöglich ist es die
Festung. Hätten wir die gefunden, mein Freund, würde alles anders.
Ich glaube nicht an sie, aber da man davon erzählt. Wer weiß.
Vielleicht lügen doch nicht alle.«
»Da ist jemand«, flüsterte Maxim. »Ich begreife nur
nicht, wer.«
»Ja? Hm, wenn es die Festung ist, leben hier, nach
der Legende, entweder die Überreste ihrer Garnison … Sitzen da,
verstehst du, und wissen nicht, dass die Kämpfe zu Ende sind,
hatten mitten im Krieg ihre Neutralität erklärt, sich
verbarrikadiert und verkündet, sie würden den ganzen Kontinent in
die Luft sprengen, falls man zu ihnen vordränge.«
»Können sie das?«
»Wenn es die Festung ist, können sie alles. Es gibt
ja oben immer noch ständig Schüsse und Detonationen, gut möglich,
dass sie denken, der Krieg sei noch nicht vorbei. Irgendein Prinz
hat hier kommandiert oder ein Herzog. Wäre gut, ihn zu treffen und
mit ihm zu reden.«
Maxim lauschte wieder.
»Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Das ist weder
Prinz noch Herzog. Ein Tier vielleicht, nein, auch kein Tier.
Oder?«
»Was - ›oder‹?«
»Sie haben gesagt, entweder die Überreste der
Garnison, oder …?«
»Ach so, das andere ist Unsinn, ein Ammenmärchen.
Gehen wir und sehen nach.«
Sef lud den Granatwerfer, brachte ihn in Anschlag
und tappte, mit der Taschenlampe leuchtend, vorwärts. Maxim hielt
sich neben ihm. Einige Minuten bewegten sie sich den Gang entlang,
dann stießen sie auf eine Wand und gingen nach rechts.
»Sie machen zu viel Lärm«, beklagte sich Maxim. »Da
vorn passiert was, aber Sie schnaufen …«
»Was denn, soll ich die Luft anhalten?« Prompt
zeigte Sef seine Krallen.
»Ihre Lampe stört mich auch.«
»Wieso? Es ist dunkel!«
»Ich sehe im Dunkeln«, sagte Maxim, »aber wegen
Ihrer Funzel kann ich nichts erkennen. Lassen Sie mich vorgehen,
und bleiben Sie hier. Sonst erfahren wir gar nichts.«
»Wie du willst.« Sefs Stimme klang ungewohnt
unsicher.
Maxim kniff wieder die Augen zusammen, erholte sich
von dem matten, flackernden Licht und glitt gebückt an der Mauer
entlang, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Der Unbekannte konnte
nicht weit sein, und mit jedem Schritt kam Maxim ihm näher. Der
Gang nahm kein Ende. Rechts zeigten sich jetzt Türen, alle aus
Eisen und ausnahmslos verschlossen. Von vorn zog es ein wenig. Die
Luft war feucht, roch nach Moder und etwas Unbekanntem, Lebendigem
und Warmem.
Hinten rührte Sef sich vorsichtig; es war ihm nicht geheuer, und
er hatte Angst zurückzubleiben. Maxim schmunzelte, als ihm das
bewusst wurde; buchstäblich für eine Sekunde war er abgelenkt - und
in dieser Sekunde verschwand das Wesen. Maxim verharrte erstaunt.
Eben noch war es vor ihm gewesen, wenige Schritte entfernt. Und
jetzt schien es sich in Luft aufgelöst zu haben. Aber da erschien
es plötzlich hinter seinem Rücken, ganz nahe.
»Sef!«, rief Maxim.
»Ja!«, tönte dumpf die Antwort.
Maxim stellte sich vor, wie der Unbekannte zwischen
ihnen den Kopf in Richtung der Stimmen dreht.
»Er steht zwischen uns«, sagte Maxim. »Kommen Sie
nicht auf die Idee zu schießen.«
»Gut.« Sef schwieg kurze Zeit. »Ich sehe nichts.
Wie ist er?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Maxim. »Weich.«
»Ein Tier?«
»Wohl nicht.«
»Du hast doch behauptet, du siehst im
Dunkeln.«
»Aber nicht mit den Augen«, sagte Maxim. »Seien Sie
still!«
»Nicht mit den Augen«, murmelte Sef und
verstummte.
Der Unbekannte blieb noch eine Weile an derselben
Stelle, dann durchquerte er den Gang, verschwand wieder und tauchte
nach einiger Zeit plötzlich vor ihnen auf. Er ist auch neugierig,
dachte Maxim. Er gab sich viel Mühe, Sympathie für dieses Wesen zu
empfinden, doch etwas störte - sicher die unangenehme Verbindung
von nichttierischem Intellekt mit halbtierischem Äußeren. Er tat
wieder einen Schritt. Der Unbekannte wich zurück, hielt
gleichbleibenden Abstand.
»Wie steht’s?«, fragte Sef.
»Unverändert«, antwortete Maxim. »Möglich, dass er
uns irgendwohin führt oder lockt.«
»Werden wir mit ihm fertig?«
»Er wird uns nicht angreifen«, sagte Maxim. »Für
ihn ist es auch interessant.«
Er verstummte, weil der Unbekannte wieder entwischt
war, und bemerkte plötzlich, dass der Gang endete. Maxim befand
sich in einem großen, tiefdunklen Raum und konnte fast nichts
erkennen. Doch er spürte Metall und Glas, Rostgeruch - und
Hochspannungsstrom. Einige Sekunden lang stand er reglos da und
streckte, nachdem er herausgefunden hatte, wo der Schalter war, die
Hand danach aus. Doch in dem Moment erschien das Wesen wieder. Und
nicht allein. Mit ihm war ein zweites gekommen, ähnlich, aber nicht
gleich. Sie standen an derselben Wand wie Maxim, er hörte ihren
Atem - hastig und feucht. Er erstarrte, hoffte, sie würden näher
herankommen, aber sie taten es nicht. Und dann drückte er, nachdem
er mit aller Kraft die Pupillen zusammengezogen hatte, auf die
Taste des Schalters.
Offenbar war die Leitung nicht in Ordnung, denn die
Lampen flammten nur für den Bruchteil einer Sekunde auf, irgendwo
knallten Sicherungen durch, und das Licht erlosch wieder. Immerhin
aber hatte Maxim gesehen, dass die Wesen klein waren, etwa wie
große Hunde. Sie standen auf allen vieren, hatten ein dunkles Fell
und riesige, schwere Köpfe. Ihre Augen hatte Maxim so schnell nicht
erkannt. Die Wesen waren im Nu verschwunden, als hätte es sie nie
gegeben.
»Was ist los bei dir?«, fragte Sef beunruhigt. »Was
war das für ein Blitz?«
»Ich hatte das Licht eingeschaltet. Kommen Sie
her.«
»Und wo ist er? Hast du ihn gesehen?«
»Nur kurz. Sie ähneln doch eher Tieren. Hunde mit
großen Köpfen.«
Über die Wand hüpfte der Widerschein der
Taschenlampe. Sef redete im Gehen.
»Ah, Hunde. Die kenne ich, solche hausen im Wald.
Lebend habe ich sie nie gesehen, aber schon oft erlegt.«
»Nein«, sagte Maxim zweifelnd. »Tiere sind das
nicht.«
»Es sind Tiere.« Sefs Stimme hallte dumpf vom hohen
Gewölbe dieses unterirdischen Raums wider. »Wir haben uns umsonst
gefürchtet. Ich dachte schon, Vampire. Massaraksch! Das ist
wirklich die Festung.«
Er blieb mitten im Raum stehen. Der Lichtkegel
wanderte über Wände, Reihen von Skalenscheiben, Schalttafeln. Glas
leuchtete auf, Nickel, verblichener Kunststoff.
»Ich gratuliere, Mak. Wir beide haben sie gefunden.
Zu Unrecht hab ich nicht dran geglaubt, zu Unrecht. Und was ist
das? Aha, das Elektronenhirn, alles steht hier unter Strom. Ach,
der Schmied müsste her. Hör mal, verstehst du was davon?«
»Wovon?« Maxim trat heran.
»Von dieser Mechanik. Hier ist das Steuerpult! Wenn
wir das beherrschen, gehört uns die ganze Region. Die ganze Technik
oben wird von hier dirigiert. Ach, wenn man damit klarkäme,
Massaraksch!«
Maxim nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand, hielt
sie so, dass sie den ganzen Raum erhellte, und blickte sich um.
Überall war Staub, gewiss schon viele Jahre, und auf dem Tisch in
der Ecke lag ein auseinandergefaltetes, vermodertes Stück Papier;
darauf stand ein schwarzbekleckerter Teller mit einer Gabel. Maxim
ging an den Pulten entlang, berührte Stellschrauben, versuchte den
Elektronenrechner einzuschalten, zog an einem Hebel, aber der blieb
gleich in seiner Hand …
»Nein«, murmelte er dann. »Von hier kann man kaum
etwas Nennenswertes steuern. Erstens ist alles viel zu primitiv -
wie in einer Beobachtungsstation oder einem Kontrollpunkt, so
behelfsmäßig. Auch der Rechner ist schwach, würde für keine zehn
Panzer reichen. Und dann ist alles verfallen, nicht mal anrühren
darf man es. Strom fließt zwar, aber die
Spannung liegt unterhalb der Norm. Wahrscheinlich ist der Reaktor
hinüber. Nein, Sef, das ist alles nicht so einfach, wie Sie
meinen.«
Plötzlich sah Maxim die langen Röhren, die aus der
Wand hervorstanden und in einer Augenmuschel aus Gummi
zusammenliefen, anscheinend ein Okular. Er zog einen Aluminiumstuhl
heran, setzte sich und führte sein Gesicht zur Muschel. Zu seinem
Erstaunen war die Optik in einem hervorragendem Zustand. Noch mehr
aber wunderte ihn, was er zu sehen bekam. Er hatte eine ihm
gänzlich unbekannte Landschaft im Blickfeld: weißlich-gelbe Wüste,
Sanddünen, das Skelett einer metallenen Anlage. Starker Wind wehte,
der Sand trieb in Schwaden über die Dünen, der unklare Horizont
wölbte sich zu einer Schale.
»Schauen Sie mal«, sagte er zu Sef. »Wo ist
das?«
Sef lehnte den Granatwerfer ans Pult, trat heran
und sah durch das Okular.
»Merkwürdig«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Das
ist die Wüste. Die ist vierhundert Kilometer entfernt, mein
Freund.« Er rückte vom Okular ab und sah Maxim an. »Wie viel Mühe
sie in das alles investiert haben. Diese Lumpen! Und was kam dabei
heraus? Der Wind streicht über den Sand. Und was war das für eine
schöne Gegend! Als Junge war ich einmal dort, zur Erholung. Vor dem
Krieg.« Er stand auf. »Fort von hier, zum Teufel«, sagte er bitter
und griff nach der Lampe. »Wir zwei kapieren hier sowieso nichts.
Müssen wir halt warten, bis sie den Schmied schnappen und
einbuchten. Aber wahrscheinlich werden sie ihn nicht einbuchten,
sondern erschießen. Was ist, gehen wir?«
»Ja.« Maxim musterte noch einmal die seltsamen
Abdrücke auf dem Boden. »Das hier interessiert mich entschieden
mehr«, bekannte er.
»Völlig umsonst«, winkte Sef ab. »Wahrscheinlich
laufen hier alle möglichen Viecher rum.«
Er lud den Granatwerfer auf seinen Rücken und
wandte sich zum Ausgang. Maxim folgte ihm, drehte sich aber
mehrmals nach den Spuren um.
»Ich habe Hunger«, knurrte Sef.
Sie tappten den Gang entlang. Maxim schlug vor,
eine der Türen aufzubrechen, aber Sef hielt das für zwecklos.
»Mit dieser Sache muss man sich ernsthaft
befassen«, sagte er. »Was sollen wir Zeit vertrödeln, wir haben die
Norm noch nicht geschafft. Hierher muss man jemanden bringen, der
was davon versteht.«
»An Ihrer Stelle würde ich nicht zu sehr auf diese
›Festung‹ zählen«, wandte Maxim ein. »Erstens ist alles verrottet,
und zweitens ist sie schon besetzt.«
»Von wem? Ach, du meinst die Hunde? Bist auch so
einer. Andere faseln von Vampiren, und du …«
Sef verstummte. Durch den Gang gellte ein kehliger
Schrei, der dann als vielfaches Echo von den Wänden zurückhallte
und wieder verklang. Sofort antwortete aus der Ferne eine gleiche
Stimme. Die Töne waren vertraut, doch Maxim konnte sich nicht
entsinnen, wo er sie schon gehört hatte.
»Sie also schreien nachts so!«, staunte Sef. »Und
wir dachten, es sind Vögel.«
»Klingt merkwürdig«, sagte Maxim.
»Merkwürdig? Ich weiß nicht«, widersprach Sef.
»Eher schaurig. Wenn dieses Gebrüll in der Nacht durch den Wald
schallt, rutscht einem das Herz in die Hose. Und was für Märchen
darüber erzählt werden. Es gab einen Kriminellen, der sich
brüstete, ihre Sprache zu verstehen. Er hat sie übersetzt.«
»Und was hat er übersetzt?«, fragte Maxim.
»Ach, dummes Zeug. Was ist das schon für eine
Sprache.«
»Wo ist der Kriminelle?«
»Den haben sie aufgegessen«, sagte Sef. »Er war bei
den Bauleuten. Sein Trupp hat sich im Wald verirrt, dann bekamen
die Jungs Hunger, und da, na ja …«
Sie bogen nach links ein. Weit vor ihnen schimmerte
der blasse Lichtfleck. Sef schaltete die Lampe aus und steckte sie
in die Tasche. Er schritt jetzt voran, und als er unverhofft stehen
blieb, wäre Maxim fast gegen ihn gestoßen.
»Massaraksch!«, knurrte Sef.
Mitten im Gang lag ein menschliches Skelett. Sef
nahm den Granatwerfer von der Schulter und blickte sich um.
»Das war vorhin noch nicht hier«, brummte er.
»Ja«, stimmte Maxim zu. »Man hat es gerade erst
hierhergelegt.«
Aus dem tiefen unterirdischen Gewölbe hinter ihnen
erschallte plötzlich ein ganzer Chor von langgezogenen Kehllauten.
Mit den widerhallenden Echos hörte es sich an, als heulten Tausende
von Stimmen im Chor, als skandierten sie alle ein eigentümliches,
viersilbiges Wort. Maxim glaubte Hohn herauszuhören, Spott oder
Provokation. Dann verstummte der Chor so abrupt, wie er eingesetzt
hatte. Sef atmete geräuschvoll aus und ließ den Granatwerfer
sinken. Maxim sah sich das Skelett genauer an.
»Ich denke, das ist ein Fingerzeig«, sagte
er.
»Das denke ich auch«, murmelte Sef. »Schnell
weg!«
Sie hasteten bis zu dem Spalt in der Decke, stiegen
auf den Erdhaufen und sahen über sich Wildschweins beunruhigtes
Gesicht. Bäuchlings lag er am Rand des Durchbruchs und hatte ein
Seil mit einer Schlinge herabgelassen.
»Was ist los bei euch?«, fragte er. »Habt ihr so
geschrien?«
»Wir erzählen es dir gleich«, erwiderte Sef. »Hast
du das Seil gesichert?«
Sie kletterten nach oben. Sef drehte für sich und
den Einarmigen eine Zigarette, rauchte sie an und schwieg eine
Weile; anscheinend wollte er sich erst eine Meinung über das
Geschehene bilden.
»In Ordnung«, begann er endlich, »kurz gesagt,
Folgendes: Das ist die Festung. Schalttafeln, Elektronenhirn und so
weiter.
Alles in jämmerlichem Zustand, aber wenigstens unter Strom. Wir
werden es nutzen, müssen nur Leute finden, die etwas davon
verstehen. Weiter.« Er zog an der Zigarette und stieß eine
Rauchwolke aus, wie ein beschädigter Gaswerfer. »Also weiter. Allem
Anschein nach leben dort die Hunde. Erinnerst du dich, ich hab dir
von ihnen erzählt. Solche mit einem Kopf wie ein Bär. Sie waren es,
die so geschrien haben. Vielleicht aber auch nicht, weil … Wie soll
ich’s dir erklären … Während sich Mak und ich dort umschauten, hat
jemand ein menschliches Gerippe in den Gang gelegt. Das ist
alles.«
Wildschwein blickte erst ihn, dann Maxim an.
»Mutanten?«, fragte er.
»Möglich«, räumte Sef ein. »Ich habe gar niemand zu
Gesicht bekommen, doch Mak meint, er hätte Hunde gesehen, nur nicht
mit den Augen. Womit hast du sie eigentlich gesehen, Mak?«
»Auch mit den Augen«, sagte Maxim. »Ich möchte
hinzufügen, dass außer diesen Hunden niemand dort war. Ich würde es
wissen. Und eure Hunde sind nicht das, wofür ihr sie haltet. Das
sind keine Tiere.«
Wildschwein erwiderte nichts. Er stand auf,
wickelte das Seil auf, knüpfte es sich an den Gürtel und setzte
sich wieder neben Sef.
»Weiß der Teufel«, brabbelte der. »Womöglich sind
es tatsächlich keine Tiere. Hier ist alles denkbar, hier im
Süden.«
»Vielleicht sind die Hunde Mutanten?«, rätselte
Maxim.
»Nein«, widersprach Sef. »Mutanten sind einfach
sehr missgestaltete Menschen. Kinder gewöhnlicher Leute. Mutanten!
Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
»Ich weiß es«, sagte Maxim. »Aber die Frage ist
doch, wie weit Mutation gehen kann.«
Für ein paar Minuten versanken sie in Gedanken.
Dann meldete sich Sef zu Wort: »Da du schon alles weißt, müssen
wir ja nichts mehr sagen. Genug geschwatzt. Auf!« Er erhob sich.
»Es bleibt nicht mehr viel zu tun, aber die Zeit drängt. Und meine
Lust zu fressen« - er zwinkerte Maxim zu - »ist geradezu
pathologisch. Weißt du, was das bedeutet, ›pathologisch‹?«
»Ja«, sagte Maxim, und sie machten sich auf den
Weg.
Eigentlich hätten sie noch das südwestliche Viertel
des Quadrats säubern müssen, aber es kam nicht dazu. Denn hier
hatte sich vor einiger Zeit eine gewaltige Explosion ereignet: Vom
alten Wald fanden sich nur noch umgestürzte, halb verfaulte
Baumstämme und verkohlte Stümpfe, und dazwischen wuchsen schon
vereinzelt junge Bäume. Die Erde war schwarz versengt und mit
Rostsplittern gespickt. Nach so einer Detonation funktionierte
keine Technik mehr … Und Maxim ahnte, dass Sef sie nicht zum
Arbeiten hierhergeführt hatte.
Aus dem Gebüsch kroch ihnen auf einmal ein
behaarter Mann in schmutzigem Häftlingskittel entgegen. Maxim
erkannte ihn: Es war Sefs ehemaliger Partner, der erste Mensch, den
er auf diesem Planeten getroffen hatte, der wandelnde
Weltschmerz.
»Wartet«, sagte Wildschwein. »Ich will mit ihm
reden.«
Sef befahl Maxim, sich zu setzen, hockte sich neben
ihn, wechselte die Schuhe und summte ein Liedchen der Kriminellen
in seinen Bart: »Ich bin ein flotter Junge, mich kennt der ganze
Kiez.« Wildschwein ging zu der traurigen Gestalt, beide zogen sich
hinter die Sträucher zurück und flüsterten miteinander. Maxim
konnte sie zwar ausgezeichnet hören, nicht aber verstehen, weil sie
einen Jargon sprachen. Lediglich das Wort »Post«, das sie mehrfach
wiederholten, war ihm geläufig. Bald aber hörte er nicht mehr zu.
Er fühlte sich erschöpft und schmutzig. Es hatte heute zu viel
sinnlose Nervenanspannung und unnütze Arbeit gegeben. Zu lange
hatte er allen möglichen Dreck eingeatmet und zu viel
Röntgenstrahlung abbekommen. Und an diesem ganzen Tag hatte er
nichts Richtiges geleistet, nichts, was wirklich notwendig gewesen
wäre. Und so hatte er gar keine Lust, in die Baracke
zurückzukehren.
Dann verschwand der wandelnde Weltschmerz, und
Wildschwein kehrte zurück. Er setzte sich vor Maxim auf einen
Baumstumpf und sagte: »Unterhalten wir uns.«
»Alles in Ordnung?«, fragte Sef.
»Ja«, antwortete Wildschwein.
»Hab ich dir doch gesagt!« Sef hielt seine
durchlöcherte Schuhsohle gegen das Licht. »Hab eben ein Gespür für
solche Leute.«
»Also, Mak«, begann Wildschwein. »Wir haben Sie
überprüft - soweit das in unserer Situation möglich ist. Der
General bürgt für Sie. Ab heute unterstehen Sie mir.«
»Sehr erfreut.« Maxim lächelte schief. Er hätte
gern hinzugefügt: Für Sie hat sich der General nicht verbürgt,
ergänzte aber nur: »Ich höre.«
»Der General hat uns informiert, dass Ihnen weder
Kernstrahlung noch die Emitter etwas ausmachen. Ist das
richtig?«
»Ja.«
»Das heißt, Sie könnten zu jedem beliebigen
Zeitpunkt durch die Blaue Schlange schwimmen, ohne dass es Ihnen
schadet?«
»Ich habe schon gesagt, meinetwegen kann ich sofort
von hier fliehen.«
»Wir sind nicht daran interessiert, dass Sie
fliehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind auch die
Patrouillenwagen keine Gefahr für Sie?«
»Sie meinen die mobilen Emitter? Nein, die machen
mir nichts aus.«
»Sehr gut.« Wildschwein schien zufrieden. »Damit
steht Ihre Aufgabe für die folgenden Wochen fest. Sie werden
Kurier. Sobald ich Ihnen den entsprechenden Befehl erteile,
durchschwimmen Sie den Fluss und geben vom nächsten Postamt
Telegramme auf. Den Text bekommen Sie von mir. Klar?«
»Ja, klar.« Maxim dehnte die Worte. »Doch ich hätte
noch gern etwas anderes geklärt.«
Wildschwein verzog keine Miene. Er war ein hagerer,
sehniger, zum Krüppel geschlagener alter Mann. Und ein
unerbittlicher Kämpfer - von Kindesbeinen an. Eines jener
furchtbaren, wenn auch Bewunderung hervorrufenden Wesen auf diesem
Planeten, auf dem ein Menschenleben gar nichts zählte. Wildschwein
kannte nichts als den Kampf, besaß nichts als den Kampf, hielt sich
von allem fern außer dem Kampf - und in seinen aufmerksamen,
zusammengekniffenen Augen konnte Maxim wie in einem Buch sein
Schicksal für die kommenden Jahre herauslesen.
»Ja?«, sagte Wildschwein.
»Verständigen wir uns besser gleich.« Maxims Stimme
klang fest. »Ich möchte nicht blindlings handeln. Ich habe nicht
vor, mich mit Dingen zu beschäftigen, die meiner Meinung nach
sinnlos und unnötig sind.«
»Zum Beispiel?«, fragte Wildschwein.
»Ich weiß, was Disziplin heißt. Und ich weiß, dass
ohne Disziplin nichts aus unserer Arbeit wird. Doch ich meine,
Disziplin muss auf Vernunft beruhen; der Untergebene muss sicher
sein, dass ein Befehl vernünftig ist. Sie befehlen mir, Kurier zu
sein. Ich bin dazu bereit, ich könnte mehr leisten, doch wenn es
nötig ist, werde ich Kurier. Aber ich muss sicher sein, dass die
Telegramme, die ich abschicke, nicht dazu führen, dass ohnedies
unglückliche Menschen sinnlos sterben.«
Sef wollte sich gerade aufregen, als Wildschwein
und Maxim ihm mit der gleichen Bewegung Einhalt geboten.
»Man hat mir befohlen, einen Turm zu sprengen«,
fuhr Maxim fort. »Weshalb das nötig war, wurde mir nicht gesagt.
Ich habe den Befehl ausgeführt, obwohl ich wusste, dass es
ein dummes, tödliches Unterfangen war. Ich habe drei Kameraden
verloren - und dann erwies sich das alles als eine Falle der
Staatsanwaltschaft. Ich sage dazu: Schluss! Ich will keine weiteren
Türme angreifen. Mehr noch, ich werde Operationen dieser Art mit
allen Mitteln verhindern …«
»So ein Dummkopf!«, entfuhr es Sef.
»Rotznase.«
»Inwiefern?«, fragte Maxim.
»Warten Sie, Sef«, sagte der Einarmige. Immer noch
sah er Maxim unverwandt an. »Mit anderen Worten, Mak, Sie wollen
alle Pläne des Stabs kennen?«
»Ja. Ich will nicht blindlings arbeiten.«
»Du bist frech, Bruderherz«, erklärte Sef. »Mir
fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unverschämt du bist. Aber
trotzdem, er gefällt mir, Wildschwein. Und ich habe ein gutes Auge
dafür.«
»Sie verlangen zu viel Vertrauen«, sagte
Wildschwein kalt. »Das muss man sich erst mit niederen Arbeiten
verdienen.«
»Und diese niederen Arbeiten bestehen darin, dass
man idiotische Türme sprengt?«, fragte Maxim. »Ich bin zwar erst
ein paar Monate im Untergrund, aber in dieser ganzen Zeit höre ich
immer nur eins: Türme, Türme, Türme. Aber ich will keine Türme mehr
sprengen, das ist sinnlos! Ich will gegen die Tyrannei angehen,
gegen Hunger, Verfall, Korruption, Lüge. Ich verstehe, dass die
Türme Sie quälen, körperlich, meine ich. Doch selbst was die Türme
angeht, verhalten Sie sich töricht. Es liegt doch auf der Hand,
dass sie nur Relaisstationen sind. Also muss man die Zentrale
vernichten, und nicht jeden Turm einzeln.«
Wildschwein und Sef redeten gleichzeitig
drauflos.
»Woher wissen Sie von der Zentrale?«, fragte
Wildschwein.
»Wo willst du die Zentrale finden?«, fragte
Sef.
»Dass es eine Zentrale geben muss, begreift doch
jeder leidlich gebildete Ingenieur.« Geringschätzig verzog Maxim
den Mund. »Wie man sie aber findet - gerade das ist die Aufgabe,
mit der wir uns befassen müssen. Nicht in Maschinengewehrfeuer
laufen, nicht umsonst Menschen in den Tod schicken. Die Zentrale
suchen, das ist die Aufgabe.«
»Erstens wissen wir das auch ohne dich«, regte sich
Sef auf. »Und zweitens, Massaraksch, ist niemand umsonst gefallen.
Jeder leidlich gebildete Ingenieur, du rotzige Rotznase, begreift,
dass wir das Relaissystem dadurch zerstören, dass wir einige Türme
vernichten. So können wir einen ganzen Bezirk befreien! Aber dafür
müssen wir Türme beseitigen. Und wir lernen es - verstehst du das
oder nicht? Und wenn du noch einmal behauptest, Massaraksch, unsere
Jungs sterben umsonst …«
»Moment«, unterbrach ihn Maxim. »Fassen Sie mich
nicht an! Einen Bezirk befreien. Gut, und weiter?«
»Jede Rotznase kommt her und behauptet, wir sterben
umsonst«, murrte Sef.
»Und weiter?«, wiederholte Maxim hartnäckig. »Die
Gardisten installieren neue Emitter, und aus ist’s mit euch.«
»Teufel nochmal!«, fluchte Sef. »In der Zeit läuft
doch die Bevölkerung dieses Bezirks zu uns über. Da wird es ihnen
schwerfallen, sich einzumischen. Zehn sogenannte Missgeburten sind
eins, zehntausend wütende Bauern etwas anderes.«
»Sef! Sef!«, mahnte Wildschwein.
Sef wehrte ungeduldig ab. »… Zehntausend wütende
Bauern, die kapiert haben und nicht wieder vergessen werden, dass
man sie zwanzig Jahre lang schamlos zum Narren gehalten hat.«
Der Einarmige winkte ab und drehte sich zur
Seite.
»Warten Sie, warten Sie«, sagte Maxim. »Was
erzählen Sie da? Warum sollten diese Leute das auf einmal
verstehen? Sie halten das doch alles für Raketenabwehr. In Stücke
werden sie Sie reißen!«
»Und wofür hältst du es?« Sef lächelte
seltsam.
»Ich weiß, was los ist«, sagte Maxim. »Man hat es
mir erzählt.«
»Wer?«
»Der Doktor und der General. Wieso - ist das ein
Geheimnis?«
»Vielleicht lassen wir dieses Thema?«, fragte
Wildschwein leise.
»Warum?«, wandte Sef ebenfalls sehr leise ein.
»Warum sollen wir es lassen, Wildschwein? Du weißt, wie ich darüber
denke. Du weißt, weshalb ich hier hocke, und bis zum Ende meines
Lebens hier hocken werde. Und ich kenne deine Meinung. Also warum
sollen wir nicht darüber reden? Wir sind einer Meinung, dass man es
eigentlich an allen Straßenkreuzungen hinausschreien müsste. Aber
wenn wir es dann tun könnten, erinnern wir uns plötzlich unserer
Disziplin und lassen es bleiben. So spielen wir diesen
Opportunisten, Liberalen und Aufklärern immer wieder in die Hände -
all diesen verhinderten Vätern … Nun sitzt dieser Junge vor uns. Du
siehst doch, wie er ist. Sollen etwa auch solche nicht Bescheid
wissen?«
»Vielleicht dürfen gerade sie es nicht«,
antwortete, noch immer sehr leise, der Einarmige.
Maxim, der kein Wort begriff, blickte von einem zum
anderen. Sie schienen auf einmal nicht mehr sie selbst zu sein -
wirkten gedrückt, niedergeschlagen. Nichts an Wildschwein erinnerte
mehr an den stahlharten Kerl, an dem sich viele Staatsanwälte und
Feldgerichte die Zähne ausgebissen hatten. Und auch das unverhohlen
Vulgäre des Rotbarts war verschwunden; Sef wirkte stattdessen
traurig, gekränkt, verzweifelt, gebrochen. Es machte den Eindruck,
als wäre ihnen etwas eingefallen, das sie hätten vergessen sollen,
und das sie sich auch ehrlich bemüht hatten zu vergessen.
»Ich erzähl’s ihm«, sagte Sef. Er bat weder um Rat
noch um Erlaubnis. Er teilte seinen Entschluss einfach mit.
Wildschwein schwieg, und Sef fing an.
Was er erzählte, war ungeheuerlich - nicht nur an
sich, sondern auch, weil es keinen Platz ließ für Zweifel. Sef
sprach leise, ruhig und klug, in korrekter Sprache und sich höflich
unterbrechend, wenn Wildschwein eine kurze Bemerkung machte. Und
während Sef redete, bemühte sich Maxim, wenigstens eine
Unzulänglichkeit in diesem Weltsystem zu finden, aber es gelang ihm
nicht. Das neue Bild, das sich ihm bot, war zwar primitiv, aber
wohlgeordnet und hoffnungslos logisch; es erklärte alle bislang
bekannten Fakten und ließ keine Frage offen. Es war die größte und
furchtbarste Entdeckung, die Maxim seit seiner Ankunft auf der
bewohnten Insel machte …
Die Strahlen, die von den Türmen ausgingen, galten
nicht den Entarteten, sondern beeinflussten das Nervensystem jedes
menschlichen Wesens auf dem Planeten. Ihr physiologischer
Wirkungsmechanismus war noch unbekannt, aber man wusste, wie sie
sich auf den Bestrahlten auswirkten: Sein Gehirn verlor die
Fähigkeit, die Realität kritisch zu analysieren. Der denkende
Mensch verwandelte sich in einen gläubigen Menschen - so gläubig,
dass es an Verzückung, Raserei und Fanatismus grenzte. Und von
diesem Glauben ließ er sich auch dann nicht abbringen, wenn alle
Tatsachen dagegensprachen. Befand sich jemand im Strahlenfeld,
konnte man ihm mit den einfachsten Mitteln etwas suggerieren, und
er nahm es als die reine und einzige Wahrheit an, war bereit, dafür
zu leben, zu leiden und zu sterben.
Und dieses Strahlenfeld bestand immer - nicht
wahrnehmbar, aber allgegenwärtig und alles durchdringend. Es wurde
von dem gigantischen Netz der Türme, die über das ganze Land
verteilt waren, aufrechterhalten. Wie ein riesiger Staubsauger
entzog es Millionen von Menschen jegliche Zweifel darüber, was in
den Zeitungen und Broschüren stand, was man im Radio oder im
Fernsehen hörte, was die Lehrer an
den Schulen und die Offiziere in den Kasernen bestätigten, was in
Neonschrift als Losung quer über der Straße hing oder was in der
Kirche von der Kanzel herab verkündet wurde. Die Unbekannten Väter
lenkten den Willen und die Kräfte der Massen, wohin und wie es
ihnen beliebte. Sie konnten die Massen dazu bringen, sie zu
vergöttern, und brachten sie dazu. Sie konnten unbändigen Hass auf
die äußeren und inneren Feinde schüren, und schürten ihn. Hatten
sie den Wunsch, Millionen an die Kanonen und Maschinengewehre zu
jagen, so würden Millionen begeistert in den Tod ziehen. Sie
konnten Millionen von Menschen dazu bringen, einander in wessen
Namen auch immer zu töten, oder, wenn ihnen der Sinn danach stand,
eine Epidemie von Selbstmorden hervorrufen. Sie konnten alles
tun.
Und zweimal täglich, um zehn Uhr morgens und um
zehn Uhr abends, schaltete man diese riesigen Staubsauger auf volle
Leistung. In dieser halben Stunde verloren die Menschen ganz und
gar ihr Menschsein. Alle verborgenen Spannungen, die sich durch das
Missverhältnis zwischen dem Suggerierten und der Realität in ihrem
Unterbewusstsein aufgebaut hatten, brachen aus ihnen heraus - in
einem Anfall von glühender Begeisterung und einer verzückten
Ekstase von Unterwerfung und Sklaverei. Die starken Strahlenschläge
unterdrückten die Reflexe und Instinkte der Menschen und ersetzten
sie durch das ungeheuerliche Gefüge von Ehrfurcht und Pflichtgefühl
gegenüber den Unbekannten Vätern. Der Bestrahlte verlor jegliche
Fähigkeit, seine Vernunft zu gebrauchen, und handelte wie ein
Roboter.
Gefährlich für die Unbekannten Väter waren nur die
Menschen, die aufgrund physiologischer Besonderheiten gegen die
Suggestionen immun waren. Man nannte sie »entartet«. Das ständige
Feld zeigte bei ihnen keinerlei Wirkung; die Schübe riefen
lediglich unerträgliche Schmerzen hervor. Es gab nicht viele
Entartete - etwa ein Prozent der Bevölkerung
-, aber sie waren die einzig Wachen in einem Reich von
Schlafwandlern. Und nur sie waren in der Lage, die Situation
nüchtern zu beurteilen, die Realität als solche wahrzunehmen, diese
Welt zu beeinflussen, sie zu verändern und zu lenken. Und das
Schändlichste war, dass die führende Elite, die man die Unbekannten
Väter nannte, sich aus ebendiesem Kreis der Entarteten rekrutierte.
Alle Unbekannten Väter waren »entartet« - aber längst nicht alle
Entarteten waren Unbekannte Väter. Die, die nicht zu dieser Elite
gehören konnten oder wollten, oder die nicht wussten, dass es eine
solche gab - machthungrige, revolutionäre oder träge und
resignierte Entartete -, erklärte man zu Feinden des militanten
Staates. Und entsprechend wurde mit ihnen verfahren.
Maxim war so entsetzt und verzweifelt, als hätte er
plötzlich entdeckt, dass seine bewohnte Insel von Marionetten
anstelle von Menschen bevölkert war. Es gab keine Hoffnung. Sefs
Plan, ein größeres Gebiet zu erobern, war ein Abenteuer. Sie hatten
eine immense Maschinerie vor sich; sie war einerseits zu simpel, um
sich weiterzuentwickeln, andererseits aber zu groß, um sie mit
minimalen Mitteln zerstören zu können. Es gab in diesem Staat keine
Macht, die in der Lage gewesen wäre, ein Volk zu befreien, das gar
nicht ahnte, dass es unfrei - oder, wie Wildschwein es ausdrückte,
aus dem Lauf der Geschichte herausgefallen war. Und die Maschinerie
war in ihrem Kern unverletzbar, resistent gegen alle kleinen
Störungen. Wurden Teile von ihr vernichtet, regenerierte sie sich
sofort. Auf Reize reagierte sie eindeutig und augenblicklich, ohne
sich um das Schicksal der einzelnen Elemente zu scheren. Hoffen
ließ nur der Gedanke, dass das System ein Steuerpult besitzen
musste, eine Zentrale, ein Gehirn. Theoretisch konnte man es
zerstören, dann geriete es aus dem Gleichgewicht und es käme der
Moment, in dem man versuchen könnte, diese Welt auf einen anderen
Weg und auf das Gleis der Geschichte zurückzulenken. Doch der
Standort der Zentrale war
streng geheim und - wer sollte sie zerstören? Das war etwas
anderes als der Angriff auf einen Turm. Eine solche Operation
erforderte immense Mittel und eine ganze Armee
strahlenunempfindlicher Mitstreiter. Oder einfache, leicht zu
beschaffende Schutzmittel. Doch nichts dergleichen war vorhanden.
Nicht einmal in Aussicht. Es gab zwar einige Hunderttausend
Entartete, aber sie waren zersplittert, getrennt, verfolgt. Viele
von ihnen waren zudem sogenannte Legale. Und selbst wenn es
gelänge, die Entarteten zu vereinen und zu bewaffnen - die
Unbekannten Väter zerschlügen den kleinen Trupp unverzüglich mit
ihren mobilen Emittern.
Sef hatte längst aufgehört zu reden. Doch Maxim saß
noch immer mit gesenktem Kopf da und bohrte mit einem Stock in der
trockenen schwarzen Erde. Dann räusperte sich Sef und sagte
verlegen: »Ja, Kumpel. So sieht’s aus.«
Anscheinend bereute er schon, dass er davon
angefangen hatte.
»Worauf hofft ihr?«, fragte Maxim.
Sef und Wildschwein schwiegen. Maxim hob den Kopf
und sah sie an, dann murmelte er: »Entschuldigt, ich … Das ist
alles so … entschuldigt.«
»Wir müssen kämpfen.« Wildschweins Stimme klang
ruhig. »Wir kämpfen, und wir werden kämpfen. Sef hat Ihnen eine der
Strategien des Stabs genannt. Es gibt noch andere, ebenso
anfechtbare, und kein einziges Mal in der Praxis erprobt. Verstehen
Sie, bei uns ist alles erst im Werden. Eine in sich schlüssige
Theorie bekommt man nicht in zwanzig Jahren hin, so aus dem
Nichts.«
»Diese Strahlung«, begann Maxim langsam, »wirkt sie
gleichmäßig auf alle Völker Ihrer Welt?«
Wildschwein und Sef sahen einander an.
»Ich verstehe nicht«, sagte Wildschwein.
»Ich meine Folgendes: Gibt es ein Volk, in dem
wenigstens ein paar Tausend Menschen wie ich sind?«
»Kaum«, antwortete Sef. »Höchstens bei diesen … bei
den Mutanten. Massaraksch, nimm’s mir nicht übel, Mak, doch du bist
ja offensichtlich auch ein Mutant. Eine geglückte Mutation, wie sie
pro Million einmal passiert.«
»Ich nehm’s nicht übel«, sagte Maxim. »Die Mutanten
leben also dort, hinter den Wäldern?«
»Ja.« Wildschwein blickte ihn unverwandt an.
»Was ist da eigentlich?«
»Der Wald, und dann Wüste.«
»Und Mutanten?«
»Ja. Halbe Tiere. Verrückte Wilde. Aber bitte, Mak,
hören Sie auf damit.«
»Haben Sie schon einmal welche gesehen?«
»Nur tote«, sagte Wildschwein. »Zuweilen fängt man
sie im Wald und dann erhängt man sie vor den Baracken, um die
Stimmung zu heben.«
»Weshalb?«
»Weil sie so einen schönen Hals haben«, raunzte
Sef. »Dummkopf! Das sind Tiere! Unheilbar, und gefährlicher als
jedes Tier. Ich habe sie gesehen, nicht mal im Traum stellst du dir
so etwas vor.«
»Und warum zieht man die Türme bis dorthin?«,
fragte Maxim. »Will man sie zähmen?«
»Hören Sie auf«, wiederholte der Einarmige. »Es ist
hoffnungslos. Sie hassen uns. Aber machen Sie, was Sie wollen. Wir
halten keinen.«
Sie schwiegen. Dann hörten sie aus der Ferne,
hinter ihrem Rücken, ein bekanntes rasselndes Getöse. Sef setzte
sich auf.
»Ein Panzer«, sagte er nachdenklich. »Erledigen wir
ihn? Weit ist es nicht, im achtzehnten Quadrat. Nein, verschieben
wir’s auf morgen.«
Maxim traf seine Entscheidung schnell. »Ich nehme
ihn mir vor. Geht, ich hole euch ein.«
Sef sah ihn zweifelnd an. »Wirst du das schaffen?
Womöglich fliegst du in die Luft.«
»Mak«, warnte Wildschwein. »Überlegen Sie sich
das.«
Sef musterte Maxim, und dann grinste er. »Also
deshalb brauchst du einen Panzer. Der Junge ist ein Fuchs! Nein,
mich legst du nicht aufs Kreuz. Gut, hau ab, das Abendessen heb ich
dir auf. Wenn du’s dir anders überlegst, komm. Und denk dran, viele
Selbstfahrlafetten sind vermint. Sei vorsichtig, wenn du darin
herumkramst. Gehen wir, Wildschwein. Er holt uns ein.«
Wildschwein wollte noch etwas sagen, aber Maxim war
schon aufgestanden und lief auf die Schneise zu. Er mochte nicht
mehr reden. Er beeilte sich und blickte nicht zurück. Den
Granatwerfer hielt er unter dem Arm. Jetzt, da er sich dazu
entschlossen hatte, war ihm leichter. Und entscheidend für sein
Vorhaben waren sein Können und seine Erfahrung.
14
Gegen Morgen steuerte Maxim den Panzer auf die
Chaussee und wendete ihn mit dem Bug nach Süden. Er hätte jetzt
losfahren können, kletterte aber noch einmal aus der Kabine hinaus,
sprang auf den zermalmten Beton und setzte sich an den Rand des
Straßengrabens. Seine beschmierten Hände säuberte er im Gras. Der
rostige Koloss tuckerte friedlich neben ihm; die scharfe
Raketenspitze war in den trüben Himmel gerichtet.
Maxim hatte die Nacht durchgearbeitet, doch er
spürte keine Müdigkeit. Das Fahrzeug war solide gebaut und befand
sich in gutem Zustand. Es war nicht vermint und besaß sogar eine
Handsteuerung. Sollte sich tatsächlich jemand mit so
einem Gefährt in die Luft gesprengt haben, konnten nur
Reaktorverschleiß oder technischer Unverstand die Ursache gewesen
sein. Zwar kam der Reaktor nur auf ein Fünftel der normalen
Leistung, und das Fahrwerk war schon ziemlich abgenutzt, aber Maxim
war zufrieden - gestern hatte er nicht einmal darauf zu hoffen
gewagt.
Es war gegen sechs Uhr morgens und bereits hell. Um
diese Zeit ließ man die Sträflinge zu karierten Kolonnen antreten,
hastig frühstücken und trieb sie dann hinaus zur Arbeit. Maxims
Abwesenheit war mittlerweile gewiss bemerkt worden. Gut möglich,
dass er jetzt als flüchtig galt und schon verurteilt war.
Vielleicht hatte Sef auch eine Ausrede gefunden - Mak hat sich den
Fuß verstaucht, ist verwundet oder sonst etwas.
Im Wald wurde es still. Die »Hunde«, deren
gegenseitiges Geschrei die ganze Nacht über zu hören gewesen war,
hatten sich beruhigt. Sicher waren sie in das unterirdische Gewölbe
gekrochen und rieben sich kichernd die Pfoten bei dem Gedanken, wie
sie gestern die Zweibeiner erschreckt hatten. Mit diesen »Hunden«
würde man sich gründlich befassen müssen; vorerst allerdings war
anderes wichtiger. Ob sie die Strahlung wahrnahmen? Merkwürdige
Wesen. Als er nachts am Triebwerk herumbastelte, saßen zwei von
ihnen geduldig hinter den Sträuchern und beobachteten ihn heimlich.
Dann kam ein dritter hinzu und kletterte gar auf einen Baum, um
besser sehen zu können. Maxim hatte sich aus der Luke gelehnt und
ihm zugewunken, und um ihn zu necken, wiederholte er, so gut er
konnte, das viersilbige Wort, das der Chor skandiert hatte. Der auf
dem Baum wurde furchtbar wütend, sein Fell sträubte sich, die Augen
funkelten, und er stieß kehlige Beleidigungen aus. Die beiden
hinter den Sträuchern schockierte das offenbar so sehr, dass sie
augenblicklich verschwanden und nicht mehr zurückkehrten. Der
»Rohrspatz« aber konnte sich nicht beruhigen und kam noch lange
nicht
herunter. Er fauchte und spuckte, gab sich den Anschein, als
wollte er angreifen, und bleckte seine weit auseinanderstehenden
weißen Zähne. Erst gegen Morgen trollte er sich - er hatte wohl
begriffen, dass Maxim nicht beabsichtigte, sich ehrlich mit ihm zu
schlagen. Vernunftbegabt im menschlichen Sinne waren die »Hunde«
wohl nicht, immerhin aber recht drollig und bestimmt eine
organisierte Macht, da sie eine ganze Garnison mit dem
Herzogprinzen an der Spitze aus der Festung verdrängt hatten. Wie
wenig Informationen man hier doch hatte, immer nur Gerüchte und
Legenden. Wie gern hätte sich Maxim jetzt gewaschen; er war voller
Rost, zudem leckte der Reaktor, und die Strahlung brannte auf
seiner Haut. Sollten Sef und der Einarmige mitfahren, müsste er ihn
verkleiden, am besten mit drei oder vier Platten aus der Panzerung
der Bordwände.
Tief im Wald knallte es und hallte als Echo wider:
Die Pioniertrupps der Todeskandidaten begannen ihren Arbeitstag.
Wie sinnlos das war. Noch ein Knall, ein Maschinengewehr knatterte
und verstummte. Jetzt wurde es ganz hell, ein klarer Tag kündigte
sich an, mit einem wolkenlosen, wie Milch schimmernden, weißen
Himmel. Der Beton auf der Chaussee glänzte vom Tau; um den Panzer
herum aber war alles trocken, er verstrahlte ungesunde Wärme.
Aus den Sträuchern, die bis an die Straße
herangewachsen waren, traten auf einmal Sef und Wildschwein heraus.
Als sie den Panzer sahen, gingen sie schneller. Maxim stand auf und
lief ihnen entgegen.
»Du lebst!«, stellte Sef anstelle eines Grußes
fest. »Ich hab’s mir gedacht. Deinen Brei, Bruder, hab ich, äh … Es
war nichts da, worin ich ihn hätte tragen können. Aber dein Brot
ist hier, hau rein.«
»Danke«, sagte Maxim und nahm den Brotkanten.
Wildschwein stand auf den Minensucher gestützt und
blickte ihn an.
»Schluck runter und hau ab!«, fuhr Sef fort. »Da
ist einer gekommen, um dich zu holen, Bruder. Ich glaube, sie
wollen dich wieder verhören.«
»Wer?« Maxim hörte auf zu kauen.
»Er hat sich uns nicht vorgestellt«, knurrte Sef.
»So ein Schwätzer - Orden vom Kopf bis zu den Zehen. Er schrie rum,
dass man es im ganzen Lager hören konnte, wollte wissen, warum du
nicht da bist, hätte mich fast abgeknallt. Ich aber hab nur große
Augen gemacht und gemeldet: So und so, ist im Minenfeld den
Heldentod gestorben.«
Er ging um den Panzer herum, murmelte:
»Scheußliches Ding«, setzte sich an den Straßenrand und drehte eine
Zigarette.
»Eigenartig.« Maxim biss nachdenklich von seinem
Brotkanten ab. »Aber warum? Zur Nachuntersuchung?«
»Vielleicht ist es Fank?«, fragte Wildschwein
leise.
»Fank? Mittelgroß, das Gesicht quadratisch,
schuppige Haut?«
»Von wegen!«, unterbrach ihn Sef. »Lang wie eine
Bohnenstange, saudumm und voller Pickel - Garde eben.«
»Dann ist es nicht Fank«, sagte Maxim.
»Vielleicht hat Fank ihn geschickt?«, fragte
Wildschwein.
Maxim zuckte mit den Schultern und schob die letzte
Rinde in den Mund. »Keine Ahnung. Früher dachte ich, Fank stünde
mit dem Untergrund in Verbindung, aber jetzt weiß ich nicht mehr,
was von ihm zu halten ist.«
»Dann sollten Sie wirklich besser abfahren«, riet
Wildschwein, »obwohl ich, um ehrlich zu sein, nicht weiß, was
schlimmer ist - die Mutanten oder diese Gardecharge.«
»Klar, mag er abzwitschern«, meldete sich Sef.
»Dein Kurier wird er ohnehin nicht, und so liefert er uns
wenigstens Informationen über den Süden - wenn sie ihm dort nicht
die Haut abziehen.«
»Und Sie kommen nicht mit.« Maxims Worte klangen
wie eine Feststellung.
Wildschwein schüttelte den Kopf. »Nein. Viel
Glück.«
»Schmeiß die Rakete weg«, sagte Sef. »Sonst jagst
du dich noch in die Luft. Und Folgendes: Du hast zwei Sperrposten
vor dir. An denen kommst du leicht vorbei, darfst nur nicht
anhalten. Sie sind nach Süden hin ausgerichtet. Dann allerdings
wird es schwieriger: grauenvolle Strahlung, nichts zu fressen,
Mutanten. Und dann nur noch Sand, kein Wasser.«
»Danke«, erwiderte Maxim. »Auf Wiedersehn.«
Er sprang auf die Raupenkette, öffnete die Luke und
kroch in das aufgeheizte Halbdunkel. Seine Hände lagen schon auf
den Hebeln, als ihm einfiel, dass noch eine Frage offen war. Er
beugte sich hinaus.
»Warum verheimlicht man eigentlich vor den
einfachen Mitgliedern des Untergrunds den wahren Zweck der
Türme?«
Während Sef das Gesicht verzog und ausspuckte,
antwortete Wildschwein niedergeschlagen: »Weil die Mehrheit im Stab
darauf hofft, irgendwann einmal selbst an die Macht zu kommen und
die Türme in der alten Weise weiterzunutzen, nur eben für andere
Ziele.«
»Und was für ›andere Ziele‹?«, fragte Maxim
finster. Einige Sekunden blickten sie einander in die Augen. Sef
hatte sich abgewandt und leckte das Papier für seine nächste
Zigarette. Da sagte Maxim: »Ich wünsche euch, dass ihr überlebt.«
Er wandte sich wieder den Hebeln zu, und der Panzer dröhnte,
rasselte und rollte auf knirschenden Ketten vorwärts.
Es machte wirklich keinen Spaß, ihn zu fahren.
Einen Sitz gab es nicht, und der Haufen aus Zweigen und Gras, den
Maxim in der Nacht aufgeschichtet hatte, rutschte schnell
auseinander. Die Sicht war schlecht, schneller fahren konnte er
auch nicht - schon bei dreißig Stundenkilometern stotterte das
Triebwerk, und das Schmieröl brannte. Doch der atomare Schlitten
war noch immer außerordentlich geländegängig.
Ob Weg oder querfeldein - dem Panzer war es gleich, Sträucher und
Rillen bemerkte er überhaupt nicht, umgestürzte Bäume quetschte er
zu Krümeln und junge, durch die Betonritzen wachsende Bäumchen
überrollte er mit Leichtigkeit. Ebenso wälzte er sich durch tiefe,
mit schwarzem Wasser gefüllte Gruben und ließ gewaltige Fontänen
hochspritzen. Auch die Richtung hielt er wunderbar. Es war
allerdings schwer, sie zu ändern.
In der Kabine war es schmutzig und stickig, und die
Chaussee verlief ziemlich gerade, so dass Maxim schließlich das Gas
auf Handbetrieb feststellte, hinauskletterte und sich an den
Lukenrand unter dem Tragrost der Rakete setzte. Der Panzer drängte
vorwärts, als sei dies sein ureigener, von einem alten Programm
vorgegebener Kurs. Er hatte etwas Schlichtes, Genügsames an sich,
und Maxim, der Fahrzeuge mochte, klopfte ihm anerkennend auf die
Panzerung.
So ließ es sich leben. Rechts und links glitt der
Wald vorüber, das Triebwerk brummte gleichmäßig, die Strahlung
spürte man hier oben kaum, und die recht saubere Luft kühlte
angenehm die erhitzte Haut. Maxim sah zu der schwankenden Rakete
hoch. Er sollte sie wirklich abwerfen. Es war unnötiger Ballast.
Gefährlich war sie zwar nicht, sie würde nicht mehr explodieren,
das hatte er in der Nacht überprüft. Aber sie wog sicher an die
zehn Tonnen - warum also sollte er sie mitschleppen? Während sich
der Panzer weiterwälzte, ging Maxim auf der Tragfläche herum und
suchte den Befestigungsmechanismus. Als er ihn fand, stellte er
fest, dass er völlig verrostet war, und hatte große Mühe, ihn in
Gang zu bringen. Unterdessen rollte der Panzer an zwei Kurven in
den Wald hinein und riss, wütend aufheulend, die Bäume nieder, so
dass Maxim an die Hebel rannte, um den Koloss wieder auf Kurs zu
bringen. Zu guter Letzt funktionierte der Mechanismus. Die Rakete
senkte sich, krachte auf den Beton und rollte schwerfällig in den
Straßengraben. Der Panzer machte einen
Satz und fuhr nun sehr viel leichter. Und in dem Moment sah Maxim
den ersten Sicherungsposten.
Am Waldrand standen zwei große Zelte und ein
Kastenwagen, eine Gulaschkanone dampfte. Zwei Gardisten mit freiem
Oberkörper wuschen sich; sie begossen einander mit Wasser aus der
Feldflasche. Mitten auf der Fahrbahn stand eine Wache in schwarzem
Umhang und blickte Maxim entgegen. Rechts neben der Chaussee
standen zwei Pfähle, die durch einen Querbalken verbunden waren,
und von diesem Querbalken hing etwas herab, etwas Weißes, Langes,
das fast die Erde berührte. Maxim glitt in die Kabine hinunter,
damit man nicht seinen karierten Kittel sehen konnte, und schob nur
den Kopf aus der Luke. Der Posten musterte den Panzer verdutzt und
ging zur Seite, sah sich dann hilflos nach dem Kastenwagen um. Die
beiden Halbnackten hörten auf sich zu waschen und starrten
ebenfalls herüber. Der Lärm der Raupenketten lockte noch mehr
Männer aus den Zelten und dem Wagen; einer von ihnen trug eine
Uniform mit Offiziersschnüren. Sie alle schienen sehr erstaunt,
wenn auch nicht beunruhigt. Der Offizier deutete auf den Panzer,
sagte etwas, und alle lachten. Als Maxim auf gleicher Höhe wie der
Posten war, schrie der ihm etwas zu, unhörbar, weil das Triebwerk
so dröhnte, und Maxim rief zur Antwort: »Alles in Ordnung, bleib,
wo du bist!« Der Posten verstand auch nichts, schien aber
zufrieden. Nachdem er den Panzer vorbeigelassen hatte, stellte er
sich wieder mitten auf dem Weg in Positur.
Es war gut gelaufen.
Maxim wandte den Kopf und sah jetzt ganz aus der
Nähe, was von dem Querbalken herabhing. Eine Sekunde starrte er es
an, dann setzte er sich, kniff die Augen zusammen und griff, ohne
jede Notwendigkeit, nach den Hebeln. Ich hätte nicht hinschauen
sollen, dachte er. Der Teufel hat mich geritten, dass ich mich
umdrehen musste. So wäre ich gefahren und gefahren und hätte nichts
davon gewusst. Er zwang sich,
die Augen zu öffnen. Nein, überlegte er dann, ich muss hinsehen,
muss mich daran gewöhnen, es kennenlernen. Sich abzuwenden ist
sinnlos; ich habe überhaupt nicht das Recht mich abzuwenden, da ich
mir diese Sache nun einmal vorgenommen habe. Bestimmt war es ein
Mutant. Der Tod kann Menschen nicht dermaßen verunstalten. Das
Leben verunstaltet sie. Es wird auch mich verderben. Man kann dem
nicht entgehen, Widerstand hat keinen Zweck. Ich muss mich dran
gewöhnen. Vielleicht liegen Hunderte Kilometer Weg vor mir, die von
Galgen gesäumt sind.
Als er sich das nächste Mal aus der Luke lehnte und
zurückblickte, war der Kontrollposten nicht mehr zu sehen, auch der
einsame Galgen war verschwunden. Schön wäre es, jetzt nach Hause zu
fahren, träumte Maxim. Immer weiter zu fahren und zu fahren - und
dann: zu Hause, Mama, Vater, die Jungs. Ankommen, aufwachen, sich
waschen und ihnen dann den Albtraum von der bewohnten Insel
erzählen. Er versuchte, sich die Erde vorzustellen, doch es gelang
ihm nicht. Da war nur der seltsame Gedanke, dass es dort saubere,
heitere Städte gab und viele gute und kluge Menschen, die einander
alle vertrauten, kein Rost, kein Gestank, weder Strahlung noch
schwarze Uniformen, keine rohen, viehischen Gesichter, unheimliche
Legenden, vermischt mit einer noch unheimlicheren Wahrheit. Nichts
von alledem. Und plötzlich dachte er, dass all dies ja auch auf der
Erde hätte geschehen können, und dann wäre er jetzt so wie alle
anderen ringsum - unwissend, betrogen, unterwürfig und ergeben. Du
warst doch so erpicht auf eine richtige Aufgabe, dachte er. Bitte
sehr, da hast du sie. Sie ist schwer und schmutzig, aber du wirst
anderswo kaum eine finden, die so wichtig ist wie diese.
Vor ihm auf der Chaussee erschien ein Gefährt, das
langsam in dieselbe Richtung kroch - nach Süden. Es war ein kleiner
Raupenschlepper, der einen Hänger mit metallenem Gitterbalken zog.
In der offenen Kabine saß ein Mann im
Sträflingskittel und rauchte Pfeife; er warf einen gleichmütigen
Blick auf den Panzer und Maxim und wandte sich ab. Was ist das für
ein Trägerbalken?, grübelte Maxim. Diese Konturen … Dann fiel es
ihm wie Schuppen von den Augen, dass es sich um ein Bauteil für
einen Turm handelte. Es jetzt in den Straßengraben schieben, dachte
er, und zweimal drüberrollen. Er starrte immer noch hin. Sein
Gesichtsausdruck gefiel dem Sträfling anscheinend gar nicht, denn
der bremste jäh und stellte einen Fuß auf die Raupenkette, bereit,
nötigenfalls abzuspringen. Maxim drehte sich nach vorn.
Etwa zehn Minuten später entdeckte er den zweiten
Kontrollpunkt. Es war der äußerste, südlichste Posten der karierten
Sklaven, die ja vielleicht gar keine Sklaven waren, sondern die
freiesten Menschen im Land. Maxim sah zwei mobile Häuschen mit
blitzenden Zinkdächern und eine flache, künstliche Anhöhe, auf der
ein niedriger Bunker mit schmalen, dunkel erscheinenden
Schießscharten stand. Oberhalb des Bunkers waren schon die unteren
Segmente eines Turms zu erkennen, und ringsum lagen Eisenträger
herum, standen Kranwagen und Traktoren. Den Wald hatte man rechts
und links der Chaussee auf einige Hundert Meter gerodet, an einer
Stelle dieses offenen Geländes hantierten Menschen in karierter
Kleidung. Hinter den Häuschen sah Maxim eine langgezogene Baracke,
wie es sie auch im Lager gegeben hatte. Davor trockneten an
Wäscheleinen graue Lumpen. Etwas weiter entfernt erhob sich neben
der Chaussee ein hölzerner Wachtturm. Auf seiner Plattform
patrouillierte ein Posten in grauer Armeeuniform und einem tief ins
Gesicht gezogenen Helm. Dort stand auch, auf einem Dreifuß, ein
Maschinengewehr. Unter dem Turm lungerten ein paar Soldaten; sie
rauchten und schienen fast umzukommen vor Mücken und
Langeweile.
Die passiere ich auch ohne Mühe, dachte Maxim. Ist
ja am Ende der Welt, da pfeift man auf alles. Doch er irrte. Die
Soldaten verloren ihr Interesse an den Mücken und musterten den
Panzer. Ein hagerer Soldat, der Maxim an irgendjemanden erinnerte,
rückte seinen Helm zurecht, trat mitten auf die Fahrbahn und hob
den Arm. Das kannst du dir sparen, fuhr es Maxim durch den Kopf,
das nützt dir nichts. Ich will hier durch, und ich komme hier
durch. Er glitt hinab zu den Hebeln, machte es sich, so gut er
konnte, bequem und stellte den Fuß auf das Gaspedal. Der Soldat auf
der Chaussee stand noch immer mit erhobenem Arm da. Gleich gebe ich
Gas, beschloss Maxim, lasse den Motor kräftig aufheulen, und dann
wird er schon zur Seite springen. Falls er aber nicht springt - er
verspürte ungewohnte Härte -, was soll’s: Krieg ist Krieg.
Da aber erkannte er plötzlich den Soldaten. Es war
Gai. Abgemagert, hohlwangig, unrasiert, in einem sackigen
Armeeoverall.
»Gai«, murmelte Maxim. »Menschenskind. Was mache
ich jetzt?«
Er nahm den Fuß vom Gaspedal und kuppelte aus; der
Panzer rollte langsamer, blieb stehen. Gai senkte den Arm und kam
langsam heran. Vor Freude begann Maxim zu lachen. Wie es sich
fügte! Er trat die Kupplung und war bereit.
»He!«, schrie Gai im Befehlston und schlug mit dem
Kolben gegen die Panzerung. »Wer da?«
Maxim schwieg und schmunzelte nur in sich
hinein.
»Ist da jemand?« Gais Stimme klang nun
unsicher.
Gleich darauf polterten seine beschlagenen Absätze
über die Panzerung, er öffnete die Luke und zwängte sich in die
Kabine. Als er Maxim erblickte, sperrte er den Mund auf, aber Maxim
bekam ihn am Overall zu fassen, zog ihn zu sich herunter, warf ihn
auf die Zweige zu seinen Füßen und hielt ihn nieder. Der Panzer
heulte fürchterlich los und stürzte vorwärts. Ich ruiniere das
Triebwerk, dachte Maxim. Gai zuckte und wand sich. Der Helm war ihm
ins Gesicht gerutscht, er
sah nichts, strampelte aufs Geratewohl und versuchte, die
Maschinenpistole unter sich hervorzuzerren. Dann auf einmal ein
Dröhnen und Prasseln; anscheinend schoss man ihnen mit dem
Maschinengewehr und MPs hinterher. Das war nicht gefährlich, aber
unangenehm, und Maxim wartete ungeduldig darauf, dass die Wand des
Waldes endlich näher rückte, immer näher … näher …
Die ersten Sträucher. Etwas Kariertes schreckte vom
Weg zurück. Dann Bäume ringsum, und auf die Panzerung hagelten
keine Kugeln mehr. Die Chaussee vor ihnen war auf viele Hundert
Kilometer frei.
Gai gelang es schließlich, seine Waffe
hervorzuziehen, doch im selben Moment zog Maxim ihm den Helm vom
Kopf. Er sah Gais schweißnasses Gesicht und die gefletschten Zähne;
aber allmählich wichen Angst, Wut und Mordlust von seinem Gesicht.
Als sich nun zuerst Verwirrung, dann Erstaunen und zuletzt Freude
darin widerspiegelte, begann Maxim zu lachen. Gai bewegte die
Lippen, anscheinend murmelte er: »Massaraksch!« Maxim ließ die
Hebel los und umarmte den Freund, schweißnass, wie er war, dünn und
stopplig, und drückte ihn im Überschwang der Gefühle fest an sich.
Dann ließ er ihn los, umklammerte seine Schultern und sagte: »Gai,
Menschenskind, wie ich mich freue!«, doch er verstand kaum seine
eigenen Worte. Er blickte durch den Sehschlitz: Die Chaussee war
immer noch gerade; daher stellte er das Handgas wieder fest und
kroch nach oben. Gai zerrte er mit sich.
»Massaraksch!«, knurrte Gai. Er war ziemlich
mitgenommen. »Schon wieder du!«
»Freust du dich gar nicht? Ich freue mich
wahnsinnig!« Maxim begriff erst jetzt, wie wenig Lust er gehabt
hatte, allein in den Süden zu fahren.
»Was hat das zu bedeuten?«, schimpfte Gai. Seine
Freude war längst verflogen, und er sah sich beunruhigt nach allen
Seiten um. »Wohin? Weshalb?!«
»In den Süden«, erwiderte Maxim. »Ich habe genug
von deinem gastfreundlichen Vaterland!«
»Flucht?«
»Ja.«
»Du bist verrückt! Man hat dir das Leben
geschenkt!«
»Wer hat mir das Leben geschenkt? Das ist mein
Leben! Es gehört mir!«
Sie mussten schreien, um einander zu hören, und
unwillkürlich ergab sich anstelle eines freundschaftlichen
Gesprächs ein Streit. Maxim sprang in die Kabine hinunter und
verringerte die Drehzahl.
Der Panzer fuhr jetzt langsamer, aber das Heulen
und Rasseln war dafür weniger laut. Als Maxim wieder nach oben
kletterte, fand er Gai finster und entschlossen vor.
»Ich bin verpflichtet, dich zurückzubringen«,
erklärte er.
»Ich hingegen habe die Pflicht, dich von hier
fortzubringen«, sagte Maxim.
»Ich verstehe nicht, was du willst. Du bist
verrückt! Von hier kann man nicht fliehen, du musst zurück.
Massaraksch, zurück kannst du auch nicht, sie erschießen dich. Im
Süden aber fressen sie uns auf. Versink in der Erde mit deinem
Irrsinn! Du hängst mir an wie Falschgeld.«
»Warte, schrei nicht so«, bat Maxim. »Lass es mich
dir erklären.«
»Ich will nichts hören. Halt den Panzer an!«
»Nun warte doch«, redete Maxim auf ihn ein. »Ich
erzähl’s dir.«
Doch Gai wünschte nicht, dass man ihm etwas
erzählte, Gai forderte, dieses ungesetzlich entwendete Fahrzeug
unverzüglich zu stoppen und in die Zone zurückzuführen. Zweimal,
dreimal, ein viertes Mal nannte er Maxim einen Holzkopf. Sein
»Massaraksch« übertönte den Motorenlärm. Die Lage, Massaraksch, sei
grauenhaft. Sie sei ausweglos, Massaraksch. Vor ihnen, Massaraksch,
liege der sichere Tod, hinter
ihnen auch, Massaraksch. Maxim sei immer ein hirnverbrannter Irrer
gewesen, Massaraksch, doch dieser neue Unfug, Massaraksch, dürfte
wohl sein letzter sein, Massaraksch und Massaraksch.
Maxim unterbrach ihn nicht. Ihm war eingefallen,
dass das Strahlenfeld des letzten Turms hier irgendwo enden musste,
sie es wahrscheinlich schon hinter sich gelassen hatten. Der letzte
Sicherungsposten lag bestimmt am Rand des äußersten Feldes. Sollte
sich Gai ruhig aussprechen, Worte zählten nicht auf der bewohnten
Insel. Schimpfe nur, schimpf, ich hol dich raus, hast da nichts
mehr zu suchen. Mit einem muss man ja anfangen, und du wirst der
Erste sein. Ich will nicht, dass du eine Marionette bleibst, selbst
wenn dir das gefällt.
Nachdem Gai ihn ausreichend beschimpft hatte,
sprang er in die Kabine und hantierte dort herum. Offenbar hatte er
vor, das Fahrzeug zum Stehen zu bringen, aber es gelang ihm nicht.
Dann kam er wieder zum Vorschein, nunmehr im Helm, schweigsam und
sehr geschäftig. Er wollte abspringen und zu Fuß zurückgehen. Er
war furchtbar zornig. Doch nun hielt Maxim ihn an den Hosen fest,
zog ihn neben sich und begann, ihm ihre Situation zu
erläutern.
Er redete mehr als eine Stunde auf ihn ein,
unterbrach sich nur manchmal, damit er den Panzer in den Kurven neu
ausrichten konnte. Maxim redete, und Gai hörte zu. Anfangs hatte er
noch versucht, sich davonzustehlen, die Erzählung zu unterbrechen
oder sich die Ohren zuzuhalten, aber Maxim hatte geredet und
geredet, wieder und wieder dasselbe gesagt, erläutert, kommentiert.
Und jetzt endlich hörte Gai ihm zu, wurde nachdenklich, ließ den
Kopf hängen, fuhr sich mit beiden Händen unter den Helm und wühlte
in seinen Haaren. Dann aber ging er plötzlich in die Offensive und
fragte Maxim, woher er das alles wisse, wer es beweisen könne, und
wie man so etwas überhaupt glauben könne, wo es ganz offensichtlich
frei erfunden sei. Aber Maxim schlug ihn mit
Fakten, und als diese nicht reichten, schwor er, die Wahrheit zu
sagen, und als auch das nicht half, bezeichnete er Gai als
Ignoranten, als Marionette und Roboter. Der Panzer indes fuhr immer
weiter nach Süden, drang tiefer und tiefer in das Land der
Mutanten.
»Na schön«, schloss Maxim wütend. »Gleich
überprüfen wir das. Nach meiner Rechnung haben wir längst das
Strahlenfeld verlassen, und es ist jetzt etwa zehn vor zehn. Was
tut ihr alle um zehn?«
»Punkt zehn Uhr nehmen wir Aufstellung«, sagte Gai
finster.
»Genau. Ihr stellt euch in Reih und Glied und
geratet vor Begeisterung geradezu außer euch. Du entsinnst
dich?«
»Diese Begeisterung tragen wir im Herzen«, erklärte
Gai.
»Nein, sie trichtern sie euch in eure leeren
Schädel ein«, widersprach Maxim. »Aber lassen wir das, wir werden
sehen, was für Begeisterung du im Herzen trägst. Wie spät ist
es?«
»Sieben vor«, antwortete Gai, noch immer
finster.
Einige Zeit fuhren sie schweigend.
»Na?«, meldete sich Maxim.
Gai blickte auf seine Uhr und stimmte unsicher an:
»Gardisten, voran, alle Feinde bezwungen …«
Maxim musterte ihn belustigt. Gai kam aus dem Takt
und verwechselte die Wörter.
»Hör auf, mich anzustarren«, knurrte er ärgerlich.
»Das stört. Und überhaupt, wie soll man singen - außerhalb des
Glieds?«
»Keine Ausflüchte!«, sagte Maxim. »Du hast
außerhalb des Glieds mitunter genauso gegrölt wie im Glied. Angst
konnte man kriegen vor dir und Onkel Kaan. Einer schreit
›Gardisten, voran …‹, der andere leiert ›Ruhm den Vätern …‹. Und
das vor Rada. Na, wo bleibt deine Begeisterung, wo deine Liebe zu
den Vätern?«
»Untersteh dich!«, brauste Gai auf. »Wage nicht, so
über die Unbekannten Väter zu reden. Selbst wenn deine Geschichten
wahr sein sollten, können sie nur bedeuten, dass man die Väter
hintergangen hat.«
»Wer hat sie denn hintergangen?«
»Na … Da könnten viele …«
»Also sind die Väter gar nicht allmächtig? Sie
wissen gar nicht alles?«
»Über dieses Thema will ich nicht sprechen«,
erklärte Gai.
Dann ließ er den Kopf hängen und krümmte sich
zusammen. Sein Gesicht war noch mehr eingefallen, der Blick
getrübt, seine Unterlippe hing herab. Maxim erinnerte sich
plötzlich an Zwiebel-Fischta und den Schönen Ketri aus dem
Gefangenenwaggon - sie waren rauschgiftsüchtig gewesen,
unglückselige Menschen, gewöhnt an die stärksten Drogen. Ohne ihren
»Stoff« litten sie furchtbar, konnten weder essen noch trinken und
hockten tagelang genau so herum, wie jetzt Gai: mit glanzlosen
Augen und hängender Lippe.
»Tut dir etwas weh?«, fragte er.
»Nein.« Gais Stimme klang matt.
»Weshalb guckst du dann so düster?«
»Bloß so, irgendwie …« Gai lockerte seinen Kragen
und drehte den Hals. »Mir ist schlecht. Ich lege mich hin, in
Ordnung?«
Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand er in der
Luke und warf sich auf die Zweige, die Beine angezogen. So ist das
also, dachte Maxim. Gar nicht so einfach, wie ich geglaubt habe. Er
wurde unruhig. Gai hat seinen Strahlenstoß nicht bekommen, das Feld
haben wir vor fast zwei Stunden verlassen. Er hat sein ganzes Leben
darin verbracht - womöglich schadet es ihm, darauf zu verzichten?
Wenn er nun krank wird? Das fehlte noch, so ein Mist. Er blickte in
Gais bleiches Gesicht, und seine Angst wuchs. Schließlich hielt er
es nicht mehr aus, sprang in die Kabine hinunter, stoppte das
Triebwerk,
schleppte Gai nach draußen und legte ihn ins Gras neben der
Chaussee.
Gai schlief. Er brabbelte im Traum und zuckte
heftig. Dann übermannte ihn Schüttelfrost, er krümmte sich, kroch
ganz in sich zusammen und steckte sich die Fäuste in die
Achselhöhlen, als sollte ihm davon warm werden. Maxim bettete Gais
Kopf auf seine Knie, drückte die Finger gegen seine Schläfen und
versuchte, sich zu sammeln. Er hatte lange keine Psychomassage
gemacht, doch er wusste, dass es darauf ankam, völlig abzuschalten,
sich zu konzentrieren und das Nervensystem des Kranken in das
eigene, gesunde einzubeziehen. So saß er zehn oder fünfzehn
Minuten. Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass es Gai besser
ging: Sein Gesicht war leicht gerötet, er atmete gleichmäßig und
fror nicht mehr. Maxim bereitete ihm ein Kissen aus Gras, blieb
noch eine Weile neben ihm sitzen und verjagte die Mücken. Doch dann
fiel ihm ein, dass sie noch weit zu fahren hatten und der Reaktor
undicht war. Für Gai stellte das eine Gefahr dar, also musste er
etwas dagegen unternehmen. Er stand auf und ging zum Panzer
zurück.
Es kostete ihn einige Mühe, die
Bordpanzerungsplatten von den verrosteten Nieten zu lösen und sie
dann an der Keramikwand zu befestigen, die den Reaktor und das
Triebwerk von der Fahrerkabine trennte. Als er sich die letzte
vornahm, spürte er auf einmal Fremde in der Nähe. Vorsichtig beugte
er sich aus der Luke - und erstarrte.
Zehn Schritte vor ihm standen drei Gestalten. Er
identifizierte sie nicht gleich als Menschen, aber sie waren
bekleidet. Zwei von ihnen trugen eine lange, dünne Stange auf den
Schultern, von der, den blutigen Kopf nach unten, ein kleines,
hirschähnliches Huftier hing. Und am Hals des Dritten baumelte,
quer über seiner Hühnerbrust, ein klobiges Gewehr ungewöhnlichen
Typs. Mutanten, dachte Maxim. Das sind sie also, die Mutanten.
Erzählungen und Legenden, die er gehört
hatte, tauchten aus seiner Erinnerung auf und wurden sehr
glaubhaft: Sie ziehen einem bei lebendigem Leibe die Haut ab, sind
Menschenfresser, Wilde, Tiere. Er biss die Zähne zusammen, sprang
hinaus auf die Panzerung und erhob sich zu voller Größe. Der mit
dem Gewehr trippelte komisch auf seinen kurzen Säbelbeinen, rührte
sich aber nicht von der Stelle. Er reckte nur eine Hand mit zwei
langen, vielgliedrigen Fingern in die Luft, fiepte laut und
krächzte: »Willst du essen?«
Maxim öffnete die verklebten Lippen: »Ja.«
»Schießt du auch nicht?«, wollte der Besitzer des
Gewehrs wissen.
»Nein.« Maxim lächelte. »Auf keinen Fall.«
15
Gai saß an einem grob gezimmerten Tisch und
reinigte seine Maschinenpistole. Es war Vormittag, etwa Viertel
nach zehn, und die Welt um ihn herum wirkte grau, karg und farblos.
Sie ließ keinen Platz für Freude oder eine andere, lebendige
Gemütsregung - alles war matt und krank. Er hatte keine Lust zu
denken, wollte weder etwas sehen noch hören, nicht einmal schlafen,
nur den Kopf auf den Tisch legen, die Arme sinken lassen und
sterben. Sterben und Schluss.
Das Zimmer war klein und besaß nur ein einziges
Fenster ohne Glasscheibe; es ging auf die riesige, rötlich-graue
Wüste hinaus, die gestrüppüberwuchert und von Ruinen übersät war.
Die ausgeblichenen Tapeten hatten sich stellenweise von den Wänden
gelöst; das Parkett war geborsten und in einer Ecke verkohlt. Von
den früheren Bewohnern zeugte nur noch eine große Fotografie unter
gesprungenem Glas, auf der bei genauerem Hinsehen ein älterer Herr
mit albernem Backenbart
und einem lächerlichen Hut, der an einen Blechteller erinnerte, zu
erkennen war.
Hätten doch seine Augen all das nicht gesehen!
Könnte er doch jetzt nur aufheulen oder verrecken wie der letzte
räudige Hund! Aber Maxim hat befohlen: »Waffe reinigen! Jedes Mal«,
hatte er gesagt und mit dem Finger hart auf den Tisch geklopft,
»jedes Mal, wenn du anfängst durchzudrehen, setzt du dich hin und
reinigst deine MP.« Also musste er es tun. Maxim war Maxim. Ohne
ihn hätte Gai sich längst zum Sterben hingelegt. Er hatte Maxim
gebeten: »Lass mich nicht allein, wenn es mich packt, bleib bei
mir, hilf mir.« Aber nein, Maxim hatte entgegnet, Gai müsse sich
jetzt selbst helfen. Es sei nicht lebensgefährlich und würde auf
jeden Fall vorbeigehen. Aber er müsse sich eben überwinden und
versuchen, damit fertigzuwerden.
Gut, dachte Gai müde, versuche ich eben, damit
fertigzuwerden. Maxim ist Maxim. Kein Mensch, kein Schöpfer, kein
Gott - eben Maxim. Er hatte noch gesagt: »Werde wütend! Wenn es
dich wieder erwischt, denke daran, woher du es hast, wer es dir
angetan hat und warum. Und dann werde wütend, sammle Hass in dir
an! Du wirst ihn bald brauchen: bist nicht allein, von deiner Sorte
gibt’s vierzig Millionen, die verdummt wurden, verstrahlt und
vergiftet.« Das war schwer zu glauben, Massaraksch. Sein ganzes
Leben lang hatte Gai in der Truppe verbracht, immer hatten sie
gewusst, wo es langging, es war alles so einfach, alle waren
zusammen gewesen. Und es hatte gutgetan, einer von Millionen zu
sein, so zu sein wie alle. Aber nein, da musste Maxim kommen, ihn
für sich einnehmen und ihm die Karriere verpfuschen, ihn
buchstäblich am Kragen aus dem Glied zerren und in dieses neue
Dasein verfrachten, wo er das Ziel nicht verstand und auch nicht,
wovon sie leben sollten, wo man, Massaraksch und Massaraksch, über
alles selbst nachdenken musste! Früher hatte er keine Ahnung
gehabt, was es heißt, selbst nachzudenken!
Es hatte Befehle gegeben, und dann hieß es darüber nachdenken, wie
man sie am besten ausführte. Aber dann hatte Maxim ihn am Kragen
gepackt, ihn mit dem Gesicht in die andere Richtung gedreht - zum
Vertrauten, zum Nest, zum Allerteuersten - und gesagt: Das ist
Müll, Geschmeiß, Gemeinheit, Lüge. Du schaust hin - und
tatsächlich, da gibt es wenig Gutes. Dir wird übel, wenn du an
deine Vergangenheit denkst. An die Jungs zurückzudenken ist auch
zum Kotzen, und erst Rittmeister Tschatschu! Wütend schob Gai das
Schloss an seinen Platz und ließ es einrasten. Wieder übermannte
ihn Kraftlosigkeit und Apathie. Sein Wille reichte schon nicht mehr
aus, um das Magazin einzusetzen. Schlimm stand es, ach,
schlimm.
Quietschend öffnete sich die verzogene Tür, und ein
kleines, eifriges Gesicht schaute herein. Man hätte es sogar hübsch
nennen können, wären nicht der kahle Schädel und die entzündeten,
wimpernlosen Lider gewesen. Es war Tanga, die Tochter der
Nachbarn.
»Onkel Mak befiehlt, Sie sollen zum Platz kommen.
Alle sind schon versammelt, nur auf Sie warten sie noch.«
Gai warf ihr einen finsteren Blick zu. Ein
gebrechlicher kleiner Körper in einem Kleid aus grobem Sackleinen,
braungefleckte Strohhalmärmchen, krumme Beine, in den Knien
geschwollen - er spürte Brechreiz, und zugleich schämte er sich
seines Widerwillens. Sie war ein Kind, und wer trug schließlich die
Schuld?! Er wandte die Augen ab.
»Ich komme nicht. Sag, dass ich mich nicht gut
fühle. Ich bin krank.«
Die Tür knarzte, und als er wieder hochsah, war das
Mädchen verschwunden. Verdrossen warf er die Maschinenpistole auf
die Pritsche, trat ans Fenster und lehnte sich hinaus. Er sah, wie
die Kleine in schnellem Tempo durch einen Hohlweg zwischen
Mauerresten wirbelte - die frühere Straße. Ein dicker Knirps
heftete sich ihr an die Fersen, humpelte ein paar
Schrittchen, plumpste hin, hob den Kopf, blieb ein wenig liegen
und plärrte dann in furchtbarem Bass los. Aus den Ruinen stürzte
die Mutter zu ihm. Gai fuhr zurück, schüttelte den Kopf und ging
wieder zum Tisch. Nein, daran kann ich mich nicht gewöhnen,
verflucht soll ich sein. Aber käme mir derjenige vor die Flinte,
der dafür verantwortlich ist - ich schösse nicht daneben. Trotzdem,
warum finde ich mich nicht damit ab? Ich habe in diesem einen Monat
Dinge gesehen, die für hundert Albträume reichen.
Die Mutanten lebten in kleinen Gemeinschaften.
Manche nomadisierten - ernährten sich von der Jagd, suchten einen
besseren Ort oder gar den Weg nach Norden. Dabei mussten sie
allerdings die Maschinengewehre der Gardisten umgehen und die
entsetzlichen Regionen, in denen sie den Verstand verloren oder auf
der Stelle an schrecklichen Kopfschmerzen starben. Andere hatten
sich auf Farmen und Gehöften niedergelassen, die nach den
Explosionen noch standen. Eine Atombombe war direkt über der Stadt
explodiert, zwei andere in der Umgebung - dort befand sich jetzt
ein riesiges, kilometerlanges Feld einer grell glänzenden Schlacke.
Die sesshaften Mutanten bauten dürftigen, degenerierten Weizen an,
bestellten seltsame Gärten, in denen die Tomaten klein waren wie
Beeren und die Beeren groß wie Tomaten, und züchteten grausiges
Vieh, das man nicht anschauen mochte, geschweige denn essen. Sie
waren ein bedauernswertes Volk, diese Missgeburten des Südens, über
die man allen möglichen Unsinn faselte, über die auch er, Gai,
alles Mögliche erzählt hatte. In Wirklichkeit waren es stille,
kränkelnde und völlig entstellte Karikaturen von Menschen. Normal
sahen nur die Greise aus, doch von ihnen gab es nur noch wenige,
und sie siechten dahin, würden bald sterben. Ihre Nachkommen
wirkten erst recht wie Todeskandidaten. Kinder wurden viele
geboren, aber fast alle starben schon bei der Geburt oder als
Säuglinge. Die am Leben blieben, waren schwach, fürchterlich
missgestalt
und immerzu von unbekannten Gebrechen gequält, dabei aber sehr
lieb, folgsam und klug. Was sollte er es leugnen: Die Mutanten
waren keine schlechten Menschen. Sie waren gutmütig,
gastfreundlich, auf Eintracht und Frieden bedacht. Nur ansehen
durfte man sie nicht! Sogar Maxim hatte es anfangs geschüttelt,
dann freilich hatte er sich daran gewöhnt. Ihm fiel das leicht, er
hatte sich unter Kontrolle.
Gai setzte das Magazin ein, stützte die Wange auf
die Faust und versank in Gedanken. Ja, Maxim …
Diesmal hat er sich allerdings etwas völlig
Absurdes vorgenommen. Er will die Mutanten sammeln, bewaffnen und
mit ihnen die Garde zurückdrängen, fürs Erste bis hinter die Blaue
Schlange. Ein Witz, wahrhaftig! Sie stehen kaum auf ihren Beinen;
viele sterben schon bei geringfügiger Anstrengung: Da hebt einer
einen Sack voll Korn und fällt tot um. Er aber will sie gegen die
Garde führen. Unausgebildet sind sie, schwach und fügsam - was
sollen sie ausrichten? Selbst wenn er ihre Aufklärer einbezöge,
brauchte es gegen diese ganze Armee - von Maxim mal abgesehen - nur
einen Rittmeister, und wäre Maxim dabei, einen Rittmeister mit
Kompanie. Anscheinend weiß Maxim das auch. Und trotzdem ist er
einen geschlagenen Monat durch den Wald gelaufen, von Siedlung zu
Siedlung, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, um die alten und
geachteten Leute, auf die man hört, zu agitieren. Ist gerannt und
hat mich überallhin mitgeschleppt, kennt keine Ruhe. Die Alten
wollen nicht recht und lassen auch ihre Aufklärer nicht ziehen. Und
nun soll ich zu dieser Versammlung, aber ich gehe nicht.
Langsam hellte sich die Welt wieder auf. Ihm wurde
schon nicht mehr ganz so schlecht, wenn er umher sah, das Blut
pulsierte schneller durch die Adern, und er hatte die vage
Hoffnung, die Versammlung könne scheitern, Maxim käme herein und
würde sagen: Schluss, hier haben wir nichts mehr zu schaffen. Und
dass sie weiterführen nach Süden, in die
Wüste, wo, wie es hieß, zwar auch missgebildete Mutanten lebten,
diese aber nicht so unheimlich wären, sondern menschenähnlicher und
nicht so krank. Man sagte, sie lebten dort in einer Art Staat,
sogar eine Armee gäbe es. Vielleicht könnte man mit ihnen einig
werden. Es hieß aber auch, dass dort alles strahlte, dass Bombe auf
Bombe gefallen sei - mit Absicht und nur, um das Gebiet radioaktiv
zu verseuchen. Angeblich hatte es solche speziellen Bomben
gegeben.
Bei dem Gedanken an Radioaktivität griff Gai in
seinen Rucksack, zog eine Schachtel mit gelben Tabletten heraus und
warf sich zwei davon in den Mund. Sie schmeckten so entsetzlich
bitter, dass er eine Grimasse schnitt - scheußliches Zeug, aber
notwendig, denn alles hier war verseucht. In der Wüste würde er sie
wohl handvollweise lutschen müssen. Dank an den Herzogprinzen: Ohne
seine Pillen wäre er, Gai, erledigt. Der Herzogprinz war ein
Mordskerl, verlor nie den Kopf, verzweifelte nie an dieser Hölle,
sondern half und heilte, machte Krankenbesuche und hatte sogar eine
Medikamentenfabrik errichtet. Außerdem hatte er erzählt, das Land
der Unbekannten Väter sei nur ein Stück, ein kleiner Zipfel des
früheren Imperiums, und auch die Hauptstadt sei damals eine andere
gewesen. Sie liege dreihundert Kilometer weiter südlich, und noch
heute gebe es dort beeindruckende Ruinen.
Die Tür sprang auf, und Maxim stürmte ins Zimmer -
in kurzer Hose, flink, braungebrannt und offensichtlich ziemlich
verärgert. Gai schmollte und blickte zum Fenster hinaus.
»Jetzt spiel mir nichts vor«, sagte Maxim. »Los,
gehen wir.«
»Ich will nicht«, erwiderte Gai. »Hol doch alle der
Teufel! Sie widern mich an, ich kann nicht.«
»Unsinn!«, schnitt ihm Maxim das Wort ab.
»Wunderbare Menschen sind das. Sie schätzen dich. Benimm dich nicht
wie ein Kleinkind.«
»Von wegen ›schätzen‹«, murrte Gai.
»Und wie sie dich schätzen! Erst neulich hat der
Herzogprinz darum gebeten, dass du hierbleibst. ›Ich‹, hat er
gesagt, ›sterbe bald und es braucht einen richtigen Mann, um mich
zu ersetzen.‹«
»Na ja, ersetzen …«, knurrte Gai, spürte aber, wie
sich seine Stimmung unwillkürlich besserte.
»Boschku hat mich auch angesprochen. Er hat
Hemmungen, sich direkt an dich zu wenden. ›Gai sollte bei uns
bleiben‹, meinte er, ›er könnte uns unterrichten und beschützen, er
würde gute Jungs ausbilden.‹ Du weißt, wie Boschku redet?«
Gai errötete beinahe vor Freude, räusperte sich und
murmelte - wobei er noch immer düster aus dem Fenster starrte:
»Also schön. Soll ich die MP mitnehmen?«
»Nimm sie mit«, riet Maxim. »Kann alles Mögliche
passieren.«
Gai klemmte sich die Maschinenpistole unter den
Arm, und sie verließen das Zimmer - er voran, Maxim dicht hinter
ihm. Sie stiegen die morsche Treppe hinunter, wichen den Kindern
aus, die vor der Tür im Staub spielten, und gingen die Straße
entlang zum Platz. Ach, »Straße«, »Platz« - davon existierten nur
noch die Namen … So viele Menschen waren auf einen Schlag
umgekommen. Es hieß, früher sei hier eine große, schöne Stadt
gewesen mit Museen, einem Theater, einem Zirkus, mit Hunderennen.
Die Kirchen sollen besonders schön gewesen sein; aus aller Welt
seien Leute gekommen, um sie anzusehen. Und jetzt - nichts als
Müll. Man begreift nicht einmal, was sich früher wo befand.
Anstelle des Zirkus gibt es einen Sumpf mit Krokodilen. In der
ehemaligen U-Bahn leben jetzt Vampire, und nachts ist es
gefährlich, durch die Stadt zu gehen. Diese Schweine! Sie haben das
Land zugrunde gerichtet. Und nicht genug, dass sie die Menschen
verstümmelt und niedergemetzelt haben - sie mussten
auch noch Viecher aussetzen, die es hier nie zuvor gegeben hat.
Und nicht nur hier.
Wie der Herzogprinz berichtete, lebten bis zum
Krieg Tiere im Wald, die Hunden ähnelten - er hatte zwar vergessen,
wie sie hießen, aber es waren intelligente, gutmütige Tiere. Sie
verstanden alles, und sie zu dressieren war das reinste Vergnügen.
Dann aber fing man an, sie für Kriegszwecke auszurichten: sich mit
Minen unter Panzer zu legen, Verwundete wegzuschleppen, Behälter
mit biologischen Kampfstoffen zum Gegner zu bringen und so weiter.
Dann fand sich ein schlauer Bursche, der ihre Sprache
entschlüsselte. Denn sie hatten tatsächlich eine Sprache, noch dazu
eine ziemlich komplizierte. Sie ahmten gerne nach, und ihr Kehlkopf
war so beschaffen, dass man einige von ihnen sogar die menschliche
Sprache lehren konnte - nicht alles natürlich, doch fünfzig bis
siebzig Wörter behielten sie. Auf jeden Fall waren es wundersame
Tiere. Man sagt, sie seien ausgestorben. Wir hätten mit ihnen
befreundet sein sollen, hätten voneinander lernen und uns
gegenseitig helfen können. Aber nein, man brachte ihnen bei zu
kämpfen, militärische Informationen des Gegners auszukundschaften.
Und dann begann der Krieg, und man scherte sich nicht mehr um sie,
überhaupt scherte man sich um gar nichts mehr. Schon tauchten die
Vampire auf - ebenfalls Mutanten, aber keine menschlichen, sondern
tierische und äußerst gefährlich. Für das Sondergebiet Süd wurde
sogar ein Befehl ausgegeben, wie sie bekämpft werden sollten. Aber
der Herzogprinz sagt gerade heraus: Mit uns allen hier geht’s zu
Ende, nur die Vampire werden überleben.
Gai fiel ein, wie Boschku und seine Jäger einmal
einen Hirsch im Wald erlegt hatten, der auch von den Vampiren
verfolgt worden war, so dass sie sich schließlich um die Beute
schlugen. Aber was waren die Mutanten schon für Kämpfer: Jeder
schoss einmal aus seiner uralten Flinte; dann warfen sie die Waffen
weg, setzten sich hin und bedeckten ihre Augen
mit den Händen, um das Sterben nicht mit ansehen zu müssen. Sogar
Maxim war fassungslos. Das heißt, nicht fassungslos, aber auch er
wollte nicht Hand anlegen. Also hatte ich allein in die Bresche zu
springen. Als das Magazin leer war, nahm ich den Kolben. Gut, dass
es nur sechs Vampire waren. Zwei haben wir erledigt, einer ist
entwischt, und die übrigen drei, die verwundet und bewusstlos
waren, fesselten wir, um sie am Morgen ins Dorf zu bringen und dort
hinzurichten. In der Nacht aber bemerke ich, wie Maxim leise
aufsteht und sich zu ihnen schleicht. Kauert eine Weile neben ihnen
und kuriert sie, indem er ihnen die Hände auflegt. Dann bindet er
sie los und sie - nicht dumm - rennen so schnell sie können davon.
Ich frage ihn: »Was machst du, Mak? Warum?« - »Weiß ich selbst
nicht«, antwortet er, »ich fühle aber, dass man sie nicht
hinrichten darf. Weder Menschen darf man hinrichten«, sagt er,
»noch diese hier. Das sind keine Hunde - aber auch keine
Vampire.«
Aber es geht ja nicht nur um die Vampire! Was es
hier für Fledermäuse gibt! Die, zum Beispiel, die dem
»Hexenmeister« dienen. Fliegendes Grauen ist das - keine Maus! Und
wer trippelt nachts durch die Dörfer und stiehlt die Kinder? Dabei
betritt er nicht einmal das Haus: Die Kinder kommen von allein, im
Schlaf, zu ihm heraus. Zugegeben, das kann dummes Geschwätz sein,
aber einiges habe ich auch schon gesehen. Ich weiß noch wie heute,
wie der Herzogprinz uns den nächstgelegenen Einstieg zur Festung
zeigen wollte. Wir gehen also hin. Vor uns liegt eine friedliche
grüne Lichtung, darauf ein kleiner Hügel und darunter die Höhle.
Als wir genauer hinsehen - Herr im Himmel!: Die Wiese vor dem
Schacht ist mit verendeten Vampiren übersät, mindestens zwanzig
Stück. Aber nicht etwa verstümmelt oder verwundet; kein Tropfen
Blut hängt am Gras. Und das Erstaunlichste: Maxim untersucht sie
und meint, sie sind nicht tot, nur starr, als hätte sie jemand
hypnotisiert. Wer denn?, fragt sich. Nein,
diese Gegend ist schrecklich! Menschen können hier nur am Tage
herumlaufen, und auch das nur mit äußerster Vorsicht. Ohne Maxim
hätte ich längst das Weite gesucht, nur eine Staubwolke wäre von
mir geblieben. Aber, ganz ehrlich: Wohin sollte ich gehen? Ringsum
gibt es Wälder voller Ungetier, der Panzer liegt im Sumpf. Soll ich
zurück zu meinen Kameraden? Es scheint am natürlichsten, sich zu
den eigenen Leuten durchzuschlagen. Doch was sind das schon für
»eigene« Leute! Genau betrachtet, sind sie auch nur Missgeburten
oder Marionetten, da hat Maxim Recht. Was sind das für Menschen,
wenn man sie lenken kann wie Maschinen? Nein, das ist nichts mehr
für mich, es ist abscheulich.
Sie hatten den Platz erreicht - eine große, öde
Fläche mit einem halb zerschmolzenen schwarzen Denkmal in der
Mitte. Dann gingen sie auf das unversehrte Häuschen zu, in dem für
gewöhnlich die Ältesten zusammentrafen, um Gerüchte auszutauschen,
über die Aussaat und die Jagd zu beraten oder einfach ein bisschen
zusammenzusitzen, zu dösen und den Erzählungen des Herzogprinzen
über frühere Zeiten zu lauschen.
In einem großen, sauberen Zimmer warteten bereits
die anderen. Keinen von ihnen mochte man ansehen. Sogar der
Herzogprinz, der kein Mutant war, hatte ein Gesicht voller
Brandnarben und war völlig entstellt. Maxim und Gai traten ein,
grüßten und setzten sich in den Kreis, direkt auf den Fußboden.
Boschku, der neben der Kochstelle hockte, nahm einen Kessel vom
Feuer und schenkte jedem von ihnen einen guten, starken, wenn auch
ungesüßten Tee ein. Gais Tasse war besonders schön, aus
unbezahlbarem Königsporzellan. Er stellte sie vor sich hin, stützte
den Kolben seiner MP zwischen die Knie, lehnte die Stirn gegen den
gekerbten Lauf und schloss die Augen, um niemanden ansehen zu
müssen.
Der Herzogprinz eröffnete die Versammlung. Er war
weder Herzog noch Prinz, sondern der ehemalige Chefchirurg der
Festung. Als man diese seinerzeit mit Atombomben belegte,
revoltierte die Garnison und hisste die weiße Flagge. So kam es,
dass die eigenen Leute just über der weißen Flagge eine
Kernsynthesebombe zündeten. Den richtigen Prinzen, ihren
Kommandeur, rissen die Soldaten in Stücke, gerieten in Fahrt und
erschlugen alle Offiziere dazu. Dann aber fiel ihnen ein, dass nun
niemand mehr da war, um das Kommando zu übernehmen. Eine
Truppenführung aber brauchten sie, denn der Krieg ging ja weiter,
der Gegner würde angreifen, aber auch die eigenen Leute würden sie
attackieren. Doch von den Soldaten kannte sich niemand in der
Festung aus, so dass sie zu einer einzigen, gigantischen Falle
wurde. Dann explodierten die bakteriologischen Bomben - das ganze
Arsenal - und eine Seuche brach aus. Kurz, die Hälfte der Soldaten
floh in alle Himmelsrichtungen, von den Übrigen starben drei
Viertel. Den Rest scharte der Chefchirurg um sich - ihn hatte man
während des Aufruhrs verschont: Immerhin war er Arzt. Irgendwann
fing man an, ihn den Prinzen oder den Herzog zu nennen, anfangs aus
Spaß, später gewöhnte man sich daran, und Maxim sagte, um keine
Frage offenzulassen: Herzogprinz.
»Freunde«, begann der Herzogprinz. »Wir haben heute
Vorschläge unseres Freundes Mak zu erörtern. Sehr wichtige
Vorschläge. Wie wichtig sie sind, könnt ihr daran ermessen, dass
Hexenmeister selbst gekommen ist und vielleicht auch mit uns
sprechen wird.«
Gai hob den Kopf. Tatsächlich: Den Rücken gegen die
Wand gelehnt, saß Hexenmeister höchstselbst in einer Ecke. Sah man
ihn an, überlief es einen eiskalt, doch ihn nicht anzusehen war
unmöglich. Ein bemerkenswerter Mensch! Selbst Maxim schaute
gewissermaßen zu ihm auf; einmal hatte er zu Gai gesagt:
»Hexenmeister, Bruderherz, das ist jemand!« Hexenmeister war klein
von Wuchs, untersetzt, gepflegt, hatte kurze, kräftige Arme und
Beine und wirkte insgesamt
nicht ganz so hässlich wie die anderen. Zumindest war er keine
Missgeburt. Dichtes, kräftiges Haar bedeckte seinen riesigen
Schädel wie ein silbriger Pelz, und sein kleiner Mund war seltsam
geformt - so als pfiffe Hexenmeister immerzu durch die Zähne. Sein
Gesicht wirkte trotz der Tränensäcke hager, und in den großen
schmalen Augen saßen die Pupillen vertikal - wie bei einer
Schlange. Hexenmeister sprach wenig, ging selten unter Menschen und
wohnte allein in einem entlegenen Keller am Stadtrand. Wegen seiner
außergewöhnlichen Fähigkeiten genoss er jedoch große Autorität.
Erstens hielt man ihn für sehr klug - Hexenmeister wusste alles,
obwohl er nicht älter war als zwanzig und die Stadt nie verlassen
hatte. Gab es Probleme, trug man sie ihm demütig vor, um seinen Rat
zu erhalten. Meistens antwortete er nicht, was bedeutete, dass die
Sache unwichtig war: Entscheide, wie du willst, es wird richtig
verlaufen. Ging es aber um Lebenswichtiges - das Wetter,
beispielsweise, oder die Frage, was wann zu säen sei -, äußerte er
stets seine Meinung, und er hatte sich noch nie geirrt. Nur die
Ältesten durften zu ihm, und sie schwiegen darüber, was sie dort
erlebten. Man munkelte, dass Hexenmeister, selbst wenn er einen Rat
gab, den Mund nicht öffnete, sondern die Leute nur ansah - und
ihnen selbst klarwurde, was zu tun sei. Zweitens besaß er Macht
über die Tierwelt. Niemals beanspruchte er Speisen oder Kleidung
von der Gemeinschaft - mit allem versorgten ihn die Tiere, sowohl
höher entwickelte als auch Frösche und Insekten. Seine wichtigsten
Dienstboten aber waren die großen Fledermäuse, mit denen er sich,
wie es hieß, verständigen konnte, so dass sie ihm gehorchten.
Weiterhin wurde erzählt, er wisse Unerklärbares - Dinge, die zu
begreifen unmöglich sei. Aber was Hexenmeister darüber sagte,
schien Gai nur eine Ansammlung von Worten zu sein: schwarze Ödnis
vor dem Aufflammen des Weltlichts; tote, eisige Wüste nach seinem
Erlöschen; Endlosigkeit mit vielen Weltlichtern. Keiner wusste, was
das
bedeutete, Maxim aber wiegte den Kopf und brummte begeistert: »Was
für ein Intellekt!«
Hexenmeister sah niemanden an. Der Nachtvogel auf
seiner Schulter trat, blind und plump, von einem Bein aufs andere.
Und von Zeit zu Zeit holte Hexenmeister Bröckchen aus der Tasche
und schob sie ihm in den Schnabel; der Vogel erstarrte für einen
Augenblick, reckte dann seinen Hals und schluckte.
»Es sind sehr wichtige Vorschläge«, fuhr der
Herzogprinz fort, »und deshalb bitte ich euch, aufmerksam
zuzuhören. Du, Boschku, koche recht starken Tee, mein Freund, denn
wie ich sehe, nicken manche von euch schon ein. Das aber wollen wir
verhindern. Nehmt alle Kraft zusammen, womöglich entscheidet sich
jetzt euer Schicksal.«
Die Versammelten raunten zustimmend. Einen
Glotzäugigen zerrten sie an den Ohren von der Wand weg, wo er es
sich zum Schlafen bequem gemacht hatte, und setzten ihn in die
erste Reihe. »Aber ich wollte doch gar nicht …«, murmelte er, »das
war nur so, ich meine, man sollte sich kurz fassen, sonst habe ich,
ehe es zum Ende kommt, den Anfang schon wieder vergessen.«
»Gut«, stimmte der Herzogprinz zu. »Also kurz: Die
Soldaten drängen uns nach Süden, in die Wüste. Sie kennen kein
Pardon und lassen nicht mit sich reden. Aus den Familien, die sich
nach Norden durchzuschlagen versuchten, ist keiner zurückgekehrt.
Wir müssen annehmen, dass alle umgekommen sind. Das heißt, in zehn,
fünfzehn Jahren werden wir endgültig in die Wüste abgedrängt sein
und dort, ohne Wasser und etwas zu essen, sterben. Man erzählt,
dass dort auch Menschen leben. Ich glaube nicht daran, doch viele
der verehrten Ältesten glauben es und versichern, die
Wüstenbewohner seien genauso grausam und blutrünstig wie die
Soldaten. Wir hingegen lieben den Frieden und können nicht kämpfen.
Viele von uns werden sterben und den endgültigen Untergang
wohl nicht mehr erleben. Aber jetzt führen wir das Volk und sind
verpflichtet, nicht nur an uns, sondern auch an unsere Kinder zu
denken. Boschku«, unterbrach er sich, »bitte reiche dem verehrten
Bäcker etwas Tee. Mir scheint, er ist eingeschlafen.«
Man weckte den Bäcker, drückte ihm eine heiße Tasse
in die fleckige Hand. Er verbrühte sich, schimpfte, und der
Herzogprinz fuhr fort: »Unser Freund Mak zeigt einen Ausweg. Er kam
von der Seite der Soldaten. Er hasst sie und sagt, dass wir von
ihnen keine Gnade erwarten dürfen; sie alle wurden von ihren
Tyrannen verdummt und sind besessen von dem Wunsch, uns zu
vernichten. Anfangs wollte Mak uns bewaffnen und in den Kampf
führen, doch er musste sich überzeugen, dass wir zu schwach dafür
sind. Nun hat er beschlossen, zu den Wüstenbewohnern vorzudringen -
auch er glaubt an sie - und sie dafür zu gewinnen, mit ihm gegen
die Soldaten ins Feld zu ziehen. Was wird nun von uns verlangt? Wir
sollen das Vorhaben billigen, die Wüstenbewohner durch unser Gebiet
passieren lassen und sie, solange der Krieg andauert, mit
Lebensmitteln versorgen. Zudem bittet unser Freund Mak, ihm zu
erlauben, alle unsere Aufklärer, sofern sie dies wünschen, zu
versammeln, damit er sie kämpfen lehrt und hinter die Blaue
Schlange bringt, um dort den Aufstand zu beginnen. So steht es,
kurz gesagt. Wir müssen uns jetzt entscheiden, und ich bitte um
Wortmeldungen.«
Gai sah Maxim von der Seite an. Maxim saß mit
untergeschlagenen Beinen da - groß, braungebrannt und unverrückbar
wie ein Fels. Fast wirke er wie ein riesiger Akkumulator, der sich
jeden Moment entladen konnte. Er starrte in den hintersten Winkel,
zu Hexenmeister, spürte aber sofort Gais Blick und wandte ihm das
Gesicht zu. Und auf einmal wurde Gai bewusst, dass Maxim nicht mehr
derselbe war wie früher. Lange schon vermisste er das vertraute,
strahlende Lächeln
von früher, er sang keine Gebirgslieder mehr, und seine Augen, die
einst zärtlich oder auf gutmütige Weise spöttisch gestrahlt hatten,
waren hart geworden - und so starr, als gehörten sie nicht Maxim,
sondern Rittmeister Tschatschu. Ebenso hatte Mak aufgehört, wie ein
lustiger neugieriger Hund in allen Ecken herumzuschnüffeln. Er war
zurückhaltend geworden, streng, beharrlich, sehr erwachsen und
konzentriert, als ziele er auf einen ihm allein sichtbaren Punkt.
Er hatte sich sehr verändert, seit man ihm ein ganzes Magazin aus
einer schweren Armeepistole verpasst hatte. Früher empfand er
Mitleid mit allen und jedem, jetzt aber dauerte ihn niemand.
Vielleicht musste es so sein. Und trotzdem, eine fürchterliche
Sache hatte er sich da ausgedacht! Ein Gemetzel würde das werden,
ein unvorstellbares Blutbad.
»Irgendwie habe ich’s nicht verstanden«, meldete
sich eine kahlköpfige Missgeburt, der Kleidung nach kein Hiesiger.
»Was will er eigentlich? Dass die Barbaren aus der Wüste zu uns
kommen? Die werden uns doch alle ermorden, ich kenne sie! Sie
werden alle erschlagen, keinen einzigen am Leben lassen!«
»Sie kommen entweder in friedlicher Absicht«,
erläuterte Mak, »oder überhaupt nicht.«
»Lieber überhaupt nicht«, erwiderte der Glatzkopf.
»Mit den Barbaren sollte man sich nicht einlassen. Da wäre es
besser, gleich in die Maschinengewehre der Soldaten zu laufen. Man
würde wenigstens wie von eigener Hand sterben; mein Vater war
Soldat.«
»Das stimmt natürlich«, begann Boschku
nachdenklich. »Aber andererseits wäre es ja auch möglich, dass die
Barbaren die Soldaten vertreiben und uns nicht anrühren. Dann ginge
es uns allen besser.«
»Warum sollen sie uns nicht anrühren?«, widersprach
der Glotzäugige. »Seit jeher rühren alle uns an, und jetzt
plötzlich nicht?«
»Er wird es doch mit ihnen besprechen«, erklärte
Boschku. »So in etwa: Rührt die Waldbewohner nicht an oder bleibt,
wo ihr seid.«
»Wer? Wer wird das besprechen?« Der Bäcker drehte
sich um.
»Na, Mak. Mak wird eine Absprache mit ihnen
treffen.«
»Ach, Mak. Nun, wenn Mak es tut, lassen sie uns
vielleicht in Frieden.«
»Möchtest du Tee?«, fragte Boschku. »Schläfst ja
ein, Bäcker.«
»Verschon mich mit deinem Tee!«
»Trink doch, wenigstens ein Tässchen. Ist doch
nicht schwer.«
Der Glotzäugige stand abrupt auf. »Ich gehe«, sagte
er. »Das hier führt zu nichts! Sie bringen Mak um, und uns
verschonen sie erst recht nicht. Wozu auch? So oder so ist’s bald
aus mit uns. In meiner Gemeinschaft werden seit zwei Jahren keine
Kinder mehr geboren. Bis ich sterbe, möchte ich in Ruhe leben, das
genügt mir. Entscheidet, wie ihr denkt, mir ist alles
gleich.«
Gekrümmt und unbeholfen stolperte er hinaus und
fiel fast über die Schwelle.
»Ja, Mak.« Blutegel wiegte den Kopf. »Verzeih, aber
wir glauben niemandem. Wie kann man den Barbaren trauen? Sie leben
in der Wüste, kauen Sand, trinken Sand, grässliche Gestalten, wie
aus Eisendraht geflochten, können weder lachen noch weinen. Was
sind wir schon für sie? Moos unter den Füßen! Nehmen wir an, sie
kommen und besiegen die Soldaten. Dann lassen sie sich hier nieder
- und brennen uns den Wald ab. Denn was sollen sie damit? Sie
lieben die Wüste. Jedenfalls wäre auch das für uns das Ende. Nein,
ich traue dem nicht, ich glaub’s nicht, Mak. Dein Vorhaben bringt
nichts.«
»Stimmt«, pflichtete ihm der Bäcker bei. »Wir
brauchen das nicht, Mak. Lass uns in Ruhe sterben, schone uns. Du
hasst
die Soldaten, willst sie vernichten, aber was haben wir damit zu
tun? Wir hassen niemanden. Hab Erbarmen. Mit uns hatte noch nie
jemand Mitleid. Und obwohl du ein guter Mensch bist, hast du auch
keins. Ich habe doch Recht, was, Mak?«
Gai blickte wieder zu Maxim hinüber und wandte
verwirrt die Augen ab.
Denn Maxim wurde rot. Er wurde so rot, dass ihm die
Tränen rollten, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit einer
Hand.
»Das stimmt nicht«, sagte er. »Ich bedaure euch.
Aber eben nicht nur euch. Ich …«
»Nein, Mak«, fiel ihm der Bäcker ins Wort. »Du
sollst nur uns bemitleiden. Wir sind die
allerunglücklichsten Menschen der Welt, und du weißt das. Vergiss
deinen Hass. Habe Mitleid, sonst nichts.«
»Wieso sollte er Mitleid haben«, ließ sich
Haselnussstrauch vernehmen, der bis zu den Augen mit schmutzigen
Binden umwickelt war. »Er ist doch selbst Soldat. Wann hätten denn
je Soldaten mit uns gefühlt? Der Soldat ist noch nicht geboren, der
sich erbarmen würde.«
»Aber, aber, meine Lieben!«, unterbrach ihn streng
der Herzogprinz. »Mak ist unser Freund. Er will uns Gutes, unsere
Feinde vernichten.«
»Doch heraus kommt dabei Folgendes«, meldete sich
der kahlköpfige Fremde. »Sogar wenn wir annehmen, dass die Barbaren
stärker sind als die Soldaten und diese schlagen, ihre verfluchten
Türme zerstören und den gesamten Norden erobern. Sollen sie. Uns
ist’s darum nicht leid. Sollen sie sich gegenseitig abschlachten.
Aber: Was nützt uns das? Mit uns ist es dann endgültig vorbei, denn
dann haben wir im Süden Barbaren und im Norden Barbaren, und über
uns auch. Nur - sie brauchen uns nicht, und deshalb werden sie uns
alle umbringen. Das ist die eine Variante. Jetzt nehmen wir an, die
Soldaten wehren den Angriff der Barbaren ab und werfen sie
zurück. Dann rollt dieser ganze Krieg über uns hinweg nach Süden.
Was dann? Ebenfalls Ende: im Norden Soldaten, im Süden Soldaten und
über uns auch. Und die Soldaten kennen wir.«
Die Versammelten lärmten und redeten durcheinander.
Der Kahlkopf habe es richtig dargelegt, alles stimme … Er aber war
noch nicht fertig.
»Lasst mich doch ausreden!«, rief er aufgebracht.
»Was macht ihr für einen Lärm? Das ist ja nicht alles! Es gibt noch
die Möglichkeit, dass sich Soldaten und Barbaren gegenseitig
abschlachten. Dann, scheint es, könnten wir leben. Doch nein, es
klappt wieder nicht. Wegen der Vampire! Solange die Soldaten da
sind, verstecken sie sich. Sie fürchten die Kugeln, denn die
Soldaten haben Befehl, auf die Vampire zu schießen. Sind aber die
Soldaten nicht mehr am Leben, besteht für uns keine Rettung. Die
Vampire fressen uns mit Haut und Haaren auf.«
Dieser Gedanke traf die Anwesenden wie ein
Blitz.
»Recht hat er«, tönten Stimmen. »Wie schlau sie
aber auch sind, dort, in ihren Sümpfen … Ja, Brüder, die Vampire
haben wir vergessen. Aber sie schlafen nicht, sie warten, bis ihre
Zeit gekommen ist. Soll’s laufen, wie es läuft, Mak, wir brauchen
das nicht. Zwanzig Jahre lang haben wir mehr schlecht als recht
gelebt und werden noch zwanzig durchhalten, vielleicht
länger.«
»Auch die Aufklärer haltet von ihm fern!«, begann
der Kahle noch einmal. »Selbst wenn sie es anders wollen. Ihnen ist
alles gleich, sie wohnen ja nicht einmal zu Hause. Sechsfinger
steckt Tag und Nacht drüben, plündert dort und trinkt - es ist eine
Schande! Sie haben’s gut, brauchen die verfluchten Türme nicht zu
fürchten, denn sie kriegen keine Schmerzen. Doch was wird aus der
Gemeinschaft? Das Wild zieht nach Norden. Wer anders kann es uns
von dort zutreiben als die Aufklärer? Gebt sie ihm nicht! Nehmt sie
lieber an die Kandare,
sie sind schon außer Rand und Band! Verüben dort Morde, entführen
Soldaten und quälen sie, als wären das keine Menschen. Lasst sie
nicht gehen! Sie schlagen noch ganz über die Stränge.«
»Nicht fortlassen, nicht fortlassen«, bekräftigte
die Menge. »Was sollen wir ohne sie machen? Wir haben sie geboren
und großgezogen, sie mit Essen und Trinken versorgt, das müssen sie
doch fühlen; aber nein, sie schauen weg und tun einfach, was sie
wollen.«
Der Glatzköpfige beruhigte sich endlich, sank auf
seinen Platz und schlürfte gierig den kalt gewordenen Tee. Auch die
anderen wurden still, saßen reglos da und waren bemüht, Maxim nicht
anzusehen.
Boschku nickte verzagt. »Wie unglückselig aber auch
unser Leben ist! Nirgendwoher kommt Rettung. Was haben wir nur
getan, und wem?«
»Unsere Geburt war sinnlos, daran liegt’s«, sagte
Haselnussstrauch. »Gedankenlos hat man uns in die Welt gesetzt, zur
Unzeit.« Er hielt seine leere Tasse hoch. »Auch wir zeugen ohne
Notwendigkeit. Für den Untergang. Ja, ja, für den Untergang.«
»Das Gleichgewicht«, krächzte plötzlich jemand
laut. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Mak. Aber sie wollten mich
nicht verstehen.«
Es war nicht festzustellen, woher diese Stimme kam.
Alle schwiegen, die Augen leidvoll niedergeschlagen. Nur der Vogel
auf Hexenmeisters Schulter trippelte hin und her und klappte seinen
gelben Schnabel auf und zu. Hexenmeister selbst bewegte sich nicht,
hielt die Lider geschlossen und die trockenen schmalen Lippen
zusammengepresst.
»Ich hoffe, nun begreifen Sie!« Es schien, als
führe der Vogel fort. »Sie wollen dieses Gleichgewicht stören.
Schön, das wäre möglich, es liegt in Ihrer Macht. Aber man fragt
sich: wozu? Bittet Sie jemand darum? Sie haben richtig entschieden,
als Sie sich an die Ärmsten und Unglücklichsten wandten, an
Menschen, die im Gleichgewicht der Kräfte die schwächste Position
haben. Aber nicht einmal sie möchten dieses Gleichgewicht stören.
Wer oder was leitet Sie also?«
Der Vogel plusterte sich auf und steckte den Kopf
unter den Flügel, die Stimme aber dröhnte weiter, und nun wurde Gai
bewusst, dass Hexenmeister sprach, ohne den Mund zu öffnen oder
auch nur einen Muskel im Gesicht zu verziehen. Es war unheimlich,
nicht nur für Gai, sondern für alle Anwesenden, sogar für den
Herzogprinzen. Einzig Mak musterte Hexenmeister finster und sogar
herausfordernd.
»Die Ungeduld des alarmierten Gewissens!«,
deklamierte Hexenmeister. »Ihr Gewissen ist verwöhnt durch Ihre
ständige Aufmerksamkeit! Es stöhnt schon beim kleinsten Mangel, und
Ihr Verstand beugt sich ihm ehrfürchtig, statt es zornig in seine
Schranken zu weisen. Kaum empört es sich über eine bestehende
Ordnung der Dinge, sucht er gehorsam und eilfertig Wege, um diese
Ordnung zu verändern. Doch die Ordnung folgt ihren eigenen
Gesetzen; und diese resultieren aus den Bestrebungen riesiger
Menschenmassen. Will man also die Ordnung ändern, muss man bei den
Bestrebungen anfangen. Folglich haben wir auf der einen Seite die
Bestrebungen der Massen, andererseits aber Ihr Gewissen, das Ihre
Bestrebungen widerspiegelt. Ihr Gewissen drängt Sie, die Dinge
umzuordnen - was bedeutet, die Gesetzmäßigkeiten einer Ordnung zu
verletzen, die aus dem Streben der Masse entstanden sind; das aber
heißt, die Bestrebungen von Millionen nach dem Bild und der
Analogie Ihres eigenen Trachtens zu wandeln. Das ist lächerlich und
antihistorisch. Ihr vom Gewissen umnebelter, betäubter Verstand hat
seine Fähigkeit verloren, das reale Wohl der Menge von einem
imaginären, durch Ihr Gewissen diktierten Wohl zu unterscheiden.
Seinen Verstand jedoch muss man klar halten. Wenn Sie das nicht
wollen oder nicht können - umso schlimmer für Sie! Und
nicht nur für Sie. Sie werden einwenden, in der Welt, aus der Sie
kamen, könne man ohne reines Gewissen nicht leben. Dann hören Sie
auf zu leben! Das wäre kein schlechter Ausweg - sowohl für Sie als
auch für andere.«
Hexenmeister verstummte, und alle Köpfe drehten
sich zu Maxim. Gai hatte nicht recht fassen können, was diese Rede
bedeutete. Wahrscheinlich war sie der Nachhall eines alten Streits,
und bestimmt hielt Hexenmeister Maxim für einen klugen, aber
launischen Menschen, der eher seinen Grillen folgte als der
Notwendigkeit. Das kränkte. Maxim war zwar ein merkwürdiger Mensch,
aber er schonte sich nie, wollte allen immer Gutes tun - nicht aus
einer Laune heraus, sondern aus tiefster Überzeugung. Freilich, die
vierzig Millionen, die durch die Strahlen verdummt waren, wünschten
keinerlei Veränderung. Aber sie wurden an der Nase herumgeführt.
Das war ungerecht.
»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, widersprach Maxim
kalt. »Brennt das Gewissen, stellt es dadurch Aufgaben, die der
Verstand zu erfüllen hat. Das Gewissen zeigt Ideale, der Verstand
sucht Wege zu ihnen. Das ist ja gerade seine Aufgabe! Ohne Gewissen
würde er nur für sich arbeiten, leerlaufen. Was aber den
Widerspruch zwischen meinem Streben und dem der Masse angeht - es
gibt ein eindeutiges Leitbild: geistige und physische Freiheit des
Menschen. In dieser Welt sind sich die Massen dieses Ziels noch
nicht bewusst, und der Weg dorthin ist schwer. Aber irgendwann muss
man beginnen. Gerade Menschen mit einem aufmerksamen Gewissen
sollten die Massen wachrütteln, sie nicht in einem viehischen
Zustand schlafen lassen, sondern zum Kampf gegen die Unterdrückung
führen. Selbst wenn die Massen diese Unterdrückung nicht
empfinden.«
»Richtig«, Hexenmeister stimmte unerwarteterweise
bereitwillig zu, »das Gewissen zeigt tatsächlich Ideale. Aber sie
heißen eben deshalb Ideale, weil sie in krassem Missverhältnis
zur Realität stehen. Und darum sucht der Verstand, der kalte,
ruhige Verstand, wenn er ans Werk geht, Mittel, um diese Ideale zu
erreichen. Wenn sich dann zeigt, dass sich diese Mittel nicht in
den Rahmen der Ideale fügen, muss man diesen Rahmen erweitern und
das Gewissen ein wenig dehnen, korrigieren, anpassen. Nur das will
ich sagen, nur das wiederhole ich: Man darf sein Gewissen nicht zu
sehr hätscheln, sondern muss es so oft wie möglich dem rauen Wind
der Realität aussetzen, ohne Furcht, dass es Flecken oder eine
harte Kruste bekommen könnte. Aber das wissen Sie selbst. Sie haben
nur noch nicht gelernt, die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Aber
auch das werden Sie lernen. Jetzt hat Ihnen Ihr Gewissen die
Aufgabe gestellt, die Tyrannei der Unbekannten Väter zu stürzen.
Der Verstand hat die Situation analysiert und vorgeschlagen: Weil
es keine Möglichkeit gibt, die Gewaltherrschaft von innen zu
beenden, zerschlagen wir sie von außen, hetzen die Barbaren auf
sie. Mögen sie dabei die Waldbewohner zertreten, mögen sich in der
Blauen Schlange die Leichen dammhoch türmen, soll doch ein großer
Krieg kommen, der, vielleicht!, zum Sturz der Despoten führt - das
alles dient schließlich einem edlen Ideal. Also gut, hat das
Gewissen stirnrunzelnd zugestimmt, muss ich für die edle Sache eben
ein bisschen verrohen.«
»Massaraksch!«, zischte Maxim, tiefrot im Gesicht
und böse, wie Gai ihn nie gesehen hatte. »Ja, Massaraksch! Ja!
Alles ist genau so, wie Sie es sagen. Was bleibt mir anderes übrig?
Jenseits der Blauen Schlange sind die Menschen wandelnde
Holzklötze. Vierzig Millionen Sklaven.«
»Richtig, richtig«, pflichtete Hexenmeister bei.
»Eine andere Sache aber ist, dass Ihr Plan als solcher nichts
taugt. Die Barbaren werden an den Türmen scheitern und
zurückweichen, und unsere Aufklärer sind ohnehin zu nichts
Ernsthaftem in der Lage. Mit Ihrem Plan könnten Sie sich genauso
gut mit dem Inselimperium verbünden … Aber darum geht
es nicht. Ich fürchte, Sie kommen überhaupt zu spät, Mak. Sie
hätten vor fünfzig Jahren herkommen sollen, als es noch keine Türme
gab und keinen Krieg, als noch Hoffnung bestand, seine Ideale an
Millionen weiterzugeben. Jetzt gibt es diese Hoffnung nicht mehr,
jetzt ist das Zeitalter der Türme gekommen. Es sei denn, sie
schleppen diese Millionen einzeln hierher, wie sie den Jungen mit
der MP hergeschleppt haben. Glauben Sie jetzt nicht, ich wollte
Ihnen etwas ausreden. Ich sehe deutlich, Sie sind stark, Sie sind
eine Kraft, Maxim. Und allein Ihre Anwesenheit in unserer kleinen
Welt bedeutet schon eine Störung ihres Gleichgewichts. Also handeln
Sie! Doch möge Ihr Gewissen Sie nicht daran hindern, klar zu
denken, und möge Ihr Verstand sich nicht scheuen, es nötigenfalls
beiseitezuschieben. Außerdem rate ich Ihnen, an Folgendes zu
denken: Wie es in Ihrer Welt ist, weiß ich nicht, bei uns aber
bleibt keine Kraft lange ohne einen Herren. Es wird sich jemand
finden, der versucht, sie willfährig zu machen, zu unterwerfen -
unbemerkt oder unter einem passenden Vorwand. Das war’s, was ich
sagen wollte.«
Hexenmeister erhob sich unerwartet gewandt, und der
Vogel auf seiner Schulter setzte sich und spreizte die Flügel. Dann
ging er mit leichtem, gleitendem Schritt an der Wand entlang und
verschwand hinter der Tür. Und sofort folgten ihm die Versammelten:
ächzend, stöhnend, schwer atmend, ohne von dem Gesagten viel
verstanden zu haben, doch augenscheinlich froh, dass alles beim
Alten blieb. Dass Hexenmeister ein gefahrvolles Unterfangen
verhindert, also Mitleid mit ihnen gezeigt hatte und nicht zuließ,
dass man sie kränkte. Dass sie nun weiterleben konnten wie bisher,
zumal noch eine Ewigkeit vor ihnen lag, zehn Jahre etwa, womöglich
mehr. Als Letzter verschwand Boschku mit seinem leeren Teekessel.
Nur Gai, Maxim und der Herzogprinz blieben im Zimmer, und in einer
Ecke, von der geistigen Anstrengung ermattet und in tiefem Schlaf,
der Bäcker. Gais Kopf war verwirrt, seine
Seele auch. Begriffen hatte er nur eins: die Unseligkeit seines
Lebens. In der ersten Hälfte war er eine Marionette gewesen, ein
Hampelmann in jemandes Händen, und den Rest musste er anscheinend
als heimatloser Vagabund zubringen, ohne Freunde, ohne
Zukunft.
»Sind Sie jetzt sehr niedergeschlagen, Mak?«,
fragte der Herzogprinz schuldbewusst.
»Nein, nein, nicht sehr«, antwortete Maxim. »Eher
umgekehrt: Ich bin erleichtert. Hexenmeister hat Recht, mein
Gewissen ist noch nicht bereit für solche Unternehmungen.
Wahrscheinlich muss ich noch länger umherziehen, mich umschauen.
Das Gewissen trainieren.« Er lachte unangenehm. »Was würden Sie mir
raten, Herzogprinz?«
Der Alte stand ächzend auf, rieb sich die
mittlerweile taub gewordenen Hüften und wanderte durch das
Zimmer.
»Erstens rate ich Ihnen, nicht in die Wüste zu
gehen«, begann er. »Sogar wenn es Barbaren gibt, finden Sie dort
nicht, was Sie brauchen. Vielleicht lohnt es sich aber tatsächlich,
Kontakt zu den Inselbewohnern zu knüpfen, wie Hexenmeister
vorgeschlagen hat - obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht weiß, wie das
zu bewerkstelligen wäre. Wahrscheinlich müsste man zum Meer
vordringen und dort beginnen - sofern das Inselimperium nicht auch
ein Mythos ist und man zudem nicht weiß, ob seine Bewohner
überhaupt mit Ihnen reden wollen. Am besten fände ich, Sie würden
in den Norden zurückkehren und dort im Alleingang handeln. Bedenken
Sie, was Hexenmeister gesagt hat: Sie sind stark, Sie sind eine
Kraft, und jeder wird versuchen, diese Kraft für seine Zwecke zu
nutzen. Die Geschichte unseres Reichs kennt nicht wenige Fälle, in
denen es starke und mutige Einzelgänger bis auf den Thron geschafft
haben. Wenn auch gerade sie es waren, die dann die grausamsten
Traditionen der Tyrannei begründet haben. Aber das betrifft Sie ja
nicht, Sie sind nicht so und werden es kaum werden. Wenn ich Sie
recht verstehe, ist auf einen Aufstand
der Massen nicht zu hoffen, also kommt ein Bürgerkrieg - wie auch
der Krieg überhaupt - nicht infrage. Sie sollten allein handeln,
als Diversant. Es ist richtig, was Sie sagen: Das System der Türme
muss über eine Zentrale verfügen. Und wer sie beherrscht, hält die
Macht im Norden in seinen Händen. Das sollten Sie sich gut
merken.«
»Ich fürchte, das ist nichts für mich«, sagte Maxim
zögernd. »Ich kann nicht erklären, warum, aber ich weiß es. Ich
will diese Zentrale nicht beherrschen. In einem allerdings haben
Sie Recht: Mir bleibt weder hier noch in der Wüste etwas zu tun.
Die Wüste ist zu weit entfernt, und hier gibt es niemanden, auf den
ich mich stützen könnte. Ich muss noch viel kennenlernen: Pandea,
Honti, die Berge, das Inselimperium. Haben Sie von den weißen
Submarines gehört? Nein? Aber ich habe davon gehört, auch Gai. Und
wir kennen einen, der sie gesehen und gegen sie gekämpft hat. Das
heißt: Sie können kämpfen. Also gut.« Maxim sprang auf. »Wir wollen
keine Zeit verlieren. Danke, Herzogprinz. Sie haben uns sehr
geholfen. Gehen wir, Gai.«
Sie traten auf den Platz hinaus und blieben vor dem
angeschmolzenen Denkmal stehen. Traurig sah Gai sich um. Die gelben
Ruinen flirrten vor Hitze, es war dunstig und schwül, es stank, und
doch mochte er diese Welt nicht verlassen. Sie war schrecklich,
aber schon so vertraut. Er hatte keine Lust, sich wieder durch die
Wälder zu schleppen und sich all den dunklen Zufällen auszusetzen,
die einen dort auf Schritt und Tritt erwarteten. Lieber würde er in
sein winziges Zimmer zurückkehren, mit der kahlköpfigen Tanga
spielen, ihr endlich das versprochene Pfeifchen aus einer leeren
Patronenhülse basteln … Jawohl, Massaraksch, für das arme Mädchen
wäre ihm ein Schuss in die Luft nicht zu schade.
»Wohin wollen Sie jetzt gehen?«, fragte der
Herzogprinz, wobei er sein Gesicht mit dem abgetragenen,
verblichenen Hut gegen den Staub schützte.
»Nach Westen«, antwortete Maxim. »Zum Meer. Ist das
weit von hier?«
»Dreihundert Kilometer.« Der Herzogprinz wurde
nachdenklich. »Und man muss durch stark verseuchte Gebiete. Hören
Sie, vielleicht machen wir es so …« Dann verstummte er plötzlich
und schwieg. Gai trat schon ungeduldig von einem Bein aufs andere.
Maxim aber hatte es nicht eilig, er wartete. »Ach, wozu brauch ich
es«, sagte schließlich der Herzogprinz. »Um ehrlich zu sein, habe
ich es für mich bewahrt. Ich dachte, wenn es ganz schlimm kommt,
wenn die Nerven versagen, setze ich mich rein und fliege nach
Hause, selbst wenn man mich dort erschießt. Aber was soll es jetzt
noch, es ist zu spät.«
»Ein Flugzeug?« Maxim blickte den Herzogprinz
voller Hoffnung an.
»Ja. Der ›Bergadler‹. Sagt Ihnen dieser Name etwas?
Nein, natürlich nicht. Und Ihnen, junger Mann? Auch nicht.
Seinerzeit war das der berühmteste Bomber, meine Herren. Seiner
Kaiserlichen Hoheit Prinz Kirnus persönlicher
Vier-Goldbanner-Leibbomber ›Bergadler‹. Ich erinnere mich, die
Soldaten mussten das auswendig lernen. ›Soldat Sowieso, nenne den
persönlichen Bomber Seiner Kaiserlichen Hoheit!‹ Und er sagte es
auf, ja, diesen Bomber habe ich. Erst wollte ich damit die
Verwundeten evakuieren, doch es waren zu viele. Dann, als sie alle
tot waren … Ach, was soll ich’s erzählen. Nehmen Sie ihn, mein
Freund. Fliegen Sie. Der Treibstoff reicht für halb um die
Welt.«
»Danke«, sagte Maxim. »Danke, Herzogprinz. Ich
werde Sie nie vergessen.«
»Was heißt, mich …«, murmelte der Alte. »Wenn Sie
etwas erreichen, mein Freund, dann vergessen Sie diese Leute hier
nicht.«
»Ich erreiche etwas«, versprach Maxim. »Ich schaffe
es, Massaraksch! Es muss klappen, Gewissen hin, Gewissen her. Und
ich vergesse nie jemanden.«
16
Gai war noch nie mit einem Flugzeug geflogen, und
es war überhaupt das erste Mal, dass er eines sah.
Polizeihubschrauber oder die Flugplattformen des Stabs waren ihm
öfter vor Augen gekommen. Einmal hatte er sogar an einer Razzia aus
der Luft teilgenommen; seine Gruppe war einfach in einen
Hubschrauber verfrachtet und an der Chaussee wieder abgesetzt
worden. Dort drängte ein Haufen Sträflinge, die wegen der
schlechten Verpflegung rebellierten, in Richtung Brücke. Dieser
Flug war Gai in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben, denn der
Hubschrauber war sehr niedrig geflogen und hatte sie dermaßen
durchgeschüttelt, dass sich ihnen fast die Eingeweide umstülpten.
Hinzu kamen das ohrenbetäubende Getöse des Rotors, der
Benzingestank und das Maschinenöl, das von überallher
spritzte.
Aber das hier war etwas ganz anderes.
Der »Bergadler«, Leibbomber Seiner Kaiserlichen
Hoheit, versetzte Gai in Erstaunen. Es war ein ungeheures Vehikel,
und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es
überhaupt in die Luft aufsteigen könnte. Der schmale Rumpf,
verziert mit zahlreichen goldenen Emblemen, war lang wie eine
Straße. Ehrfurchtgebietend und majestätisch breiteten sich die
mächtigen Tragflächen aus, unter denen eine ganze Brigade hätte
Unterschlupf finden können. Sie waren dachhoch, und dennoch
berührten die Blätter der sechs riesigen Propeller beinahe die
Erde. Der Bomber stand auf drei Rädern, jedes davon mehr als fünf
Meter hoch, zwei Räder trugen den Bug, das dritte stützte das Heck.
Wie ein silbernes Band ragte eine leichte Aluminiumleiter hinauf in
die schwindelerregende Höhe der gläsern glänzenden Pilotenkabine.
Ja, es war ein würdiges Symbol des alten Imperiums, ein Symbol
großer Vergangenheit, ein Symbol der Macht über den ganzen
Kontinent. Gai hatte den Kopf in den
Nacken geworfen, seine Knie wurden weich, er zitterte vor
Ehrfurcht - und war wie vor den Kopf geschlagen, als Mak plötzlich
sagte: »Das ist’ne Kiste, Massaraksch! Entschuldigen Sie,
Herzogprinz, ist mir so rausgerutscht.«
»Ein anderes habe ich nicht«, erwiderte der
Herzogprinz trocken. »Aber es ist der beste Bomber der Welt.
Seinerzeit hat Seine Kaiserliche Hoheit mit ihm …«
»Ja, ja, selbstverständlich«, stimmte Maxim eilig
zu. »Ich war nur so überrascht.«
Oben in der Kabine kannte Gais Entzücken keine
Grenzen. Nicht nur, dass sie rundherum verglast war - hinzu kamen
die vielen ihm unbekannten Instrumente, erstaunlich bequeme und
weiche Sessel, mysteriöse Hebel und Schalter, Bündel
verschiedenfarbiger Kabel, und merkwürdige Helme, wie er sie nie
zuvor gesehen hatte, lagen für sie bereit. Der Herzogprinz gab
Maxim hastig ein paar Instruktionen, wobei er auf die Instrumente
zeigte und die Hebel bewegte. Zerstreut murmelte Mak: »Ja, schon
klar, schon klar …« Gai hatten sie in einen Sessel gesetzt und ihm
die Maschinenpistole auf die Knie gelegt, damit sie, Gott behüte,
ja keine Schramme abbekäme. So saß er da, machte große Augen und
schaute überwältigt von einer Seite der Kabine zur anderen.
Der Bomber stand in einem alten, heruntergekommenen
Hangar am Waldrand; davor erstreckte sich ein großes und vollkommen
ebenes graugrünes Feld - ohne den kleinsten Hügel, den kleinsten
Busch; dahinter, etwa fünf Kilometer entfernt, begann wieder Wald.
Und über all dem lag der weiße Himmel, der vom Pilotensitz aus ganz
nahe schien, nur einen Steinwurf entfernt. Gai war sehr aufgeregt
und hatte später fast keine Erinnerung mehr an den Abschied vom
Herzogprinzen. Der Alte sagte wohl etwas, und Maxim sagte etwas,
sie lachten auch, der Herzogprinz vergoss ein paar Tränen, das
Türchen schlug zu. Gai bemerkte plötzlich, dass er schon mit
einem breiten Gurt angeschnallt war und sah, wie Maxim im
Nachbarsessel flink und sicher ein paar Hebel und Tasten
bediente.
Die Messgeräte leuchteten auf, es knallte, rumorte,
knatterte, die Kabine bebte, und lautes Dröhnen erfüllte alles
ringsum. Der Herzogprinz, klein, weit unten inmitten der
niedergedrückten Sträucher und des sich wellenden Grases, griff mit
beiden Händen nach seinem Hut und wich zurück. Gai drehte sich um.
Die riesigen Propellerblätter waren verschwunden, zu trüben Kreisen
verschmolzen, und auf einmal geriet das große Feld dort unten in
Bewegung und glitt ihnen entgegen, schneller und schneller. Fort
war der Herzogprinz, fort der Hangar - es gab nur noch das Feld,
das ungestüm auf sie zuraste, erbarmungsloses Rütteln, Donnern und
Tosen … Als Gai mühsam den Kopf wandte, merkte er entsetzt, dass
die gigantischen Flügel gleichmäßig schlingerten und jeden
Augenblick abzubrechen drohten - aber plötzlich hörte das Rütteln
auf, das Feld stürzte in die Tiefe, und ein watteweiches Gefühl
durchflutete Gai vom Kopf bis zu den Füßen. Und dann war das Feld
schon nicht mehr zu sehen, auch der Wald war weg, verwandelt in
eine schwarzgrüne Bürste, eine endlose Flickendecke, und diese
Decke blieb langsam zurück. Und da begriff Gai, dass er flog.
Begeistert blickte er zu Maxim hinüber. Mak hatte
den linken Arm lässig auf die Seitenlehne gestützt und bewegte mit
der rechten Hand sacht den größten und wohl wichtigsten Hebel.
Seine Augen waren zusammengekniffen, die Lippen geschürzt, so als
pfiffe er. Ja, er war ein großer Mensch. Groß und unerreichbar.
Wahrscheinlich kann er alles, überlegte Gai. Er steuert diese
komplizierte Maschine, obwohl er sie heute zum ersten Mal im Leben
sieht. Das ist ja schließlich kein Panzer oder Lastwagen, sondern
ein Flugzeug - einer der legendären Bomber. Ich wusste nicht mal,
dass es sie noch gibt. Er aber geht damit um wie mit einem
Spielzeug, als
hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, als durch die Luft zu
fliegen. Unbegreiflich! Einerseits scheint vieles hier für ihn neu
zu sein, andererseits aber kann er sich augenblicklich darauf
einstellen und das Nötige tun. Und das nicht nur bei Maschinen.
Nicht nur sie erkennen in ihm sofort ihren Meister. Hätte er es
gewollt, wäre auch Rittmeister Tschatschu Arm in Arm mit ihm
gegangen. Hexenmeister, den man vor Angst kaum anzusehen wagt,
betrachtet ihn als seinesgleichen. Und der Herzogprinz, Oberst,
Chefchirurg - ein Aristokrat, kann man sagen, hat sofort etwas
Hoheitsvolles in ihm gespürt. Hat ihm so ein Flugzeug anvertraut,
sogar geschenkt. Und ich wollte ihm Rada geben. Was ist sie schon
für ihn? Eine flüchtige Schwärmerei. Braucht er etwa Rada? Eine
Gräfin müsste es sein oder eine Prinzessin. Aber mit mir hat er
sich angefreundet, ausgerechnet. Würde er jetzt verlangen, dass ich
mich hinunterstürzte - schon möglich, dass ich spränge. Weil er es
ist, Maxim! Und was ich durch ihn schon alles gesehen und
kennengelernt habe, so viel sieht und erfährt man sonst im Leben
nicht. Und es wird noch mehr werden, und wie viel ich noch von ihm
lernen kann.
Maxim fühlte Gais Blicke auf sich ruhen, spürte
seine Begeisterung und Ergebenheit. Er wandte ihm das Gesicht zu,
lächelte breit, so wie früher, und Gai konnte sich nur mühsam
zurückhalten, Maxims mächtige braungebrannte Pranke zu packen, sie
an sich zu drücken und dankbar zu küssen. O mein Gebieter, mein
Schild und mein Stolz, befiehl - ich stehe vor dir, bin hier, bin
bereit. Ich schleudre mich ins Feuer, lass mich eins werden mit der
Flamme. Tausenden von Feinden, weit aufgerissenen Rachen, Millionen
von Kugeln entgegen. Wo sind sie, wo sind deine Gegner? Wo sind
diese abscheulichen Schwachköpfe in ihren grässlichen schwarzen
Uniformen? Wo ist dieser boshafte Winzling von Offizier, der gewagt
hat, die Hand gegen dich zu erheben? O du schwarzer Schurke, ich
zerfetze dich mit meinen Nägeln, ich beiße dir die Kehle
durch - aber nicht jetzt, nein. Mein Herrscher befiehlt, er möchte
etwas von mir. Mak, Mak, ich beschwöre dich, schenk mir dein
Lächeln wieder, warum lächelst du nicht mehr? Ja, ja, ich bin dumm,
ich verstehe dich nicht, ich höre dich nicht, hier ist es so laut,
deine gehorsame Maschine dröhnt. Ach, darum geht es, Massaraksch,
was bin ich für ein Idiot, ja, natürlich, der Helm. Ja, ja, sofort.
Ich begreife, hier ist der Helm, wie im Panzer. Ich höre,
Herrlicher! Befiehl! Nein, nein, ich will nicht zur Besinnung
kommen! Mir geschieht nichts Schlimmes, ich bin nur ganz der Deine,
möchte sterben für dich, befiehl! Ja, ich werde schweigen, ich
halte den Mund. Es zerreißt mir die Lunge, doch ich werde still
sein, da du es sagst. Ein Turm? Was für ein Turm? Ah, ja, ich sehe
ihn. Diese schwarzen Verbrecher, diese gemeinen Menschenfresser,
Kindermörder, überall haben sie diese Türme hingesetzt, aber wir
werden sie hinwegfegen, sie mit ehernem Stiefel und in den Augen
Glut zertreten. Steure dein gehorsames Flugzeug zu dem schändlichen
Turm und gib mir eine Bombe, ich springe mit ihr ab, ich werde ihn
nicht verfehlen, du wirst sehen! Eine Bombe gib mir, eine Bombe!
Ins Feuer! Oh! Oooh!
… Gai atmete schwer und zerrte am Kragen seines
Overalls. Seine Ohren klangen, die Welt vor den Augen schwankte und
verschwamm. Noch lag sie im Nebel, aber er löste sich rasch auf.
Nur die Muskeln schmerzten noch, und es kratzte unangenehm im Hals.
Dann sah Gai Maxims Gesicht, es war dunkel, finster, fast brutal.
Die Erinnerung an etwas Wonnevolles tauchte in ihm auf und verflog
im selben Augenblick wieder. Dafür hatte Gai jetzt das große
Bedürfnis, die Hacken zusammenzuschlagen und strammzustehen. Aber
er begriff, dass das unpassend war, und auch, dass Maxim sich
ärgerte.
»Habe ich was angestellt?«, fragte er schuldbewusst
und blickte sich zaghaft um.
»Ich habe was angestellt«, antwortete Maxim.
»Ich hatte diesen Mist ganz vergessen.«
»Was denn?«
Maxim drehte sich wieder zum Steuerpult, legte die
Hand auf einen Hebel und sah nach vorn.
»Die Türme«, sagte er schließlich.
»Was für Türme?«
»Ich habe zu weit nach Norden gehalten«, knurrte
Maxim. »Wir sind in einen Strahlenstoß geraten.«
Gai wurde verlegen. »Hab ich die Hymne
gegrölt?«
»Schlimmer«, erwiderte Maxim. »Aber lassen wir das.
Von nun an passen wir besser auf.«
Gai wandte sich voller Scham ab, versuchte sich zu
erinnern, was er getan hatte, und betrachtete die Welt, die unter
ihm lag. Türme waren nicht mehr zu sehen, ebenso wenig der Hangar
und das Feld, von dem aus sie aufgestiegen waren. Die Flickendecke
rutschte langsam unter ihnen weg, und dann kam ein Fluss, eine
trübe, metallisch blinkende Schlange, die weiter vorne ganz im
Nebel verschwand. Und irgendwo dort musste das Meer wie eine Wand
zum Himmel emporragen … Was habe ich nur zusammengeschwatzt?,
dachte Gai. Großen Blödsinn wahrscheinlich, denn Maxim ist sehr
verstimmt und beunruhigt. Massaraksch, womöglich sind meine
Angewohnheiten aus der Gardistenzeit wieder hervorgebrochen, und
ich habe ihn gekränkt? Wo ist nur dieser verfluchte Turm! Die
Gelegenheit wäre günstig, eine Bombe darauf zu werfen.
Plötzlich schlingerte das Flugzeug. Gai biss sich
auf die Zunge, und Maxim umklammerte den Hebel jetzt mit beiden
Händen. Irgendetwas stimmte nicht, etwas war geschehen. Beklommen
blickte Gai nach hinten und registrierte erleichtert, dass der
Flügel noch an seinem Platz war und auch die Propeller sich noch
drehten. Dann aber sah er hoch und bemerkte, dass sich im
fahlweißen Himmel über ihnen langsam rußschwarze Flecken
verteilten. Wie Tusche im Wasser …
»Was ist das?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte Maxim. »Merkwürdige Sache.« Er
fügte noch zwei Wörter hinzu, die Gai nicht verstand, und erklärte
dann zögerlich: »Eine Attacke von Himmelsgestein. Aber das ist
Unsinn, so etwas gibt es nicht. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei
null Komma null null … Ja, ziehe ich es denn an?«
Er wiederholte die unverständlichen Wörter und
verstummte.
Gai wollte fragen, was Himmelsgestein ist, doch da
bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus eine seltsame Bewegung
rechts unten. Er schaute genauer hin. Über der schmutziggrünen
Decke des Waldes schwoll langsam und schwerfällig eine gelbliche
Blase an. Er begriff nicht sofort, dass es Rauch war; dann blitzte
es in ihrem Inneren, ein langer schwarzer Gegenstand glitt daraus
empor, und in derselben Sekunde krümmte sich unheimlich der
Horizont, stand wie eine Mauer vor ihnen, und Gai musste sich an
den Armlehnen festhalten. Die Maschinenpistole rutschte von seinen
Knien und polterte über den Fußboden. »Massaraksch!«, hörte er
Maxims Stimme in den Kopfhörern. »Gott im Himmel! Ich Idiot!« Der
Horizont richtete sich wieder aus. Gai suchte nach dem gelben
Qualm, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er blickte nach vorn und
sah plötzlich, wie direkt vor ihnen eine Fontäne
verschiedenfarbiger Funken aufspritzte. Wieder blähte sich eine
gelbe Wolke, blitzte Feuer, wieder stieg ein langer schwarzer
Gegenstand in die Höhe und barst zu einer blendend weißen Kugel.
Gai schlug die Hände vor die Augen. Die weiße Kugel verblasste,
bekam schwarze Flecken und wurde zu einem gigantischen Klecks. Der
Boden unter ihren Füßen stürzte fort. Gai riss den Mund auf und
rang nach Luft, für einen Moment schien ihm, als stülpte sich sein
Magen um. In der Kabine war es dunkel geworden, schwarze
Rauchschwaden schwebten auf sie zu und seitlich vorbei. Wieder
änderte sich der Horizont, nun lag der
Wald zur Linken. Gai schloss die Augen und krümmte sich in
Erwartung eines Schlags, eines Schmerzes, des Todes. Er bekam keine
Luft mehr, alles ringsum ruckte und wankte. »Massaraksch«, schrie
Maxim in den Kopfhörern. »Dreiunddreißigmal Massaraksch.« Und da
hämmerte es kurz und heftig gegen die Bordwand, so, als feuerte man
aus einem Maschinengewehr auf sie, ein eisiger Luftzug traf Gai
hart ins Gesicht, sein Helm verrutschte. Er kauerte sich zusammen
und versuchte, den Kopf vor dem Dröhnen und dem Gegenwind zu
schützen. Aus, dachte er, es ist aus. Sie schießen auf uns. Gleich
holen sie uns runter, und wir verbrennen. Aber nichts geschah. Der
Bomber schüttelte sich noch ein paarmal, fiel in einige Luftlöcher,
aus denen er wieder auftauchte - und dann verstummten plötzlich die
Triebwerke. Es wurde unheimlich still. Nur das Heulen des Windes
war zu hören, der durch die Einschusslöcher drang.
Gai wartete ein wenig und hob dann vorsichtig den
Kopf, bemüht, das Gesicht nicht der Zugluft auszusetzen. Maxim war
an seinem Platz. Den Körper gespannt, hielt er noch immer mit
beiden Händen den Hebel fest und starrte auf die Armaturen, dann
wieder nach vorn. Unter seiner braunen Haut zeichneten sich die
Muskeln ab. Der Bomber flog jetzt seltsam, mit unnatürlich
emporgerecktem Bug. Die Motoren schwiegen. Gai sah nach hinten und
erstarrte.
Ein Flügel brannte.
»Feuer!«, schrie er und versuchte aufzuspringen.
Doch der Gurt hielt ihn fest.
»Sitz ruhig!«, sagte Maxim durch die Zähne. Er
wandte sich nicht um.
Gai riss sich zusammen und starrte geradeaus. Sie
hatten schon sehr an Höhe verloren. Schwarze und grüne Flecken
flimmerten vor seinen Augen. Und vorn erhob sich bereits die
schimmernde, stahlgraue Oberfläche des Meeres. Zerschellen werden
wir!, durchfuhr es ihn, und sein Herz stockte.
Verfluchter Herzogprinz mit seinem verfluchten Bomber,
Massaraksch! Auch so ein Überbleibsel des Imperiums. Und dabei
könnten wir so schön ruhig und sorglos dahinwandern. Stattdessen
werden wir gleich verbrennen. Und wenn wir nicht verbrennen, dann
bersten wir, und bersten wir nicht, dann versinken wir im Meer.
Maxim ist das gleich, er wird sowieso wieder auferstehen, aber für
mich ist es das Ende. Ich will nicht.
»Zapple nicht so«, sagte Maxim. »Halt dich fest.
Gleich …«
Der Wald unter ihnen war plötzlich fort. Gai sah
die gekräuselte Wasserfläche direkt auf sich zurasen und kniff die
Augen zusammen.
Ein Stoß. Dann ein Knirschen. Furchterregendes
Zischen. Noch ein Stoß. Und noch einer. Alles ist aus. Vorbei. Aus
und vorbei … Gai schreit auf vor Entsetzen. Eine gewaltige Kraft
packt ihn und versucht, ihn aus dem Sessel zu reißen, zusammen mit
dem Gurt, schleudert ihn dann aber enttäuscht zurück, und alles
ringsum zerspringt und bricht, Brandgeruch breitet sich aus, warmes
Wasser sprüht … Dann endlich Stille. Wenig später Rieseln und
Plätschern. Etwas prasselt, zischt. Langsam hebt und senkt sich der
Boden. Jetzt kann man wohl wieder die Augen öffnen und sich
ansehen, wie es da ist, im Jenseits …
Gai schlug die Augen auf und erblickte Maxim, der,
über ihn gebeugt, seinen Gurt löste. »Kannst du schwimmen?«
Aha, wir sind also am Leben.
»Kann ich«, antwortete Gai.
»Dann los.«
Gai stand vorsichtig auf. Er erwartete heftige
Schmerzen in seinem gemarterten, zerquälten Körper, aber der erwies
sich als völlig unversehrt. Der Bomber schaukelte sacht im Wasser.
Sein linker Flügel fehlte, der rechte baumelte noch an einem
durchlöcherten Stück Metall. In gerader Linie vor dem
Bug war das Ufer - offensichtlich hatte sich das Flugzeug um
hundertachtzig Grad gedreht.
Maxim nahm die Maschinenpistole, warf sie sich über
die Schulter und stieß die Luke auf. Im selben Augenblick flutete
Wasser herein, es stank fürchterlich nach Benzin, und der Boden
unter den Füßen kippte langsam in Schieflage.
»Vorwärts!«, kommandierte Maxim, und Gai, der sich
neben ihm seinen Weg bahnte, sprang gehorsam in die Wellen.
Er versank bis über den Kopf, tauchte auf, prustete
und paddelte auf die Küste zu. Sie war nahe, ein fester, begehbarer
Strand und ohne Gefahr zu erreichen. Maxim hielt sich in der Nähe,
zerteilte lautlos das Wasser. Massaraksch, auch schwimmen konnte er
wie ein Fisch, als wäre er im Meer geboren. Gai keuchte und
strampelte aus aller Kraft mit Armen und Beinen. Sein Overall und
die Stiefel behinderten ihn, und er war froh, als er mit dem Fuß
auf sandigen Grund stieß. Bis zum Ufer blieb zwar noch ein ganzes
Stück, aber er stellte sich mit beiden Füßen auf den Grund und ging
den Weg dorthin zu Fuß - mit vorgestreckten Armen, durch
schmutziges, ölbeflecktes Wasser. Maxim schwamm weiter, er
überholte ihn und betrat als Erster den glatten, ebenmäßigen Sand.
Er stand schon breitbeinig da und sah zum Himmel, als Gai auf ihn
zu wankte. Dort oben zerflossen die schwarzen Flecken …
»Wir haben Glück gehabt«, sagte Maxim. »Etwa zehn
Stück haben sie hochgejagt.«
»Was ist?« Gai schnippte gegen seine Ohren, um das
Wasser herauszuschütteln.
»Raketen. Die hatte ich ganz vergessen. Wie viele
Jahre haben sie gewartet, dass wir über sie hinwegfliegen - jetzt
war es so weit. Wieso habe ich bloß nicht daran gedacht!«
Gai fiel ein, dass auch er es hätte wissen müssen.
Schon vor zwei Stunden hätte er Mak warnen sollen: Wir können nicht
drüberfliegen, der Wald ist voller Raketenschächte … Nein,
Herzogprinz, vielen Dank natürlich, aber Sie sollten besser allein
mit Ihrem Bomber fliegen. Er sah auf das Meer hinaus. Der
»Bergadler« war fast versunken, nur sein lädiertes, mehrstöckiges
Heck ragte noch aus dem Wasser heraus.
»Na gut«, sagte Gai. »Wie ich sehe, kommen wir
nicht bis zum Inselimperium. Was machen wir jetzt?«
»Zunächst einmal nehmen wir unsere Medizin ein.
Nimm«, antwortete Maxim.
»Weshalb?«, fragte Gai. Er mochte die Pillen vom
Herzogprinzen überhaupt nicht.
»Das Wasser ist hochgradig verseucht«, erklärte
Maxim. »Meine Haut brennt. Gib gleich jedem von uns vier oder fünf
Stück.«
Hastig holte Gai eines der Röhrchen heraus,
schüttete sich zehn von den gelben Kügelchen in die Hand, und jeder
von ihnen schluckte fünf.
»Und jetzt los«, befahl Maxim. »Nimm deine
MP.«
Gai griff nach seiner Maschinenpistole, spuckte das
beißend Bittere aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, und
ging hinter Maxim am Ufer entlang. Sie sanken im Sand ein, und es
war heiß, so heiß, dass der Overall im Nu trocknete; nur in den
Stiefeln gluckste noch das Wasser. Maxim schritt schnell und sicher
voraus, als wüsste er genau, wohin sie zu gehen hätten - dabei war
nichts weiter zu sehen als das Meer zur Linken, der weite Strand
zur rechten und vor ihnen vereinzelte Dünen, hinter denen immer
wieder zerzauste Spitzen von Waldbäumen hervorlugten.
Sie legten etwa drei Kilometer zurück, und die
ganze Zeit über grübelte Gai, wohin sie gingen und wo sie sich
überhaupt befanden. Fragen wollte er nicht, er wollte es selbst
herausfinden. Aber auch nachdem er sich alle Details ins Gedächtnis
gerufen hatte, erriet er nur, dass irgendwo vor ihnen das
Mündungsgebiet der Blauen Schlange lag und sie sich nach Norden
bewegten - und er verstand bis jetzt weder
wohin noch wozu. Vom Nachdenken hatte er bald genug. Seine Waffe
umklammernd, fiel er in leichten Trab, hatte Mak schnell eingeholt
und fragte geradeheraus, was sie für Pläne hätten.
Maxim antwortete bereitwillig, sie hätten keine
konkreten Pläne und könnten nur auf Zufälle und Gelegenheiten
warten. Zudem bliebe die Hoffnung, dass ein weißes Submarine sich
dem Ufer näherte und sie es eher erreichten als die Gardisten. Da
es jedoch ein sehr zweifelhaftes Vergnügen sei, im heißen trockenen
Sand auf diesen Moment zu warten, müssten sie versuchen, den Kurort
zu erreichen, der ganz in der Nähe liegen müsse. Die Stadt sei
natürlich längst zerstört, aber die Brunnen würden sicher noch
funktionieren, und sie hätten ein Dach über dem Kopf. Sie würden im
Kurort übernachten und dann weitersehen. Möglich, dass sie viele
Dutzend Tage an dieser Küste verbringen müssten.
Vorsichtig wandte Gai ein, der Plan erscheine ihm
etwas merkwürdig. Mak stimmte ihm zu und fragte ihn seinerseits, ob
nicht er, Gai, einen anderen, besseren wüsste? Gai verneinte,
vergaß aber nicht, Mak vor den Panzerpatrouillen der Garde zu
warnen, die, soweit er wisse, die Küste entlang weit nach Süden
vordrangen. Maxims Miene verfinsterte sich. Er knurrte, das sei
schlecht, und sie dürften sich keinesfalls überrumpeln lassen; dann
befragte er ihn detailliert nach der Taktik der Patrouillen. Als
Gai ihm berichtete, dass die Panzer weniger das Ufer als vielmehr
das Meer kontrollierten und man sich in den Dünen leicht vor ihnen
verbergen konnte, beruhigte sich Mak und pfiff sogar einen kleinen
Marsch vor sich hin, den Gai noch nicht kannte.
Im Takt dieses Marsches stapften sie weitere zwei
Kilometer. Inzwischen überlegte Gai, was sie tun konnten, würden
sie tatsächlich von einer Streife bemerkt. Dann legte er seinen
Plan Maxim dar.
»Wenn sie uns entdecken«, begann er, »erzählen wir
ihnen, die Missgeburten hätten mich entführt, du hättest sie
verfolgt und mich ihnen wieder abgejagt. Dann wären wir durch den
Wald geirrt und seien schließlich hier gelandet.«
»Und was nützt uns das?« Maxim schien nicht
sonderlich begeistert.
»Das nützt uns«, antwortete Gai verärgert, »dass
sie uns wenigstens nicht an Ort und Stelle erschießen.«
»Nein«, sagte Maxim bestimmt. »Erschießen lasse ich
mich nicht mehr, und auch dich wird keiner erschießen.«
»Und wenn sie einen Panzer haben?«
»Ja, na und? Pah, ein Panzer …«
Maxim schwieg kurze Zeit und fügte dann
nachdenklich hinzu: »Weißt du, es wäre gar nicht schlecht, einen
Panzer zu kapern.«
Offensichtlich gefiel ihm dieser Gedanke.
»Ausgezeichnete Idee, Gai«, fuhr Maxim fort. »So
machen wir’s. Wir nehmen ihnen einen Panzer weg. Sobald sie
auftauchen, ballerst du mit der MP in die Luft, ich lege die Hände
auf den Rücken, und du treibst mich direkt zu ihnen. Der Rest ist
meine Sache. Aber halte dich im Hintergrund, komm mir nicht in die
Quere, und gib vor allem keinen Schuss mehr ab.«
Gai fing Feuer und schlug gleich vor, auf den Dünen
weiterzugehen, damit man sie schon von fern sehen könnte. Sie
kletterten nach oben.
Und erblickten sofort ein weißes Submarine.
Hinter den Dünen lag eine kleine flache Bucht, und
das Unterseeboot ragte etwa hundert Meter vom Ufer entfernt aus dem
Wasser. Einem Submarine ähnelte es allerdings gar nicht, noch
weniger war es weiß. Gai vermutete zunächst, es handle sich um den
Kadaver eines riesigen zweihöckrigen Tieres oder um einen bizarren
Felsen. Maxim aber begriff gleich, was sie
da vor sich hatten und meinte, das Submarine liege sicher schon
einige Jahre dort, verlassen und in den Grund gesunken.
So war es auch. Als sie die Bucht erreichten und
zum Wasser hinunterstiegen, sah Gai die Rostflecken, sowohl am
langen Rumpf als auch an den Aufbauten. Die weiße Farbe war
abgeblättert und der Geschützstand seitlich weggekippt, so dass die
Kanonenmündung auf das Wasser wies. In der Panzerung klafften
schwarze Löcher mit rußigen Rändern. Dort lebte sicher nichts
mehr.
»Ist das ein weißes Submarine?«, fragte Maxim.
»Hast du schon mal welche gesehen?«
»Meiner Meinung nach ist es eins«, antwortete Gai.
»An der Küste habe ich nie gedient, aber uns wurden Fotos gezeigt
und Mentogramme. Man hat sie uns auch beschrieben. Sogar einen
Mentofilm gab es - ›Panzer bei der Küstenverteidigung‹. Es ist
eins. Man kann es sich so vorstellen: Es wurde bei Sturm in die
Bucht getrieben, ist dort gestrandet, und dann kam eine Patrouille.
Siehst du, wie sie es zerschossen haben? Das ist keine Außenhaut
mehr, das ist ein Sieb.«
»Sieht ganz so aus«, murmelte Maxim, während er es
eingehend betrachtete. »Schauen wir’s uns an?«
Gai wurde verlegen. »Wir könnten, natürlich«, sagte
er unsicher.
»Was ist?«
»Wie soll ich’s dir erklären?«
Wirklich, wie sollte er es erklären? Einmal nachts,
in der dunklen Kaserne, hatte Korporal Serembesch, der alte
Haudegen, erzählt, auf den weißen Submarines befänden sich keine
gewöhnlichen Seeleute: Es seien Tote, die entweder eine zweite
Dienstzeit ableisteten, oder im Dienst so feige gewesen waren, dass
sie vor lauter Angst gestorben seien und jetzt auf diese Weise
ihren Dienst zu Ende bringen mussten. Meeresdämonen durchstöberten
den Meeresgrund, um die Ertrunkenen
aufzulesen und Mannschaften aus ihnen zusammenzustellen. Aber so
etwas konnte er Mak nicht erzählen; der würde nur lachen, obwohl es
da gar nichts zu lachen gab. Soldat Leptu, zum Beispiel, ein
degradierter Offizier, hatte einmal im Rausch erzählt: »Ist alles
Unsinn, Jungs: All eure Missgeburten, die Mutanten, die radioaktive
Strahlung - all das überlebt man, damit wird man fertig. Aber betet
zu Gott, dass es euch nicht auf ein weißes Submarine verschlägt.
Besser gleich absaufen, Jungs, als so eins auch nur mit der Hand zu
berühren. Und glaubt mir, ich weiß es.« Sie hatten keine Ahnung,
warum Leptu degradiert worden war, doch zuvor hatte er ein
Küstenschutzboot befehligt …
»Weißt du«, begann Gai eindringlich, »es gibt
manchen Aberglauben, alle möglichen Legenden. Ich will sie dir
nicht erzählen, aber Rittmeister Tschatschu hat einmal erwähnt, die
Submarines seien verseucht und es sei strikt verboten, an Bord zu
gehen. Es existiert sogar ein solcher Befehl. Es heißt,
abgeschossene Submarines würden …«
»In Ordnung.« Maxim ließ ihn nicht ausreden. »Du
bleibst hier, und ich gehe. Mal sehen, was das für eine Seuche
ist.«
Gai öffnete den Mund, doch ehe er ein Wort sagen
konnte, war Maxim ins Wasser gesprungen und untergetaucht. Er blieb
verschwunden; Gai stockte schon der Atem vom langen Warten, als der
schwarzhaarige Schopf endlich wieder zum Vorschein kam - vor der
abgeblätterten Bordwand, genau unter einem Einschussloch. Gewandt
und mühelos, wie eine Fliege die Wand, erklomm Maxim das schiefe
Deck, schwang sich im Nu auf den Bugaufbau - und verschwand. Gai
schnappte nach Luft, trat von einem Fuß auf den anderen und ging
dann am Wasser hin und her, ohne die Augen von dem Unterseeboot
abzuwenden.
Es war still, nicht einmal Wellen gab es in dieser
leblosen Bucht, nur einen leeren weißen Himmel, unbelebte weiße
Dünen - alles heiß, trocken und starr. Hasserfüllt musterte
Gai den verrosteten Kadaver. Dass wir aber auch so ein Pech haben:
Andere dienen Jahre und bekommen kein einziges Submarine zu
Gesicht; wir aber brauchen nur vom Himmel zu fallen, ein Stündchen
zu marschieren - und schon haben wir eins vor der Nase.
Hervorragend. Wie konnte ich mich nur auf so etwas einlassen? Nur
wegen Maxim. Für ihn ist alles immer einfach, als hätte man nichts
zu bedenken oder zu fürchten. Vielleicht hatte ich auch deshalb
keine Angst, weil ich mir das Submarine in voller Funktion
ausgemalt hatte, weiß, schnittig, auf Deck Matrosen, ebenfalls in
weiß. Stattdessen nun diese eiserne Leiche. Auch die Gegend hier
ist tot, kein Lüftchen regt sich. Dabei war es vorhin windig, ich
erinnere mich genau: Als wir gingen, blies mir eine erfrischende
Brise entgegen. Gai blickte beklommen umher, setzte sich dann in
den Sand, legte die Maschinenpistole neben sich und begann, langsam
seinen rechten Stiefel abzustreifen. So eine Stille aber auch! Was,
wenn nun Mak nicht mehr zurückkehrte? Wenn dieses eiserne Aas ihn
verschluckte und nicht einmal mehr sein Geist da wäre … Nur nichts
herbeischreien, toi, toi, toi …
Plötzlich zuckte er zusammen, der Stiefel fiel ihm
aus der Hand, denn er hörte einen langgezogenen, unheimlichen Ton …
Er klang, als kratzten Teufel mit schartigen Messern über eine
sündige Seele. O Gott! Aber nein, es war nur die verrostete Luke
gewesen, die sich quietschend geöffnet hatte … Also nein,
wahrhaftig, sogar der Schweiß ist mir ausgebrochen. Maxim hat die
Luke geöffnet, also wird er gleich herausklettern … Nein, er kommt
doch nicht …
Einige Minuten lang reckte Gai den Hals, spitzte
die Ohren und spähte zu dem Submarine hinüber. Stille. Die gleiche
schauerliche Stille wie zuvor, ja, noch schauerlicher als vor dem
Rostgeheul. Womöglich war die Luke nicht geöffnet, sondern
zugeschlagen worden? Oder sie war von selbst zugefallen?
Angststarren Auges sah Gai folgendes Bild vor sich:
Eine schwere Eisentür fällt hinter Maxim ins Schloss, wie von
selbst, und dann schiebt sich ein schwerer Riegel davor. Gai leckte
über seine trockenen Lippen, schluckte, obwohl er kein Tröpfchen
Speichel mehr im Mund hatte, und schrie: »He, Mak!« Aber es war gar
kein Schrei, sondern nur ein Fiepen. Gott, wäre wenigstens ein Laut
zu hören! »He, he!«, rief er verzweifelt. »E-e …«, gaben die Dünen
finster zurück, und wieder wurde alles still.
Absolut still. Zum Schreien hatte Gai keine Kraft
mehr.
Ohne den Blick von dem Submarine zu wenden, tastete
Gai nach der MP, entsicherte sie mit zitternden Fingern und jagte
einen Schuss in die Bucht. Es knallte kurz und kraftlos, wie durch
Watte. Aus der glatten Wasseroberfläche spritzten kleine Fontänen
hoch, Kreise liefen auseinander. Gai hob den Lauf etwas höher und
drückte noch einmal ab. Dann hörte er etwas: Die Kugeln hämmerten
auf Metall, Querschläger kreischten, das Echo hallte. Und - nichts.
Absolut nichts. Kein Laut, als wäre er allein, schon immer allein
gewesen. Als hätte es ihn auf rätselhafte Weise hierherverschlagen,
als wäre er im Fieberwahn an diesen unbelebten Ort geraten und
könnte nun nicht mehr aufwachen und zur Besinnung kommen. Und
müsste für immer allein hierbleiben.
Vollkommen außer sich vor Angst, ging Gai - so wie
er war, mit einem Stiefel - ins Wasser, anfangs langsam, dann immer
schneller, schließlich rannte er, zog die Beine nach oben, bis zum
Gürtel schon im Wasser, schluchzte laut und schimpfte vor sich hin.
Der rostige Koloss rückte näher. Mal schleppte sich Gai vorwärts,
das Wasser mit den Armen vor sich wegschaufelnd, mal stürzte er
sich ins Wasser und schwamm. Er erreichte das Schiff, versuchte
hochzuklettern, schaffte es aber nicht, schwamm dann um das Heck
herum, klammerte sich an den Leinen fest und zog sich auf Deck.
Dabei stieß er immer wieder gegen die rostige Bordwand, so dass die
Haut an Armen und Beinen aufriss und abschürfte.
Tränenüberströmt hielt er inne. Ihm war völlig klar, dass dies
sein Ende bedeutete. »He - he!«, rief er. Dann versagte ihm die
Stimme.
Stille.
Das Deck war leer. An den durchlöcherten, rostigen
Wänden klebten trockene Wasserpflanzen - was aussah, als sei das
Metall von filzigem Haar überzogen. Der Bugaufbau hing wie ein
großer Pilz über Gais Kopf, und seitlich klaffte ein breiter Riss
in der Panzerung. Gai lief zur Rückseite des Aufbaus und entdeckte
die noch feuchten Eisenbügel, die nach oben zur Luke führten. Er
warf sich die Maschinenpistole über die Schulter und stieg hinauf.
Es dauerte lange; eine halbe Ewigkeit stieg er in dieser
bedrückenden Stille seinem unvermeidlichen, ewigen Tod entgegen. Er
kletterte bis ganz nach oben und verharrte dort auf allen vieren.
Das Ungeheuer erwartete ihn schon - mit weit offenem, wohl seit
hundert Jahren nicht mehr geschlossenem Schlund, dessen Scharniere
schon wieder Rost angesetzt hatten: Bitte näher zu treten! Gai
kroch zur Luke und blickte ins Dunkel hinab. In seinem Kopf drehte
sich alles, ihm wurde übel. Aus dem eisernen Rachen quoll die
Stille wie eine kompakte Masse hervor - Jahr um Jahr angestaute,
modrige Stille. Plötzlich stellte Gai sich vor, wie dort, in dieser
gelben, der Fäulnis anheimgefallenen Welt, und von der
tonnenschweren Stille fast erdrückt, sein Freund Mak kämpfte,
allein gegen alle, wie er mit letzter Kraft um sein Leben rang, wie
er rief: »Gai! Gai!« Und wie die Stille lächelnd seinen Ruf
verschluckte und sich wieder auf ihn wälzte, ihn unter sich
erdrückte, würgte, zerquetschte. Gai konnte es nicht mehr ertragen
und kletterte in die Luke.
Er weinte, schluchzte, beeilte sich, verlor aber
dann den Halt und stürzte polternd einige Meter in die Tiefe. Er
fand sich in einem eisernen Schacht wieder - trübe beleuchtet von
ein paar verstaubten Lämpchen. Auf dem Boden lag feiner Sand, der
sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Gai
sprang auf - noch immer war er in Eile, noch immer hatte er große
Angst, zu spät zu kommen - und lief aufs Geratewohl los. »Ich bin
hier, Mak! Ich komme …«
»Was schreist du denn?«, fragte Maxim verärgert,
der wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. »Was ist passiert?
Hast du dir in den Finger geschnitten?«
Gai blieb stehen und senkte die Arme. Er war einer
Ohnmacht nahe und musste sich gegen das Schott stützen. Sein Herz
hämmerte wild, wie Trommelwirbel dröhnten die Schläge in seinen
Ohren, und die Stimme versagte ihm den Dienst. Maxim sah ihn einige
Zeit verwundert an und schien dann zu verstehen. Er zwängte sich in
den Gang - wieder quietschte durchdringend die Tür - und trat zu
ihm, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn, drückte ihn an
sich und umarmte ihn. Einige Sekunden lang lag Gai in seligem
Vergessen an seiner Brust, bis er allmählich zu sich kam.
»Ich dachte … man hätte dich hier … dass du hier …
dass man dich …«
»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn Maxim sanft.
»Es ist meine Schuld, ich hätte dich gleich rufen sollen. Aber hier
gibt es so seltsame Dinge, verstehst du.«
Gai machte sich frei, wischte sich mit seinem
nassen Ärmel über die Nase, fuhr sich mit der nassen Hand übers
Gesicht - und schämte sich.
»Du kommst und kommst nicht«, sagte er böse, mit
niedergeschlagenem Blick. »Ich rufe, schieße. War es wirklich so
schwer zu antworten?«
»Massaraksch, ich habe nichts gehört«, erwiderte
Maxim schuldbewusst. »Weißt du, es gibt ein großartiges Radio hier.
Ich habe gar nicht gewusst, dass man so leistungsstarke bei euch
baut.«
»Radio, Radio …«, brabbelte Gai und schob sich
durch die halbgeöffnete Tür. »Du amüsierst dich, während ich
deinetwegen fast um den Verstand komme. Was ist das hier?«
Gai stand jetzt in einem ziemlich großen Raum. Auf
dem Boden lag ein vermoderter Teppich, an der Decke hingen drei
halbrunde Leuchten, von denen aber nur eine brannte. In der Mitte
stand ein runder Tisch, um ihn herum einige Sessel. An den Wänden
waren merkwürdige gerahmte Fotos und Bilder zu sehen; die Reste
einer Samttapete hingen in Fetzen herab. In einer Ecke knackte und
heulte ein großer Rundfunkempfänger - etwas Derartiges hatte Gai
noch nie gesehen.
»Das hier ist der Gemeinschaftsraum«, antwortete
Maxim. »Schau dich um, hier gibt’s einiges zu sehen.«
»Und die Besatzung?«, fragte Gai.
»Keiner da. Weder Lebende noch Tote. Die unteren
Räume sind alle unter Wasser. Ich vermute, sie liegen dort.«
Gai blickte ihn erstaunt an. Maxim hatte sich
abgewandt, er schien niedergeschlagen.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann er. »Es war
wahrscheinlich besser für uns, dass wir es nicht bis zum
Inselimperium geschafft haben. Sieh dich mal um.«
Er setzte sich ans Radio und betätigte die
Feinregler. Gai wusste nicht, womit er beginnen sollte, und ging
schließlich zur Wand hinüber und betrachtete die Fotos. Einige Zeit
konnte er mit ihnen gar nichts anfangen. Dann verstand er: Es waren
Röntgenaufnahmen. Die Zähne gebleckt, grinsten ihn Schädel an,
unscharf, einer wie der andere. Auf jeder Aufnahme prangte eine
unleserliche Unterschrift - wie auf einem Autogramm. Die Mitglieder
der Mannschaft? Berühmtheiten? Gai zuckte mit den Schultern. Onkel
Kaan würde sich damit vielleicht auskennen, aber unsereins, als
einfacher Mensch?
In der hinteren Ecke hing ein großes Plakat, sehr
malerisch und schön, ein Dreifarbdruck … freilich etwas
angeschimmelt … Es zeigte das blaue Meer, aus dessen Wellen - einen
Fuß schon auf dem schwarzen Ufer - ein stattlicher Mann trat; er
trug eine unbekannte Uniform, war sehr muskulös
und hatte einen unproportional kleinen Kopf, der zur Hälfte aus
dem mächtigen Hals bestand. In der einen Hand hielt er eine
Papierrolle mit unverständlichem Text, mit der anderen stieß er
eine brennende Fackel ins Festland, an der sich eine Stadt
entzündete. Missgeburten der hässlichsten Sorte krümmten sich in
den Flammen; ein weiteres Dutzend von ihnen lief auf allen vieren
davon. Auf dem oberen Teil des Plakats prangte ein großer
schnörkeliger Schriftzug. Die Buchstaben waren vertraut, die Worte
aber unaussprechlich.
Je länger Gai das Plakat betrachtete, desto weniger
gefiel es ihm. Es erinnerte ihn an ein anderes, das früher in der
Kaserne gehangen hatte: Ein schwarzer Supergardist, ebenfalls mit
sehr kleinem Kopf und gewaltigen Muskeln, schnitt einer
abscheulichen orangefarbenen Schlange, die aus dem Meer tauchte,
mit einer riesengroßen Schere den Kopf ab. Auf der einen Klinge
stand »Kämpfende Garde«, auf der anderen »Unsere ruhmreiche Armee«.
Soso, sagte Gai zu sich, während er einen letzten Blick auf das
Plakat warf. Das werden wir noch sehen. Wir werden sehen, wer wem
Zunder gibt, Massaraksch!
Er wandte sich von dem Plakat ab, drehte sich um
und blieb wie versteinert stehen: Von dem hübschen lackierten Regal
gegenüber starrten ihn die glasigen Augen eines bekannten Gesichts
an: Dunkelblonde Ponyfransen über den Augenbrauen, auffällige Narbe
auf der rechten Wange, quadratische Gesichtsform - das war
Rittmeister Pudurasch, ein Nationalheld. Er war Befehlshaber einer
Kompanie in der Brigade der Toten-doch-Unvergessenen gewesen; er
hatte elf weiße Submarines versenkt und war in ungleichem Kampf
gefallen. Sein Porträt, geschmückt mit einem Kranz Strohblumen,
hing in jeder Kaserne, seine Büste zierte jeden Appellplatz. Und
hier nun - geschrumpft, die Haut gelb und leblos - war sein Kopf,
aber warum? Gai wich zurück, ja, der Kopf war echt. Und daneben
stand noch einer: ein fremdes, spitzes Gesicht.
Und noch einer. Ein weiterer. Massaraksch, wie viele es
waren!
»Mak!«, stöhnte Gai. »Hast du das gesehen?«
»Ja«, antwortete Maxim.
»Das sind Köpfe!«, stotterte Gai. »Richtige
Köpfe.«
»Sieh dir die Alben auf dem Tisch an.«
Mühsam löste Gai seinen Blick von der schaurigen
Sammlung, drehte sich um und trat zögerlich an den Tisch. Im Radio
schrie jemand in einer fremden Sprache, Musik ertönte, und dann
sprach wieder jemand mit einer sich einschmeichelnden, samtweichen,
ausdrucksvollen Stimme.
Gai nahm das erstbeste Album und schlug den festen
Lederdeckel auf. Ein Porträt. Ein merkwürdiges langes Gesicht mit
weichem Backenbart von den Wangen bis zu den Schultern, die Haare
über der Stirn wegrasiert, eine Hakennase, ungewöhnlicher Schnitt
der Augen. Ein unangenehmes Gesicht, man konnte sich nicht
vorstellen, dass es lächelte. Eine unbekannte Uniform, darauf in
zwei Reihen Medaillen und Abzeichen. War bestimmt ein hohes Tier.
Gai blätterte weiter. Derselbe Kerl inmitten anderer, ebensolcher,
auf der Kommandobrücke eines weißen Submarine. Auch hier schaut er
finster, die anderen dagegen grinsen breit. Unscharf im Hintergrund
eine Art Strandpromenade, Gebäude, verschwommene Silhouetten von
Palmen oder Kakteen. Nächste Seite. Gai stockte der Atem: ein
brennender »Drache« mit schief gerutschtem Turm; aus der offenen
Luke hängt der Körper eines Panzergardisten, zwei andere liegen
abseits übereinander, und auf ihnen steht breitbeinig dieser Kerl,
eine Pistole in der gesenkten Hand und auf dem Kopf eine Kappe, die
nach vorne spitz zuläuft. Vom »Drachen« steigt dichter schwarzer
Rauch auf. Gai erkannte die Gegend sofort: Es war dieses Ufer, mit
seinem Sandstrand und den Dünen dahinter. Gai war innerlich aufs
Äußerste angespannt, als er das Blatt wendete - nicht ohne Grund.
Nun sah er eine Gruppe Mutanten, etwa zwanzig
Personen und alle nackt - ein ganzer Haufen Missgeburten, mit
einer Leine gefesselt. Einige Piraten mit Spitzhauben auf den
Köpfen und schwelenden Fackeln, daneben wieder dieser Kerl;
offensichtlich erteilt er einen Befehl, die rechte Hand hat er
ausgestreckt, die linke liegt auf dem Griff eines Dolches. Wie
unheimlich diese Missgeburten waren, man traute sich kaum
hinzusehen. Aber es kam noch schlimmer.
Dieselben Mutanten, schon verkohlt. Der Typ steht
abseits, mit dem Rücken zu den Leichen, und riecht an einer Blume,
während er sich anscheinend mit jemandem unterhält.
Ein riesiger Baum im Wald, behängt mit toten
Körpern. Manche hängen an den Armen, andere an den Beinen. Diesmal
sind es keine Missgeburten - einer trägt den karierten Overall
eines Zöglings, ein anderer eine schwarze Gardistenjacke.
Ein Greis, an einen Pfahl gebunden. Das Gesicht
verzerrt, er schreit, hat die Augen zusammengekniffen. Auch hier
wieder dieser Kerl - sorgsam überprüft er eine medizinische
Spritze.
Und noch mehr erhängte, brennende, versengte
Mutanten, Sträflinge, Gardisten, Fischer, Bauern, Männer, Frauen,
Greise, Kinder. Ein ganzer Strand voll kleiner Kinder und der Kerl,
wie er hinter einem schweren MG hockt. Sie schleifen Frauen …
wieder der Kerl mit der Spritze, die untere Gesichtshälfte von
einer weißen Maske verdeckt … ein Haufen abgeschnittener Köpfe, der
Kerl stochert mit einem Spazierstock in dem Haufen. Hier lächelt er
… Eine Panoramaaufnahme: das Ufer, vier brennende Panzer auf den
Dünen, im Vordergrund zwei kleine schwarze Gestalten mit erhobenen
Armen. Es reichte. Gai schlug das Album zu und schleuderte es von
sich. Einige Sekunden saß er still, dann warf er fluchend alle
Alben auf den Boden.
»Mit denen willst du dich einigen?!«, schrie er
Maxim an, der ihm den Rücken zuwandte. »Die willst du zu uns
bringen?
Diesen Henker?« Er stürzte zu den Alben und trampelte mit dem Fuß
darauf.
Maxim schaltete das Radio ab.
»Spiel nicht verrückt«, sagte er. »Ich will
überhaupt nichts mehr. Und du hast keinen Grund, mich anzubrüllen.
Ihr seid selbst schuld, habt eure Chancen verschlafen, Massaraksch,
habt alles ruiniert, ausgeraubt, seid verroht wie Vieh! Was soll
man jetzt mit euch machen?« Er stand plötzlich vor Gai, packte ihn
am Schlafittchen. »Was soll ich jetzt mit euch tun?«, fauchte er.
»Was? Was? Du weißt es nicht? Rede doch!«
Gai schwieg und versuchte zaghaft, sich aus dem
Griff zu lösen. Maxim ließ ihn los.
»Ich kann’s dir sagen«, fuhr er düster fort.
»Keinen darf man hierherbringen. Überall sind Bestien. Die müsste
man jagen.« Er hob eins der Alben vom Boden auf und schlug heftig
die Seiten um. »Was für eine Welt habt ihr versaut!«, sagte er.
»Was für eine Welt! Sieh her!«
Gai schielte über Maks Arm. Diesmal erblickte er
keine Gräuel, sondern Landschaftsaufnahmen aus verschiedenen
Gegenden. Farbfotos von erstaunlicher Schärfe und Schönheit: blaue
Buchten, gesäumt von üppigem Grün, strahlend weiße Städte am Meer,
ein Wasserfall in einer Bergschlucht, eine erstklassige Autobahn
mit einem Strom verschiedenfarbener Wagen, irgendwelche alten
Schlösser, Schneegipfel über den Wolken, jemand, der auf Skiern
fröhlich hangabwärts gleitet, lachende Mädchen, die in der Brandung
spielen.
»Wo ist das alles geblieben?«, fragte Maxim. »Was
habt ihr damit gemacht, ihr verfluchten Kinder von verfluchten
Vätern? In Stücke geschlagen, verkommen lassen, gegen Eisen
eingetauscht, Menschenskind …« Er legte das Album auf den Tisch.
»Gehen wir.«
Wütend stemmte er sich gegen die Tür, stieß sie
weit auf - sie knarzte und kreischte - und stürmte durch den
Gang.
Auf Deck fragte er: »Hast du Hunger?«
»Hm, ja«, antwortete Gai.
»Gut«, sagte Maxim. »Gleich werden wir essen.
Schwimmen wir los.«
Gai erreichte als Erster das Ufer, streifte sofort
seinen Stiefel ab, zog sich aus und breitete die Sachen zum
Trocknen auf den Sand. Maxim blieb noch im Wasser, und Gai
beobachtete ihn besorgt: Allzu tief tauchte sein Freund, zu lange
blieb er unter Wasser. Das durfte man nicht, es war gefährlich, wie
konnte ihm die Atemluft reichen? Endlich kam Mak heraus: Er zog
einen großen, wuchtigen Fisch an den Kiemen hinter sich her. Der
guckte verdattert, als könne er nicht fassen, dass ihn jemand mit
bloßen Händen gefangen hatte. Maxim schleuderte ihn auf den Sand.
»Ich denke, der ist richtig, wenig radioaktiv. Bestimmt auch ein
Mutant. Schluck deine Tabletten, ich mache ihn inzwischen zurecht.
Man kann ihn roh essen, ich bring’s dir bei - Sashimi heißt das.
Kennst du nicht? Gib mal das Messer her.«
Dann, als sie sich satt gegessen hatten - nichts
dran auszusetzen, war durchaus genießbar - und nackt im heißen Sand
lagen, fragte Maxim nach langem Schweigen: »Wenn wir einer
Patrouille in die Arme gelaufen wären und uns ergeben hätten, wohin
hätten sie uns gebracht?«
»Wie - ›wohin‹? Dich dahin, wo du deine Strafe zu
verbüßen hast, mich an meinen Dienstort … Wieso?«
»Ist das sicher?«
»Sicherer geht’s nicht. Die entsprechende
Instruktion stammt vom Generalkommandeur persönlich. Warum fragst
du?«
»Jetzt gehen wir die Gardisten suchen«, sagte
Maxim.
»Um einen Panzer zu kapern?«
»Nein. Wir nehmen deine Legende: Du wurdest von
Missgeburten geraubt, und der Zögling hat dich gerettet.«
»Wir ergeben uns?« Gai setzte sich auf. »Wie denn
das? Ich auch? Ich soll zurück unter die Strahlen?«
Maxim schwieg.
»Dann werde ich ja wieder zur Marionette«,
flüsterte Gai hilflos.
»Nein«, sagte Maxim. »Das heißt ja, natürlich, aber
es wird nicht mehr so sein wie früher. Du wirst zwar ein bisschen
zur Marionette, aber jetzt wirst du an etwas anderes, an das
Richtige glauben. Das ist natürlich auch nicht besonders gut, aber
schon besser, viel besser …«
»Aber warum?«, schrie Gai verzweifelt. »Warum ist
das nötig?«
Maxim fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Siehst
du, Gai, mein Freund … Es ist Krieg! Entweder haben wir Honti
überfallen, oder Honti hat uns angegriffen, ich weiß es nicht. Aber
mit einem Wort: Es ist Krieg.«
Entsetzt starrte Gai ihn an. Krieg … ein Atomkrieg,
andere gibt es ja nicht mehr … Rada … Gott, aber weshalb denn?
Wieder alles von vorn, wieder Hunger, Leid, Flüchtlinge …
»Wir müssen jetzt dort hin«, fuhr Maxim fort. »Die
Mobilmachung ist bereits verkündet, alle sind zu den Waffen
gerufen. Sogar die Zöglinge wurden amnestiert. Jetzt heißt es ab
ins Glied. Und wir beide, Gai, sollten zusammen sein. Du bist ja
bei einer Strafeinheit. Es wäre schön, wenn ich dir unterstellt
würde.«
Gai hörte kaum zu. Die Finger in die Haare
gekrallt, wiegte er sich hin und her und wiederholte immer wieder:
»Weshalb. Weshalb. Verflucht sollt ihr sein! Dreiunddreißigmal
verflucht.«
Maxim rüttelte ihn an der Schulter. »Nimm dich
zusammen«, sagte er streng. »Lass dich nicht gehen! Wir müssen
jetzt kämpfen, zum Zusammenklappen bleibt keine Zeit.« Er erhob
sich und wischte wieder über sein Gesicht. »Freilich, eure
verdammten Türme. Aber Krieg, ein Atomkrieg! Massaraksch, aber auch
die Türme werden ihnen nicht helfen …«
»Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie
sich!«
Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie sich! Ich
komme zu spät.
Zu Befehl. Rada Gaal … Sie wurde dem
Kompetenzbereich des Herrn Generalstaatsanwalt entzogen und
befindet sich in unserer Hand.
Wo?
Bei uns, in der Villa »Kristallschwan«. Ich
erachte es als meine Pflicht, noch einmal meine Zweifel am Sinn
dieser Aktion auszudrücken. Diese Frau wird uns kaum helfen können,
mit Mak fertigzuwerden. Solche wie sie vergisst man leicht, und
selbst wenn er …
Sie meinen, Schlaukopf sei dümmer als
Sie?
Nein, aber …
Weiß Schlaukopf, wer die Frau entführt
hat?
Ich fürchte, ja.
Schön, soll er’s wissen … Das wäre dazu wohl
alles. Was weiter?
Sandi Tschitschaku hat den Hampelmann getroffen.
Der Hampelmann ist offenbar bereit, ihn mit dem Onkel
zusammenzubringen, sofern …
Stop. Was für ein Tschitschaku? Der
Breitstirnige Tschik?
Ja.
Der Untergrund interessiert mich im Moment
nicht. Was Mak betrifft, war das alles? Dann Folgendes: Dieser
verfluchte Krieg hat alle Pläne durcheinandergebracht. Ich verreise
jetzt und komme in dreißig, vierzig Tagen wieder. In dieser Zeit,
Fank, müssen Sie den Fall Mak abschließen. Bei meiner Rückkehr hat
der Mann hier zu sein, in diesem Haus. Übertragen Sie ihm eine
Funktion, soll er arbeiten. Beschneiden Sie seine Freiheiten nicht,
aber geben Sie ihm zu verstehen - sehr, sehr dezent -, dass Radas
Schicksal an seinem Verhalten hängt. Verhindern Sie um jeden Preis,
dass sich die beiden sehen. Zeigen Sie ihm das Institut, erzählen
Sie, woran
wir arbeiten, selbstredend in vernünftigen Grenzen. Erzählen Sie
auch von mir, schildern Sie mich als klugen, gütigen, gerechten
Menschen und bedeutenden Wissenschaftler. Geben Sie ihm meine
Artikel, außer den streng geheimen. Deuten Sie an, ich stünde in
Opposition zur Regierung. Er darf nicht den geringsten Wunsch
verspüren, das Institut zu verlassen. Das ist meinerseits alles.
Haben Sie Fragen?
Ja. Wie steht es mit Bewachung?
Lassen wir. Sie wäre zwecklos.
Beschatten?
Nur äußerst vorsichtig. Oder lieber gar nicht.
Verschrecken Sie ihn nicht. Hauptsache: Er darf keine Lust
bekommen, das Institut zu verlassen. Massaraksch, in so einer Zeit
muss ich verreisen. War das jetzt alles?
Eine letzte Frage, verzeihen Sie,
Wanderer.
Ja?
Wer ist er eigentlich? Wozu brauchen Sie
ihn?
Der Wanderer stand auf, trat ans Fenster und sagte,
ohne sich umzuwenden: Ich fürchte ihn, Fank. Dieser Mensch ist
sehr, sehr, sehr gefährlich.
17
Zweihundert Kilometer vor der hontianischen Grenze
steckte der Militärzug auf dem Abstellgleis einer schmutzigen,
tristen Station fest. So lief der frischgebackene Untersoldat Sef,
nachdem er sich mit dem Wachposten gütlich geeinigt hatte, schnell
zum Hydranten, um Wasser für das Kochen zu holen, und kehrte mit
einem Kofferradio zurück. Er berichtete, auf der Station herrsche
das reine Chaos, man verlade zwei Brigaden gleichzeitig, die
Generale schnauzten einander an und
seien nicht bei der Sache. So habe er, Sef, sich unter all die
umherwimmelnden Ordonnanzen, Offiziersburschen und Adjutanten
gemischt und einem von ihnen das Radio abgeknöpft.
Im beheizten Güterwagen reagierte man auf diese
Nachricht mit einem deftigen, patriotischen Gelächter. Alle vierzig
Mann scharten sich sogleich um Sef und versuchten, einen Platz zu
ergattern, fluchten und schlugen, wenn gedrängelt wurde, einander
ins Gesicht, beschwerten sich übereinander, bis Maxim schließlich
raunzte: »Ruhe, ihr Dreckskerle!« Da wurden sie still. Sef
schaltete das Radio ein und suchte nacheinander alle Sender.
Bald erfuhren sie sehr interessante Dinge. Erstens
stellte sich heraus, dass der Krieg noch gar nicht angefangen
hatte. Der Sender »Die Stimme der Väter«, der die ganze letzte
Woche hindurch über blutige Schlachten auf dem eigenen Territorium
lamentierte, hatte schlichtweg gelogen. Keinerlei blutige
Schlachten waren geschlagen worden. Die »Hontianische Patriotische
Liga« posaunte entsetzt in die Welt hinaus, diese Banditen und
Usurpatoren - die sogenannten Unbekannten Väter - nähmen die
niederträchtige Provokation ihrer Knechte, der berüchtigten
»Gerechtigkeitsunion von Honti« zum Vorwand, ihre gepanzerten
Horden an der Grenze zum leidgeprüften Honti zu konzentrieren. Die
»Gerechtigkeitsunion« ihrerseits belegte die »Hontianischen
Patrioten« - diese bezahlten Agenten der Unbekannten Väter -
ebenfalls mit den schlimmsten Beschimpfungen. Sie schilderte
ausführlich, wie man die von den vorangegangenen Kämpfen ermatteten
Einheiten mit überlegenen Kräften über die Grenze gedrängt und
ihnen die Möglichkeit verwehrt hatte zurückzukehren. Dies wiederum
diene den sogenannten Unbekannten Vätern als Vorwand für eine
barbarische Invasion, die man nun jede Minute erwarten müsse.
Sowohl die »Liga« als auch die »Union« hielten es dabei in fast
übereinstimmenden
Formulierungen und Phrasen für ihre Pflicht, den unverschämten
Aggressor zu warnen, dass der Gegenschlag vernichtend sein werde,
und spielten vage auf gewisse Atomfallen an.
Der pandeische Rundfunk hingegen beschrieb die Lage
in ruhigen Tönen und erklärte unumwunden, dem Staat Pandea sei
jedwede Entwicklung dieses Konflikts recht. Die privaten Stationen
in Honti und Pandea unterhielten ihre Zuhörer mit fröhlicher Musik
und frivolen Quizsendungen, und die beiden Regierungssender der
Unbekannten Väter übertrugen ununterbrochen Reportagen von
Hasskundgebungen im Wechsel mit Soldatenmärschen. Sef erwischte
auch fremdsprachige Sendungen, die aber nur er verstand. So teilte
er den anderen mit, dass das Fürstentum Ondol offensichtlich noch
existiere, mehr noch - dass es seine räuberischen Angriffe auf die
Insel Hazzalg fortsetze. (Außer Sef hatte keiner im Waggon je von
diesem Fürstentum oder von der genannten Insel gehört.) Vor allem
aber konnten sie über den Empfänger die wechselseitigen,
unvorstellbar groben Beschimpfungen der Befehlshaber verschiedener
Truppenteile und -verbände mithören, die sobald wie möglich über
die zwei völlig ramponierten Eisenbahnlinien ins
Hauptaufmarschgebiet vordringen wollten.
»Wieder sind wir nicht zum Krieg bereit,
Massaraksch«, sagte Sef und schaltete das Radio aus. Damit war die
Diskussion eröffnet.
Man widersprach ihm. Nach Ansicht der meisten
rückte mit ihnen eine gewaltige Streitmacht vor, und die Hontianer
würden schnell erledigt sein. Für die Kriminellen war das
Wichtigste, die Grenze zu überschreiten: Dann sei wieder jeder sein
eigener Herr, und sie könnten jede eroberte Stadt drei Tage lang
plündern. Die Politischen, also die Entarteten, sahen die Lage
düsterer; sie erwarteten von der Zukunft nichts Gutes und erklärten
ohne Umschweife, man führe sie
zur Schlachtbank: Sie sollten mit ihrem eigenen Körper die
Atomminen auslösen, keiner von ihnen werde überleben und es sei am
allerbesten, sich in Frontnähe gut zu verstecken, damit sie niemand
finde. Die Standpunkte der Streitenden waren so gegensätzlich, dass
kein echtes Gespräch zustande kam und der Disput bald in den immer
gleichen Beschimpfungen über die gemeinen Schweine endete, die
ihnen schon den zweiten Tag nichts zu fressen gegeben und den ihnen
zugeteilten Schnaps selbst gesoffen hatten. Darüber würden die
Soldaten der Strafeinheit nun die ganze Nacht schimpfen, so dass
sich Sef und Maxim von der Menge entfernten und sich auf ihre
Pritschen legten, die aus ungehobelten Brettern schief
zusammengenagelt waren.
Sef war hungrig und wütend, er wollte schlafen,
aber Maxim hinderte ihn daran. »Schlafen kannst du später«, sagte
er streng. »Morgen sind wir vielleicht schon an der Front, und bis
jetzt haben wir noch über nichts gesprochen.« Sef brummte in seinen
Bart, dass es nichts zu bereden gäbe, der Morgen sei klüger als der
Abend. Maxim habe doch selbst Augen im Kopf und müsse sehen, in
welcher Lage sie sich befänden - mit diesen Kerlen sei unmöglich
etwas anzufangen. Maxim wandte ein, davon sei vorerst auch keine
Rede, doch habe er immer noch nicht begriffen, weshalb dieser Krieg
angezettelt worden sei und wem er nütze, und Sef solle doch bitte
schön nicht schlafen, wenn man sich mit ihm unterhalte, sondern
seine Meinung äußern.
Sef jedoch hatte dazu keine Lust. Wie käme er denn
dazu? Er müsse sehr dringend etwas fressen und hätte es wohl mit
einem Milchbart zu tun, der nicht die einfachsten Schlüsse ziehen
könne und noch dazu auf Revolution aus sei. Dann knurrte er, gähnte
und kratzte sich, wickelte seine Fußlappen neu, schimpfte wieder,
und wurde dann - ermuntert, angespornt und getrieben - endlich
gesprächig und legte Mak seine Auffassung über die Gründe des
Krieges dar.
Seiner Meinung nach gab es mindestens drei, wobei
diese sich entweder zu gleichen Teilen auswirkten, oder einer die
anderen dominierte. Womöglich existierte sogar noch ein vierter,
der aber ihm, Sef, bisher nicht eingefallen sei. In erster Linie
ginge es um die Ökonomie, denn jeder wisse: Ist die Wirtschaft
räudig, fängt man am besten einen Krieg an, um allen auf einmal das
Maul zu stopfen. Wildschwein, der den Einfluss der Ökonomie auf die
Politik von vorne bis hinten studiert hatte, habe diesen Krieg
schon vor fünf Jahren vorausgesagt. Die Türme seien das eine -
Mangel etwas ganz anderes: Einem Hungrigen könne man nicht lange
einreden, er sei satt; das verkrafte seine Psyche nicht. Und ein
verrücktes Volk zu regieren mache wenig Spaß, zumal Verrückte
unempfänglich seien gegen die Strahlung. Der zweite mögliche Grund
sei ideologischer Natur. Die Staatsideologie im Land der Väter fuße
auf einer äußeren Bedrohung. Anfangs sei das einfach nur eine Lüge
gewesen, um Disziplin in die Nachkriegs-Anarchie zu bringen. Dann
aber hätten sich diejenigen von der Macht zurückgezogen, die diese
Lüge erfunden hatten, ihre Nachfolger aber glaubten nun
tatsächlich, Honti wolle ihre Reichtümer plündern. Und wenn man
bedenke, dass Honti eine ehemalige Provinz des alten Reiches sei,
die sich in schweren Zeiten für unabhängig erklärt hatte, kämen
noch kolonialistische Aspekte hinzu: die Dreckskerle wieder zurück
ins Reich zu holen und sie vorher hart zu bestrafen. Und
schließlich sei noch ein innenpolitischer Grund denkbar. Es gebe
schon viele Jahre Streit zwischen dem Departement für
Volksgesundheit und den Militärs. Im Prinzip ginge es darum, wer
wen schlucke. Das Volksgesundheitsdepartement sei eine
unersättliche, ja, unheimliche Organisation. Wenn sich die
Kriegshandlungen nun aber einigermaßen erfolgreich entwickelten,
könnten die Herren Generale diesen Verein mühelos an die Kandare
nehmen. Käme bei dem Krieg jedoch nichts Gescheites heraus,
gerieten die Generale unter Druck. Insofern könne
man letztlich auch nicht ausschließen, dass dieser ganze Krieg
eine ausgeklügelte Provokation des Departements für Volksgesundheit
sei. Übrigens sähe es sowieso danach aus - wenn man von dem
Durcheinander ausgehe, das hier überall herrsche, und auch davon,
dass sie schon seit einer Woche alles Mögliche in die Welt
hinaustrompeteten, die Kämpfe aber, wie sich zeigte, noch nicht
einmal begonnen hatten. Vielleicht, Massaraksch, auch gar nicht
beginnen würden.
Als Sef an diesem Punkt angelangt war, polterten
und ruckten die Puffer, und der Wagen erzitterte. Von draußen waren
Schreie, Pfiffe und Hufgetrappel zu hören, und dann setzte sich der
Zug mit der Panzer-Strafbrigade in Bewegung. »Und wieder gab’s kein
Fressen, keinen Schnaps …«, grölten die Kriminellen.
»Gut«, setzte Maxim das Gespräch fort. »Das klingt
alles sehr glaubhaft. Aber wie stellst du dir den Verlauf des
Krieges vor, wenn er nun doch beginnt? Was passiert dann?«
Sef raunzte aggressiv, er sei ja wohl kein General,
erklärte dann aber trotzdem, wie sich die Dinge für ihn
darstellten: »Den Hontianern ist es gelungen, sich in der kurzen
Atempause zwischen Welt- und Bürgerkrieg durch einen mächtigen
Atomminengürtel gegen ihre einstige Kolonialmacht abzugrenzen.
Außerdem verfügen sie zweifellos über Atomartillerie, und ihre
Machthaber waren klug genug, diese Reichtümer nicht während des
Bürgerkriegs zu verpulvern, sondern für uns aufzusparen. Demzufolge
wird sich unsere Invasion etwa folgendermaßen abspielen: An die
Spitze des Marsches stellen sie drei oder vier Strafbrigaden der
Panzertruppen, lassen reguläre Armee-Einheiten nachdrängen, und
hinter den Armisten folgen die Sperrabteilungen der Gardisten mit
schweren Panzern, auf denen Emitter installiert sind. Entartete wie
ich stürmen vorwärts, um den Strahlenschlägen zu entgehen; die
Kriminellen und die Armee drängen in der ihnen suggerierten
Kampfbegeisterung nach
vorne. Abweichler von dieser Norm, und die wird es zweifellos
geben, fallen im Feuer der Mistkerle von der Garde. Wenn die
Hontianer keine Idioten sind, werden sie aus weitreichenden
Geschützen die Sperreinheiten beschießen. Doch man muss wohl eher
davon ausgehen, dass sie Idioten sind und daher damit beschäftigt
sein werden, sich gegenseitig umzubringen: Die Liga stürzt sich in
den Kriegswirren auf die Union, und die Union geht der Liga an die
Gurgel. Inzwischen aber dringen unsere tapferen Heere tief in das
feindliche Gebiet ein. Und dann, Mak, beginnt das
Allerinteressanteste, das du und ich aber leider nicht mehr erleben
werden: Unser glorreicher Panzerstrom beginnt, sich über das Land
zu verteilen, verliert dabei seine Geschlossenheit und verlässt
unausweichlich den Wirkungsbereich der Emitter. Wenn du, was Gai
betrifft, die Wahrheit gesagt hast, dann kriegen diese
›versprengten Soldaten‹ unverzüglich ihren Strahlen-Katzenjammer,
der umso stärker sein wird, als die Gardisten während des
Durchbruchs nach Honti sicher nicht mit Strahlenstößen sparen
werden, um die Soldaten kräftig anzutreiben … Massaraksch!«, rief
Sef. »Ich sehe geradezu, wie sich diese Kretins aus den Panzern
herauswinden, zu Boden sinken und darum bitten, sie zu erschießen.
Und die guten Hontianer, erst recht ihre Soldaten, durch den Krieg
vollkommen verroht, werden es ihnen kaum abschlagen … Das wird ein
beispielloses Blutbad, Mak!«
Der Zug fuhr jetzt schneller, der Waggon schaukelte
heftig. In der Ecke gegenüber saßen die Kriminellen über einem
Würfelspiel; die Lampe unter der Decke schlenkerte, und auf einer
der unteren Schlafpritschen brabbelte jemand monoton -
wahrscheinlich betete er.
Es stank nach Schweiß, Schmutz und Latrine, der
Tabakrauch brannte in den Augen.
»Ich denke, dass man das im Generalstab
berücksichtigt«, fuhr Sef fort, »und deshalb wird es keine
forcierten Angriffe
geben. Es wird ein träger Stellungskrieg. Aber bei all ihrer
Dummheit werden die Hontianer irgendwann begreifen, was los ist,
und Jagd auf die Emitter machen … Nein, ich weiß auch nicht, was
wird«, schloss er. »Ich weiß nicht mal, ob sie uns morgen früh zu
fressen geben. Fürchte, sie geben uns wieder nichts, weshalb
sollten sie auch …«
Sie schwiegen. Dann fragte Maxim: »Bist du sicher,
dass wir richtig handeln? Dass hier unser Platz ist?«
»Befehl vom Stab«, knurrte Sef. »Befehl, schön und
gut«, wandte Maxim ein, »aber wir haben auch Köpfe auf den
Schultern. Möglicherweise wäre es richtiger gewesen, mit
Wildschwein zusammen abzuhauen. Vielleicht wären wir in der
Hauptstadt nützlicher.«
»Vielleicht«, murmelte Sef. »Vielleicht auch nicht.
Du hast doch gehört, Wildschwein rechnet mit Atombombenabwürfen.
Dabei werden viele Türme fallen und freie Regionen entstehen. Wenn
es aber nicht zu Bombardements kommt? Keiner weiß Genaues, Mak. Ich
kann mir gut vorstellen, was für ein Durcheinander jetzt im Stab
herrscht. Die Rechten wittern Morgenluft: Jeden Moment können in
der Regierung Köpfe rollen, und dann wird dieses ganze Gesindel auf
die frei gewordenen Plätze drängen.« Er versank in Gedanken, zauste
sich den Bart. »Wildschwein hat von Atombomben gefaselt, aber ich
glaube, er ist nicht ihretwegen in der Hauptstadt. Ich kenne ihn,
er will diesen Elitaristen schon lange an den Kragen. Gut möglich,
dass auch im Stab die Köpfe rollen.«
»Auch dort geht es also drunter und drüber«, sagte
Maxim langsam. »Auch sie sind nicht vorbereitet.«
»Wie könnten sie?«, erwiderte Sef. »Die einen
träumen davon, die Türme zu vernichten, andere wollen sie behalten.
Der Untergrund ist keine politische Partei - ein Mischmasch ist
das, Salat mit Seepilzen!«
»Ja, ich weiß«, sagte Maxim, »ein einziger Salat
…«
Der Untergrund war nicht nur keine Partei, er war
nicht einmal ein Bündnis von Parteien. Die Umstände hatten den Stab
in zwei unversöhnliche Lager gespalten: in die absoluten Gegner der
Türme und in die absoluten Befürworter. Alle diese Leute standen
mehr oder weniger in Opposition zur bestehenden Ordnung, aber,
Massaraksch, wie unterschiedlich waren ihre Beweggründe!
Da gab es die Biologisten, denen es völlig gleich
war, wer sich an der Macht befand - der Papa; der Spross einer
Familie großer Geldleute; der Anführer eines Clans von Bankiers und
Industriellen oder eine demokratische Union der Werktätigen. Sie
wollten allein, dass die verfluchten Türme verschwänden und sie
endlich wieder wie Menschen leben könnten, das heißt, wie früher,
in der Vorkriegszeit. Dann gab es die Aristokraten - Überreste der
privilegierten Klassen des alten Reichs. Sie bildeten sich immer
noch ein, es läge hier ein langanhaltendes Missverständnis vor, und
das Volk sei dem legitimen Erben des Kaiserthrons - einem
trostlosen, groben Kerl, der soff und an Nasenbluten litt - bis
heute treu. Nur diese gemeinen Türme, eine verbrecherische
Erfindung von eidbrüchigen Professoren der Kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften, hinderten das gute, einfache Volk daran, seine
aufrichtige Ergebenheit für den legitimen Herrscher zum Ausdruck zu
bringen. Und dann gab es noch die Revolutionäre, die ebenfalls für
die bedingungslose Zerstörung der Türme eintraten - hiesige
Kommunisten und Sozialisten, wie zum Beispiel Wildschein. Sie waren
in der Theorie beschlagen und von den Klassenkämpfen der
Vorkriegszeit kampfgestählt; für sie war die Zerstörung der Türme
nur eine notwendige Voraussetzung für die Rückkehr zum natürlichen
Verlauf der Geschichte, das Fanal für eine Reihe von Revolutionen,
an deren Ende eine gerechte Gesellschaftsordnung stehen sollte.
Ihnen hatten sich auch die aufrührerisch gestimmten Intellektuellen
wie Sef oder der tote Gel Ketschef
angeschlossen - ehrliche Menschen, die das System der Türme für
widerwärtig und gefährlich hielten und glaubten, es werde die
Menschheit in eine Sackgasse führen.
Zum anderen Lager des Untergrunds zählten die
Elitaristen, die Liberalen und die Aufklärer. Sie alle waren für
die Beibehaltung der Türme. Die Elitaristen - der äußerste rechte
Flügel des Untergrunds - waren, wie Sef es ausdrückte, eine Bande
von Machtgierigen, die es in die Regierung drängte und dabei bisher
keinen Erfolg gehabt hatten: Ein gewisser Kalu der Spitzbube,
früher ein prominenter Führer dieser faschistischen Gruppierung,
hatte es mittlerweile bis ins Departement für Propaganda geschafft.
Die Politbanditen waren bereit, mit aller Gewalt und ohne Bedenken
bei der Wahl ihrer Mittel gegen jede Regierung zu kämpfen, der sie
nicht selbst angehörten. Die Liberalen waren eigentlich gegen die
Türme und gegen die Unbekannten Väter; am meisten jedoch fürchteten
sie einen Bürgerkrieg. Sie waren patriotisch, sorgten sich um Ruhm
und Macht des Staates und befürchteten daher, die Vernichtung der
Türme werde ins Chaos führen, zur Schändung der Heiligtümer und zum
irreparablen Zerfall der Nation. Was nun die Aufklärer anging, so
waren das zweifellos ehrliche, aufrichtige und kluge Leute. Sie
hassten die Tyrannei der Unbekannten Väter, waren kategorisch gegen
die Verwendung der Türme zum Betrug an den Massen, hielten sie aber
für ein machtvolles Werkzeug zur Erziehung des Volkes. Der heutige
Mensch sei von Natur aus ein Wilder, sagten sie, ein Tier. Ihn mit
klassischen Methoden zu erziehen, würde viele Jahrhunderte dauern.
Ziel der Aufklärer war es daher, das Tier im Menschen auszubrennen,
seine animalischen Instinkte abzutöten, ihn das Gute und die
Nächstenliebe zu lehren und ihm den Hass auf Unwissenheit, Lüge und
Gleichgültigkeit einzuflößen. Diese edle Aufgabe, so die Aufklärer,
könne man mit Hilfe der Türme im Laufe einer einzigen Generation
bewältigen.
Kommunisten gab es nur wenige - fast alle waren im
Krieg oder während des Umsturzes umgebracht worden. Die
Aristokraten nahm niemand ernst; die Liberalen wiederum waren zu
passiv und wussten oft selbst nicht, was sie wollten. Die
einflussreichsten Gruppierungen mit den meisten Anhängern stellten
daher die Biologisten, die Elitaristen und die Aufklärer dar. Sie
hatten allerdings nahezu nichts gemeinsam. So bestand der
Untergrund aus den unterschiedlichsten Gruppierungen, die zwar
allesamt für parlamentarische Regierungsformen eintraten, aber
weder über ein einheitliches Programm noch über eine einheitliche
Führung, eine einheitliche Strategie oder Taktik verfügten.
»Ja, ein Salat«, wiederholte Maxim. »Traurig. Ich
hatte gehofft, ihr würdet trotz allem den Krieg irgendwie nutzen -
die Schwierigkeiten, die mögliche revolutionäre Situation.«
»Der Untergrund hat doch überhaupt keine Ahnung.«
Sefs Gesicht wurde finster. »Woher soll der Untergrund denn wissen,
was das bedeutet - Krieg mit Emittern im Nacken?«
»Keinen Heller seid ihr wert!« Maxim konnte sich
nicht mehr beherrschen.
Jetzt brauste auch Sef auf. »He, du!«, schimpfte
er. »Mal sachte, ja! Wer bist du denn, dass du unseren Wert
bestimmen dürftest? Woher kommst du, Massaraksch, dass du dieses
und jenes von uns forderst? Du willst einen Kampfauftrag? Bitte
sehr: Alles sehen, überleben, zurückkehren, Bericht erstatten. Das
erscheint dir zu einfach? Wunderbar. Umso besser für uns. Und jetzt
Schluss damit. Ich will schlafen.«
Er drehte Maxim den Rücken zu und herrschte
plötzlich die Würfelspieler an: »He, ihr Totengräber!
Schlafenszeit! Los, auf die Pritschen!«
Maxim legte sich auf den Rücken, schob die Hände
unter den Kopf und starrte an die niedrige Decke des Waggons; dort
kroch irgendetwas. Leise und böse beschimpften sich die
»Totengräber«,
die jetzt schlafen gingen. Der Nachbar zur Linken stöhnte und
winselte im Schlaf. Er war todgeweiht und schlief wohl zum letzten
Mal in seinem Leben. Auch alle anderen, die da schnarchten,
schnauften und sich hin und her wälzten, verbrachten vermutlich
ihre allerletzte Nacht. Die Welt war fahlgelb, stickig und
hoffnungslos. Die Räder polterten, die Lokomotive heulte,
Brandgeruch drang durch das kleine, vergitterte Fenster, und
dahinter glitt ein trostloses Land ohne Hoffnung dahin, ein Land
von Sklaven, Verdammten und von wandelnden Marionetten.
Alles hier ist morsch, dachte Maxim. Kein einziger
lebendiger Mensch. Kein klarer Kopf. Wieder bin ich reingefallen,
weil ich auf jemanden, auf irgendetwas gebaut habe. Hier darf man
auf nichts hoffen. Auf keinen Menschen sich verlassen. Nur auf sich
selbst. Doch was bin ich allein? Soweit ich die Geschichte kenne,
kann einer allein absolut nichts erreichen. Vielleicht hat
Hexenmeister Recht? Vielleicht sollte ich mich raushalten? Ruhig
und ohne Gefühl, von der Höhe meines Wissens um die unausbleibliche
Zukunft zusehen, wie es siedet, brodelt und zerschmilzt. Wie sich
die naiven, linkischen, ungeschickten Kämpfer erheben, um kurz
danach zu fallen. Beobachten, wie der Krieg sie zu Damaszener
Klingen schmiedet und zur Härtung in Ströme blutigen Drecks taucht.
Zusehen, wie es Leichen auf die Schmiedeschlacke hagelt? Nein, ich
kann das nicht. Schon in solchen Kategorien zu denken, ist
widerwärtig. Grauenhafte Sache - dieses festgefügte Gleichgewicht
der Kräfte. Aber Hexenmeister hat auch gesagt, ich sei stark, eine
Kraft in diesem Gleichgewicht. Und da es einen konkreten Feind
gibt, findet diese Kraft jetzt ihren Angriffspunkt … Nein, die
werden mich hier plattmachen, durchfuhr es ihn plötzlich. Bestimmt.
Aber nicht morgen!, sagte er sich entschieden. Erst, wenn ich als
Kraft in Erscheinung getreten bin, nicht vorher. Und auch das
wollen wir erst mal sehen. Das Zentrum, dachte er, die Zentrale.
Die
muss man suchen, darauf die Organisation lenken. Und ich werde es
tun. Ich werde ihnen beibringen, sich mit den wichtigen Dingen zu
befassen. Auch dir, mein Freund, bringe ich das bei. Wie er
schnarcht. Schnarch nur, schnarch, morgen hole ich dich hier raus.
Aber Schluss jetzt, ich muss schlafen. Wann werde ich endlich
wieder wie ein Mensch schlafen? In einem schönen großen Zimmer, auf
frischen Laken. Was ist das hier für eine Sitte, so häufig ein und
dasselbe Laken zu benutzen? Ja, ein frisches Laken, und vor dem
Einschlafen ein gutes Buch lesen, dann die Trennwand zum Garten
aufschieben, das Licht löschen. Am Morgen mit Vater frühstücken und
ihm von diesem Waggon erzählen. Mama darf davon natürlich nichts
hören. Mama, denk dran, ich lebe. Alles in Ordnung, auch morgen
wird mir nichts passieren. Und der Zug fährt und fährt, hat schon
lange nicht gehalten. Offenbar ist jetzt doch irgendwem irgendwo
klargeworden, dass ohne uns der Krieg nicht anfängt. Wie mag es
wohl Gai gehen, in seinem Korporalswagen? Wahrscheinlich elend,
dort sind ja alle ganz kriegsbegeistert. An Rada habe ich lange
nicht gedacht. Ich werde jetzt an Rada denken. Nein. Jetzt ist
nicht die Zeit dafür. Gut, Maxim, mein Freund, armes Kanonenfutter,
schlaf jetzt. Er erteilte sich diesen Befehl und schlief auf der
Stelle ein.
Im Traum sah er die Sonne, den Mond, die Sterne.
Alle auf einmal, so ein seltsamer Traum war das.
Ihm war nur kurze Ruhe vergönnt. Der Zug hielt,
quietschend rollte die schwere Tür zur Seite, und eine kräftige
Stimme schnauzte: »Vierte Kompanie, raustreten!« Die Uhr zeigte
fünf Uhr morgens, es tagte, war neblig, feiner Regen sprühte.
Krampfhaft gähnend und von Kälteschauern geschüttelt, kletterten
die Männer der Strafbrigade träge aus dem Waggon. Die Korporale
standen schon bereit. Ungeduldig und wütend packten sie die Männer
an den Beinen, zerrten sie auf
den Boden, brieten den besonders phlegmatischen eins über und
brüllten: »Abteilungsweise antreten! … Wohin willst du, du Vieh?
Aus welchem Zug …? He, du mit der Fresse, wie oft soll man’s dir
noch sagen …? Was ist denn mit euch da? Lausige Bande!«
Irgendwie fanden die Abteilungen dann zusammen und
nahmen vor den Waggons Aufstellung. Ein armes Würstchen, das sich
im Nebel verirrt hatte, lief umher und suchte seinen Zug - von
allen Seiten schrie man auf ihn ein. Und Sef, unausgeschlafen und
schlecht gelaunt, krächzte mürrisch, aber vernehmlich: »Nur zu, nur
zu, stellt uns auf, wir fechten euch heute richtig was aus!« Ein
Korporal, der gerade vorbeilief, versetzte ihm eine Ohrfeige,
woraufhin Maxim seinen Fuß vorstreckte - und schon lag der Korporal
im Dreck. Die Männer lachten laut und voller Genugtuung los.
»Brigade, stillgestanden!«, brüllte ein Unsichtbarer. Mit sich
überschlagenden Stimmen trugen die Bataillonskommandeure das
Kommando weiter. Dann griffen es die Kompaniechefs auf. Die
Zugführer aber hasteten immerzu hin und her, denn keiner stand
still: Die Strafsoldaten hatten die Hände in die Ärmel gesteckt,
waren vor Kälte ganz in sich zusammengekrochen und tänzelten auf
der Stelle, und die Glücklichen, die mit Reichtümern gesegnet
waren, rauchten. In den Reihen wurde gemunkelt, dass man ihnen
heute bestimmt wieder nichts zu fressen gebe und sie sich doch
einfach zum Teufel scheren sollten mit ihrem Krieg. »Brigade, rührt
euch!«, schrie nun Sef laut. »Zur Pause wegtreten!« Die
Mannschaften wollten schon auseinanderlaufen, als die Korporale
abermals hin und her hetzten, und man auf einmal glänzende schwarze
Mäntel sah: An den Waggons entlang kamen Gardisten gerannt, in
auseinandergezogener Reihe, die Maschinenpistolen im Anschlag.
Erschrockenes Schweigen folgte, die Mannschaften nahmen hastig
Aufstellung, richteten sich aus. Jemand von den Strafsoldaten
faltete nach alter Gewohnheit
sogar die Hände hinter dem Kopf und stellte sich breitbeinig
hin.
Eine eiserne Stimme tönte leise, aber gut
vernehmbar aus dem Nebel: »Wenn einer von euch Saukerlen das Maul
aufreißt, wird geschossen.« Alle erstarrten. Die Minuten zogen
sich, schleppten sich dahin, voller Anspannung und böser Erwartung.
Der Dunst lichtete sich nun etwas, ließ ein schäbiges
Bahnhofsgebäude, feuchte Schienen und Telegrafenmasten erkennen.
Rechts, vor der Front der Brigade, hob sich dunkel eine kleine
Gruppe von Männern ab. Sie sprachen leise miteinander, dann bellte
jemand gereizt: »Befehl ausführen!«
Maxim schielte nach hinten. Dort standen reglos die
Gardisten, starrten misstrauisch und hasserfüllt unter ihren
Kapuzen hervor.
Aus dem Grüppchen löste sich eine plumpe Figur im
Tarnanzug. Es war der Befehlshaber der Strafbrigade, Ex-Oberst der
Panzertruppen Anipsu, degradiert und in Haft genommen wegen
Schwarzhandels mit staatlichem Kraftstoff.
Er stellte sich vor die Soldaten, fuchtelte mit
seinem Stock, riss den Kopf herum und begann seine Rede: »Soldaten!
Nein - ich habe mich nicht versprochen: Ich wende mich an euch als
Soldaten, obwohl wir alle - ich inbegriffen - noch immer den
Abschaum der Gesellschaft bilden. Seid dankbar, dass man euch
erlaubt, an den heutigen Kämpfen teilzunehmen. In einigen Stunden
werdet ihr fast alle krepiert sein, und das ist gut so. Diejenigen
aber, die davonkommen, erwartet ein herrliches Leben: Verpflegung
nach Soldatensatz, Schnaps und so weiter. Gleich werden wir
Stellung beziehen, und ihr steigt in eure Fahrzeuge. Verlangt wird
eine Kleinigkeit - etwa hundertfünfzig Kilometer auf den Ketten
vorzudringen. Zu Panzerschützen taugt ihr wie Flaschen zum Hammer,
das wisst ihr selbst, aber dafür ist alles, was ihr bekommt, euer.
Nehmt es. Das sage ich euch, euer Kampfgefährte Anipsu. Einen Weg
zurück gibt es nicht, nur einen
nach vorn. Weicht einer zurück, vernichte ich ihn auf der Stelle.
Das betrifft vor allem die Fahrer. Es gibt keine Fragen. Brigade!
Rechts - um! Nach vorn - aufschließen! … He, ihr Stöcke, ihr
Tausendfüßler! Aufschließen war befohlen! Korporale, Massaraksch!
Wo guckt ihr denn hin? Eine Herde ist das … Zu Viererreihen ordnen!
Korporale, ordnet diese Schweine in Viererreihen! Massaraksch
…«
Mit Hilfe der Gardisten gelang es den Korporalen,
die Brigade zu einem Marschblock zu formieren. Wieder erscholl das
Kommando »Stillgestanden!«. Maxim stand nun dicht beim
Brigadekommandeur. Der Ex-Oberst war vollkommen betrunken. Auf
seinen Stock gestützt, schwankte er hin und her, wackelte mit dem
Kopf und wischte sich immer wieder mit der Faust über seine brutale
Visage. Die Bataillonskommandeure, ebenfalls völlig betrunken,
hielten sich hinter seinem Rücken - einer kicherte wie blöde, ein
anderer versuchte mit stumpfsinniger Hartnäckigkeit, sich eine
Zigarette anzustecken, und der dritte griff immerzu nach seiner
Pistolentasche und stierte mit blutunterlaufenen Augen in die
Reihen. In der Kolonne schnupperte man neidisch dem Geruch des
Alkohols hinterher, beifällige Bemerkungen wurden laut. »Los, los
…«, knurrte Sef. »Wir fechten’s euch schon aus.« Ärgerlich boxte
Maxim ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Halt den Mund«, presste er durch die Zähne. »Es
reicht jetzt.«
Unterdessen traten zwei Männer auf den Oberst zu -
ein Rittmeister mit Pfeife im Mund und ein massiger Ziviler, in Hut
und langem Mantel, den Kragen hochgeschlagen. Der Zivilist kam
Maxim irgendwie bekannt vor, und er musterte ihn genauer. Gerade
sagte der Mann etwas halblaut zum Oberst. »Hä?«, fragte der und sah
den Dicken mit trübem Blick an. Wieder sagte der Zivilist etwas und
wies mit dem Daumen über die Schulter auf die Strafbrigade. Der
Rittmeister paffte derweil gleichgültig seine Pfeife. »Wozu das?«,
bellte der
Oberst. Der Zivilist holte ein Schreiben hervor, aber der Oberst
schob es mit einer Handbewegung weg. »Geb ich nicht raus«, murrte
er. »Alle hier müssen krepieren wie ein Mann.« Der Dicke ließ nicht
locker. »Darauf pfeif ich!«, schrie der Oberst. »Auch auf euer
Departement pfeif ich. Alle werden krepieren. Hab ich Recht?«,
fragte er den Rittmeister, der ihm nicht widersprach. Da packte der
Zivilist den Oberst am Uniformärmel und zog ihn zu sich heran;
dabei plumpste dieser mitsamt seinem Stock beinahe in den Dreck.
Der kichernde Bataillonskommandeur lachte daraufhin laut und blöde
los. Das Gesicht des Obersten verfärbte sich dunkel; zornig griff
er in seine Pistolentasche und zerrte eine große Armeepistole
hervor. »Ich zähle bis zehn!«, schrie er den Zivilisten an. »Eins …
zwei …« Der Dicke spuckte aus und schritt an der Kolonne vorbei
davon; den Männern blickte er dabei ins Gesicht. Der Oberst jedoch
zählte weiter, und als er bei zehn angelangt war, eröffnete er das
Feuer. Da endlich wachte der Rittmeister auf und überredete den
Oberst, seine Waffe wegzustecken. »Alle müssen krepieren«, schrie
der Oberst. »Zusammen mit mir … Brigade! Hört auf mein Kommando! Im
Gleichschritt - marsch!«
Und die Brigade setzte sich in Bewegung. In einer
aufgeweichten, kettenzerfahrenen Spur stiegen die Strafsoldaten
rutschend und sich aneinander festhaltend zu einem morastigen
Talweg hinab. Sie bogen ein und entfernten sich allmählich von der
Bahnlinie; dann stießen die Zugführer hinzu. Gai ging neben Mak. Er
war blass und schwieg lange, obwohl Sef ihn sofort gefragt hatte,
was man so höre. Der Talweg wurde allmählich breiter, Strauchwerk
zeichnete sich ab, dann ein Wäldchen. Am Wegrand stand, die Ketten
in den Schlamm gewühlt, ein riesiger, klobiger Panzer: uraltes
Modell, völlig anders als die Patrouillenpanzer des Küstenschutzes,
mit kleinem quadratischem Turm und winziger Kanone. Neben ihm
hantierten düster dreinschauende Männer in ölverschmierten
Jacken. Die Strafsoldaten trotteten ungeordnet vorwärts, hatten
ihre Hände in den Taschen und die steifen Kragen hochgeschlagen.
Viele schielten verstohlen zur Seite - gab es keine Möglichkeit zu
verschwinden? Die Büsche waren verlockend, aber auf den Hängen über
dem Talweg wachten alle zwei-, dreihundert Schritt die schwarzen
Gardisten mit ihren Maschinenpistolen. Von vorne schoben sich durch
große Pfützen drei Tankwagen heran. Ihre Fahrer blickten finster
drein und würdigten die Strafsoldaten keines Blickes. Der Regen
nahm zu, die Stimmung verschlechterte sich. Sie gingen schweigend
weiter, gefügig wie Vieh, und blickten immer seltener um
sich.
»Hör mal, Zugführer«, murmelte Sef, »gibt man uns
wirklich nichts zu fressen?«
Gai holte einen Brotkanten aus der Tasche und
drückte ihn Sef in die Hand.
»Das ist alles«, sagte er. »Bis zum Grabe.«
Sef ließ das Brot in seinem Bart verschwinden, und
sofort begannen seine Kiefer zu mahlen. Ein Wahnsinn ist das,
dachte Maxim. Alle wissen, dass sie in den sicheren Tod gehen, und
trotzdem gehen sie. Heißt das, sie hoffen noch auf etwas? Hat
vielleicht jeder einen Plan? Aber nein, sie wissen ja nichts von
der Strahlung … Jeder denkt, irgendwo da vorne biege ich ab,
springe aus dem Panzer und werfe mich auf die Erde, sollen doch die
anderen Idioten vorstürmen. Und was die Strahlung betrifft, so
müsste man Flugblätter schreiben, es auf öffentlichen Plätzen
hinausschreien, es über den Rundfunk verbreiten. Freilich laufen
die Radios nur auf zwei Frequenzen - egal, dann nutzen wir eben die
Sendepausen. Überhaupt sollte man die Leute nicht mehr gegen die
Türme einsetzen, sondern für die Konterpropaganda. Aber das kommt
alles noch, später … Jetzt darf ich mich nicht ablenken lassen,
muss auf alles achten, die kleinste Spalte suchen. Am Bahnhof waren
keine Panzer und keine Kanonen, sondern nur die
Schützen der Garde. Das habe ich zu bedenken. Der Talweg ist
erfreulich tief, und die Bewachung zieht man bestimmt ab, sobald
wir durch sind. Doch nein, die Wachen haben damit gar nichts zu tun
- sobald die Emitter eingeschaltet sind, werden alle
vorwärtsstürmen. Deutlich sah er das Bild vor sich, wie die Emitter
sich in die Reihen bohrten und die Panzer der Strafsoldaten
aufheulend voranstürzten. Ihnen nach strömten Scharen von Armisten
… Sie werden den gesamten Frontstreifen bestrahlen, dachte er. Die
Tiefe dieses Streifens lässt sich schwer bestimmen, der
Wirkungsradius der Emitter ist ja nicht bekannt. Zwei, drei
Kilometer dürften es sein. Auf einer Breite von zwei oder drei
Kilometern bleibt also kein einziger Mensch mit klarem Kopf. Außer
mir. Nein, es sind nicht nur zwei, drei Kilometer. Es sind mehr.
Sämtliche stationären Anlagen, die Türme - alles werden sie
einschalten, und das auf maximale Leistung. Der ganze Grenzbezirk
verliert den Verstand. Massaraksch, was mache ich nur mit Sef, der
hält das doch nicht aus. Maxim sah zu ihm hinüber; der Bart des
weltberühmten Arztes bewegte sich gemächlich, er kaute noch immer
den Brotkanten … Macht nichts, Sef wird es aushalten.
Schlimmstenfalls muss ich ihm helfen, obwohl ich fürchte, dass
dafür keine Zeit bleibt. Dazu noch Gai - ihn darf ich überhaupt
nicht aus den Augen lassen. Ich muss mich anstrengen. Aber was
soll’s. Letzten Endes werde ich in diesem trüben Chaos sowieso der
Anführer sein, und niemand wird mich aufhalten können, es auch
nicht wollen …
Sie ließen das Wäldchen hinter sich und hörten auf
einmal ununterbrochenes Lautsprechergemurmel, das Knattern von
Auspuffen und Gezeter. Auf einem nach Norden hin sanft
ansteigenden, grasbewachsenen Hang standen drei Reihen Panzer.
Zwischen ihnen patrouillierten Soldaten, ballten sich graublau die
Abgaswolken.
»Da sind ja unsere Särge!«, rief jemand in den
vorderen Reihen laut und fröhlich.
»Sieh dir an, was sie uns geben«, sagte Gai.
»Vorkriegspanzer, Reichsplunder, Konservenbüchsen. Hör mal, Mak,
müssen wir wirklich hier verrecken? Denn das ist der sichere
Tod.«
»Wie weit ist es von hier bis zur Grenze?«, fragte
Maxim. »Und was ist überhaupt hinter dem Hügel?«
»Eine Ebene«, antwortete Gai. »Flach wie ein Tisch.
Etwa drei Kilometer entfernt liegt die Grenze, dahinter wieder
Hügel, sie ziehen sich.«
»Kein Fluss?«
»Nein.«
»Schluchten?«
»N-nein, ich erinnere mich nicht. Weshalb?«
Maxim griff nach seiner Hand und drückte sie
fest.
»Verlier nicht den Mut, Gai. Alles wird gut.«
Voll verzweifelter Hoffnung blickte ihn Gai an.
Seine Augen waren eingesunken, die Jochbeine traten hervor. »Meinst
du wirklich?«, flüsterte er. »Ich sehe allerdings keinen Ausweg.
Die Waffe haben sie mir weggenommen, in den Panzern sind nur
Übungsgranaten, und die Maschinengewehre fehlen. Vor uns liegt der
Tod und hinter uns auch.«
»Aha«, bemerkte Sef hämisch und stocherte in seinen
Zähnen. »Machst dir wohl in die Hosen? Das ist was anderes, als
Sträflingen aufs Maul zu schlagen.«
Die Kolonne zwängte sich in eine der Lücken
zwischen den Panzerreihen und stoppte. Es wurde schwierig, sich zu
unterhalten. Direkt auf dem Boden hatte man riesige Lautsprecher
aufgestellt, aus denen ein sonorer Bass vom Tonband verkündete:
»Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind.
Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und vorwärts. Gegen
den Feind … Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der
tückische Feind. Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und
vorwärts …« Mitten im Wort brach die Stimme, und der Oberst brüllte
los. Er stand auf
dem Kühler seines Geländewagens, die Bataillonsführer hielten ihn
an den Beinen fest.
»Soldaten!«, brüllte der Oberst. »Genug die Zunge
gewetzt. Vor euch stehen die Panzer. An die Maschinen! Vor allem
die Fahrer, auf die anderen pfeif ich. Jeder aber, der zurückbleibt
…« Er holte seine Pistole hervor und zeigte sie hoch. »Klar, ihr
verlausten Schweine? Meine Herren Kompanieführer, bringen Sie die
Besatzungen zu den Panzern!«
Sie drängten durcheinander. Der Oberst, der auf dem
Kühler hin und her schwankte, grölte noch immer, war aber nicht
mehr zu hören, weil die Lautsprecher wieder vom Feind faselten, der
auf sie warte … Alle Strafsoldaten stürzten nun zur dritten
Panzerreihe, wo es zu einer Prügelei kam. Beschlagene Stiefel
wirbelten durch die Luft; die graue Menge wimmelte um die Panzer.
Einige setzten sich nun ruckelnd in Bewegung, und die Soldaten, die
noch darauf herumkletterten, stürzten hinunter. Der Oberst war vor
Anstrengung blau angelaufen und gab über die Köpfe hinweg einen
Schuss ab. Sofort liefen aus dem Wald in schwarzer Kette die
Gardisten herbei.
»Gehen wir.« Maxim nahm Gai und Sef fest bei den
Schultern und führte sie im Laufschritt zu einem Panzer am
äußersten Rand der ersten Reihe; er war voller Flecken, dunkel und
ließ das Rohr kraftlos hängen.
»Warte«, stammelte Gai verwirrt und blickte sich
um. »Wir gehören doch zur vierten Kompanie, die steht da hinten, in
der zweiten Linie.«
»Komm schon, los, komm!« Maxim wurde ärgerlich.
»Vielleicht willst du auch noch den Zug befehligen?«
»Einmal Soldat, immer Soldat«, knurrte Sef.
Plötzlich packte jemand Maxim hinten am Gürtel.
Ohne hinzusehen, versuchte er, sich wieder loszureißen, aber es
gelang ihm nicht. Er drehte sich um. Mit einer Hand an ihn
geklammert, mit der anderen die blutige Nase wischend, humpelte
das vierte Besatzungsmitglied hinter ihm her: der Fahrer, ein
Krimineller mit dem Spitznamen »Haken«.
»Ach«, sagte Maxim. »Dich hatte ich ganz vergessen.
Los, los, nicht zurückbleiben.«
Er ärgerte sich, dass er in dem ganzen
Durcheinander seinen vierten Mann vergessen hatte, dem laut Plan
eine nicht unbedeutende Rolle zukam. Doch nun knatterten die
Maschinenpistolen der Garde los, sprangen pfeifend Kugeln über die
Panzerungen. Sie duckten sich und rannten weiter. Hinter ihrem
Panzer blieben sie stehen.
»Hört auf mein Kommando!«, befahl Maxim. »Haken,
wirf den Motor an. Sef, in den Turm! Gai, überprüfe die unteren
Luken. Aber sorgsam, sonst reiß ich dir den Kopf ab!«
Er ging um den Panzer herum und untersuchte die
Ketten. In der Nähe wurde geschossen und gebrüllt, die Lautsprecher
brabbelten monoton, aber Maxim hatte den festen Vorsatz, sich durch
nichts ablenken zu lassen. Gerade schärfte er sich ein:
»Lautsprecher - Gai - nicht vergessen«. Die Ketten waren mehr oder
weniger in Ordnung, aber die Antriebsräder machten ihm Sorge. Was
soll’s, dachte er, wird schon gehen, lange will ich ja nicht mit
ihm fahren. Gai kroch geschickt unter dem Panzer hervor, schmutzig
und mit zerschundenen Händen.
»Die Luken sind eingerostet!«, rief er. »Ich habe
sie nicht zugemacht, sollen sie offen bleiben. Richtig so?«
»Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der
tückische Feind!«, mahnte die Tonbandstimme. »Nur vorwärts,
vorwärts. Hebel anziehen …«
Maxim packte Gai am Kragen und zog ihn zu sich
heran.
»Liebst du mich wie einen Bruder?«, fragte er und
blickte seinem Freund fest in die Augen. »Vertraust du mir?«
»Ja«, antwortete Gai.
»Höre nur auf mich. Gehorche sonst niemandem.
Alles, was sie sagen, ist Lüge. Ich bin dein Freund, ich allein.
Merk dir das. Ich befehle: Merk dir das.«
Gai, ganz verwirrt, nickte ein paarmal und
wiederholte leise: »Ja, ja. Ja. Nur du. Sonst niemand.«
»Mak!«, schrie ihnen jemand direkt in die
Ohren.
Maxim wandte sich um. Vor ihm stand der Zivilist im
langen Regenmantel, jetzt allerdings ohne Hut. Massaraksch …
quadratisches Gesicht, auf dem sich die Haut schälte, rote,
verquollene Augen … Fank! Eine blutige Schramme auf der Wange, die
Lippe zerschlagen …
»Massaraksch!« Fank versuchte, den Lärm zu
übertönen. »Sind Sie taub geworden, oder was? Erkennen Sie
mich?«
»Fank!«, sagte Maxim. »Woher kommen Sie
denn?«
Fank wischte sich das Blut von der Lippe.
»Verschwinden wir!«, rief er. »Schnell!«
»Wohin?«
»Fort, zum Teufel! Los!«
Er packte Maxim am Overall und zerrte ihn weg.
Maxim aber schob seine Hand zurück.
»Sie bringen uns um!«, schrie er. »Die
Gardisten!«
Fank schüttelte den Kopf. »Ich habe einen
Passierschein für Sie!« Und er ergänzte, weil Maxim sich nicht
rührte: »Ich suche Sie im ganzen Land. Habe Sie kaum gefunden.
Kommen Sie, schnell!«
»Ich bin nicht allein«, schrie Maxim.
»Ich verstehe nicht!«
»Ich bin nicht allein!«, wiederholte Maxim noch
lauter. »Wir sind zu dritt. Allein gehe ich nicht!«
»Reden Sie keinen Blödsinn! Was soll dieser
idiotische Edelmut? Sind Sie lebensmüde?« Fank schluckte, griff
sich an die Kehle, und seine Worte erstarben im Husten.
Maxim sah um sich. Gai ließ kein Auge von ihm -
bleich, mit zitternden Lippen, an seinen Ärmel geklammert; er hatte
alles gehört.
Zwei Gardisten trieben mit Kolbenhieben einen
blutbeschmierten Strafsoldaten in den Nachbarpanzer.
»Es ist ein Passierschein!« Fanks Stimme
überschlug sich. »Einer!« Er hob einen Finger.
Maxim schüttelte den Kopf.
»Wir sind zu dritt!« Er zeigte drei Finger. »Ohne
sie gehe ich nirgendwohin.«
Jetzt schob sich Sefs mächtiger Bart wie ein
Reisigbesen aus der Seitenluke. Fank fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen. Offenbar wusste er nicht, was er tun sollte.
»Wer sind Sie?«, rief Maxim. »Wozu brauchen Sie
mich?«
Fank warf ihm einen flüchtigen Blick zu und
musterte Gai. »Soll der hier mit?«, fauchte er.
»Ja. Und dieser auch!«
Fanks Augen wurden wild. Er griff unter seinen
Mantel, zog eine Pistole hervor und richtete ihren Lauf auf Gai.
Mit aller Kraft schlug Maxim seine Hand nach oben, und die Pistole
flog hoch in die Luft. Maxim, der selbst noch nicht begriffen
hatte, was geschehen war, schaute ihr verstohlen hinterher. Fank
krümmte sich und barg die verletzte Hand in seiner Achselhöhle. Und
da schlug Gai ihm, knapp und präzise, so wie er es in den Übungen
gelernt hatte, gegen den Hals, und Fank stürzte nieder, das Gesicht
nach unten. Neben ihnen standen plötzlich Gardisten, verschwitzt,
zähnefletschend und nahezu ausgezehrt von ihrer Wut.
»In den Panzer!«, herrschte Maxim Gai an, bückte
sich und packte Fank unter den Armen.
Fank war schwer und passte nur mit Mühe durch die
Luke. Als Maxim ihm hinterherkletterte, bekam er wie zum Abschied
noch einen Kolbenschlag versetzt. Im Panzer war es so kalt und
dunkel, wie in einer Gruft. Es roch intensiv nach Diesel.
Sef zerrte Fank von der Luke weg und legte ihn auf
den Fußboden. »Was ist das für einer?«, murrte er.
Bevor Maxim antworten konnte, hatte Haken, der den
Starter lange und vergeblich gequält hatte, endlich den Motor
in Gang gebracht. Alles ringsum ruckelte und dröhnte. Maxim winkte
ab, kletterte in den Turm und lehnte sich hinaus. Zwischen den
Panzern sah man jetzt nur noch Gardisten. Alle Motoren liefen, es
herrschte ein Höllenlärm, und eine stickige, dicke Abgaswolke
verdunkelte den Hang. Einige Panzer waren bereits losgefahren, da
und dort ragten Köpfe aus den Türmen. Ein Strafsoldat, der sich aus
dem benachbarten Fahrzeug beugte, machte Maxim Zeichen und verzog
dabei sein angeschwollenes Gesicht, das voller blauer Flecken war,
zu einer Grimasse. Dann verschwand er plötzlich, die Motoren
heulten mit doppelter Kraft auf, und rasselnd stürmten alle Panzer
gleichzeitig den Hang hinan.
Maxim spürte, wie er um den Leib gefasst und
hinuntergezogen wurde. Er bückte sich und sah in Gais weit
aufgerissene, irr starrende Augen - wie damals im Bomber. Gai
hängte sich an ihn, murmelte ununterbrochen vor sich hin. Sein
Gesicht war abstoßend und hatte nichts mehr von seiner
Jungenhaftigkeit, dem naiven Mut; Maxim las darin nur Wahnsinn und
die Bereitschaft zu töten. Es geht los, dachte er voll Abscheu und
versuchte, den armen Gai von sich wegzuschieben. Es geht los … Sie
haben die Emitter eingeschaltet …
Ruckelnd und vibrierend wühlte sich der Panzer zum
Kamm hinauf. Unter seinen Ketten flogen dicke Grasklumpen hervor.
Hinter ihnen war durch die dunkle Rauchwolke nichts mehr zu
erkennen; vor ihnen breitete sich eine graue lehmige Ebene aus,
schimmerten in der Ferne die flachen Hügel auf hontianischer Seite,
und die Panzerlawine rollte mit gleichbleibender Geschwindigkeit
auf sie zu. Reihen gab es nicht mehr, alle Fahrzeuge rasten um die
Wette, stießen einander an, drehten sinnlos ihre Türme. Einer der
Panzer verlor in voller Fahrt eine Kette, kreiste dann auf der
Stelle und kippte um. Nun riss auch die zweite Kette und flog wie
eine schwere, glänzende Schlange durch die Luft; die Triebräder
aber rotierten weiter. Dann sprangen aus den unteren Luken zwei
graue Gestalten heraus und liefen, die Arme schwenkend, vorwärts,
vorwärts, nur vorwärts gegen den tückischen Feind … Auf einmal
blitzte es. Durch das Rasseln und Tosen brach mit einem hellem
Knall ein Kanonenschuss, und gleich darauf feuerten auch die
anderen Panzer: Lange rote Zungen schnellten aus ihren Rohren. Dann
verharrten die Panzer auf der Stelle, stießen dichten schwarzen
Qualm aus, und eine Minute später waren sie in einer gelbschwarzen
Wolke verschwunden. Maxim schaute zu. Ihm fehlte die Kraft, den
Blick von diesem schrecklich absurden, aber grandiosen Schauspiel
abzuwenden. Dabei löste er immer wieder geduldig Gais Hände, die
ihn wie ein Schraubstock festhielten. Und Gai? Zerrte, rief,
beschwor, dürstete danach, ihn, Maxim, mit eigener Brust gegen alle
Gefahren abzuschirmen … Menschen, Marionetten, Tiere …
Menschen.
Dann besann sich Maxim. Es war an der Zeit, die
Steuerung zu übernehmen. Er ließ sich hinuntergleiten, klopfte im
Vorübergehen Gai auf die Schulter, klammerte sich an einen
Metallbügel und sah sich in dem engen, ruckelnden Kasten um. Fast
erstickte er am Gasolingestank. Jetzt entdeckte er Fanks
totenbleiches Gesicht mit den verdrehten Augen und Sef, der sich
unter dem Granatenbehälter zusammengekrümmt hatte. Er stieß Gai,
der ihn wieder bedrängte, zurück und kroch durch zum Fahrer.
Haken hatte die Hebel angezogen und gab Vollgas. Er
sang und grölte so laut, dass er das Getöse des Panzers übertönte
und Maxim sogar die Worte seines »Dankesliedes« verstehen konnte.
Maxim musste ihn jetzt irgendwie zur Ruhe bringen, seinen Platz
einnehmen und in all dem Qualm ein geeignetes Versteck finden -
einen Hohlweg, eine tiefe Furche oder einen Hügel, wo sie vor den
Atomexplosionen Deckung fänden. Aber es lief nicht nach Plan. Kaum
hatte Maxim versucht, die verkrampften Fäuste des Fahrers von den
Hebeln zu lösen, als
sich der ergebene Gai von der Seite heranschlich und Haken, der
seinem Gebieter nicht gehorcht hatte, einen gewaltigen
Schraubenschlüssel quer über die Schläfe hieb. Haken rutschte in
sich zusammen und gab die Hebel frei. Wütend schleuderte Maxim Gai
beiseite, aber es war zu spät. Es blieb keine Zeit für Entsetzen
oder Mitleid; er zerrte den Leichnam fort, setzte sich und griff
nach dem Steuer.
Durch die Kontrollluke war fast nichts zu sehen -
nur ein kleiner Ausschnitt des spärlich mit Gras bewachsenen
Lehmbodens und, weiter entfernt, ein dichter dunkler Schleier, der
von einem Brand herrührte. Unmöglich, in diesem Rauch etwas
auszumachen. Es blieb nur eins: die Geschwindigkeit zu drosseln und
so lange vorsichtig weiterzufahren, bis der Panzer die Hügel
erreichte. Aber auch das war gefährlich, denn die Atomminen konnten
auch vorher explodieren, und dann würden sie erblinden, verbrennen
… Gai drängte sich mal von rechts, mal von links an ihn heran,
schaute ihn an und lauerte auf Befehle.
»Macht nichts, mein Freund …«, brummte Maxim, als
er ihn mit den Ellenbogen zurückschob. »Das geht vorbei … Alles
geht vorbei, alles … Hab noch ein wenig Geduld …«
Gai sah, dass Mak etwas sagte, und weinte vor
Kummer, dass er wieder, genau wie damals im Bomber, kein einziges
Wort verstand.