ERIK SIMON
Eine Zukunft mit zwei Enden
Arkadi und Boris Strugatzki waren und bleiben
die bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der dahingegangenen
Sowjetunion; ja, lange Zeit waren sie die am häufigsten im Ausland
publizierten russischen Schriftsteller sämtlicher
belletristischen Genres. Sie haben einen unnachahmlichen Beitrag
zur Science Fiction des 20. Jahrhunderts und mit einigen Werken zur
Weltliteratur überhaupt geleistet. Ihre einmalige Kombination von
Talenten hat 1991 mit dem Tod von Arkadi ein Ende gefunden -
dennoch sind sie in Russland noch immer die unumstrittene Nummer
eins auf dem Gebiet der Science Fiction. Einige Autoren der
nächsten - und bald schon der übernächsten - Generation haben
aktuell größere Verkaufserfolge zu verzeichnen, aber es ist kein
Zufall, dass der erfolgreichste von ihnen, Sergej Lukianenko, sich
in seinen Texten immer wieder auf die Strugatzkis bezieht - sei es,
dass er sie oder ihre Werke beiläufig erwähnt, sei es, dass er in
seinem Roman »Sternenspiel« mit der utopischen Erziehungskonzeption
der Strugatzkis polemisiert oder sich in »Spektrum« die Idee der
»Zünder« aus »Ein Käfer im Ameisenhaufen« ausborgt. Er ist nicht
der einzige moderne russische Schriftsteller, der voraussetzt, dass
seine Leser die wichtigsten Werke der Strugatzkis kennen. Außerhalb
Russlands (und der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken) ist das
natürlich nicht ganz so selbstverständlich, aber kennen kann
man sie in vielen Ländern - Bücher von ihnen sind in gut zwei
Dutzend
Sprachen übersetzt worden, fast alle ins Deutsche, Englische,
Französische, Japanische sowie in Sprachen Ostmitteleuropas.
Der Form nach sind viele Arbeiten der Strugatzkis
eine »Powest«, eine Zwischenform zwischen Roman, Novelle und langer
Erzählung. Wenn man der Praxis der deutschen Verlage folgt und als
»Roman« alles bezeichnet, was in einem eigenständigen, nicht allzu
dünnen Band verlegt werden kann, dann haben die Strugatzkis
zweiundzwanzig Romane verfasst, dazu lange Erzählungen,
Kurzgeschichten, ein Theaterstück, viele Filmszenarien, Essays und
Artikel. Hinzu kommen drei Texte (ein Science-Fiction-Roman für
Kinder, eine lange und eine kürzere Erzählung), die sie gemeinsam
konzipiert haben, die aber Arkadi allein zu Papier gebracht und
unter dem Pseudonym »S. Jaroslawzew« veröffentlicht hat. Analog
dazu hat Boris Strugatzki die beiden Romane, die er nach dem Tode
des Bruders allein geschrieben hat, in Russland unter dem Pseudonym
»S. Witizki« publiziert. Über die Identität von »S. Jaroslawzew«
ist seinerzeit ein wenig gerätselt worden, die von »S. Witizki« war
von Anfang an bekannt - beide Pseudonyme sind ein Tribut an den
schon zu Lebzeiten Arkadis immer wieder geäußerten Grundsatz, dass
»die Strugatzkis« eine unteilbare Einheit sind, im Grunde
ein Autor. (So sind sie auch von den Lesern wahrgenommen
worden, und es gibt mehrere bezeugte Fälle, in denen etwa die
Tochter Arkadis als »die Tochter der Brüder Strugatzki« bezeichnet
wurde.)
Ungefähr die Hälfte aller Werke der Strugatzkis -
zwölf Romane, zwei lange Erzählungen und etliche kurze - bildet
einen lose gefügten Zyklus, der in einem einheitlich konzipierten
Entwurf einer Zukunftswelt spielt und gelegentlich Figuren und
Ereignisse aus einem Werk ins andere weiterführt. Der Zyklus ist in
zwei Zeitebenen angesiedelt: Die erste liegt um die
Jahrtausendwende, die zweite umfasst im Wesentlichen das 22.
Jahrhundert. Diese zweite Ebene, nach einem
der Romane die »Welt des Mittags« genannt, hat die erste etwas in
den Schatten gestellt - in der Wahrnehmung der Leser wie im
Schaffen der Strugatzkis selbst: Nach 1965 haben sie nur noch die
»Welt des Mittags« ausgebaut, und dort spielen die bekannteren
Geschichten des Zyklus.
Die - nach der Zeit der Handlung wie nach der
Entstehung - frühere Zeitebene besteht aus der sogenannten
Bykow-Trilogie mit dem Roman »Atomvulkan Golkonda« (1959), der
längeren Erzählung »Der Weg zur Amalthea« (1960) und dem
Episodenroman »Praktikanten« (1962), aus der nur lose mit diesen
drei Bänden verknüpften Antiutopie »Die gierigen Dinge des
Jahrhunderts« (1965) und aus einigen Kurzgeschichten. »Atomvulkan
Golkonda«, das erste gemeinsame Buch der Brüder Strugatzki, handelt
von der Erkundung der Venus, deren unwirtliche Natur einigen
Kosmonauten das Leben kostet und die von den übrigen nur unter
äußerstem Einsatz und Heroismus bezwungen wird. Auch die beiden
Fortsetzungen spielen größtenteils in Raumschiffen zwischen den
Planeten des Sonnensystems, gelegentlich auch auf den Planeten -
was den regen interplanetaren Flugverkehr betrifft, den die
Strugatzkis (wie viele ihrer Kollegen damals) für die 1990er Jahre
erwarteten, hinkt die Wirklichkeit also noch ein bisschen
hinterher. »Die gierigen Dinge des Jahrhunderts« dagegen spielt in
einem fiktiven Land auf der Erde, in dem materieller Überfluss zu
allgemeiner Ziel- und Verantwortungslosigkeit geführt hat, und
kommt der heutigen Realität schon näher.
Der Einstieg in die zweite Zeitebene des
Zukunftszyklus war der Episodenroman »Mittag, 22. Jahrhundert«
(1962, erweitert 1967). Darin überspringen zwei Raumfahrer aus
unserer näheren Zukunft bei einem Sternenflug einen großen Zeitraum
und kehren mitten im 22. Jahrhundert auf die Erde zurück. Bei der
Eingewöhnung hilft ihnen ein anderer »Rückkehrer«, Leonid
Gorbowski, der später zu einer zentralen
Figur in der Welt des »Mittags« werden sollte; die vier anderen
Haupthelden des Buches sind in diese Welt hineingeboren, und der
Lebensweg dieser von Kindheit an befreundeten jungen Leute wird in
Episoden gezeigt: Poul Gnedych wird interstellarer Jäger, Alexander
Kostylin Zoologe und Präparator; dem Anführer der vier, Gennadi
Komow mit dem Spitznamen »Kapitän«, und dem vom Pech verfolgten
Sidorow alias »Athos« begegnet man später in »Die dritte
Zivilisation«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen
ersticken den Wind« wieder. Der Roman bietet eine reiche Auswahl
verschiedener Science-Fiction-Ideen und -Motive, vor allem aber das
breit angelegte Panorama einer glücklichen, friedlichen, moralisch
und technisch hoch stehenden, endlich von Ausbeutung und Armut,
Unterdrückung und Krieg befreiten Menschheit, die weit in den
Weltraum vorgedrungen ist und Kontakt zu verschiedenen fremden
Zivilisationen aufgenommen hat.
Die übrigen Werke des Zyklus, die in der Welt des
»Mittags« angesiedelt sind, erschienen ziemlich genau in derselben
Reihenfolge, in der auch die Handlung spielt: »Fluchtversuch«
(1962), »Der ferne Regenbogen« (1963), »Es ist schwer, ein Gott zu
sein« (1964), »Die bewohnte Insel« (1969/71), »Die dritte
Zivilisation« (1971), »Der Junge aus der Hölle« (1974), »Ein Käfer
im Ameisenhaufen« (1979-80) und »Die Wellen ersticken den Wind«
(1985-86). Es gibt allerdings Überschneidungen, weil die Episoden
von »Mittag, 22. Jahrhundert« fast den gesamten Zeitraum des
Strugatzkischen Zukunftsentwurfs umfassen und vor allem »Ein Käfer
im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« weit
zurückreichende Vorgeschichten haben. Eine Sonderstellung hat auch
die lange Erzählung »Unruhe«, schon 1965 geschrieben, aber erst
1990 veröffentlicht und in der Chronologie der Handlung ungefähr
nach »Der Junge aus der Hölle« einzuordnen. Diese Geschichte spielt
auf der Pandora, einem im Zukunftszyklus
mehrfach erwähnten Planeten, ihr Held ist Leonid Gorbowski, und
sie war ursprünglich einer der beiden Handlungsstränge des Romans
»Die Schnecke am Hang«; die Strugatzkis haben diesen Strang jedoch
später zugunsten einer völlig anderen Handlung verworfen, die nicht
in der Welt des »Mittags« spielt (weshalb der ganze Roman nicht zu
diesem Zyklus gezählt wird).
Mit wenigen Ausnahmen (insbesondere »Der ferne
Regenbogen«) kommen in den im 22. Jahrhundert angesiedelten Texten
mehr oder weniger menschenähnliche Außerirdische vor, und ein
wiederkehrendes Thema ist das heimliche Wirken von Menschen in
einer rückständigen fremdplanetaren Gesellschaft mit dem Ziel, dort
relativ behutsam - eben nicht mit direktem Eingreifen, sondern eher
durch geheimdienstliches Agieren hinter den Kulissen - Krisen zu
mildern und dem Fortschritt voranzuhelfen, weshalb diese irdischen
Agenten daheim »Progressoren« genannt werden. Die Strugatzkis
zeigten von Anfang an ein gespaltenes Verhältnis zu derlei
Einmischung, was schon Mitte der 1960er Jahre politisch heikel war
und es 1968 mit der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei
erst recht wurde - die eine Obrigkeit verlangte ein vorbehaltloses
Bekenntnis zur Einmischung, die andere wollte lieber standhaft
leugnen, dass Kommunisten an derlei »Revolutionsexport« überhaupt
denken könnten, und die dritte wollte einfach nur, dass Ruhe
herrschte und das Thema lichtjahreweit umschifft würde. Ging es bei
den Strugatzkis anfangs vor allem um das Verhältnis von Ziel und
Mittel und um die Frage, ob solche Eingriffe überhaupt erfolgreich
sein könnten, verschob sich die Perspektive nach und nach immer
weiter von den irdischen Progressoren hin zu den Einheimischen,
denen da jemand ungebeten und heimlich »die Geschichte begradigte«
- in den letzten beiden Werken des Zyklus, »Ein Käfer im
Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind«, sind schon
nicht mehr die Außerirdischen,
sondern die Menschen selbst Objekte von (tatsächlichen oder
vermeintlichen) Eingriffen von Wesen, die ihnen haushoch überlegen
sind.
Nun sollte man nicht glauben, die Strugatzkis,
die den sowjetischen Einmarsch in Prag zweifellos als Schande
empfanden, hätten einen dissidentischen Protest dagegen als Science
Fiction verkappt. Denn was man von der Roten Armee sicherlich nicht
uneingeschränkt sagen konnte, setzten sie bei ihren irdischen
Progressoren voraus - dass diese wirklich helfen wollen, weil sie
das Leid der Einheimischen nicht gleichgültig mitansehen können:
das finstere Mittelalter in Arkanar (»Es ist schwer, ein Gott zu
sein«), die an den Zweiten Weltkrieg erinnernden mörderischen,
nicht enden wollenden Kämpfe auf der Giganda (»Der Junge aus der
Hölle«), das Elend auf dem Saraksch, wo ein Atomkrieg gewütet hat
(»Die bewohnte Insel«). Sie selbst kommen schließlich von einer
glücklichen, wohlgeordneten Erde der Zukunft. Diese Zukunftswelt
war als kommunistisch gedacht, und das aus drei guten Gründen:
Erstens hätten sich die Strugatzkis, aufgewachsen mit Ideologie und
Propaganda der Stalinzeit und inspiriert von der Aufbruchstimmung
unter Chruschtschow, in den frühen 1960er Jahren anderes gar nicht
vorstellen können; zweitens hätten sie anderes in der Sowjetunion
natürlich auch nicht schreiben und veröffentlichen dürfen; drittens
schließlich (und vor allem) war der Kommunismus, obwohl er
unablässig dialektischen Materialismus predigte, de facto die
idealistischere Gesellschaftsordnung: Obwohl die Marxsche
Theorie darüber so gut wie nichts sagt, haben in der Praxis alle
sozialistischen/kommunistischen Staaten versucht, einen »Neuen
Menschen« zu erziehen - teils ernsthaft, teils (in den späteren
Stadien) nur vorgeblich. Während man bei Marx den deutlichen
Eindruck gewinnt, mit der Machtergreifung der Arbeiterklasse werde
sich alles andere von selbst finden, ist die Welt des »Mittags« vor
allem eine Erziehungsutopie,
in der die wichtigste, verantwortungsvollste Rolle den Lehrern und
Ausbildern zukommt (einen Widerschein davon sieht man in »Ein Käfer
im Ameisenhaufen«).
Am detailliertesten ausgemalt ist das Bild dieser
Zukunft in »Mittag, 22. Jahrhundert«; doch auch in den Romanen, die
auf fremden Planeten spielen, ist es als Hintergrund der dort
agierenden Erdenmenschen immer gegenwärtig, so etwa, wenn Maxim
Kammerer die Verhältnisse auf dem Saraksch anfangs völlig falsch
interpretiert, weil er sich etwas anders als seine wohlgeordnete
Erde (und die ebenso gut eingerichteten Planeten der Leonidaner und
Tagoraner, mit denen man Kontakt von gleich zu gleich hat) gar
nicht oder doch nur abstrakttheoretisch aus dem
Geschichtsunterricht vorstellen kann. (Ein wenig machen sich die
Strugatzkis hier wohl auch über die Naivität und Weltfremdheit des
jungen Mannes lustig, die etwas sehr Sowjetisches hat.) Als der
Schwerpunkt der Handlung dann jedoch in den späten Romanen des
Zyklus - »Der Junge aus der Hölle«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen«
und »Die Wellen ersticken den Wind« - auf die Erde zurückkehrt,
wird der Leser gewahr, dass der Eindruck, den diese Welt
vermittelt, sich mittlerweile gravierend gewandelt hat. Ihre
Konstitution und die grundlegenden Lebensmaximen sind unverändert,
die materiellen Möglichkeiten sogar noch gewachsen und weniger denn
je Anlass zu Konflikten. Doch die Zukunft wird, je weiter sie (in
der Regel parallel zum Entstehungsdatum der Werke) fortschreitet,
immer diffiziler, problematischer, in ihren Institutionen wie auch
in der Mentalität ihrer Bewohner der Gegenwart immer ähnlicher: So
tauchen auf einmal mitten im weltweiten Kommunismus Religionen auf
und werden als etwas völlig Normales wahrgenommen (wozu sich die
Sowjetunion erst kurz vor ihrem Zerfall halbwegs durchringen
konnte), außerdem so erfreuliche Dinge wie Bürgerbewegungen
(freilich ohne dieses westliche Wort) und so unerfreuliche wie ein
nach innen wirkender Geheimdienst.
Kein Wunder - nicht nur in der Romanwelt ist Zeit
vergangen, auch die Welt, in der die Strugatzkis lebten, hatte sich
in einem Vierteljahrhundert verändert, und mehr noch die Haltung
der Autoren zu dieser Welt, zu ihrer Gegenwart und zu ihren
möglichen Zukünften. Im Mai 2199, anderthalb Jahre vor dem Ende des
22. Jahrhunderts, stürzt die »Große Offenbarung« die Welt des
»Mittags« schließlich in eine Sinnkrise. Das Hauptproblem ist dabei
jedoch nicht das Auftauchen der Übermenschen oder die Frage, wie
man die Beziehungen zu ihnen gestalten soll - es geht vielmehr um
einen krassen Wechsel in der Perspektive, die sich der Menschheit
bietet. Eben noch wusste man sich auf einem zwar schwierigen, doch
geradlinigen und praktisch endlosen Weg in eine Zukunft, in der der
Mensch immer mächtiger und zugleich menschlicher wird; nun
erscheinen diese beiden Eigenschaften entkoppelt, der Homo sapiens
findet sich auf einem von der Hauptstraße abzweigenden Seitenpfad
wieder. Und was am quälendsten ist: Er hat keine Ahnung, was auf
jener Hauptstraße wirklich vorgeht, und wird es, solange er Mensch
bleibt, auch nie erfahren.
Die Utopie des »Mittags« war von Anfang an als
eine sich entwickelnde, fortschreitende Welt angelegt. Dies
entsprach dem Lebensgefühl der sowjetischen Intelligenz in den
frühen 1960er Jahren. Die folgenden achtzehn Jahre der
Breschnew-Ära jedoch wurden schon recht bald als bleierne Zeit der
Stagnation empfunden. Als die Strugatzkis 1983/84 »Die Wellen
ersticken den Wind« schrieben, war Breschnew gerade gestorben, aber
sein Nachfolger Andropow hatte begonnen, die Schrauben eher noch
fester anzuziehen, und niemand, wirklich niemand rechnete mit
Glasnost und Perestroika. Und ausgerechnet in diesem Moment bringen
die Brüder Strugatzki einen Roman heraus, der stärker als jedes
ihrer anderen Bücher erfüllt ist vom Vorgefühl radikaler
Veränderungen und Umwertungen. Weitergehen wird es nach der Krise,
man weiß nur nicht, wie - aber man weiß, dass es ganz anders sein
wird. Zu den bemerkenswerten Details der neueren
sowjetisch-russischen Geschichte, die die Strugatzkis vorausgeahnt
haben - wenn es denn eine Vorahnung war -, gehören die komplette
Desorientierung, der recht bald einsetzende Wunsch, möglichst doch
so weiterzumachen wie bisher, und der erbitterte Streit um die
Deutung, wie es zu der Krise kam und wer darin welche Rolle spielte
(der im Westen so beliebte Michail Gorbatschow beispielsweise ist
den meisten Russen heute verhasst). Doch während alle anderen die
Ereignisse als Schock und Bedrohung empfinden, gewinnt Leonid
Gorbowski, der Lieblingsheld der Strugatzkis in der Welt des
»Mittags«, der sich lebensmüde zum Sterben niedergelegt hatte, auf
einmal wieder Interesse am Dasein …
Die Strugatzkis, bekannt für ihre Vorliebe für
offene Schlüsse, haben so der ganzen Welt des »Mittags« ein offenes
Ende zugedacht. Es gibt jedoch noch ein anderes Ende, das einen
Strich unter diese Welt zieht, nein: gezogen hätte. Kurz vor dem
Tod Arkadis hatten die Autoren mit der Arbeit an einem vierten
Maxim-Kammerer-Roman begonnen. Im Vorwort zu einer dreibändigen
Anthologie, in der andere russische Autoren Motive aus Werken der
Strugatzkis aufgegriffen und fortgeführt haben, schrieb Boris
Strugatzki 1997:
Im letzten Roman der Strugatzkis, den sie zu
einem erheblichen Teil konzipiert, aber nicht mehr geschrieben
haben, einem Roman, der nicht einmal einen Titel hat (nicht einmal
das, was man dem Verlag früher als »Arbeitstitel« avisierte), einem
Roman, der nun nicht mehr geschrieben werden wird, weil es die
Brüder Strugatzki nicht mehr gibt und S. Witizki ihn allein nicht
schreiben will - an diesem Roman also waren für die Autoren vor
allem zwei Einfälle verlockend.
Erstens gefiel ihnen (erschien ihnen originell
und nichttrivial) die Welt des Inselimperiums, die mit der
erbarmungslosen
Rationalität eines Demiurgen erbaut war, der verzweifelt jeden
Versuch aufgegeben hat, das Böse auszurotten. Diese Welt war, grob
gesagt, in drei Kreisen angelegt: Der äußere Kreis war die Kloake,
die Senkgrube, die Hölle jener Welt - dort sammelte sich der
Abschaum der Gesellschaft, alle Säufer, Schläger und Lumpen, alle
Sadisten und geborenen Mörder, Vergewaltiger, aggressiven Grobiane,
Perversen, moralisch Entarteten - die Fäulnis, der Auswurf, die
Fäkalien des Soziums. Dort war ihr Reich, dort kannten sie keine
Strafe, dort lebten sie nach den Gesetzen von Stärke, Gemeinheit
und Hass. Mit diesem Kreis schirmte sich das Imperium gegen die
ganze übrige Ökumene ab, verteidigte sich und schlug zu. Der
mittlere Kreis wurde von gewöhnlichen Menschen bevölkert, die in
keine Extreme fielen, Menschen wie wir, ein bisschen schlechter,
ein bisschen besser, noch längst keine Engel, aber auch schon keine
Teufel mehr. Im Zentrum jedoch herrschte die Welt der
Gerechtigkeit. »Mittag, 22. Jahrhundert«. Eine warme, gastliche,
gefahrlose Welt des Geistes, des Schöpfertums und der Freiheit,
bewohnt durchweg von begabten, prächtigen, freundlichen Menschen,
die alle Gebote ihrer hohen Ethik strikt befolgten. Jeder im
Imperium Geborene fand sich unweigerlich in »seinem« Kreis wieder,
die Gesellschaft drängte ihn mit sanfter (und notfalls auch mit
grober) Gewalt dorthin, wo sein Platz war - gemäß seinen Talenten,
seinem Temperament und seiner moralischen Potenz. Dieses Abdrängen
erfolgte sowohl automatisch als auch vermittels eines sozialen
Mechanismus (einer Art Sittenpolizei). Das war eine Welt, wo das
Prinzip »Jedem das Seine« in seiner allgemeinsten Bedeutung
herrschte. Hölle, Fegefeuer und Paradies. Die klassische
Dreiheit.
Und zweitens gefiel den Autoren der Schluss,
den sie sich ausgedacht hatten. Da hat Maxim Kammerer alle Kreise
durchlaufen und ist ins Zentrum gelangt, er betrachtet
verblüfft dieses paradiesische Leben, das in nichts hinter dem auf
der Erde zurücksteht, und wie er so mit einem hochgestellten und
hochgeistigen Einheimischen spricht, von ihm alle Einzelheiten über
den Aufbau des Imperiums erfährt und versucht, das Unvereinbare zu
vereinen, das Unbegreifliche zu begreifen, das nicht
Zusammenpassende zusammenzufügen, hört er plötzlich die höfliche
Frage: »Was denn, ist bei Ihnen die Welt etwa anders eingerichtet?«
Und er beginnt zu reden, zu erklären, die hohe Theorie der
Erziehung darzulegen, von den Lehrern zu sprechen, von der
sorgsamen, mühevollen Arbeit an jeder einzelnen Kinderseele … Der
Einheimische hört zu, lächelt, nickt, und dann bemerkt er wie
beiläufig: »Elegant. Eine sehr schöne Theorie. Aber leider in der
Praxis absolut nicht zu verwirklichen.« Und während ihn Maxim, dem
es die Sprache verschlagen hat, anstarrt, sagt der Einheimische den
Satz, um dessentwillen die Strugatzkis bis zuletzt diesen Roman
schreiben wollten: »Die Welt kann nicht so eingerichtet sein, wie
Sie es mir gerade erzählt haben. Solch eine Welt kann nur erdacht
werden. Ich fürchte, mein Freund, ihr lebt in einer Welt, die
jemand erdacht hat - ohne euch und vor euch -, ohne dass ihr es
ahnt …«
Nach der Idee der Autoren sollte dieser Satz
den Schlusspunkt unter die Lebensbeschreibung Maxim Kammerers
setzen. Er sollte den ganzen Zyklus von der Welt des Mittags
abschließen. Eine Art Fazit einer ganzen Weltanschauung. Ihr
Nachruf. Oder ihre Verurteilung?
Wie Boris Strugatzki an anderer Stelle
mitgeteilt hat, gab es für diesen Romanentwurf die Arbeitstitel
»Operation Virus« und »Der weiße Läufer« (beides in »Die Wellen
ersticken den Wind« beiläufig erwähnt), und das (wenige) vorhandene
Material dazu hat er vor Jahren einem anderen Petersburger
Schriftsteller übergeben und ihm erlaubt, es für ein eigenes Werk
zu benutzen; seither hat man davon nichts mehr gehört.
Hätte Maxim Kammerer nach allem, was er im
Inselimperium gesehen und gehört hatte, nicht zur Zeit der »Großen
Offenbarung« seine Welt des »Mittags« schon mit etwas anderen Augen
sehen müssen? Vielleicht. Aber auch die von ihm entdeckten
Übermenschen, die Menten, sind ja für seine Welt nur so lange ein
brennendes Problem, wie sie in sie eingreifen - in dem Maße, wie
sie sich in von Menschen unerreichbare Sphären zurückziehen, werden
sie einfach ein weiteres von zahllosen Phänomenen des Universums,
und die Bewohner der Welt des »Mittags« widmen sich wieder dem,
wozu die Brüder Strugatzki mehr als viele andere beigetragen haben
und woran wir alle mehr oder weniger bewusst, mit mehr oder weniger
Erfolg arbeiten: dem Erdenken der eigenen Welt.