ERIK SIMON
Eine Zukunft mit zwei Enden
Arkadi und Boris Strugatzki waren und bleiben die bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der dahingegangenen Sowjetunion; ja, lange Zeit waren sie die am häufigsten im Ausland publizierten russischen Schriftsteller sämtlicher belletristischen Genres. Sie haben einen unnachahmlichen Beitrag zur Science Fiction des 20. Jahrhunderts und mit einigen Werken zur Weltliteratur überhaupt geleistet. Ihre einmalige Kombination von Talenten hat 1991 mit dem Tod von Arkadi ein Ende gefunden - dennoch sind sie in Russland noch immer die unumstrittene Nummer eins auf dem Gebiet der Science Fiction. Einige Autoren der nächsten - und bald schon der übernächsten - Generation haben aktuell größere Verkaufserfolge zu verzeichnen, aber es ist kein Zufall, dass der erfolgreichste von ihnen, Sergej Lukianenko, sich in seinen Texten immer wieder auf die Strugatzkis bezieht - sei es, dass er sie oder ihre Werke beiläufig erwähnt, sei es, dass er in seinem Roman »Sternenspiel« mit der utopischen Erziehungskonzeption der Strugatzkis polemisiert oder sich in »Spektrum« die Idee der »Zünder« aus »Ein Käfer im Ameisenhaufen« ausborgt. Er ist nicht der einzige moderne russische Schriftsteller, der voraussetzt, dass seine Leser die wichtigsten Werke der Strugatzkis kennen. Außerhalb Russlands (und der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken) ist das natürlich nicht ganz so selbstverständlich, aber kennen kann man sie in vielen Ländern - Bücher von ihnen sind in gut zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden, fast alle ins Deutsche, Englische, Französische, Japanische sowie in Sprachen Ostmitteleuropas.
Der Form nach sind viele Arbeiten der Strugatzkis eine »Powest«, eine Zwischenform zwischen Roman, Novelle und langer Erzählung. Wenn man der Praxis der deutschen Verlage folgt und als »Roman« alles bezeichnet, was in einem eigenständigen, nicht allzu dünnen Band verlegt werden kann, dann haben die Strugatzkis zweiundzwanzig Romane verfasst, dazu lange Erzählungen, Kurzgeschichten, ein Theaterstück, viele Filmszenarien, Essays und Artikel. Hinzu kommen drei Texte (ein Science-Fiction-Roman für Kinder, eine lange und eine kürzere Erzählung), die sie gemeinsam konzipiert haben, die aber Arkadi allein zu Papier gebracht und unter dem Pseudonym »S. Jaroslawzew« veröffentlicht hat. Analog dazu hat Boris Strugatzki die beiden Romane, die er nach dem Tode des Bruders allein geschrieben hat, in Russland unter dem Pseudonym »S. Witizki« publiziert. Über die Identität von »S. Jaroslawzew« ist seinerzeit ein wenig gerätselt worden, die von »S. Witizki« war von Anfang an bekannt - beide Pseudonyme sind ein Tribut an den schon zu Lebzeiten Arkadis immer wieder geäußerten Grundsatz, dass »die Strugatzkis« eine unteilbare Einheit sind, im Grunde ein Autor. (So sind sie auch von den Lesern wahrgenommen worden, und es gibt mehrere bezeugte Fälle, in denen etwa die Tochter Arkadis als »die Tochter der Brüder Strugatzki« bezeichnet wurde.)
Ungefähr die Hälfte aller Werke der Strugatzkis - zwölf Romane, zwei lange Erzählungen und etliche kurze - bildet einen lose gefügten Zyklus, der in einem einheitlich konzipierten Entwurf einer Zukunftswelt spielt und gelegentlich Figuren und Ereignisse aus einem Werk ins andere weiterführt. Der Zyklus ist in zwei Zeitebenen angesiedelt: Die erste liegt um die Jahrtausendwende, die zweite umfasst im Wesentlichen das 22. Jahrhundert. Diese zweite Ebene, nach einem der Romane die »Welt des Mittags« genannt, hat die erste etwas in den Schatten gestellt - in der Wahrnehmung der Leser wie im Schaffen der Strugatzkis selbst: Nach 1965 haben sie nur noch die »Welt des Mittags« ausgebaut, und dort spielen die bekannteren Geschichten des Zyklus.
Die - nach der Zeit der Handlung wie nach der Entstehung - frühere Zeitebene besteht aus der sogenannten Bykow-Trilogie mit dem Roman »Atomvulkan Golkonda« (1959), der längeren Erzählung »Der Weg zur Amalthea« (1960) und dem Episodenroman »Praktikanten« (1962), aus der nur lose mit diesen drei Bänden verknüpften Antiutopie »Die gierigen Dinge des Jahrhunderts« (1965) und aus einigen Kurzgeschichten. »Atomvulkan Golkonda«, das erste gemeinsame Buch der Brüder Strugatzki, handelt von der Erkundung der Venus, deren unwirtliche Natur einigen Kosmonauten das Leben kostet und die von den übrigen nur unter äußerstem Einsatz und Heroismus bezwungen wird. Auch die beiden Fortsetzungen spielen größtenteils in Raumschiffen zwischen den Planeten des Sonnensystems, gelegentlich auch auf den Planeten - was den regen interplanetaren Flugverkehr betrifft, den die Strugatzkis (wie viele ihrer Kollegen damals) für die 1990er Jahre erwarteten, hinkt die Wirklichkeit also noch ein bisschen hinterher. »Die gierigen Dinge des Jahrhunderts« dagegen spielt in einem fiktiven Land auf der Erde, in dem materieller Überfluss zu allgemeiner Ziel- und Verantwortungslosigkeit geführt hat, und kommt der heutigen Realität schon näher.
Der Einstieg in die zweite Zeitebene des Zukunftszyklus war der Episodenroman »Mittag, 22. Jahrhundert« (1962, erweitert 1967). Darin überspringen zwei Raumfahrer aus unserer näheren Zukunft bei einem Sternenflug einen großen Zeitraum und kehren mitten im 22. Jahrhundert auf die Erde zurück. Bei der Eingewöhnung hilft ihnen ein anderer »Rückkehrer«, Leonid Gorbowski, der später zu einer zentralen Figur in der Welt des »Mittags« werden sollte; die vier anderen Haupthelden des Buches sind in diese Welt hineingeboren, und der Lebensweg dieser von Kindheit an befreundeten jungen Leute wird in Episoden gezeigt: Poul Gnedych wird interstellarer Jäger, Alexander Kostylin Zoologe und Präparator; dem Anführer der vier, Gennadi Komow mit dem Spitznamen »Kapitän«, und dem vom Pech verfolgten Sidorow alias »Athos« begegnet man später in »Die dritte Zivilisation«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« wieder. Der Roman bietet eine reiche Auswahl verschiedener Science-Fiction-Ideen und -Motive, vor allem aber das breit angelegte Panorama einer glücklichen, friedlichen, moralisch und technisch hoch stehenden, endlich von Ausbeutung und Armut, Unterdrückung und Krieg befreiten Menschheit, die weit in den Weltraum vorgedrungen ist und Kontakt zu verschiedenen fremden Zivilisationen aufgenommen hat.
Die übrigen Werke des Zyklus, die in der Welt des »Mittags« angesiedelt sind, erschienen ziemlich genau in derselben Reihenfolge, in der auch die Handlung spielt: »Fluchtversuch« (1962), »Der ferne Regenbogen« (1963), »Es ist schwer, ein Gott zu sein« (1964), »Die bewohnte Insel« (1969/71), »Die dritte Zivilisation« (1971), »Der Junge aus der Hölle« (1974), »Ein Käfer im Ameisenhaufen« (1979-80) und »Die Wellen ersticken den Wind« (1985-86). Es gibt allerdings Überschneidungen, weil die Episoden von »Mittag, 22. Jahrhundert« fast den gesamten Zeitraum des Strugatzkischen Zukunftsentwurfs umfassen und vor allem »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« weit zurückreichende Vorgeschichten haben. Eine Sonderstellung hat auch die lange Erzählung »Unruhe«, schon 1965 geschrieben, aber erst 1990 veröffentlicht und in der Chronologie der Handlung ungefähr nach »Der Junge aus der Hölle« einzuordnen. Diese Geschichte spielt auf der Pandora, einem im Zukunftszyklus mehrfach erwähnten Planeten, ihr Held ist Leonid Gorbowski, und sie war ursprünglich einer der beiden Handlungsstränge des Romans »Die Schnecke am Hang«; die Strugatzkis haben diesen Strang jedoch später zugunsten einer völlig anderen Handlung verworfen, die nicht in der Welt des »Mittags« spielt (weshalb der ganze Roman nicht zu diesem Zyklus gezählt wird).
Mit wenigen Ausnahmen (insbesondere »Der ferne Regenbogen«) kommen in den im 22. Jahrhundert angesiedelten Texten mehr oder weniger menschenähnliche Außerirdische vor, und ein wiederkehrendes Thema ist das heimliche Wirken von Menschen in einer rückständigen fremdplanetaren Gesellschaft mit dem Ziel, dort relativ behutsam - eben nicht mit direktem Eingreifen, sondern eher durch geheimdienstliches Agieren hinter den Kulissen - Krisen zu mildern und dem Fortschritt voranzuhelfen, weshalb diese irdischen Agenten daheim »Progressoren« genannt werden. Die Strugatzkis zeigten von Anfang an ein gespaltenes Verhältnis zu derlei Einmischung, was schon Mitte der 1960er Jahre politisch heikel war und es 1968 mit der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei erst recht wurde - die eine Obrigkeit verlangte ein vorbehaltloses Bekenntnis zur Einmischung, die andere wollte lieber standhaft leugnen, dass Kommunisten an derlei »Revolutionsexport« überhaupt denken könnten, und die dritte wollte einfach nur, dass Ruhe herrschte und das Thema lichtjahreweit umschifft würde. Ging es bei den Strugatzkis anfangs vor allem um das Verhältnis von Ziel und Mittel und um die Frage, ob solche Eingriffe überhaupt erfolgreich sein könnten, verschob sich die Perspektive nach und nach immer weiter von den irdischen Progressoren hin zu den Einheimischen, denen da jemand ungebeten und heimlich »die Geschichte begradigte« - in den letzten beiden Werken des Zyklus, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind«, sind schon nicht mehr die Außerirdischen, sondern die Menschen selbst Objekte von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Eingriffen von Wesen, die ihnen haushoch überlegen sind.
Nun sollte man nicht glauben, die Strugatzkis, die den sowjetischen Einmarsch in Prag zweifellos als Schande empfanden, hätten einen dissidentischen Protest dagegen als Science Fiction verkappt. Denn was man von der Roten Armee sicherlich nicht uneingeschränkt sagen konnte, setzten sie bei ihren irdischen Progressoren voraus - dass diese wirklich helfen wollen, weil sie das Leid der Einheimischen nicht gleichgültig mitansehen können: das finstere Mittelalter in Arkanar (»Es ist schwer, ein Gott zu sein«), die an den Zweiten Weltkrieg erinnernden mörderischen, nicht enden wollenden Kämpfe auf der Giganda (»Der Junge aus der Hölle«), das Elend auf dem Saraksch, wo ein Atomkrieg gewütet hat (»Die bewohnte Insel«). Sie selbst kommen schließlich von einer glücklichen, wohlgeordneten Erde der Zukunft. Diese Zukunftswelt war als kommunistisch gedacht, und das aus drei guten Gründen: Erstens hätten sich die Strugatzkis, aufgewachsen mit Ideologie und Propaganda der Stalinzeit und inspiriert von der Aufbruchstimmung unter Chruschtschow, in den frühen 1960er Jahren anderes gar nicht vorstellen können; zweitens hätten sie anderes in der Sowjetunion natürlich auch nicht schreiben und veröffentlichen dürfen; drittens schließlich (und vor allem) war der Kommunismus, obwohl er unablässig dialektischen Materialismus predigte, de facto die idealistischere Gesellschaftsordnung: Obwohl die Marxsche Theorie darüber so gut wie nichts sagt, haben in der Praxis alle sozialistischen/kommunistischen Staaten versucht, einen »Neuen Menschen« zu erziehen - teils ernsthaft, teils (in den späteren Stadien) nur vorgeblich. Während man bei Marx den deutlichen Eindruck gewinnt, mit der Machtergreifung der Arbeiterklasse werde sich alles andere von selbst finden, ist die Welt des »Mittags« vor allem eine Erziehungsutopie, in der die wichtigste, verantwortungsvollste Rolle den Lehrern und Ausbildern zukommt (einen Widerschein davon sieht man in »Ein Käfer im Ameisenhaufen«).
Am detailliertesten ausgemalt ist das Bild dieser Zukunft in »Mittag, 22. Jahrhundert«; doch auch in den Romanen, die auf fremden Planeten spielen, ist es als Hintergrund der dort agierenden Erdenmenschen immer gegenwärtig, so etwa, wenn Maxim Kammerer die Verhältnisse auf dem Saraksch anfangs völlig falsch interpretiert, weil er sich etwas anders als seine wohlgeordnete Erde (und die ebenso gut eingerichteten Planeten der Leonidaner und Tagoraner, mit denen man Kontakt von gleich zu gleich hat) gar nicht oder doch nur abstrakttheoretisch aus dem Geschichtsunterricht vorstellen kann. (Ein wenig machen sich die Strugatzkis hier wohl auch über die Naivität und Weltfremdheit des jungen Mannes lustig, die etwas sehr Sowjetisches hat.) Als der Schwerpunkt der Handlung dann jedoch in den späten Romanen des Zyklus - »Der Junge aus der Hölle«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« - auf die Erde zurückkehrt, wird der Leser gewahr, dass der Eindruck, den diese Welt vermittelt, sich mittlerweile gravierend gewandelt hat. Ihre Konstitution und die grundlegenden Lebensmaximen sind unverändert, die materiellen Möglichkeiten sogar noch gewachsen und weniger denn je Anlass zu Konflikten. Doch die Zukunft wird, je weiter sie (in der Regel parallel zum Entstehungsdatum der Werke) fortschreitet, immer diffiziler, problematischer, in ihren Institutionen wie auch in der Mentalität ihrer Bewohner der Gegenwart immer ähnlicher: So tauchen auf einmal mitten im weltweiten Kommunismus Religionen auf und werden als etwas völlig Normales wahrgenommen (wozu sich die Sowjetunion erst kurz vor ihrem Zerfall halbwegs durchringen konnte), außerdem so erfreuliche Dinge wie Bürgerbewegungen (freilich ohne dieses westliche Wort) und so unerfreuliche wie ein nach innen wirkender Geheimdienst.
Kein Wunder - nicht nur in der Romanwelt ist Zeit vergangen, auch die Welt, in der die Strugatzkis lebten, hatte sich in einem Vierteljahrhundert verändert, und mehr noch die Haltung der Autoren zu dieser Welt, zu ihrer Gegenwart und zu ihren möglichen Zukünften. Im Mai 2199, anderthalb Jahre vor dem Ende des 22. Jahrhunderts, stürzt die »Große Offenbarung« die Welt des »Mittags« schließlich in eine Sinnkrise. Das Hauptproblem ist dabei jedoch nicht das Auftauchen der Übermenschen oder die Frage, wie man die Beziehungen zu ihnen gestalten soll - es geht vielmehr um einen krassen Wechsel in der Perspektive, die sich der Menschheit bietet. Eben noch wusste man sich auf einem zwar schwierigen, doch geradlinigen und praktisch endlosen Weg in eine Zukunft, in der der Mensch immer mächtiger und zugleich menschlicher wird; nun erscheinen diese beiden Eigenschaften entkoppelt, der Homo sapiens findet sich auf einem von der Hauptstraße abzweigenden Seitenpfad wieder. Und was am quälendsten ist: Er hat keine Ahnung, was auf jener Hauptstraße wirklich vorgeht, und wird es, solange er Mensch bleibt, auch nie erfahren.
Die Utopie des »Mittags« war von Anfang an als eine sich entwickelnde, fortschreitende Welt angelegt. Dies entsprach dem Lebensgefühl der sowjetischen Intelligenz in den frühen 1960er Jahren. Die folgenden achtzehn Jahre der Breschnew-Ära jedoch wurden schon recht bald als bleierne Zeit der Stagnation empfunden. Als die Strugatzkis 1983/84 »Die Wellen ersticken den Wind« schrieben, war Breschnew gerade gestorben, aber sein Nachfolger Andropow hatte begonnen, die Schrauben eher noch fester anzuziehen, und niemand, wirklich niemand rechnete mit Glasnost und Perestroika. Und ausgerechnet in diesem Moment bringen die Brüder Strugatzki einen Roman heraus, der stärker als jedes ihrer anderen Bücher erfüllt ist vom Vorgefühl radikaler Veränderungen und Umwertungen. Weitergehen wird es nach der Krise, man weiß nur nicht, wie - aber man weiß, dass es ganz anders sein wird. Zu den bemerkenswerten Details der neueren sowjetisch-russischen Geschichte, die die Strugatzkis vorausgeahnt haben - wenn es denn eine Vorahnung war -, gehören die komplette Desorientierung, der recht bald einsetzende Wunsch, möglichst doch so weiterzumachen wie bisher, und der erbitterte Streit um die Deutung, wie es zu der Krise kam und wer darin welche Rolle spielte (der im Westen so beliebte Michail Gorbatschow beispielsweise ist den meisten Russen heute verhasst). Doch während alle anderen die Ereignisse als Schock und Bedrohung empfinden, gewinnt Leonid Gorbowski, der Lieblingsheld der Strugatzkis in der Welt des »Mittags«, der sich lebensmüde zum Sterben niedergelegt hatte, auf einmal wieder Interesse am Dasein …
Die Strugatzkis, bekannt für ihre Vorliebe für offene Schlüsse, haben so der ganzen Welt des »Mittags« ein offenes Ende zugedacht. Es gibt jedoch noch ein anderes Ende, das einen Strich unter diese Welt zieht, nein: gezogen hätte. Kurz vor dem Tod Arkadis hatten die Autoren mit der Arbeit an einem vierten Maxim-Kammerer-Roman begonnen. Im Vorwort zu einer dreibändigen Anthologie, in der andere russische Autoren Motive aus Werken der Strugatzkis aufgegriffen und fortgeführt haben, schrieb Boris Strugatzki 1997:
Im letzten Roman der Strugatzkis, den sie zu einem erheblichen Teil konzipiert, aber nicht mehr geschrieben haben, einem Roman, der nicht einmal einen Titel hat (nicht einmal das, was man dem Verlag früher als »Arbeitstitel« avisierte), einem Roman, der nun nicht mehr geschrieben werden wird, weil es die Brüder Strugatzki nicht mehr gibt und S. Witizki ihn allein nicht schreiben will - an diesem Roman also waren für die Autoren vor allem zwei Einfälle verlockend.
Erstens gefiel ihnen (erschien ihnen originell und nichttrivial) die Welt des Inselimperiums, die mit der erbarmungslosen Rationalität eines Demiurgen erbaut war, der verzweifelt jeden Versuch aufgegeben hat, das Böse auszurotten. Diese Welt war, grob gesagt, in drei Kreisen angelegt: Der äußere Kreis war die Kloake, die Senkgrube, die Hölle jener Welt - dort sammelte sich der Abschaum der Gesellschaft, alle Säufer, Schläger und Lumpen, alle Sadisten und geborenen Mörder, Vergewaltiger, aggressiven Grobiane, Perversen, moralisch Entarteten - die Fäulnis, der Auswurf, die Fäkalien des Soziums. Dort war ihr Reich, dort kannten sie keine Strafe, dort lebten sie nach den Gesetzen von Stärke, Gemeinheit und Hass. Mit diesem Kreis schirmte sich das Imperium gegen die ganze übrige Ökumene ab, verteidigte sich und schlug zu. Der mittlere Kreis wurde von gewöhnlichen Menschen bevölkert, die in keine Extreme fielen, Menschen wie wir, ein bisschen schlechter, ein bisschen besser, noch längst keine Engel, aber auch schon keine Teufel mehr. Im Zentrum jedoch herrschte die Welt der Gerechtigkeit. »Mittag, 22. Jahrhundert«. Eine warme, gastliche, gefahrlose Welt des Geistes, des Schöpfertums und der Freiheit, bewohnt durchweg von begabten, prächtigen, freundlichen Menschen, die alle Gebote ihrer hohen Ethik strikt befolgten. Jeder im Imperium Geborene fand sich unweigerlich in »seinem« Kreis wieder, die Gesellschaft drängte ihn mit sanfter (und notfalls auch mit grober) Gewalt dorthin, wo sein Platz war - gemäß seinen Talenten, seinem Temperament und seiner moralischen Potenz. Dieses Abdrängen erfolgte sowohl automatisch als auch vermittels eines sozialen Mechanismus (einer Art Sittenpolizei). Das war eine Welt, wo das Prinzip »Jedem das Seine« in seiner allgemeinsten Bedeutung herrschte. Hölle, Fegefeuer und Paradies. Die klassische Dreiheit.
Und zweitens gefiel den Autoren der Schluss, den sie sich ausgedacht hatten. Da hat Maxim Kammerer alle Kreise durchlaufen und ist ins Zentrum gelangt, er betrachtet verblüfft dieses paradiesische Leben, das in nichts hinter dem auf der Erde zurücksteht, und wie er so mit einem hochgestellten und hochgeistigen Einheimischen spricht, von ihm alle Einzelheiten über den Aufbau des Imperiums erfährt und versucht, das Unvereinbare zu vereinen, das Unbegreifliche zu begreifen, das nicht Zusammenpassende zusammenzufügen, hört er plötzlich die höfliche Frage: »Was denn, ist bei Ihnen die Welt etwa anders eingerichtet?« Und er beginnt zu reden, zu erklären, die hohe Theorie der Erziehung darzulegen, von den Lehrern zu sprechen, von der sorgsamen, mühevollen Arbeit an jeder einzelnen Kinderseele … Der Einheimische hört zu, lächelt, nickt, und dann bemerkt er wie beiläufig: »Elegant. Eine sehr schöne Theorie. Aber leider in der Praxis absolut nicht zu verwirklichen.« Und während ihn Maxim, dem es die Sprache verschlagen hat, anstarrt, sagt der Einheimische den Satz, um dessentwillen die Strugatzkis bis zuletzt diesen Roman schreiben wollten: »Die Welt kann nicht so eingerichtet sein, wie Sie es mir gerade erzählt haben. Solch eine Welt kann nur erdacht werden. Ich fürchte, mein Freund, ihr lebt in einer Welt, die jemand erdacht hat - ohne euch und vor euch -, ohne dass ihr es ahnt …«
Nach der Idee der Autoren sollte dieser Satz den Schlusspunkt unter die Lebensbeschreibung Maxim Kammerers setzen. Er sollte den ganzen Zyklus von der Welt des Mittags abschließen. Eine Art Fazit einer ganzen Weltanschauung. Ihr Nachruf. Oder ihre Verurteilung?
Wie Boris Strugatzki an anderer Stelle mitgeteilt hat, gab es für diesen Romanentwurf die Arbeitstitel »Operation Virus« und »Der weiße Läufer« (beides in »Die Wellen ersticken den Wind« beiläufig erwähnt), und das (wenige) vorhandene Material dazu hat er vor Jahren einem anderen Petersburger Schriftsteller übergeben und ihm erlaubt, es für ein eigenes Werk zu benutzen; seither hat man davon nichts mehr gehört.
Hätte Maxim Kammerer nach allem, was er im Inselimperium gesehen und gehört hatte, nicht zur Zeit der »Großen Offenbarung« seine Welt des »Mittags« schon mit etwas anderen Augen sehen müssen? Vielleicht. Aber auch die von ihm entdeckten Übermenschen, die Menten, sind ja für seine Welt nur so lange ein brennendes Problem, wie sie in sie eingreifen - in dem Maße, wie sie sich in von Menschen unerreichbare Sphären zurückziehen, werden sie einfach ein weiteres von zahllosen Phänomenen des Universums, und die Bewohner der Welt des »Mittags« widmen sich wieder dem, wozu die Brüder Strugatzki mehr als viele andere beigetragen haben und woran wir alle mehr oder weniger bewusst, mit mehr oder weniger Erfolg arbeiten: dem Erdenken der eigenen Welt.
Gesammelte Werke 1
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