2. JUNI’78
Eine unerwartete Reaktion Seiner
Exzellenz
Er hörte mir bis zum Ende und ohne mich ein
einziges Mal zu unterbrechen zu. Das war ein schlechtes Zeichen.
Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass seine
Unzufriedenheit vielleicht nicht mit mir zusammenhing, sondern mit
anderen, mir unbekannten Umständen. Als er mich aber bis zu Ende
angehört hatte, sagte er finster: »Bei der Glumowa hast du fast
nichts erreicht.«
»Ich war an die Legende gebunden«, antwortete ich
trocken.
Er widersprach nicht. »Was gedenkst du als Nächstes
zu tun?«, fragte er.
»Ich glaube, hierher wird er nicht wieder
zurückkommen.« »Das glaube ich auch. Und zu Maja Glumowa?« »Schwer
zu sagen. Das heißt, eigentlich kann ich gar nichts sagen; ich
verstehe es nicht. Aber die Möglichkeit besteht natürlich.«
»Wie ist deine Meinung: Wozu hat er sich überhaupt
mit ihr getroffen?«
»Das ist es eben, was ich nicht verstehe,
Exzellenz. Es sieht ganz so aus, als hätten sie sich geliebt und
sich ihren Erinnerungen hingegeben. Nur war die Liebe nicht ganz
das, was man sonst darunter versteht, und die Erinnerungen waren
nicht einfach nur Erinnerungen. Sonst wäre Maja Glumowa nicht in
einem solchen Zustand gewesen. Gewiss, wenn er sich wie ein Schwein
hat volllaufen lassen, ist er vielleicht ausfallend geworden, hat
sie gekränkt oder verletzt. Vor allem, wenn man bedenkt, was für
eine seltsame Beziehung die beiden als Kinder hatten.«
»Übertreib nicht«, knurrte Seine Exzellenz. »Sie
sind längst keine Kinder mehr. Stellen wir die Frage so: Wenn er
sie wieder
anruft oder zu ihr kommt, wird sie dann mit ihm sprechen, ihn
empfangen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich
schon. Er bedeutet ihr immer noch sehr viel. Sie wäre niemals so
verzweifelt gewesen wegen eines Menschen, der ihr gleichgültig
ist.«
»Das ist Lyrik«, knurrte Seine Exzellenz und
schnauzte mich plötzlich an: »Du hättest herausfinden müssen, warum
er sie zu sich bestellt hat! Worüber sie gesprochen haben! Was er
zu ihr gesagt hat!«
Jetzt wurde ich wütend. »Nichts davon konnte ich
herausfinden«, sagte ich. »Sie war hysterisch. Und als sie zu sich
kam, saß ein Idiot von einem Journalisten vor ihr mit einem
zolldicken Fell.«
Er unterbrach mich. »Du musst dich noch einmal mit
ihr treffen.«
»Nur, wenn ich meine Legende ändern darf!«
»Was schlägst du vor?«
»Zum Beispiel: Ich bin von der KomKon. Auf einem
bestimmten Planeten ist ein Unglück geschehen. Lew Abalkin war
Augenzeuge. Aber das Unglück hat ihn so sehr erschüttert, dass er
auf die Erde geflohen ist und jetzt niemanden sehen will. Er ist
psychisch angeschlagen, beinahe krank. Wir suchen ihn, um zu
erfahren, was sich dort ereignet hat.«
Seine Exzellenz schwieg, mein Vorschlag gefiel ihm
nicht; er sah unzufrieden aus. Ich betrachtete eine Zeit lang die
Glatze mit den Sommersprossen, die den Bildschirm fast vollständig
ausfüllte, um dann, etwas zurückhaltender, zu erläutern: »Verstehen
Sie, Exzellenz, ich kann jetzt nicht mehr so lügen wie am Anfang.
Sie war schon darauf gekommen, dass ich nicht zufällig bei ihr
auftauchte. Ich konnte sie, wie es scheint, vom Gegenteil
überzeugen. Wenn ich aber noch einmal in derselben Rolle auftauche,
widerspricht das nun wirklich dem gesunden Menschenverstand!
Entweder sie glaubt,
dass ich Journalist bin - dann hätte sie nichts mit mir zu
besprechen und würde mich gleich zum Teufel jagen. Oder sie glaubt
es nicht, und dann schickt sie mich erst recht zum Teufel. Ich
zumindest würde das tun. Als Vertreter der KomKon aber habe ich das
Recht, Fragen zu stellen, und ich werde mir natürlich Mühe geben,
so zu fragen, dass sie mir antwortet.«
Ich glaube, das klang recht logisch. Zudem fiel mir
im Moment keine bessere Vorgehensweise ein. In der Rolle des blöden
Journalisten würde ich jedenfalls nicht wieder bei ihr auftauchen.
Letzten Endes aber weiß Seine Exzellenz am besten, was wichtiger
ist: den Mann zu finden oder das Fahndungsgeheimnis zu
wahren.
Ohne aufzuschauen, fragte er: »Warum warst du heute
Morgen im Museum?«
Ich war überrascht. »Was heißt - warum? Ich wollte
mit Maja Glumowa sprechen.«
Er hob langsam den Kopf, und ich sah seine Augen.
Die Pupillen weiteten sich über die ganze Iris aus. Ich zuckte
buchstäblich zurück. Kein Zweifel, ich hatte gerade etwas ganz
Fürchterliches gesagt. Wie ein Schuljunge begann ich zu stottern:
»Aber sie arbeitet doch da. Wo sollte ich mich denn sonst mit ihr
unterhalten? Zu Hause war sie nicht zu erreichen.«
»Die Glumowa arbeitet im Museum für Außerirdische
Kulturen?«, fragte er, die Worte sehr deutlich artikulierend.
»Ja, aber was ist denn …?«
»In der Spezialabteilung für Objekte ungeklärter
Bestimmung …«, sagte er leise. War es eine Frage oder eine
Feststellung? Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich sah,
wie sich sein linker Mundwinkel nach unten und nach links
verzog.
»Ja«, flüsterte ich.
Seine Augen verschwanden; die Glatze füllte wieder
den ganzen Bildschirm aus.
»Exzellenz …«
»Schweig!«, schnauzte er. Und dann schwiegen wir
beide sehr lange.
»So«, sagte er schließlich mit normaler Stimme. »Du
fährst jetzt nach Hause. Bleibst dort und gehst nicht außer Haus.
Es kann sein, dass ich dich von einer Minute auf die andere
brauche. Wahrscheinlich nachts. Wie lange wirst du unterwegs
sein?«
»Zweieinhalb Stunden.«
»Warum so lange?«
»Ich muss noch über den See schwimmen.«
»Gut. Wenn du zu Hause bist, erstatte Meldung.
Beeil dich.«
Und der Bildschirm wurde dunkel.
Aus dem Bericht Lew Abalkins
Der Regen wird wieder stärker, der Nebel immer
dichter, so dass von der Straßenmitte aus die Häuser rechts und
links kaum noch zu sehen sind. Die Experten geraten in Panik - sie
befürchten, bald könnten die bio-optischen Umsetzer versagen. Ich
beruhige sie. Kaum sind sie beruhigt, fordern sie mich auf, den
Nebelscheinwerfer einzuschalten. Nachdrücklich. Also tue ich ihnen
den Gefallen. Gerade wollen sie triumphieren, als sich Wepl mitten
auf der Straße auf seinen Schwanz setzt und verkündet, er werde
keinen weiteren Schritt mehr tun, solange dieser blöde Regenbogen
nicht verschwinde, der ihm Schmerzen in den Ohren und Kribbeln
zwischen den Zehen verursache. Er, Wepl, könne auch ohne die
unsinnigen Scheinwerfer bestens sehen. Und wenn die Experten nichts
sähen, dann bräuchten sie auch nichts zu sehen. Sie sollten
sich lieber mit Nützlichem befassen, zum Beispiel damit, bis zu
seiner, Wepls, Rückkehr Haferbrei mit Bohnen zuzubereiten. Ausbruch
der Empörung. Im Allgemeinen fürchten sich die Experten vor Wepl.
Jeder Erdenmensch, der mit einem Kopfler Bekanntschaft schließt,
beginnt früher oder später, sich vor ihm zu fürchten. Aber
gleichzeitig, so paradox es auch ist, ist derselbe Erdenmensch
nicht in der Lage, in einem Kopfler etwas anderes zu sehen als
einen großen sprechenden Hund (Zirkus, Wunder der Tierpsychologie
und so …).
Einer der Experten ist so unvorsichtig, Wepl zu
drohen, er bekäme kein Mittagessen, wenn er störrisch bliebe. Wepls
Stimme wird lauter. Er sagt, er, Wepl, sei sein Leben lang sehr
gut, ja bestens, ohne Experten ausgekommen. Mehr noch, wir würden
uns hier immer gerade dann am wohlsten fühlen, wenn von Experten
weder etwas zu sehen noch zu hören sei. Was aber den Experten
anginge, der es anscheinend auf seinen, Wepls, Haferbrei mit Bohnen
abgesehen habe … Und so weiter und so fort.
Ich stehe im Regen, der immer stärker und stärker
wird, höre mir dieses Experten-Bohnen-Gefasel an und schaffe es
nicht, aus einer Art tiefen Betäubung, einem Schlaf zu erwachen.
Mir ist, als sähe ich mir eine besonders dumme Theatervorstellung
an, die weder Anfang noch Ende hat, wo alle handelnden Personen
ihre Rollen vergessen haben und einfach sagen, was ihnen in den
Sinn kommt, in der vergeblichen Hoffnung, alles werde irgendwie
wieder ins Lot kommen. Diese Vorstellung wird speziell für mich
gegeben, um mich möglichst lange auf meinem Platz zu halten, damit
ich mich keinen Schritt fortbewege. In der Zwischenzeit aber sorgt
jemand hinter den Kulissen eilig dafür, dass ich endgültig
begreife: Es hat alles keinen Sinn, da kann man nichts machen, nur
wieder nach Hause zu gehen …
Mit großer Anstrengung reiße ich mich zusammen und
schalte den verdammten Scheinwerfer aus. Wepl bricht eine
lange, sorgsam durchdachte Schimpftirade mitten im Wort ab und
geht vorwärts, als sei nichts gewesen. Ich folge ihm und höre, wie
Vanderhoeze an Bord für Ordnung sorgt: »Eine Schande! Die
Einsatzgruppe zu stören! Ich lasse sofort die Kabine räumen! Jage
euch raus! … Zustände!«
»Macht dir das Spaß?«, frage ich Wepl leise.
Er schielt mit dem kugeligen Auge herüber.
»Ziemlich intrigant«, sage ich. »Ihr Kopfler seid
überhaupt alle Intriganten und Streithammel …«
»Es ist feucht«, sagt Wepl unpassenderweise. »Und
jede Menge Frösche. Man weiß nicht, wohin man den Fuß setzen soll …
Wieder Lastwagen«, teilt er mit.
Aus dem Nebel dringt deutlich und streng der
Gestank von nassem rostigem Eisen zu uns, und eine Minute später
stehen wir inmitten einer riesigen, ungeordneten Ansammlung
unterschiedlichster Autos.
Da stehen offene Lastwagen und geschlossene
Lastwagen mit Kofferaufbau, riesige Tieflader, winzige,
tropfenförmige Sportwagen, aber auch grässliche Konstruktionen mit
Autosteuerung und acht mannshohen Rädern. Sie stehen mitten auf der
Straße, auf den Fußwegen, kreuz und quer, die Stoßstangen
ineinandergerammt, manche hängen halb übereinander - und sind so
verrostet, dass sie beim geringsten Stoß gewiss auseinanderfallen
werden. Hunderte Autos. Schnell voranzukommen ist unmöglich; wir
müssen um sie herumgehen, über sie drüberklettern, uns zwischen
ihnen hindurchzwängen. Alle Wagen sind zudem mit Hausrat beladen,
und auch der ist längst bis zur Unkenntlichkeit verfault, verrottet
und verrostet …
Irgendwo, ganz am Rande meiner Wahrnehmung,
plappern noch die zurechtgewiesenen Experten, tönt Vanderhoeze mir
aufgeregt ins Ohr; aber ich habe gerade keine Zeit für sie:
Fluchend ziehe ich meinen Fuß aus dem stinkenden Morast
halbverwester Lumpen und breche gleich danach, wieder fluchend,
in riesige Kisten ein, wo nackte, rosige Rattenjunge inmitten von
Bergen vergammelten Papiers verzweifelt vor sich hin fiepen. Dann
breche ich, wieder fluchend, mit der Schulter durch eine verfaulte
Holzwand und stehe auf einmal im Freien, im Regen, mitten in einer
Pfütze, und die Frösche springen erschrocken zur Seite. Ich gehe
weiter. Unter den Füßen knirscht und klirrt zerbrochenes Glas;
Dosen (oder was ist das?) rollen zur Seite. Ein Stück vernickeltes
Eisen zerfällt zu Staub, als ich versuche, meine Hand darauf zu
stützen. Und einmal bricht plötzlich die Wand eines Kastenwagens,
so groß wie ein Interkontinental-Container, von selbst in der Mitte
durch. Mit fauligem Schmatzen quellen Ströme von undefinierbarem
Müll hervor. Darüber hängen dicke, widerlich stinkende Dunstwolken
…
Aber dann, ganz plötzlich, hört das chaotische
Labyrinth auf.
Ringsumher stehen zwar noch immer Autos, Hunderte
von Autos, jetzt aber relativ geordnet, zu beiden Seiten der
Fahrbahn und auf dem Fußweg aufgereiht, wobei die Mitte der Straße
wieder völlig frei ist.
Ich schaue Wepl an. Der schüttelt sich wütend,
kratzt sich mit allen vier Pfoten zugleich, leckt sich den Rücken,
spuckt, flucht … und fängt wieder an, sich zu schütteln, zu kratzen
und zu lecken.
Vanderhoeze erkundigt sich besorgt, warum wir
abseits der Marschroute gingen und was das für ein Warenlager
gewesen sei. Ich erkläre, dass es gar kein Warenlager gewesen sei.
Wir haben eine Diskussion zum Thema: Wenn das Spuren einer
Evakuierung sind, warum ist die Bevölkerung dann vom Stadtrand zum
Zentrum hin evakuiert worden?
»Zurück gehe ich auf diesem Weg aber nicht«,
erklärt Wepl, hebt seine Pfote und zerdrückt mit einem wütenden
Schlag einen vorbeihüpfenden Frosch auf der Fahrbahn.
Um zwei Uhr nachmittags verbreitet der Stab die
erste zusammenfassende Meldung. Es hat hier eine ökologische
Katastrophe
gegeben; zugrunde gegangen ist die Zivilisation aber infolge einer
anderen, bislang unbekannten Ursache. Die gesamte Bevölkerung
verschwand quasi binnen einer Stunde, aber sie hat sich weder in
einem Krieg vernichtet noch ist sie in den Weltraum geflüchtet -
die Technik ist nicht dementsprechend. Und überhaupt: Der Planet
ist kein Friedhof, sondern eine einzige Müllkippe. Die traurigen
Reste der eingeborenen Bevölkerung fristen ihr Dasein auf dem
Lande, bearbeiten mehr schlecht als recht den Boden, haben
keinerlei kulturelle Tradition, können aber hervorragend mit
automatischen Gewehren umgehen. Das Fazit für Wepl und mich: Die
Stadt ist absolut leer. Mir erscheint diese Folgerung aber
zweifelhaft. Wepl auch.
Die Straße wird breiter. Häuser und Wagenreihen auf
beiden Seiten der Straße verschwinden nun völlig im Nebel, und ich
habe das Gefühl, als sei vor mir ein offener, freier Platz. Noch
ein paar Schritte, und vor uns taucht eine gedrungene quadratische
Silhouette aus dem Nebel auf. Es ist wieder ein Panzerwagen -
genauso einer wie der, den wir unter der umgestürzten Wand gesehen
haben. Aber dieser hier ist unter dem eigenen Gewicht
zusammengesackt, fast schon in den Asphalt hineingewachsen. Alle
Luken stehen weit offen. Zwei kurze MG-Läufe - einst bedrohlich
jedem entgegengereckt, der auf den Platz trat - sind abgesackt und
hängen schlaff und trostlos in der Öffnung; rostige Tropfen rinnen
heraus auf den schiefen Schutzschild. Im Vorbeigehen gebe ich der
offenen Seitentür einen Tritt, aber sie ist festgerostet.
Vor mir sehe ich nichts. Der Nebel auf dem Platz
ist sehr sonderbar - unnatürlich dicht, als läge er schon seit
vielen, vielen Jahren hier und sei mit der Zeit abgestanden, wie
Milch geronnen, durch die eigene Schwere abgesunken.
»Unter die Füße!«, kommandiert Wepl
plötzlich.
Ich sehe nach unten und sehe nichts. Stattdessen
wird mir plötzlich klar, dass unter unseren Füßen kein Asphalt mehr
ist, sondern etwas Weiches, Federndes und Klebriges, wie ein
dicker nasser Teppich. Ich hocke mich hin.
»Du kannst deinen Scheinwerfer einschalten«, knurrt
Wepl.
Aber ich sehe auch ohne den Scheinwerfer, dass der
Asphalt hier nahezu lückenlos mit einer dicken, unappetitlichen
Schicht überzogen ist - einer feuchten Masse, wie zusammengepresst,
auf der in den verschiedensten Farben dicker Schimmel wächst. Ich
ziehe das Messer heraus, hebe eine Lage dieser Schicht ab, und
stoße auf einen Lappen oder das Stück eines Gurts. Darunter schaut
in trübem Grün etwas Rundes heraus (ein Knopf oder eine Schnalle?),
und ein paar Drahtfedern beginnen sich langsam zu strecken …
»Alle sind sie hier gegangen«, sagt Wepl in einem
merkwürdigen Tonfall.
Ich stehe auf und gehe weiter über das Weiche,
Glitschige. Ich versuche, meine Phantasie im Zaum zu halten, aber
es gelingt mir nicht. Alle sind sie hier gegangen, auf genau diesem
Weg, haben ihre Sportwagen und Laster, die sie nicht mehr
brauchten, stehen lassen. Hunderttausende, Millionen sind von der
Hauptstraße auf diesen Platz geströmt, um den Panzerwagen herum,
bestückt mit bedrohlichen, aber machtlosen Maschinengewehren. Haben
im Gehen das wenige fallen lassen, was sie hatten mitnehmen wollen.
Sind gestolpert und gestürzt, ohne wieder aufstehen zu können. Und
alles, was zu Boden fiel, wurde von Millionen Füßen zertreten,
wieder und wieder zertreten. Und ich weiß nicht, warum, doch mir
scheint, als wäre das alles in der Nacht passiert - Massen von
Menschen, erhellt von einem unwirklichen, toten Licht, eine Stille
wie im Traum …
»Eine Grube«, sagt Wepl.
Ich habe den Scheinwerfer eingeschaltet. Keine Spur
von einer Grube. So weit der Lichtstrahl reicht, ist auf dem
großen, ebenen Platz nur das Leuchten des lumineszierenden
Schimmels zu sehen - zahllose trübe Feuerchen … Zwei
Schritte voraus aber erkenne ich ein dunkles, etwa zwanzig mal
vierzig Zentimeter großes Rechteck blanken Asphalts. Es schimmert
schwarz und feucht und sieht aus, als sei es aus dem verschimmelten
Teppich akkurat herausgeschnitten.
»Stufen!«, sagt Wepl wie verzweifelt. »Mit Löchern!
Tief! Ich sehe kein …«
Ich bekomme eine Gänsehaut. Noch nie habe ich Wepl
mit einer so sonderbaren Stimme sprechen hören. Ich sehe nicht hin,
aber lege die Hand auf seinen großen Kopf mit der hohen Stirn und
spüre das nervöse Zucken des dreieckigen Ohrs. Der furchtlose Wepl
ist erschrocken. Der furchtlose Wepl schmiegt sich an mein Bein,
genauso wie sich seine Vorfahren an die Beine ihrer Herren
geschmiegt haben, wenn sie vor der Höhle etwas Unbekanntes oder
Gefährliches witterten …
»Da ist kein Boden«, sagt er verzweifelt. »Das
verstehe ich nicht. Es gibt immer einen Boden. Sie sind alle dort
hineingegangen, aber da ist kein Boden, und niemand ist
zurückgekehrt. Müssen wir dort hinein?«
Ich hocke mich wieder hin, umarme ihn. »Ich sehe
hier keine Grube«, sage ich in der Kopflersprache. »Ich sehe nur
ein ebenes, rechteckiges Stück Asphalt.«
Wepl atmet schwer, seine Muskeln sind angespannt,
und er drückt sich immer enger an mich. »Du kannst es nicht sehen«,
sagt er. »Es sind vier Treppen mit löchrigen Stufen. Abgetreten.
Glänzend. Immer tiefer und tiefer. Und nirgendwohin. Ich will nicht
da hinunter. Befiehl es nicht.«
»Wepl«, sage ich. »Was ist denn mit dir los? Wie
könnte ich dir etwas befehlen?«
»Bitte mich nicht«, sagt er, »ruf nicht, fordere
mich nicht auf.«
»Wir gehen jetzt von hier weg«, antworte ich.
»Ja, und zwar schnell!«
Ich diktiere eine Meldung. Vanderhoeze hat meine
Leitung gleich zum Stab weitergeschaltet, und als ich fertig bin,
weiß schon die ganze Expedition Bescheid. Großes Durcheinander,
Geschrei. Hypothesen werden aufgestellt, Maßnahmen vorgeschlagen.
Viel Lärm. Wepl kommt allmählich zu sich: Er schielt mit dem gelben
Auge herüber und leckt sich in einem fort. Schließlich schaltet
sich Komow selbst ein. Das Geschrei hört auf. Wir bekommen den
Befehl, weiter vorzudringen, und folgen ihm bereitwillig.
Wir machen einen Bogen um das unheimliche Rechteck,
überqueren den Platz, passieren einen zweiten Panzerwagen, der die
Hauptstraße auf der gegenüberliegenden Seite blockiert, und stehen
erneut zwischen zwei Kolonnen verlassener Fahrzeuge. Wepl läuft
munter voraus. Er ist wieder ganz der Alte - energiegeladen,
streitsüchtig und hochmütig. Insgeheim muss ich lächeln. Mir an
seiner Stelle wäre es schrecklich peinlich, wenn ich mich auf dem
Platz nicht im Griff gehabt und einen solch panischen Anfall
bekommen hätte, ja, mich gefürchtet hätte wie ein Kind … Nicht aber
Wepl. Er quält sich deswegen ganz und gar nicht. Ja, er hat sich
gefürchtet und es nicht verbergen können, aber er sieht darin
nichts Beschämendes, nichts Peinliches.
Jetzt beginnt er laut zu überlegen: »Sie sind alle
unter die Erde gegangen. Wenn es da einen Boden gäbe, würde ich
denken, sie lebten jetzt alle unter der Erde, sehr tief, unhörbar.
Aber da ist kein Boden! Und ich verstehe nicht, wo sie dort leben
sollten. Ich begreife nicht, warum es da keinen Boden gibt und wie
das sein kann.«
»Versuch es zu erklären«, sage ich zu ihm. »Das ist
sehr wichtig.«
Aber Wepl kann es nicht erklären. Er wiederholt
nur, wie unheimlich, ja furchterregend es sei. Die Planeten sind
rund, versucht er zu erläutern, und dieser Planet hier ist auch
rund, ich habe es selbst gesehen, aber auf diesem Platz ist er
nicht
rund. Dort ist er wie ein Teller. Und in dem Teller ist ein Loch.
Das Loch führt von dem einen Leerraum, wo wir uns befinden, direkt
in einen anderen, wo wir nicht sind.
»Aber warum habe ich dieses Loch nicht
gesehen?«
»Weil es zugeklebt ist. Du kannst es nicht sehen.
Für solche wie dich ist es zugeklebt, nicht aber für solche wie
mich …«
Dann, plötzlich, wittert er wieder Gefahr - eine
gewöhnliche und nicht besonders große. Lange war sie verschwunden.
Jetzt ist sie wieder da.
Eine Minute später bricht von der Fassade eines
Hauses rechts von uns der Balkon im zweiten Stock ab und stürzt
hinunter. Sofort frage ich Wepl, ob sich jetzt die Gefahr
verringert habe. Er antwortet umgehend: Ja, ein wenig, aber nicht
sehr. Ich will ihn fragen, von welcher Seite uns die Gefahr jetzt
droht, als mich plötzlich im Rücken ein starker Luftschwall trifft.
In meinen Ohren pfeift es. Wepl sträubt sich das Fell.
Es ist, als wehe ein Orkan durch die Straße - ein
heißer, mit dem Geruch von Eisen versetzter Orkan. Zu beiden Seiten
der Straße stürzen krachend Balkons und Simse herab. Von einem
langen niedrigen Haus löst sich das Dach; alt und löchrig, wie es
ist, fliegt es - langsam kreisend und in Stücke brechend - auf das
Pflaster und verschwindet in einer gelben Staubwolke.
»Was geht da bei euch vor?«, schreit
Vanderhoeze.
»Irgendein Luftzug«, antworte ich.
Ein neuer Windstoß lässt mich wider Willen
vorwärtslaufen. Das ist irgendwie demütigend.
»Abalkin! Wepl!«, brüllt Komow. »Haltet euch in der
Mitte! Bleibt weg von den Häusern. Ich blase gerade den Platz
durch; es kann bei euch zu Einstürzen kommen …«
Und ein dritter, kurzer und heißer Orkan braust die
Hauptstraße entlang - just in dem Moment, als Wepl versucht, sich
gegen den Wind zu drehen. Schon wird er von den Füßen gerissen
und schlittert - welche Erniedrigung! - in Gesellschaft einer
unvorsichtigen Ratte über die Fahrbahn.
»Ist es jetzt vorbei?«, fragt er gereizt, als sich
der Orkan legt; er versucht nicht einmal, wieder auf die Füße zu
kommen.
»Vorbei«, sagt Komow. »Ihr könnt
weitergehen.«
»Vielen, vielen Dank«, zischt Wepl giftig.
Im Äther kichert jemand, der sich nicht beherrschen
kann. Anscheinend Vanderhoeze.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagt Komow. »Aber
ich musste den Nebel auflösen.«
Als Antwort stößt Wepl den längsten und
ausgefeiltesten Fluch der Kopflersprache aus; dann steht er auf,
schüttelt sich ausgiebig und erstarrt in unbequemer Haltung.
»Lew«, sagt er. »Keine Gefahr mehr. Gar keine.
Weggeweht.«
»Wenigstens etwas«, antworte ich.
Eine Nachricht von Espada, in der er uns eine
äußerst emotionale Beschreibung des Obersten Gatta’uchs liefert.
Ich sehe ihn wie lebendig vor mir: einen schrecklich schmutzigen,
stinkenden Greis voller Ausschlag und Grinden. Er sieht aus, als
sei er zweihundert, behauptet aber, er sei einundzwanzig. In einem
fort krächzt er, hustet, spuckt aus und schnäuzt sich. Auf den
Knien hält er ein automatisches Gewehr und ballert damit von Zeit
zu Zeit über Espadas Kopf hinweg ins Blaue. Er hat keine Lust, auf
Fragen zu antworten, stellt aber unablässig selbst welche; die
Antworten hört er betont unaufmerksam an und erklärt jede zweite
lauthals zur Lüge.
Die Hauptstraße mündet in den nächsten Platz. Nein,
es ist weniger ein Platz als vielmehr eine halbrunde Parkanlage.
Sie liegt auf der rechten Seite; dahinter erstreckt sich ein langes
Gebäude mit einer gebogenen, gelb gestrichenen Fassade mit falschen
Säulen darauf. Auch das Gebüsch der Parkanlage
ist gelb, so als sei schon Herbst. Deshalb bemerke ich nicht
gleich, dass in der Mitte dieses Halbrunds ein weiteres »Glas«
steht.
Es ist hell und glänzt wie neu, als wäre es erst
heute Morgen zwischen den gelben Büschen aufgestellt worden. Ein
Zylinder, zwei Meter hoch und etwa einen im Durchmesser, aus einem
halbdurchsichtigen, bernsteinartigen Material. Er steht senkrecht,
und die ovale Tür ist fest verschlossen.
Bei Vanderhoeze an Bord flammt Enthusiasmus auf,
Wepl aber demonstriert aufs Neue seine Gleichgültigkeit, ja,
Verachtung gegenüber Gegenständen, für die sich »sein Volk nicht
interessiert«: Er beginnt sich augenblicklich zu kratzen und wendet
dem »Glas« dabei sein Hinterteil zu.
Ich gehe einmal um das »Glas« herum, entdecke einen
kleinen Vorsprung an der ovalen Tür, nehme ihn zwischen zwei
Finger, ziehe die Tür einen Spalt weit auf und schaue hinein. Ein
Blick reicht aus. Was ich sehe, ist entsetzlich. Abstoßend.
Ungeheuerlich. Das gesamte Innere des »Glases« ist mit langen,
ekelhaften und in unzähligen Gelenken eingeknickten Gliedmaßen
ausgefüllt. Scheren, einen halben Meter groß, sind vorgestreckt und
übersät mit Dornen. Stumpf und finster, werde ich aus einer
Doppelreihe trüber, mattgrüner Augen angestarrt: eine gigantische
Krebsspinne von der Pandora, in ihrer ganzen Pracht …
Nicht die Angst ließ mich reagieren, sondern der
rettende Reflex auf etwas vollkommen Unvorhergesehenes. Ehe ich
wusste, wie mir geschah, stemmte ich mich schon aus ganzer Kraft
mit der Schulter gegen die zugeschlagene Tür und mit den Füßen in
den Erdboden, schweißnass von Kopf bis Fuß und am ganzen Leibe
zitternd.
Aber Wepl ist schon bei mir, bereit zu sofortigem,
entschlossenem Kampf: Er wippt auf seinen federnden Beinen hin und
her, wiegt erwartungsvoll den großen Kopf, und seine blendend
weißen Zähne glitzern in den Winkeln seiner Schnauze.
Alles das dauert nur ein paar Sekunden, dann fragt er
streitlustig: »Was ist los? Wer hat dir was getan?«
Ich taste nach dem Griff des Scorchers und zwinge
mich, die verdammte Tür loszulassen. Langsam gehe ich rückwärts,
den Scorcher im Anschlag. Wepl folgt mir und wird dabei immer
ärgerlicher.
»Ich habe dich etwas gefragt!«, ruft er
entrüstet.
»Was denn«, presse ich zwischen den Zähnen hervor,
»witterst du immer noch nichts?«
»Wo? Etwa in der Kabine da? Dort ist nichts!«
Vanderhoeze und seine Experten reden aufgeregt auf
mich ein. Ich höre nicht auf sie. Ich weiß selbst, dass ich die Tür
mit einem Balken verkeilen könnte, falls sich einer findet, oder
gleich die ganze Kabine mit dem Scorcher verbrennen … Ich gehe noch
weiter zurück, und lasse dabei kein Auge von der Tür des
»Glases«.
»In der Kabine ist nichts!«, wiederholt Wepl
hartnäckig. »Nichts und niemand. Und das seit vielen, vielen
Jahren. Soll ich die Tür öffnen und dir beweisen, dass dort nichts
ist?«
»Nein«, sage ich und bringe nur mit Mühe meine
Stimme unter Kontrolle. »Wir gehen jetzt hier weg.«
»Ich mache nur die Tür auf …«
»Wepl«, sage ich. »Du irrst.«
»Wir irren uns nie. Ich gehe. Du wirst
sehen.«
»Du irrst dich!«, herrsche ich ihn an. »Wenn du
jetzt nicht mit mir kommst, dann heißt das, dass du nicht mein
Freund bist und ich dir vollkommen gleichgültig bin!«
Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe. Den
Scorcher, entsichert und auf Dauerentladung eingestellt, behalte in
der Hand. Mein Rücken ist so groß, so breit wie die ganze Straße -
und völlig ungeschützt.
Mit äußerst unzufriedenem, mürrischem Ausdruck
tappt Wepl links hinter mir her. Er knurrt und sucht Streit. Als
wir etwa zweihundert Schritt von der Kabine entfernt sind, ich
mich beruhigt habe und nach Wegen suche, mich mit ihm auszusöhnen,
verschwindet Wepl plötzlich. Ich höre, wie seine Krallen über den
Asphalt wetzen, und da ist er auch schon bei der Kabine - zu spät,
ihm hinterherzustürzen, ihn an den Hinterpfoten zu packen und ihn
wegzuzerren. Mein Scorcher ist hier völlig nutzlos; der verdammte
Kopfler aber öffnet die Tür einen Spaltbreit und blickt lange,
endlos lange ins Innere des »Glases« …
Ohne auch nur einen einzigen Laut von sich gegeben
zu haben, schließt er die Tür und kommt zurück. Ein gedemütigter,
vernichteter Wepl. Ein Wepl, der seine komplette Untauglichkeit
vorbehaltlos eingesteht und deshalb in Zukunft jedwede Behandlung
zu dulden bereit ist. Er kehrt zurück, setzt sich zu meinen Füßen
und senkt den Kopf. Wir schweigen. Ich vermeide es, ihn anzusehen.
Ich schaue auf das »Glas« und merke, wie Rinnsale von Schweiß auf
meinen Schläfen trocknen, wie die Haut spannt, das quälende Zittern
in den Muskeln aufhört und von einem dumpfen, ziehenden Schmerz
abgelöst wird. Am liebsten würde ich jetzt zischen: »Du Mistvieh,
Idiot!«, und ihm dann mit ganzer Kraft eine Ohrfeige auf seinen
dummen, sturen und hirnlosen Kopf versetzen. Aber ich sage nur:
»Wir haben Glück gehabt. Aus irgendeinem Grund greifen sie hier
nicht an.«
Eine Mitteilung vom Stab. Man geht davon aus, dass
es sich bei »Wepls Rechteck« um den Eingang zu einem interspatialen
Tunnel handelt, durch den die ganze Bevölkerung des Planeten
evakuiert worden ist. Vermutlich von den Wanderern …
Wir gehen durch einen ungewohnt leeren Stadtteil -
keinerlei Getier, sogar die Mücken sind verschwunden. Mir gefällt
das nicht, aber Wepl kann nichts Beunruhigendes entdecken.
»Diesmal seid ihr zu spät gekommen«, knurrt
er.
»Ja, sieht so aus«, stimme ich zu.
Es ist das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der
Krebsspinne, dass Wepl etwas sagt. Anscheinend möchte er lieber
über etwas reden, was nicht damit zusammenhängt - ein Wunsch, der
bei Wepl recht selten ist.
»Die Wanderer«, brummt er. »Andauernd höre
ich: die Wanderer, die Wanderer … Wisst ihr denn gar
nichts über sie?«
»Sehr wenig. Wir wissen, dass es eine
Superzivilisation ist, dass sie weitaus mächtiger sind als wir. Wir
nehmen an, dass es sich nicht um Humanoide handelt. Und
wahrscheinlich haben sie schon vor sehr langer Zeit unsere ganze
Galaxis erschlossen. Außerdem nehmen wir an, dass sie kein Zuhause
haben - in unserem oder in eurem Sinne des Wortes. Deshalb nennen
wir sie auch die Wanderer.«
»Wollt ihr ihnen begegnen?«
»Ja, wie soll ich es sagen … Komow würde alles
dafür geben. Ich dagegen würde es vorziehen, ihnen nicht zu
begegnen.«
»Fürchtest du sie?«
Ich habe keine Lust, über diese Frage zu sprechen.
Schon gar nicht jetzt.
»Siehst du, Wepl«, sage ich, »das ist eine lange
Geschichte. Du solltest dich besser wieder ein bisschen hier
umsehen. Mir scheint, du bist ein wenig unaufmerksam
geworden.«
»Ich sehe mich um. Alles ist ruhig.«
»Hast du bemerkt, dass alles Getier verschwunden
ist?«
»Das liegt daran, dass hier des Öfteren Menschen
sind«, sagt Wepl.
»Ach so? Da hast du mich aber beruhigt.«
»Jetzt sind keine da. Fast keine.«
Das zweiundvierzigste Viertel geht zu Ende, und wir
kommen an eine Kreuzung. Plötzlich sagt Wepl: »Hinter der Ecke
steht ein Mensch. Allein.«
Es ist ein gebrechlicher alter Mann mit einem
schwarzen, fersenlangen Mantel und einer Pelzmütze, deren
Ohrenklappen
unter dem struppigen, schmutzigen Bart zusammengebunden sind. Er
trägt Handschuhe in leuchtend fröhlichem Gelb und alberne
Stoffschuhe. Er bewegt sich nur mit großer Mühe, kann kaum einen
Fuß vor den anderen setzen. Es sind noch zwanzig Meter bis zu ihm,
doch selbst aus dieser Entfernung ist zu hören, wie er schwer und
pfeifend atmet und immer wieder vor Anstrengung stöhnt.
Er belädt gerade ein Wägelchen, das auf hohen
schmalen Rädern steht und aussieht wie ein Kinderwagen: Zuerst
schleppt er sich durch ein zerbrochenes Schaufenster, verschwindet
dort für längere Zeit und kommt dann langsam wieder heraus. Dabei
stützt er einen Arm gegen die Wand und drückt mit dem anderen,
gekrümmten Arm immer zwei oder drei Dosen mit grellen Etiketten an
die Brust. Jedes Mal, wenn er es bis zu seinem Wägelchen geschafft
hat, lässt er sich erschöpft auf einen kleinen dreibeinigen
Klappstuhl sinken, sitzt eine Zeit lang unbeweglich da und beginnt
dann, ebenso langsam wie vorsichtig, die Dosen aus dem gekrümmten
Arm in den Wagen zu legen. Hat er es geschafft, ruht er sich wieder
aus, als schliefe er im Sitzen. Danach steht er mit wackligen
Beinen auf und geht erneut zum Schaufenster.
Wir stehen hinter der Ecke und geben uns keine
Mühe, uns zu verstecken; wir wissen, dass der Alte um sich herum
weder etwas sieht noch hört. Wepls Worten zufolge ist er hier ganz
allein, ringsum ist niemand, allenfalls sehr weit weg. Ich habe
keine Lust, mit dem Alten Kontakt aufzunehmen, werde es aber
offensichtlich tun müssen - und sei es, um ihm beim Einsammeln der
Dosen zu helfen. Aber ich habe Angst, ihn zu erschrecken. Ich bitte
Vanderhoeze, ihn Espada zu zeigen, soll Espada feststellen, was er
für einer ist - »Zauberer«, »Soldat« oder »Mensch«.
Der Alte hat nun zum zehnten Mal seine Dosen
abgeladen und ruht sich wieder aus, zusammengesunken auf dem
dreibeinigen Stühlchen. Sein Kopf zittert ein bisschen und sinkt
dann immer tiefer auf die Brust. Anscheinend schläft er gerade
ein.
»Ich habe bisher nichts dergleichen gesehen«,
erklärt Espada. »Sprechen Sie mit ihm, Lew.«
»Er ist wirklich sehr alt«, sagt Vanderhoeze
zweifelnd.
»Gleich wird er sterben«, knurrt Wepl.
»Eben«, sage ich. »Insbesondere wenn ich in diesem
merkwürdigen, regenbogenfarbenen Anzug vor ihm auftauche …«
Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, da kippt
der Alte nach vorn und fällt seitwärts auf die Straße.
»Schon vorbei«, sagt Wepl. »Wir können hingehen und
ihn uns ansehen, wenn es dich interessiert.«
Der Alte ist tot; er atmet nicht, und es ist kein
Puls mehr zu spüren. Alles deutet auf einen Infarkt und vollkommene
physische Erschöpfung hin. Nicht vom Hunger - er war einfach sehr,
sehr alt und hinfällig. Ich knie mich neben ihn und betrachte sein
grünlich-weißes, hageres Gesicht, die buschigen grauen Augenbrauen,
den leicht geöffneten, zahnlosen Mund, die eingefallenen Wangen.
Ein sehr menschliches, irdisches Gesicht. Der erste normale Mensch
in dieser Stadt - tot. Und ich kann nichts tun, denn ich habe nur
die Feldausrüstung bei mir.
Ich spritze ihm zwei Ampullen Nekrophag und sage
Vanderhoeze, dass er Ärzte herschicken soll. Ich will mich nicht
länger hier aufhalten. Das wäre sinnlos. Er wird nicht mehr
sprechen, und wenn, dann nicht sehr bald. Bevor ich gehe, bleibe
ich noch eine Minute lang bei ihm stehen, betrachte das halb mit
Konservendosen gefüllte Wägelchen, den umgekippten Klappstuhl, und
denke, dass der Alte dieses Stühlchen sicherlich immer
mitgeschleppt und sich alle paar Minuten zum Ausruhen daraufgesetzt
hat.
Gegen sechs Uhr abends beginnt es zu dämmern. Nach
meinen Berechnungen haben wir bis zum Ende unserer Route noch zwei
Stunden Weg vor uns, und ich schlage Wepl vor,
eine Pause zu machen und etwas zu essen. Erholung hat Wepl nicht
nötig; doch er lässt sich die Gelegenheit, etwas zwischen die Zähne
zu bekommen, natürlich nicht entgehen.
Wir setzen uns auf den Rand eines großen,
ausgetrockneten Springbrunnens, der sich am Fuße eines geflügelten,
steinernen Fabelwesens befindet. Ich öffne die Proviantpakete, wir
essen. Ringsumher sehen wir den matten Widerschein der
Häusermauern, es ist totenstill. Mir fällt ein, dass jetzt auf
Dutzenden der zurückgelegten Kilometer unserer Marschroute keine
tödliche Leere mehr herrscht, sondern Menschen am Werk sind. Ein
angenehmer Gedanke.
Beim Essen spricht Wepl nie. Ist er jedoch satt,
plaudert er gern.
»Dieser Alte«, sagt er, während er sich sorgfältig
die Pfote ableckt, »ob sie ihn wirklich wieder lebendig gemacht
haben?«
»Ja.«
»Er lebt wieder, geht, spricht?«
»Sprechen wird er wohl kaum, und gehen erst recht
nicht, aber er lebt.«
»Schade«, brummt Wepl.
»Schade?«
»Ja. Schade, dass er nicht sprechen kann. Es wäre
interessant zu erfahren, was dort ist …«
»Wo?«
»Dort, wo er war, als er nicht mehr lebte.«
Ich lache. »Du meinst, dass dort etwas ist?«
»Muss es ja. Ich muss schließlich irgendwo
hingeraten, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Wohin gerät der elektrische Strom, wenn man ihn
ausschaltet?«, frage ich.
»Das habe ich auch nie begreifen können«, gesteht
Wepl. »Aber dein Argument ist ungenau. Ja, ich weiß nicht, wohin
der elektrische Strom gerät, wenn man ihn ausschaltet. Aber ich
weiß ebenso wenig, wo er herkommt, wenn man ihn einschaltet.
Wo ich jedoch hergekommen bin - das weiß und begreife ich.«
»Aber wo warst du, als es dich noch nicht gab?«,
frage ich listig.
Aber für Wepl ist das kein Problem. »Ich war im
Blut meiner Eltern. Und vorher im Blut der Eltern meiner
Eltern.«
»Also wirst du, wenn es dich nicht mehr gibt, im
Blut deiner Kinder sein …«
»Und wenn ich keine Kinder habe?«
»Dann wirst du in der Erde sein, im Gras, in den
Bäumen.«
»Das stimmt nicht! Im Gras und in den Bäumen wird
mein Körper sein. Aber wo bin dann ich selbst?«
»Im Blut deiner Eltern warst auch nicht du selbst,
sondern dein Körper. Schließlich kannst du dich nicht daran
erinnern, wie es im Blut deiner Eltern gewesen ist.«
»Wieso kann ich mich nicht erinnern?«, wundert sich
Wepl. »An sehr vieles erinnere ich mich!«
»Ja, richtig«, murmele ich und gebe mich
geschlagen, »ihr habt ja ein Erbgedächtnis.«
»Nennen kann man es, wie man will«, brummt Wepl.
»Aber ich begreife wirklich nicht, wohin ich gerate, wenn ich jetzt
auf der Stelle sterbe. Ich habe ja keine Kinder.«
Ich beschließe, die Diskussion abzubrechen. Mir ist
klar, dass ich Wepl niemals werde begreiflich machen können, dass
dort nichts ist. Deshalb packe ich schweigend das Proviantpaket
zusammen, lege es in den Rucksack und setze mich bequem hin,
strecke die Beine aus.
Wepl hat auch die zweite Pfote sorgfältig
abgeleckt, das Fell auf seinen Backen in Ordnung gebracht und nimmt
die Unterhaltung wieder auf.
»Ich wundere mich über dich, Lew«, sagt er. »Über
euch alle. Habt ihr es wirklich noch nicht satt hier?«
»Wir arbeiten hier«, antworte ich träge.
»Wozu Arbeit ohne Sinn tun?«
»Warum denn ohne Sinn? Du siehst doch, wie viel wir
an einem einzigen Tag erfahren haben.«
»Eben deshalb frage ich ja: Wozu wollt ihr etwas
erfahren, was keinen Sinn hat? Was wollt ihr damit anfangen? In
einem fort und ständig erfahrt ihr etwas, aber ihr fangt ja doch
nichts damit an.«
»Zum Beispiel?«, frage ich.
Wepl ist groß im Diskutieren. Gerade hat er einen
Sieg über mich errungen, und jetzt versucht er es offenbar ein
zweites Mal.
»Zum Beispiel die Grube ohne Boden, die ich vorhin
gefunden habe. Wer kann eine Grube ohne Boden gebrauchen und
wozu?«
»Es ist eigentlich keine Grube«, sage ich. »Eher
die Tür zu einer anderen Welt.«
»Könnt ihr durch diese Tür gehen?«, erkundigt sich
Wepl.
»Nein«, gebe ich zu. »Können wir nicht.«
»Wozu braucht ihr dann eine Tür, durch die ihr
sowieso nicht gehen könnt?«
»Heute können wir es nicht, aber morgen werden wir
es vielleicht können.«
»Morgen?«
»Im weiteren Sinne. Übermorgen. In einem Jahr
…«
»Eine andere Welt, eine andere Welt«, knurrt Wepl.
»Habt ihr etwa nicht genug Platz auf dieser?«
»Wie soll ich sagen … Vielleicht ist es ja unserer
Phantasie zu eng hier.«
»Klar doch!«, bemerkt Wepl giftig. »Und kaum seid
ihr in der anderen Welt angekommen, schon fangt ihr an, sie nach
dem Bild eurer eigenen umzumodeln. Und natürlich wird es eurer
Phantasie dann wieder zu eng, und ihr sucht euch noch irgendeine
Welt und fangt wieder an, sie umzumodeln …«
Plötzlich hält er in seiner Philippika inne, und im
selben Moment spüre ich die Anwesenheit eines Fremden. Ganz nahe.
Zwei Schritte weiter. Dort, am Sockel des Fabelwesens.
Es scheint ein ganz normaler Eingeborener zu sein,
wohl einer aus der Kategorie »Menschen« - ein kräftiger,
stattlicher Mann in Leinenhosen und mit einer Windjacke auf dem
bloßen Oberkörper; an einem Riemen um den Hals trägt er ein
automatisches Gewehr. Eine ungekämmte Haarsträhne fällt ihm ins
Gesicht; Wangen und Kinn sind glatt rasiert. Er steht völlig reglos
am Sockel; nur seine Augen wandern ruhig von mir zu Wepl und
zurück. Anscheinend sieht er in der Dunkelheit nicht schlechter als
wir. Ich verstehe nicht, wie er lautlos und unbemerkt so nah an uns
herankommen konnte.
Ich fasse mit der Hand vorsichtig hinter den Rücken
und schalte den Lingar meines Translators ein.
»Komm her und setz dich, wir sind Freunde«, sage
ich, indem ich nur die Lippen bewege.
Mit einer halben Sekunde Verzögerung dringen aus
dem Lingar die entsprechenden, sogar recht angenehmen
Kehllaute.
Der Unbekannte zuckt zusammen und weicht einen
Schritt zurück.
»Hab keine Angst«, sage ich. »Wie heißt du? Ich
heiße Lew und er Wepl. Wir sind keine Feinde. Wir wollen mit dir
sprechen.«
Nein, das wird nichts. Der Unbekannte weicht noch
einen Schritt zurück und verschwindet schon halb hinter dem Sockel.
Sein Gesicht ist noch immer ausdruckslos, und es ist nicht einmal
klar, ob er versteht, was man ihm sagt.
Aber ich gebe nicht auf. »Wir haben gutes Essen.
Vielleicht bist du hungrig oder willst trinken? Setz dich zu uns,
ich gebe dir gern etwas ab.«
Mir ist plötzlich eingefallen, dass dem
Eingeborenen dieses »wir« und »zu uns« seltsam vorkommen muss, und
ich bin
eilends zur ersten Person übergegangen. Aber auch das hilft nicht.
Der Eingeborene verschwindet nun ganz hinter dem Sockel und ist
jetzt weder zu sehen noch zu hören.
»Er geht«, knurrt Wepl.
Und gleich sehe ich den Eingeborenen wieder: Er
überquert mit langen, geräuschlosen und gleichsam schwebenden
Schritten die Straße, betritt den gegenüberliegenden Gehweg, und
ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, verschwindet er um
die Ecke.