Dokument 2
An den Präsidenten
des Sektors »Ural/Norden«
Datum: 13. Juni’94
Autor: M. Kammerer, Leiter der Abteilung BV
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Tod I. Brombergs
 
Präsident!
Professor Isaac Bromberg ist am Morgen des 11. Juni d. J. im Sanatorium »Beshin Lug« unerwartet verstorben.
In seinem Privatarchiv wurden keinerlei Notizen gefunden, die auf das Modell »Monokosmos« Bezug nehmen, sowie generell keine Notizen zu den Wanderern. Wir setzen die Suche fort.
Die medizinische Expertise zur Todesursache liegt bei.
M. Kammerer
002
Genau in dieser Reihenfolge las sich Toivo Glumow, mein junger Praktikant, diese beiden Dokumente Anfang’95 durch. Und es war klar, dass sie einen ganz bestimmten Eindruck bei ihm erwecken und ihn zu ganz bestimmten Vermutungen führen würden. Dies umso mehr, als sie seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Die Saat war auf fruchtbaren Boden gefallen. Sofort suchte er die medizinische Expertise heraus. Nachdem er darin aber nicht das geringste Indiz für seinen Verdacht gefunden hatte, der doch so nahe lag, bat er um ein Gespräch mit mir.
Ich erinnere mich gut an diesen Morgen: Er war grau, und vor dem Fenster meines Arbeitszimmers tobte ein heftiger Schneesturm. Vielleicht erinnere ich mich deswegen so genau, weil ich einen starken Kontrast empfand: Physisch befand ich mich hier, im winterlichen Ural, und mein Blick folgte den Rinnsalen des Tauwassers an den Fensterscheiben. Vor meinem inneren Auge aber sah ich eine tropische Nacht über dem warmen Ozean, und sah in der phosphoreszierenden Gischt, die sich bis zum Sandstrand hin ausbreitete, einen nackten Leichnam treiben - ich hatte vom Zentrum soeben die Information über den dritten Todesfall auf der Insel Matuku erhalten.
In dem Moment tauchte Toivo Glumow vor mir auf. Ich wischte die Vision fort und bat ihn, sich zu setzen und zu sprechen.
Ohne Umschweife fragte er mich, ob die Untersuchung der Umstände, unter denen Dr. Bromberg zu Tode gekommen war, als abgeschlossen gelte.
Ein wenig verwundert antwortete ich, dass es eigentlich gar keine Untersuchung gegeben hätte. Bromberg sei 150 Jahre alt gewesen; daher könne von besonderen Umständen seines Todes keine Rede sein.
Wo denn dann Dr. Brombergs Notizen zum Thema »Monokosmos« seien?
Ich erklärte, dass es solche Notizen wahrscheinlich nie gegeben hatte. Stattdessen war anzunehmen, dass Dr. Bromberg seinen Brief aus dem Stegreif geschrieben hatte, zumindest war er stets ein glänzender Improvisator gewesen.
Ob das so zu verstehen sei, dass Dr. Brombergs Brief und die Mitteilung über seinen Tod, die Maxim Kammerer an den Präsidenten geschickt hatte, rein zufällig beieinandergelegen hätten?
Ich schaute ihn an: seine schmalen Lippen, die er entschlossen zusammenpresste, die finster vorgereckte Stirn, in die eine weißblonde Haarsträhne gefallen war - und mir war völlig klar, was er jetzt gerne von mir gehört hätte: Ja, Toivo, mein Junge, wollte er hören, ich denke genauso wie du. Bromberg hat vieles erraten, und die Wanderer haben ihn aus dem Weg geräumt. Die unschätzbar wertvollen Papiere aber haben sie gestohlen. Aber ich dachte natürlich nichts dergleichen, und sagte dem jungen Toivo Glumow auch nichts dergleichen. Warum die Dokumente beieinanderlagen, wusste ich selbst nicht. Es war wohl wirklich ein Zufall, was ich ihm auch erklärte.
Dann fragte er mich, ob denn Brombergs Ideen praktisch ausgearbeitet würden?
Ich sagte ihm, das werde erwogen. Die von den Experten vorgelegten acht Modelle waren alle leicht anfechtbar. Und was die Ideen Brombergs betraf, so waren die Umstände eher ungünstig, dass sie ernst genommen würden.
Dann fasste sich Toivo Glumow ein Herz und fragte mich geradeheraus, ob ich, der Abteilungsleiter Maxim Kammerer, vorhätte, mich mit der Ausarbeitung von Brombergs Ideen zu befassen. Und da bot sich mir nun endlich die Gelegenheit, ihm eine Freude zu machen. Er hörte von mir genau das, was er hatte hören wollen.
»Ja, mein Junge«, sagte ich zu ihm. »Eben dafür habe ich dich in meine Abteilung geholt.«
Er verließ mein Büro beglückt. Natürlich ahnten damals weder er noch ich, dass er just in diesem Moment seinen ersten Schritt zur Großen Offenbarung getan hatte.
Ich habe in der Praxis ein recht gutes psychologisches Gespür. Ohne falsche Bescheidenheit: Wenn ich mit jemandem zu tun habe, kann ich seine seelische Verfassung jederzeit sehr genau nachempfinden. Ich sehe, in welche Richtung sich seine Gedanken bewegen und kann sein Verhalten recht gut vorhersagen. Bäte man mich jedoch zu erklären, wie ich das mache, oder forderte mich gar auf zu zeichnen oder mit Worten darzulegen, welches Bild ich dabei vor mir sehe, befände ich mich in einer schwierigen Lage. Wie jeder Praktiker in der Psychologie müsste ich auf Analogien aus der Kunstwelt oder der Literatur zurückgreifen. Ich würde mich auf die Helden Shakespeares oder Dostojewskis berufen, auf jene Strogows, Michelangelos oder Johann Surds.
Toivo Glumow also erinnerte mich an den Mexikaner Rivera aus der berühmten Erzählung von Jack London. Zwanzigstes Jahrhundert. Oder sogar neunzehntes, ich entsinne mich nicht genau.
Von Beruf war Toivo Glumow Progressor. Die Spezialisten hatten mir gesagt, aus ihm könne ein Progressor der Spitzenklasse werden, ein Progressoren-Ass. Und dazu hatte er die besten Voraussetzungen: Er verfügte über exzellente Selbstbeherrschung und ein extrem schnelles Reaktionsvermögen, war kühl und unaufgeregt, der geborene Schauspieler und ein Meister der Einfühlung in fremde Rollen. Aber nach gut drei Jahren Progressorentätigkeit nahm Toivo Glumow ohne ersichtlichen Grund seinen Abschied und kehrte auf die Erde zurück. Kaum hatte er die Rekonditionierung durchlaufen, setzte er sich ans GGI und fand heraus, dass die einzige Organisation auf unserem Planeten, die etwas mit seinen neuen Zielen zu tun haben konnte, die KomKon 2 war.
Im Dezember’94 tauchte er bei mir auf - eiskalt und fest entschlossen, wieder und wieder auf dieselben Fragen zu antworten: warum er, derart vielversprechend, vollkommen gesund und in jeder Hinsicht begünstigt, plötzlich seine Arbeit, seine Ausbilder, seine Genossen im Stich ließ, sorgsam ausgearbeitete Pläne zum Scheitern brachte und die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuschte. Aber natürlich fragte ich ihn nichts dergleichen. Mich interessierte gar nicht, warum er nicht länger Progressor sein wollte. Mich interessierte, warum er auf einmal Konterprogressor werden wollte (wenn man das so sagen kann)?
Seine Antwort hat sich mir eingeprägt. Er empfinde heftige Abneigung gegen die ganze Idee des Progressorentums. Wenn es nicht sein müsse, wolle er lieber nicht in Details gehen. Er, als Progressor, habe einfach ein negatives Verhältnis zum Progressorentum gewonnen. Und dort (er wies mit dem Daumen über die Schulter) sei ihm ein sehr trivialer Gedanke gekommen: Während er auf dem Kopfsteinpflaster der Plätze in Arkanar herumlaufe und mit dem Degen umherfuchtele, spaziere hier (er wies mit dem Zeigefinger auf seine Füße) irgendein Gauner im modischen Regenbogenmäntelchen und eine Metavisierbüchse geschultert, über die Plätze von Swerdlowsk. »Soviel ich weiß«, sagte Toivo Glumow, »kommt dieser simple Gedanke kaum jemandem in den Sinn, und wenn, dann höchstens in einer blöden humoristischen oder albern romantischen Art und Weise.« Ihm, Toivo, aber, lasse dieser Gedanke keine Ruhe: »Keinem Gott«, sagte er, »darf es erlaubt sein, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, die Götter haben bei uns auf der Erde nichts verloren, denn ›der Götter Wohltat ist der Wind, er füllt die Segel, doch er bringt auch Sturm‹.« (Später habe ich das Zitat mit viel Mühe gefunden - wie sich herausstellte, ist es von Werbliban.)
Mit bloßem Auge war zu erkennen, dass ein Fanatiker vor mir saß. Leider neigte er, wie jeder Fanatiker, zu extremen Anschauungen. (Man denke an seine Äußerungen über das Progressorentum, von denen noch die Rede sein wird.) Ein Katholik, der in seinem Katholizismus noch den Papst übertrifft - das heißt: mich. Aber Toivo Glumow war bereit zu handeln. Und ohne weitere Gespräche holte ich ihn in meine Abteilung und setzte ihn an das Projekt »Besuch der alten Dame«.
Und er erwies sich als hervorragender Mitarbeiter! Er war engagiert, zeigte Initiative und kannte keine Müdigkeit. Und - eine seltene Eigenschaft in seinem Alter - er ließ sich von Misserfolgen nicht entmutigen. Negative Ergebnisse existierten für ihn nicht. Mehr noch, die negativen Untersuchungsergebnisse freuten ihn genauso, wie die seltenen positiven. Er schien sich von vorneherein darauf eingestellt zu haben, dass man zu seinen Lebzeiten nichts Konkretes entdecken würde. So gelang es ihm, aus der oft langweiligen Prozedur der Analyse an sich Befriedigung zu schöpfen, auch wenn es sich nur um minimal verdächtige BVs handelte. Sogar meine alten Mitarbeiter - Grischa Serossowin, Sandro Mtbewari, Andrjuscha Kikin und andere - schienen sich in seiner Gegenwart mehr anzustrengen; sie hörten auf zu blödeln, waren weniger ironisch, dafür umso sachlicher. Nicht, dass sie sich ein Beispiel an ihm genommen hätten - nein, dafür war er ihnen zu jung und zu unerfahren -, aber er schien sie mit seiner Ernsthaftigkeit und der Konzentration auf eine Sache anzustecken. Was sie, glaube ich, aber am meisten beeindruckte, war sein tiefer Hass auf den Gegenstand seiner Arbeit; das war bei ihm deutlich zu spüren, während es den anderen vollkommen abging. Einmal erwähnte ich Grischa Serossowin gegenüber zufällig den schmächtigen, dunkelhäutigen Jungen Rivera … Kurz darauf stellte ich fest, dass alle die Geschichte Jack Londons noch einmal hervorgeholt und gelesen hatten.
Wie Rivera hatte auch Toivo keine Freunde. Ihn umgaben aufrichtige und zuverlässige Kollegen, und er selbst war, worum es auch ging, ein aufrichtiger und verlässlicher Partner. Aber Freunde fand er nicht. Ich nehme an, weil es sehr schwierig war, sein Freund zu sein: Er war nie und in keinerlei Hinsicht je mit sich zufrieden, und so kannte er auch seinen Mitmenschen gegenüber kein Pardon. Toivo war so unerbittlich auf ein Ziel konzentriert, wie ich es sonst nur bei bedeutenden Wissenschaftlern und Sportlern bemerkt habe. Was blieb da übrig für die Freundschaft …
Doch - einen Freund hatte er: seine Frau Assja, Anastasia Petrowna Stassowa. Sie war eine reizende junge Frau, klein, lebhaft, scharfzüngig und sehr rasch mit ihrer Meinung oder einem Urteil zur Hand. Bei ihnen zu Hause herrschte daher immer eine Art Kriegszustand, und für Außenstehende war es sehr kurzweilig, ihre ständig aufflammenden Wortgefechte zu beobachten.
Dieses Schauspiel war umso verwunderlicher, als Toivo Glumow in seiner normalen Umgebung, das heißt im Dienst, eher wortkarg und bedächtig wirkte. Es war, als verharre er immerzu bei einer bestimmten, sehr wichtigen Idee, die sorgsames Durchdenken erforderte. Nicht so bei Assja: Dort war er Demosthenes, Cicero, der Apostel Paulus; er orakelte, verkündete Maximen und war, verdammt, sogar ironisch! Man kann sich gar nicht vorstellen, wie verschieden diese beiden Menschen waren: im Dienst der schweigsame, bedächtige Toivo Glumow - und zu Hause der lebendige, gesprächige, philosophierende, sich immerzu verirrende und seine Irrwege vehement verteidigende Toivo Glumow. Zu Hause machte ihm sogar das Essen Spaß. Er war geradezu wählerisch. Assja arbeitete als Feinkost-Degusteuse und kochte immer selbst. So war es im Hause ihrer Mutter und auch im Hause ihrer Großmutter üblich gewesen. Diese von Toivo Glumow sehr geschätzte Tradition reichte bei den Stassows Jahrhunderte zurück, bis hinein in die längst vergangenen Zeiten, als es noch keine molekulare Kochkunst gab und ein gewöhnliches Kotelett in einer sehr komplizierten und nicht gerade appetitlichen Prozedur zubereitet wurde …
Außerdem hatte Toivo seine Mutter. Jeden Tag, was er auch gerade tat, wo er sich auch befand, nahm er sich immer eine Minute Zeit, um sie über Video anzurufen und zumindest ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Bei ihnen hieß das »der Kontrollanruf«. Viele Jahre zuvor hatte ich Maja Toivowna Glumowa selbst einmal kennengelernt. Aber die Umstände dieser Bekanntschaft waren so traurig gewesen, dass wir uns später nie wieder getroffen haben. Was nicht meine Schuld war. Und überhaupt niemandes Schuld. Kurzum, sie hatte eine ausgesprochen schlechte Meinung von mir, und Toivo wusste das. Er sprach nie mit mir über seine Mutter. Doch mit ihr sprach er des Öfteren über mich - aber das erfuhr ich erst viel später …
Dieser Zwiespalt bedrückte Toivo bestimmt sehr. Ich glaube nicht, dass Maja Toivowna ihm gegenüber schlecht von mir sprach. Und es ist auch unwahrscheinlich, dass sie ihrem Sohn die schreckliche Geschichte vom Tod Lew Abalkins erzählt hat. Am ehesten hat sie, wenn Toivo auf seinen direkten Vorgesetzten zu sprechen kam, wohl einfach nur kühl das Thema gewechselt. Und das war mehr als genug.
Denn für Toivo war ich nicht nur sein Vorgesetzter. Ich war im Grunde sein einziger Gleichgesinnter - der einzige Mensch in dieser unermesslich großen KomKon 2, der die Frage, die Toivo nicht losließ, vorbehaltlos ernst nahm. Zudem brachte er mir große Ehrfurcht entgegen: Sein Chef war nämlich niemand anderes als der legendäre Mak Sim! Als der auf dem Saraksch Strahlentürme sprengte und gegen Faschisten kämpfte, war Toivo noch nicht einmal geboren. Mak Sim - der unübertroffene Weiße Läufer und Organisator der Operation »Virus«. Danach hatte ihm der Superpräsident persönlich den Spitznamen Big Bug verliehen! Toivo ging noch zur Schule, als Big Bug ins Inselimperium eindrang - als erster Mensch von der Erde, und prompt bis zur Hauptstadt, und er war auch der letzte … Natürlich waren das die Heldentaten eines Progressors gewesen, aber es heißt ja: Ein Progressor wird nur durch einen Progressor bezwungen! Und dieser simplen Idee hing Toivo mit Inbrunst an.
Aber vergessen wir eins nicht: Toivo hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn die Einmischung der Wanderer in die irdischen Angelegenheiten mit Gewissheit festgestellt und bewiesen würde. Denn hier war keine der historischen Analogien aus der hundertjährigen Tätigkeit irdischer Progressoren anwendbar. Für den Herzog von Irukan war ein enttarnter irdischer Progressor ein Dämon oder ein praktizierender Zauberer. Für die Spionageabwehr des Inselimperiums war derselbe Progressor ein gerissener Spion vom Kontinent. Was aber war ein enttarnter Progressor der Wanderer aus Sicht eines Mitarbeiters der KomKon 2?
Ein entlarvter Zauberer wurde verbrannt; man konnte ihn auch in ein Verlies sperren und zwingen, aus dem eigenen Dreck Gold zu machen. Ein gerissener Spion vom Kontinent wurde abgeworben oder liquidiert. Aber wie sollte man mit einem enttarnten Wanderer verfahren?
Toivo wusste keine Antwort auf diese oder ähnliche Fragen. Und auch niemand von seinen Bekannten wusste eine Antwort darauf. Die meisten hielten die Fragen selbst für nicht korrekt. »Was tun, wenn sich um die Schraube deines Motorboots der Bart eines Wassermanns gewickelt hat? Ihn wieder entwirren? Gnadenlos abschneiden? Oder den Wassermann am Barte herausziehen?« Mit mir aber sprach Toivo nicht über solche Themen. Ich glaube, weil er überzeugt war, Big Bug, der legendäre Weiße Läufer, der listige Mak Sim habe das alles längst durchdacht, alle möglichen Varianten systematisch analysiert, detaillierte Maßnahmepläne erstellt und sie schon von der obersten Führung bestätigen lassen.
Ich ersparte ihm die Enttäuschung. Vorläufig. Überhaupt war Toivo Glumow ein Mensch mit sehr vorgefassten Meinungen. (Wie konnte das bei seinem Fanatismus auch anders sein?) Zum Beispiel wollte er um keinen Preis eine Verbindung zwischen seinem Projekt »Besuch der alten Dame« und dem bei uns schon seit längerem laufenden Projekt »Rip van Winkle« anerkennen. Die Fälle um das plötzliche und völlig unerklärliche Verschwinden von Menschen in den siebziger, achtziger Jahren und ihr ebenso plötzliches und unerklärliches Wiederauftauchen waren das einzige Moment im Bromberg-Memorandum, das Toivo partout nicht näher untersuchen oder auch nur zur Kenntnis nehmen wollte. »Hier muss er sich verschrieben haben«, behauptete er. »Oder wir verstehen ihn falsch. Was hätten die Wanderer davon, dass plötzlich Menschen auf unerklärliche Weise verschwinden?« - und das, obwohl das Bromberg-Memorandum sozusagen sein Katechismus geworden war, sein Arbeitsprogramm für die ganze weitere Zukunft … Offensichtlich konnte oder wollte er den Wanderern keine Macht zuerkennen, die ins Übernatürliche reichte - das hätte seine Arbeit vollkommen wertlos gemacht. Denn welchen Sinn hatte es, ein Wesen zu suchen, aufzuspüren und zu ergreifen, das sich jeden Augenblick in Luft auflösen und an jedem beliebigen Ort wieder Gestalt annehmen konnte?
Doch bei all seiner Neigung zu vorgefassten Ansichten versuchte er nie, gegen feststehende Tatsachen anzukämpfen. Ich weiß noch, wie er mich damals als unerfahrener Anfänger überzeugte, an der Untersuchung einer Tragödie auf der Insel Matuku teilzunehmen.
Mit dem Fall befasste sich der Sektor »Ozeanien«, wo man über irgendwelche Wanderer freilich nichts hören wollte. Aber der Fall war einmalig - noch nie war etwas Vergleichbares geschehen, und so wurden wir, Toivo und ich, ohne Widerspruch aufgenommen.
Auf der Insel Matuku stand seit ewigen Zeiten ein hohes, halbzerfallenes Radioteleskop. Wer es gebaut hatte und wozu, hatte man nicht mehr herausfinden können.
Die Insel galt als unbewohnt. Gelegentlich wurde sie von Delfinforschern besucht oder von Pärchen, die im klaren Wasser der kleinen Buchten an der Nordküste nach Perlen suchten. Wie sich aber dann herausstellte, lebte dort seit einigen Jahren eine Doppelfamilie von Kopflern. (Die junge Generation hat schon fast vergessen, wer die Kopfler sind. Zur Erinnerung: Das ist eine Rasse intelligenter Kynoiden vom Planeten Saraksch, die sich eine Zeit lang in sehr engem Kontakt mit den Erdenmenschen befand. Die großköpfigen sprechenden Hunde hatten uns durch den ganzen Kosmos begleitet und auf unserem Planeten sogar eine Art diplomatische Vertretung unterhalten. Vor dreißig Jahren aber verließen sie uns und nahmen seitdem keinen Kontakt mehr zu den Menschen auf.)
Im Süden der Insel lag eine runde, vulkanische Bucht, die in höchstem Grade verschmutzt war. Über die Ufer hatte sich ein widerlicher Schaum ausgebreitet, der anscheinend organischen Ursprungs war, denn er zog unermessliche Schwärme von Seevögeln an. Das Wasser der Bucht war ansonsten leblos; nicht einmal Wasserpflanzen gediehen darin.
Und auf dieser Insel waren Morde geschehen. Die Menschen hatten sich gegenseitig umgebracht. Es war so entsetzlich, dass die Massenmedien monatelang nicht wagten, über die Ereignisse zu berichten.
Wie sich ziemlich bald herausstellte, war die Ursache eine riesige silurische Molluske - ein monströser urzeitlicher Kopffüßler, der sich einige Zeit zuvor am Grund der vulkanischen Bucht angesiedelt hatte; ein Taifun hatte ihn wohl dorthin verschlagen. Und nun übte das Biofeld dieses Monsters, das von Zeit zu Zeit an die Oberfläche stieg, eine hochgradig deprimierende Wirkung auf die Psyche höherer Tiere aus. Speziell beim Menschen führte es zu einer katastrophalen Senkung der Motivationsschwelle: Der Mensch wurde asozial. Er konnte einen Freund totschlagen, weil der aus Versehen sein Hemd ins Wasser geworfen hatte - und er schlug ihn tot …
Toivo Glumow hatte sich nun in den Kopf gesetzt, diese Molluske sei das von Bromberg vorhergesagte Individuum des Monokosmos im Prozess seiner Formierung. Ich muss gestehen, dass anfangs, als wir noch über keinerlei Fakten verfügten, seine Überlegungen durchaus plausibel klangen - sofern man überhaupt von der Plausibilität einer Logik sprechen kann, die auf einer phantastischen Voraussetzung beruht. Es war interessant zu beobachten, wie Toivo unter dem Druck immer neuer Daten, die die Spezialisten für Kopffüßler und Paläontologie gewannen, Schritt für Schritt von seiner These abrückte.
Den Rest versetzte ihm ein Biologiestudent, der in Tokio ein japanisches Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert ausgegraben hatte, wo sich eine Beschreibung dieses oder eines ebensolchen Ungeheuers fand (ich zitiere nach meinem Tagebuch):
»In den östlichen Meeren sieht man einen Katatsumoridako von purpurner Farbe mit einer Vielzahl langer dünner Arme; er schaut aus einer runden, dreißig Fuß großen Schale mit scharfen Kanten und Zacken hervor; die Augen sind wie verfault; er ist ganz von Polypen bewachsen. Wenn er auftaucht, liegt er flach auf dem Wasser wie eine Insel; er verbreitet Gestank und sondert etwas Weißes ab, um Fische und Vögel anzulocken. Wenn sie näher kommen, greift er wahllos mit den Armen nach ihnen; davon ernährt er sich. In Mondnächten liegt er da, wiegt sich auf den Wellen, die Augen zum Himmel gerichtet, und sinnt nach über die Tiefen des Wassers, daraus er ausgeworfen ist. Diese Gedanken sind so düster, dass sie die Menschen in Schrecken versetzen und sie zu Tigern machen.«
Ich weiß noch, wie Toivo, nachdem er das gelesen hatte, ein paar Minuten schwieg, in tiefes Nachdenken versunken. Dann atmete er, wie mir schien, fast erleichtert auf und sagte: »Ja, das ist etwas anderes. Zum Glück. Denn es ist gar zu widerlich.« Er stellte sich den Monokosmos als ziemlich abscheuliches Wesen vor - aber doch nicht in diesem Maße. Ein Monokosmos in Gestalt eines Silur-Kraken passte nicht in sein Bild. (Übrigens ebenso wenig, wie diese Molluske ins Bild der Fachleute passte - mit ihrem Verderben bringenden Biofeld, ihrem verschiebbaren Panzer und ihrem persönlichen Alter von mehr als vierhundert Millionen Jahren.)
So endete die erste ernste Angelegenheit, mit der sich Toivo Glumow befasste, ergebnislos. Ähnliche Fehlschläge waren ihm in der Folgezeit des Öfteren beschieden, bis er mich Mitte des Jahres’98 um Erlaubnis bat, die Unterlagen zu den Massenphobien bearbeiten zu dürfen. Ich genehmigte es.
Gesammelte Werke 1
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