Dokument 2
An den Präsidenten
des Sektors »Ural/Norden«
Datum: 13. Juni’94
Autor: M. Kammerer, Leiter der Abteilung BV
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Tod I. Brombergs
Präsident!
Professor Isaac Bromberg ist am Morgen des 11.
Juni d. J. im Sanatorium »Beshin Lug« unerwartet verstorben.
In seinem Privatarchiv wurden keinerlei Notizen
gefunden, die auf das Modell »Monokosmos« Bezug nehmen, sowie
generell keine Notizen zu den Wanderern. Wir setzen die
Suche fort.
Die medizinische Expertise zur Todesursache liegt
bei.
M. Kammerer
Genau in dieser Reihenfolge las sich Toivo Glumow,
mein junger Praktikant, diese beiden Dokumente Anfang’95 durch. Und
es war klar, dass sie einen ganz bestimmten Eindruck bei ihm
erwecken und ihn zu ganz bestimmten Vermutungen führen würden. Dies
umso mehr, als sie seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Die
Saat war auf fruchtbaren Boden gefallen. Sofort suchte er die
medizinische Expertise heraus. Nachdem er darin aber nicht das
geringste Indiz für seinen Verdacht gefunden hatte, der doch so
nahe lag, bat er um ein Gespräch mit mir.
Ich erinnere mich gut an diesen Morgen: Er war
grau, und vor dem Fenster meines Arbeitszimmers tobte ein heftiger
Schneesturm. Vielleicht erinnere ich mich deswegen so genau, weil
ich einen starken Kontrast empfand: Physisch befand ich mich hier,
im winterlichen Ural, und mein Blick folgte den Rinnsalen des
Tauwassers an den Fensterscheiben. Vor meinem inneren Auge aber sah
ich eine tropische Nacht über dem warmen Ozean, und sah in der
phosphoreszierenden Gischt, die sich bis zum Sandstrand hin
ausbreitete, einen nackten Leichnam treiben - ich hatte vom Zentrum
soeben die Information über den dritten Todesfall auf der Insel
Matuku erhalten.
In dem Moment tauchte Toivo Glumow vor mir auf. Ich
wischte die Vision fort und bat ihn, sich zu setzen und zu
sprechen.
Ohne Umschweife fragte er mich, ob die Untersuchung
der Umstände, unter denen Dr. Bromberg zu Tode gekommen war, als
abgeschlossen gelte.
Ein wenig verwundert antwortete ich, dass es
eigentlich gar keine Untersuchung gegeben hätte. Bromberg sei 150
Jahre alt gewesen; daher könne von besonderen Umständen seines
Todes keine Rede sein.
Wo denn dann Dr. Brombergs Notizen zum Thema
»Monokosmos« seien?
Ich erklärte, dass es solche Notizen wahrscheinlich
nie gegeben hatte. Stattdessen war anzunehmen, dass Dr. Bromberg
seinen Brief aus dem Stegreif geschrieben hatte, zumindest war er
stets ein glänzender Improvisator gewesen.
Ob das so zu verstehen sei, dass Dr. Brombergs
Brief und die Mitteilung über seinen Tod, die Maxim Kammerer an den
Präsidenten geschickt hatte, rein zufällig beieinandergelegen
hätten?
Ich schaute ihn an: seine schmalen Lippen, die er
entschlossen zusammenpresste, die finster vorgereckte Stirn, in die
eine weißblonde Haarsträhne gefallen war - und mir war völlig klar,
was er jetzt gerne von mir gehört hätte: Ja, Toivo,
mein Junge, wollte er hören, ich denke genauso wie du. Bromberg
hat vieles erraten, und die Wanderer haben ihn aus dem Weg
geräumt. Die unschätzbar wertvollen Papiere aber haben sie
gestohlen. Aber ich dachte natürlich nichts dergleichen, und sagte
dem jungen Toivo Glumow auch nichts dergleichen. Warum die
Dokumente beieinanderlagen, wusste ich selbst nicht. Es war wohl
wirklich ein Zufall, was ich ihm auch erklärte.
Dann fragte er mich, ob denn Brombergs Ideen
praktisch ausgearbeitet würden?
Ich sagte ihm, das werde erwogen. Die von den
Experten vorgelegten acht Modelle waren alle leicht anfechtbar. Und
was die Ideen Brombergs betraf, so waren die Umstände eher
ungünstig, dass sie ernst genommen würden.
Dann fasste sich Toivo Glumow ein Herz und fragte
mich geradeheraus, ob ich, der Abteilungsleiter Maxim Kammerer,
vorhätte, mich mit der Ausarbeitung von Brombergs Ideen zu
befassen. Und da bot sich mir nun endlich die Gelegenheit, ihm eine
Freude zu machen. Er hörte von mir genau das, was er hatte hören
wollen.
»Ja, mein Junge«, sagte ich zu ihm. »Eben dafür
habe ich dich in meine Abteilung geholt.«
Er verließ mein Büro beglückt. Natürlich ahnten
damals weder er noch ich, dass er just in diesem Moment seinen
ersten Schritt zur Großen Offenbarung getan hatte.
Ich habe in der Praxis ein recht gutes
psychologisches Gespür. Ohne falsche Bescheidenheit: Wenn ich mit
jemandem zu tun habe, kann ich seine seelische Verfassung jederzeit
sehr genau nachempfinden. Ich sehe, in welche Richtung sich seine
Gedanken bewegen und kann sein Verhalten recht gut vorhersagen.
Bäte man mich jedoch zu erklären, wie ich das mache, oder forderte
mich gar auf zu zeichnen oder mit Worten darzulegen, welches Bild
ich dabei vor mir sehe, befände ich mich in einer schwierigen Lage.
Wie jeder Praktiker in der
Psychologie müsste ich auf Analogien aus der Kunstwelt oder der
Literatur zurückgreifen. Ich würde mich auf die Helden Shakespeares
oder Dostojewskis berufen, auf jene Strogows, Michelangelos oder
Johann Surds.
Toivo Glumow also erinnerte mich an den Mexikaner
Rivera aus der berühmten Erzählung von Jack London. Zwanzigstes
Jahrhundert. Oder sogar neunzehntes, ich entsinne mich nicht
genau.
Von Beruf war Toivo Glumow Progressor. Die
Spezialisten hatten mir gesagt, aus ihm könne ein Progressor der
Spitzenklasse werden, ein Progressoren-Ass. Und dazu hatte er die
besten Voraussetzungen: Er verfügte über exzellente
Selbstbeherrschung und ein extrem schnelles Reaktionsvermögen, war
kühl und unaufgeregt, der geborene Schauspieler und ein Meister der
Einfühlung in fremde Rollen. Aber nach gut drei Jahren
Progressorentätigkeit nahm Toivo Glumow ohne ersichtlichen Grund
seinen Abschied und kehrte auf die Erde zurück. Kaum hatte er die
Rekonditionierung durchlaufen, setzte er sich ans GGI und fand
heraus, dass die einzige Organisation auf unserem Planeten, die
etwas mit seinen neuen Zielen zu tun haben konnte, die KomKon 2
war.
Im Dezember’94 tauchte er bei mir auf - eiskalt und
fest entschlossen, wieder und wieder auf dieselben Fragen zu
antworten: warum er, derart vielversprechend, vollkommen gesund und
in jeder Hinsicht begünstigt, plötzlich seine Arbeit, seine
Ausbilder, seine Genossen im Stich ließ, sorgsam ausgearbeitete
Pläne zum Scheitern brachte und die in ihn gesetzten Hoffnungen
enttäuschte. Aber natürlich fragte ich ihn nichts dergleichen. Mich
interessierte gar nicht, warum er nicht länger Progressor sein
wollte. Mich interessierte, warum er auf einmal Konterprogressor
werden wollte (wenn man das so sagen kann)?
Seine Antwort hat sich mir eingeprägt. Er empfinde
heftige Abneigung gegen die ganze Idee des Progressorentums. Wenn
es nicht sein müsse, wolle er lieber nicht in Details gehen. Er,
als Progressor, habe einfach ein negatives Verhältnis zum
Progressorentum gewonnen. Und dort (er wies mit dem Daumen über die
Schulter) sei ihm ein sehr trivialer Gedanke gekommen: Während er
auf dem Kopfsteinpflaster der Plätze in Arkanar herumlaufe und mit
dem Degen umherfuchtele, spaziere hier (er wies mit dem Zeigefinger
auf seine Füße) irgendein Gauner im modischen Regenbogenmäntelchen
und eine Metavisierbüchse geschultert, über die Plätze von
Swerdlowsk. »Soviel ich weiß«, sagte Toivo Glumow, »kommt dieser
simple Gedanke kaum jemandem in den Sinn, und wenn, dann höchstens
in einer blöden humoristischen oder albern romantischen Art und
Weise.« Ihm, Toivo, aber, lasse dieser Gedanke keine Ruhe: »Keinem
Gott«, sagte er, »darf es erlaubt sein, sich in unsere
Angelegenheiten einzumischen, die Götter haben bei uns auf der Erde
nichts verloren, denn ›der Götter Wohltat ist der Wind, er füllt
die Segel, doch er bringt auch Sturm‹.« (Später habe ich das Zitat
mit viel Mühe gefunden - wie sich herausstellte, ist es von
Werbliban.)
Mit bloßem Auge war zu erkennen, dass ein Fanatiker
vor mir saß. Leider neigte er, wie jeder Fanatiker, zu extremen
Anschauungen. (Man denke an seine Äußerungen über das
Progressorentum, von denen noch die Rede sein wird.) Ein Katholik,
der in seinem Katholizismus noch den Papst übertrifft - das heißt:
mich. Aber Toivo Glumow war bereit zu handeln. Und ohne weitere
Gespräche holte ich ihn in meine Abteilung und setzte ihn an das
Projekt »Besuch der alten Dame«.
Und er erwies sich als hervorragender Mitarbeiter!
Er war engagiert, zeigte Initiative und kannte keine Müdigkeit. Und
- eine seltene Eigenschaft in seinem Alter - er ließ sich von
Misserfolgen nicht entmutigen. Negative Ergebnisse existierten für
ihn nicht. Mehr noch, die negativen Untersuchungsergebnisse freuten
ihn genauso, wie die seltenen positiven. Er
schien sich von vorneherein darauf eingestellt zu haben, dass man
zu seinen Lebzeiten nichts Konkretes entdecken würde. So gelang es
ihm, aus der oft langweiligen Prozedur der Analyse an sich
Befriedigung zu schöpfen, auch wenn es sich nur um minimal
verdächtige BVs handelte. Sogar meine alten Mitarbeiter - Grischa
Serossowin, Sandro Mtbewari, Andrjuscha Kikin und andere - schienen
sich in seiner Gegenwart mehr anzustrengen; sie hörten auf zu
blödeln, waren weniger ironisch, dafür umso sachlicher. Nicht, dass
sie sich ein Beispiel an ihm genommen hätten - nein, dafür war er
ihnen zu jung und zu unerfahren -, aber er schien sie mit seiner
Ernsthaftigkeit und der Konzentration auf eine Sache anzustecken.
Was sie, glaube ich, aber am meisten beeindruckte, war sein tiefer
Hass auf den Gegenstand seiner Arbeit; das war bei ihm deutlich zu
spüren, während es den anderen vollkommen abging. Einmal erwähnte
ich Grischa Serossowin gegenüber zufällig den schmächtigen,
dunkelhäutigen Jungen Rivera … Kurz darauf stellte ich fest, dass
alle die Geschichte Jack Londons noch einmal hervorgeholt und
gelesen hatten.
Wie Rivera hatte auch Toivo keine Freunde. Ihn
umgaben aufrichtige und zuverlässige Kollegen, und er selbst war,
worum es auch ging, ein aufrichtiger und verlässlicher Partner.
Aber Freunde fand er nicht. Ich nehme an, weil es sehr schwierig
war, sein Freund zu sein: Er war nie und in keinerlei Hinsicht je
mit sich zufrieden, und so kannte er auch seinen Mitmenschen
gegenüber kein Pardon. Toivo war so unerbittlich auf ein Ziel
konzentriert, wie ich es sonst nur bei bedeutenden Wissenschaftlern
und Sportlern bemerkt habe. Was blieb da übrig für die Freundschaft
…
Doch - einen Freund hatte er: seine Frau Assja,
Anastasia Petrowna Stassowa. Sie war eine reizende junge Frau,
klein, lebhaft, scharfzüngig und sehr rasch mit ihrer Meinung oder
einem Urteil zur Hand. Bei ihnen zu Hause herrschte daher immer
eine Art Kriegszustand, und für Außenstehende war
es sehr kurzweilig, ihre ständig aufflammenden Wortgefechte zu
beobachten.
Dieses Schauspiel war umso verwunderlicher, als
Toivo Glumow in seiner normalen Umgebung, das heißt im Dienst, eher
wortkarg und bedächtig wirkte. Es war, als verharre er immerzu bei
einer bestimmten, sehr wichtigen Idee, die sorgsames Durchdenken
erforderte. Nicht so bei Assja: Dort war er Demosthenes, Cicero,
der Apostel Paulus; er orakelte, verkündete Maximen und war,
verdammt, sogar ironisch! Man kann sich gar nicht vorstellen, wie
verschieden diese beiden Menschen waren: im Dienst der schweigsame,
bedächtige Toivo Glumow - und zu Hause der lebendige, gesprächige,
philosophierende, sich immerzu verirrende und seine Irrwege
vehement verteidigende Toivo Glumow. Zu Hause machte ihm sogar das
Essen Spaß. Er war geradezu wählerisch. Assja arbeitete als
Feinkost-Degusteuse und kochte immer selbst. So war es im Hause
ihrer Mutter und auch im Hause ihrer Großmutter üblich gewesen.
Diese von Toivo Glumow sehr geschätzte Tradition reichte bei den
Stassows Jahrhunderte zurück, bis hinein in die längst vergangenen
Zeiten, als es noch keine molekulare Kochkunst gab und ein
gewöhnliches Kotelett in einer sehr komplizierten und nicht gerade
appetitlichen Prozedur zubereitet wurde …
Außerdem hatte Toivo seine Mutter. Jeden Tag, was
er auch gerade tat, wo er sich auch befand, nahm er sich immer eine
Minute Zeit, um sie über Video anzurufen und zumindest ein paar
Worte mit ihr zu wechseln. Bei ihnen hieß das »der Kontrollanruf«.
Viele Jahre zuvor hatte ich Maja Toivowna Glumowa selbst einmal
kennengelernt. Aber die Umstände dieser Bekanntschaft waren so
traurig gewesen, dass wir uns später nie wieder getroffen haben.
Was nicht meine Schuld war. Und überhaupt niemandes Schuld. Kurzum,
sie hatte eine ausgesprochen schlechte Meinung von mir, und Toivo
wusste das. Er sprach nie mit mir über seine Mutter. Doch mit ihr
sprach
er des Öfteren über mich - aber das erfuhr ich erst viel später
…
Dieser Zwiespalt bedrückte Toivo bestimmt sehr. Ich
glaube nicht, dass Maja Toivowna ihm gegenüber schlecht von mir
sprach. Und es ist auch unwahrscheinlich, dass sie ihrem Sohn die
schreckliche Geschichte vom Tod Lew Abalkins erzählt hat. Am
ehesten hat sie, wenn Toivo auf seinen direkten Vorgesetzten zu
sprechen kam, wohl einfach nur kühl das Thema gewechselt. Und das
war mehr als genug.
Denn für Toivo war ich nicht nur sein Vorgesetzter.
Ich war im Grunde sein einziger Gleichgesinnter - der einzige
Mensch in dieser unermesslich großen KomKon 2, der die Frage, die
Toivo nicht losließ, vorbehaltlos ernst nahm. Zudem brachte er mir
große Ehrfurcht entgegen: Sein Chef war nämlich niemand anderes als
der legendäre Mak Sim! Als der auf dem Saraksch Strahlentürme
sprengte und gegen Faschisten kämpfte, war Toivo noch nicht einmal
geboren. Mak Sim - der unübertroffene Weiße Läufer und Organisator
der Operation »Virus«. Danach hatte ihm der Superpräsident
persönlich den Spitznamen Big Bug verliehen! Toivo ging noch zur
Schule, als Big Bug ins Inselimperium eindrang - als erster Mensch
von der Erde, und prompt bis zur Hauptstadt, und er war auch der
letzte … Natürlich waren das die Heldentaten eines Progressors
gewesen, aber es heißt ja: Ein Progressor wird nur durch einen
Progressor bezwungen! Und dieser simplen Idee hing Toivo mit
Inbrunst an.
Aber vergessen wir eins nicht: Toivo hatte keine
Ahnung, was er tun sollte, wenn die Einmischung der Wanderer
in die irdischen Angelegenheiten mit Gewissheit festgestellt und
bewiesen würde. Denn hier war keine der historischen Analogien aus
der hundertjährigen Tätigkeit irdischer Progressoren anwendbar. Für
den Herzog von Irukan war ein enttarnter irdischer Progressor ein
Dämon oder ein praktizierender Zauberer. Für die Spionageabwehr des
Inselimperiums war
derselbe Progressor ein gerissener Spion vom Kontinent. Was aber
war ein enttarnter Progressor der Wanderer aus Sicht eines
Mitarbeiters der KomKon 2?
Ein entlarvter Zauberer wurde verbrannt; man konnte
ihn auch in ein Verlies sperren und zwingen, aus dem eigenen Dreck
Gold zu machen. Ein gerissener Spion vom Kontinent wurde abgeworben
oder liquidiert. Aber wie sollte man mit einem enttarnten
Wanderer verfahren?
Toivo wusste keine Antwort auf diese oder ähnliche
Fragen. Und auch niemand von seinen Bekannten wusste eine Antwort
darauf. Die meisten hielten die Fragen selbst für nicht korrekt.
»Was tun, wenn sich um die Schraube deines Motorboots der Bart
eines Wassermanns gewickelt hat? Ihn wieder entwirren? Gnadenlos
abschneiden? Oder den Wassermann am Barte herausziehen?« Mit mir
aber sprach Toivo nicht über solche Themen. Ich glaube, weil er
überzeugt war, Big Bug, der legendäre Weiße Läufer, der listige Mak
Sim habe das alles längst durchdacht, alle möglichen Varianten
systematisch analysiert, detaillierte Maßnahmepläne erstellt und
sie schon von der obersten Führung bestätigen lassen.
Ich ersparte ihm die Enttäuschung. Vorläufig.
Überhaupt war Toivo Glumow ein Mensch mit sehr vorgefassten
Meinungen. (Wie konnte das bei seinem Fanatismus auch anders sein?)
Zum Beispiel wollte er um keinen Preis eine Verbindung zwischen
seinem Projekt »Besuch der alten Dame« und dem bei uns schon seit
längerem laufenden Projekt »Rip van Winkle« anerkennen. Die Fälle
um das plötzliche und völlig unerklärliche Verschwinden von
Menschen in den siebziger, achtziger Jahren und ihr ebenso
plötzliches und unerklärliches Wiederauftauchen waren das einzige
Moment im Bromberg-Memorandum, das Toivo partout nicht näher
untersuchen oder auch nur zur Kenntnis nehmen wollte. »Hier muss er
sich verschrieben haben«, behauptete er. »Oder wir verstehen ihn
falsch. Was hätten die Wanderer davon, dass plötzlich
Menschen auf unerklärliche Weise verschwinden?« - und das, obwohl
das Bromberg-Memorandum sozusagen sein Katechismus geworden war,
sein Arbeitsprogramm für die ganze weitere Zukunft … Offensichtlich
konnte oder wollte er den Wanderern keine Macht zuerkennen,
die ins Übernatürliche reichte - das hätte seine Arbeit vollkommen
wertlos gemacht. Denn welchen Sinn hatte es, ein Wesen zu suchen,
aufzuspüren und zu ergreifen, das sich jeden Augenblick in Luft
auflösen und an jedem beliebigen Ort wieder Gestalt annehmen
konnte?
Doch bei all seiner Neigung zu vorgefassten
Ansichten versuchte er nie, gegen feststehende Tatsachen
anzukämpfen. Ich weiß noch, wie er mich damals als unerfahrener
Anfänger überzeugte, an der Untersuchung einer Tragödie auf der
Insel Matuku teilzunehmen.
Mit dem Fall befasste sich der Sektor »Ozeanien«,
wo man über irgendwelche Wanderer freilich nichts hören
wollte. Aber der Fall war einmalig - noch nie war etwas
Vergleichbares geschehen, und so wurden wir, Toivo und ich, ohne
Widerspruch aufgenommen.
Auf der Insel Matuku stand seit ewigen Zeiten ein
hohes, halbzerfallenes Radioteleskop. Wer es gebaut hatte und wozu,
hatte man nicht mehr herausfinden können.
Die Insel galt als unbewohnt. Gelegentlich wurde
sie von Delfinforschern besucht oder von Pärchen, die im klaren
Wasser der kleinen Buchten an der Nordküste nach Perlen suchten.
Wie sich aber dann herausstellte, lebte dort seit einigen Jahren
eine Doppelfamilie von Kopflern. (Die junge Generation hat schon
fast vergessen, wer die Kopfler sind. Zur Erinnerung: Das ist eine
Rasse intelligenter Kynoiden vom Planeten Saraksch, die sich eine
Zeit lang in sehr engem Kontakt mit den Erdenmenschen befand. Die
großköpfigen sprechenden Hunde hatten uns durch den ganzen Kosmos
begleitet und auf unserem Planeten sogar eine Art diplomatische
Vertretung unterhalten. Vor dreißig Jahren aber verließen sie uns
und nahmen seitdem keinen Kontakt mehr zu den Menschen auf.)
Im Süden der Insel lag eine runde, vulkanische
Bucht, die in höchstem Grade verschmutzt war. Über die Ufer hatte
sich ein widerlicher Schaum ausgebreitet, der anscheinend
organischen Ursprungs war, denn er zog unermessliche Schwärme von
Seevögeln an. Das Wasser der Bucht war ansonsten leblos; nicht
einmal Wasserpflanzen gediehen darin.
Und auf dieser Insel waren Morde geschehen. Die
Menschen hatten sich gegenseitig umgebracht. Es war so entsetzlich,
dass die Massenmedien monatelang nicht wagten, über die Ereignisse
zu berichten.
Wie sich ziemlich bald herausstellte, war die
Ursache eine riesige silurische Molluske - ein monströser
urzeitlicher Kopffüßler, der sich einige Zeit zuvor am Grund der
vulkanischen Bucht angesiedelt hatte; ein Taifun hatte ihn wohl
dorthin verschlagen. Und nun übte das Biofeld dieses Monsters, das
von Zeit zu Zeit an die Oberfläche stieg, eine hochgradig
deprimierende Wirkung auf die Psyche höherer Tiere aus. Speziell
beim Menschen führte es zu einer katastrophalen Senkung der
Motivationsschwelle: Der Mensch wurde asozial. Er konnte einen
Freund totschlagen, weil der aus Versehen sein Hemd ins Wasser
geworfen hatte - und er schlug ihn tot …
Toivo Glumow hatte sich nun in den Kopf gesetzt,
diese Molluske sei das von Bromberg vorhergesagte Individuum des
Monokosmos im Prozess seiner Formierung. Ich muss gestehen, dass
anfangs, als wir noch über keinerlei Fakten verfügten, seine
Überlegungen durchaus plausibel klangen - sofern man überhaupt von
der Plausibilität einer Logik sprechen kann, die auf einer
phantastischen Voraussetzung beruht. Es war interessant zu
beobachten, wie Toivo unter dem Druck immer neuer Daten, die die
Spezialisten für Kopffüßler und
Paläontologie gewannen, Schritt für Schritt von seiner These
abrückte.
Den Rest versetzte ihm ein Biologiestudent, der in
Tokio ein japanisches Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert
ausgegraben hatte, wo sich eine Beschreibung dieses oder eines
ebensolchen Ungeheuers fand (ich zitiere nach meinem
Tagebuch):
»In den östlichen Meeren sieht man einen
Katatsumoridako von purpurner Farbe mit einer Vielzahl langer
dünner Arme; er schaut aus einer runden, dreißig Fuß großen Schale
mit scharfen Kanten und Zacken hervor; die Augen sind wie verfault;
er ist ganz von Polypen bewachsen. Wenn er auftaucht, liegt er
flach auf dem Wasser wie eine Insel; er verbreitet Gestank und
sondert etwas Weißes ab, um Fische und Vögel anzulocken. Wenn sie
näher kommen, greift er wahllos mit den Armen nach ihnen; davon
ernährt er sich. In Mondnächten liegt er da, wiegt sich auf den
Wellen, die Augen zum Himmel gerichtet, und sinnt nach über die
Tiefen des Wassers, daraus er ausgeworfen ist. Diese Gedanken sind
so düster, dass sie die Menschen in Schrecken versetzen und sie zu
Tigern machen.«
Ich weiß noch, wie Toivo, nachdem er das gelesen
hatte, ein paar Minuten schwieg, in tiefes Nachdenken versunken.
Dann atmete er, wie mir schien, fast erleichtert auf und sagte:
»Ja, das ist etwas anderes. Zum Glück. Denn es ist gar zu
widerlich.« Er stellte sich den Monokosmos als ziemlich
abscheuliches Wesen vor - aber doch nicht in diesem Maße. Ein
Monokosmos in Gestalt eines Silur-Kraken passte nicht in sein Bild.
(Übrigens ebenso wenig, wie diese Molluske ins Bild der Fachleute
passte - mit ihrem Verderben bringenden Biofeld, ihrem
verschiebbaren Panzer und ihrem persönlichen Alter von mehr als
vierhundert Millionen Jahren.)
So endete die erste ernste Angelegenheit, mit der
sich Toivo Glumow befasste, ergebnislos. Ähnliche Fehlschläge waren
ihm in der Folgezeit des Öfteren beschieden, bis er mich Mitte des
Jahres’98 um Erlaubnis bat, die Unterlagen zu den Massenphobien
bearbeiten zu dürfen. Ich genehmigte es.