FÜNFTER TEIL
Erdenmensch

18

Der Generalstaatsanwalt hatte einen leichten Schlaf, und das Summen des Telefons weckte ihn sofort. Ohne die Augen zu öffnen, griff er nach dem Hörer und sagte heiser: »Ich höre.«
Als bäte er um Entschuldigung, säuselte der Referent: »Es ist sieben Uhr, Eure Exzellenz.«
»Ja.« Der Staatsanwalt hielt die Augen noch immer geschlossen. »Ja. Danke.«
Er schaltete das Licht ein, schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Einige Zeit saß er so, den Blick auf seine dürren bleichen Beine geheftet, und dachte traurig und erstaunt darüber nach, dass er, obwohl er nun schon auf die sechzig zuging, sich keines Tages entsinnen konnte, an dem man ihn hätte ausschlafen lassen. Immer hatte ihn jemand geweckt. Als er Rittmeister war, war es dieses Rindvieh von Offiziersbursche, der ihn nach den Besäufnissen aus dem Schlaf riss. Als er Vorsitzender des Sondergerichts war, trieb ihn dieser Dummkopf von Sekretär mit seinen nicht unterschriebenen Urteilen aus dem Bett. Als Gymnasiast wurde er von seiner Mutter geweckt, damit er zum Unterricht ging, und das war die scheußlichste Zeit, das schlimmste Erwachen. Und immer hatte es geheißen: Es muss sein! Es muss sein, Euer Wohlgeboren. Es muss sein, Herr Vorsitzender. Es muss sein, Söhnchen. Und jetzt mahnte er sich selbst mit diesem »Es muss sein«. Er stand auf, warf sich den Morgenmantel über, netzte das Gesicht mit einer Handvoll Kölnischwasser und setzte sein Gebiss ein. Dann sah er in den Spiegel, rieb sich die Wangen, verzog gehässig das Gesicht und begab sich in sein Arbeitszimmer.
Die warme Milch stand schon auf dem Tisch, und unter der gestärkten Serviette stand ein kleines Schälchen mit Salzgebäck. Beides war Medizin für ihn, doch bevor er sie nahm, trat er an den Safe, öffnete ihn, holte eine grüne Mappe heraus und legte sie neben sein Frühstück. Während er das knusprige Gebäck aß und die Milch dazu trank, sah er die Mappe genau durch - bis er sich davon überzeugt hatte, dass sie seit dem Vorabend von niemandem geöffnet worden war. Wie viel sich verändert hat, fuhr es ihm durch den Kopf. Nur drei Monate sind vergangen, und wie hat sich alles verändert. Unwillkürlich starrte er zu dem gelben Telefon hinüber, konnte sekundenlang den Blick nicht lösen. Das Telefon schwieg, es war leuchtend und schön wie ein buntes Spielzeug - und angsteinflößend wie eine tickende Bombe, die sich nicht entschärfen ließ …
Krampfhaft und mit beiden Händen umklammerte der Staatsanwalt die grüne Mappe und schloss die Augen. Er spürte, wie die Angst in ihm hochstieg, und wollte sie schnell bezwingen. Nein, so ging das nicht: Er musste jetzt absolute Ruhe bewahren, kühl und nüchtern überlegen. Eine Wahl habe ich ohnehin nicht. Also muss ich’s riskieren. Ein Risiko, was soll’s. Das gab es immer und wird es immer geben, nur minimal muss man es halten. Und das werde ich tun. Ja, Massaraksch, minimal werde ich’s halten! Sie sind nicht davon überzeugt, Schlaukopf? Ach, Sie zweifeln? Sie zweifeln ständig, Schlaukopf, das steckt eben in Ihnen, Sie Prachtexemplar … Versuchen wir, Ihre Zweifel zu zerstreuen. Haben Sie von einem gewissen Maxim Kammerer gehört? Tatsächlich, Sie haben? Aber das kommt Ihnen nur so vor, Sie haben nie von ihm gehört, jetzt ist es das erste Mal. Und jetzt, bitte sehr, folgen Sie meinen Ausführungen und bilden Sie sich ein objektives, unvoreingenommenes Urteil über ihn. Ihre sachliche Meinung bedeutet mir sehr viel, Schlaukopf, wissen Sie, von ihr hängt nun ab, ob meine Haut heil und ganz bleibt. Meine blasse, blaugeäderte, mir ach so teure Haut.
Er aß das letzte Gebäck und trank in einem Zug die Milch aus.
Dann sagte er laut: »Fangen wir an.«
Er schlug die Mappe auf. Die Vergangenheit dieses Menschen liegt im Dunkeln. Natürlich ist das kein sonderlich guter Anfang für eine Bekanntschaft. Aber wir beide wissen ja zum Glück nicht nur, wie man von der Vergangenheit auf die Gegenwart, sondern auch, wie man von der Gegenwart auf die Vergangenheit schließt. Und wenn wir etwas über die Vergangenheit unseres Mak wissen müssen, dann rekonstruieren wir sie eben aus der Gegenwart. Extrapolation nennt man das. Unser Mak beginnt seine Gegenwart damit, dass er aus dem Straflager flieht. Ganz plötzlich. Unerwartet. Genau in dem Augenblick, da der Wanderer und ich die Hände nach ihm ausstrecken. Hier, der panische Bericht des Generalkommandanten - das klassische Gezeter eines Idioten, der Unsinn verzapft hat und jetzt seine Strafe fürchtet. Er sei vollkommen unschuldig, habe immer nach Vorschrift gehandelt und nicht gewusst, dass das Objekt sich freiwillig zu den Pionieren, den Todeskandidaten, gemeldet hätte. Das Objekt aber habe es getan und sei im Minenfeld umgekommen. Er hat es nicht gewusst. Der Wanderer und ich haben es auch nicht gewusst. Aber man hätte es wissen müssen. Das Objekt ist unberechenbar, von ihm hatten Sie Derartiges zu erwarten, Herr Schlaukopf. Ja, damals war ich verblüfft, inzwischen aber wissen wir, was sich ereignet hat: Jemand hatte unserem Mak die Funktion der Türme erklärt, so dass er beschloss, das Land der Unbekannten Väter zu verlassen und sich in Richtung Süden davonzumachen, nicht aber, ohne vorher seinen Tod vorzutäuschen. Der Staatsanwalt senkte den Kopf auf die Arme und wischte sich kraftlos über die Stirn. Damit hat alles angefangen. Das war der erste in der Serie meiner Fehler: Ich habe geglaubt, er ist tot. Wie auch nicht? Welcher normale Mensch flieht schon in den Süden! Jeder hätte es geglaubt. Aber der Wanderer tat es nicht.
Der Staatsanwalt griff zum nächsten Bericht. Ach, dieser Wanderer! Dieses Genie … So hätte ich mich verhalten sollen, so wie er. Ich jedoch war mir sicher, dass Mak umgekommen ist. Süden bleibt nun mal Süden. Aber der Wanderer überschwemmte das ganze Flussgebiet mit seinen Agenten. Ach, der dicke Fank. Seinerzeit habe ich ihn nicht erwischt, ihn nicht an die Kandare nehmen können; der kahle Fettwanst ist mager geworden, während er durch das Land hetzte, schnüffelte und suchte. Sein »Huhn« ist an der Sechsten Trasse am Fieber verreckt; »Tapa das Hähnchen« haben die Bergbewohner geschnappt, und dann ist die Fünfundfünfzig - keine Ahnung, wer dahintersteckt - den Piraten an der Küste ins Netz gegangen. Vorher allerdings hatte sie noch melden können, dass Mak dort gewesen war, sich dann einer Patrouille gestellt hatte und in seine Kolonne zurückgeführt worden war.
So handeln Leute mit Köpfchen: Sie glauben nichts und schonen niemanden. Auch ich hätte mich so verhalten sollen - alle anderen Dinge liegen lassen und mich nur Mak widmen, denn ich hatte ja schon damals begriffen, was der für eine Kraft besitzt. Stattdessen habe ich mich mit Hampelmann angelegt und verloren, und dann habe ich mich auf diesen idiotischen Krieg eingelassen und auch verloren. Und jetzt würde ich wieder den Kürzeren ziehen, doch nun habe ich Glück: Mak ist in der Stadt aufgetaucht, in der Höhle des Löwen, Wanderer, und ich habe früher davon erfahren als der Wanderer selbst. Ja, Wanderer, du Knorpelohr, jetzt hast du verspielt. Dass du aber auch gerade jetzt verreisen musstest! Und weißt du, es stört mich überhaupt nicht, dass ich wieder keine Ahnung habe, weshalb und wohin du gefahren bist. Du bist weg, und das ist gut so. Du hast dich natürlich bei allem auf Fank verlassen - und Fank hat dir auch Mak hierhergebracht -, aber jetzt liegt er unglücklicherweise bewusstlos im Palasthospital, von seinen Kriegsabenteuern zur Strecke gebracht. Und Fank scheint eine wichtige Person zu sein, denn nur solche kommen ins Palasthospital! Jetzt mache ich aber keinen Fehler mehr, jetzt bleibt er dort, solange es mir nützt. Du bist nicht da, Fank ist nicht da, aber unser Mak ist da, und das trifft sich ausgezeichnet …
Der Staatsanwalt spürte Freude in sich aufsteigen, verdrängte sie jedoch sofort. Wieder diese Emotionen, Massaraksch. Ruhig, Schlaukopf, ruhig. Du lernst einen neuen Menschen kennen, und der heißt Mak. Du musst sehr objektiv sein, umso mehr, als dieser neue Mak dem alten überhaupt nicht mehr gleicht. Er ist erwachsen geworden und weiß nun, was man unter Finanzen und Kinderkriminalität versteht. Klüger ist er jetzt, härter. Er hat es bis in den Stab des Untergrunds geschafft (Referenzen: Memo Gramenu und Allu Sef) und seine Mitstreiter wie ein Blitz aus heiterem Himmel mit dem Vorschlag überrascht, Gegenpropaganda zu betreiben. Der Stab hat aufgeheult, denn das bedeutete, dem gesamten Untergrund die wahre Funktion der Türme zu enthüllen, doch Mak hat sie überzeugt. Er hat ihnen Angst gemacht, sie verwirrt; dann haben sie seinen Vorschlag angenommen und ihn mit der Ausarbeitung beauftragt. Schnell und sicher hat er die Situation analysiert. Und sie haben verstanden, mit wem sie zu tun haben. Oder haben es gespürt. Da, die letzte Meldung: Die Fraktion der Aufklärer hat ihn zur Erörterung eines Umerziehungsprogramms hinzugebeten, und er war gern dazu bereit. Hatte gleich eine Menge Ideen. Nicht wer weiß wie großartige, aber darum geht es auch nicht, die Umerziehung ist sowieso Quatsch. Wichtig ist, dass er jetzt kein Terrorist mehr ist, nichts in die Luft sprengen und keinen umbringen will. Wichtig ist, dass er sich mit politischer Tätigkeit befasst, sich Autorität im Stab erwirbt, Reden hält, kritisiert, aufwärtsstrebt, dass er Einfälle hat und sie verwirklichen will - und das ist genau das, was wir brauchen, Herr Schlaukopf!
Der Staatsanwalt lehnte sich im Sessel zurück.
Und da ist noch etwas, was wir brauchen. Ein Bericht über seine Lebensweise: Er arbeitet jetzt viel, sowohl im Labor als auch zu Hause, sehnt sich aber immer noch nach diesem Mädchen, Rada Gaal. Er treibt Sport, hat fast keine Freunde, raucht nicht, trinkt kaum und isst mäßig. Andererseits verrät seine Lebensweise eine klare Neigung zum Luxus. Er kennt seinen Wert: Den Dienstwagen, der ihm in seiner Position zusteht, hat er als etwas Selbstverständliches angenommen und obendrein noch Leistung und äußere Form bemängelt. Auch mit der Zweizimmerwohnung ist er unzufrieden, hält sie für zu eng und bar jeglichen Komforts. Sein Zuhause hat er mit echten Bildern und Antiquitäten ausgestattet und dafür fast seinen gesamten Vorschuss aufgebraucht. Und so weiter. Gutes Material, sehr gutes Material. Übrigens, über wie viel Geld verfügt er zurzeit? Aha, Bereichsleiter im Laboratorium für chemische Synthese. Haben ihm keine schlechte Funktion gegeben. Und sicherlich eine noch bessere in Aussicht gestellt. Ich wüsste gern, was sie ihm gesagt haben, wozu ihn der Wanderer braucht. Fank weiß das, dieses fette Schwein, aber er wird es nicht sagen, eher verreckt er. Wüsste man doch nur, könnte man ihm doch nur aus der Nase ziehen, was er weiß! Mit welcher Freude würde ich ihn anschließend umlegen. Wie er mir das Leben vergällt hat, dieser Dreckskerl. Auch diese Rada hat er mir weggenommen. Dabei käme sie mir jetzt so gut zupass. Rada … Was sie für eine Waffe wäre gegen den reinen, ehrlichen und tapferen Mak! Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht. Denn nicht ich halte schließlich deine Liebste hinter Schloss und Riegel, Mak. Da steckt allein der Wanderer dahinter, sind alles seine Intrigen. Dieser elende Erpresser …
Der Staatsanwalt zuckte zusammen: Leise klingelte das gelbe Telefon. Es klingelte nur, weiter nichts. Leise, sogar melodisch. Erwachte für den Bruchteil einer Sekunde zum Leben und erstarrte wieder, als hätte es sich nur in Erinnerung rufen wollen. Ohne es aus den Augen zu lassen, fuhr sich der Staatsanwalt mit zitternden Fingern über die Stirn. Nein, das war eine Fehlverbindung. Natürlich, eine Fehlverbindung. Es kann ja alles Mögliche passieren - ein Telefon ist ein komplizierter Apparat, irgendein Funke konnte übergesprungen sein. Er wischte sich die Finger am Morgenmantel ab. Und im selben Moment klingelte das Telefon los - wie ein Schuss aus nächster Nähe, wie ein Messer an der Kehle, ein Sturz vom Dach auf den Asphalt. Der Staatsanwalt nahm den Hörer ab. Er wollte es nicht, bemerkte nicht einmal, dass er es tat, ja, bildete sich sogar ein, es nicht zu tun, sondern auf Zehenspitzen schnell ins Schlafzimmer zu laufen, sich anzukleiden, den Wagen aus der Garage zu fahren und so schnell es ging davonzujagen … Aber wohin?
»Generalstaatsanwalt.« Er räusperte sich heiser.
»Schlaukopf? Hier ist der Papa.«
Jetzt … Jetzt also … Gleich würde es heißen: Wir erwarten dich in einer Stunde …
»Ich habe deine Stimme erkannt«, murmelte er kraftlos. »Grüß dich, Papa.«
»Hast du den Bericht gelesen?«
»Nein.«
Nicht? Dann komm her, wir tragen ihn dir vor …
»Aus!«, sagte der Papa. »Wir haben’s mit dem Krieg versaut.«
Der Staatsanwalt schluckte. Er musste irgendetwas sagen. Ganz schnell etwas sagen, am besten einen Witz machen. Ein dezentes Witzchen. Gott, verhilf mir zu einem Witz!
»Du schweigst? Und was hatte ich dir gesagt? Lass die Finger davon. Halte dich an die Zivilisten - die Zivilisten, nicht ans Militär. Ach, Schlaukopf …«
»Du bist der Papa«, presste der Staatsanwalt hervor. »Kinder sind nun mal ihren Eltern gegenüber ungehorsam.«
Der Papa kicherte. »Kinder … Und wo steht geschrieben: ›Wenn dein Kind dir den Gehorsam verweigert …‹ Wie heißt es weiter, weißt du’s nicht, Schlaukopf?«
Gott, mein Gott! »Tilge es vom Antlitz der Erde.« So hatte er es damals auch gesagt: »Tilge es vom Antlitz der Erde«, und der Wanderer hatte die schwere schwarze Pistole vom Tisch genommen und zweimal abgedrückt, und das Kind hatte nach seiner durchschossenen Glatze gegriffen und war auf den Teppich gestürzt.
»Hast du dein Gedächtnis verloren?«, meldete sich der Papa. »Ach, Schlaukopf, was wirst du jetzt tun?«
»Ich habe mich geirrt«, krächzte der Staatsanwalt. »Ein Irrtum … Nur wegen Hampelmann …«
»Hast dich geirrt … Na gut, denke darüber nach, Schlaukopf. Überlege. Ich ruf nochmal an.«
Schluss. Weg war er. Und keine Ahnung, wo man ihn erreichen könnte, weinen, ihn anflehen. Aber das wäre dumm. Das hat noch keinem geholfen. Gut, warte … Wart’s nur ab, du Schwein! Mit voller Wucht schlug er seine offene Hand auf die Tischkante, damit sie blutete und schmerzte, damit sie aufhörte zu zittern … Es half ein wenig. Dann aber bückte er sich, öffnete mit der anderen Hand die unterste Schublade, zog den Flachmann heraus, öffnete den Stöpsel mit den Zähnen und nahm ein paar Schluck. Ihm wurde heiß. So … Ruhig … Wir werden ja sehen. Es ist wie beim Wettlauf: Wer ist schneller? Den Schlaukopf kriegt ihr nicht so einfach, er wird euch noch zu schaffen machen. So schnell zitiert man ihn nicht zu sich. Wenn das ginge, hätten sie es längst getan. Macht nichts, dass der Papa angerufen hat. Das tut er ja immer. Mir bleibt noch Zeit. Zwei Tage, drei Tage, vier. »Du hast noch Zeit!«, schrie er sich an. »Spiel nicht verrückt!« Er sprang auf und hastete im Kreis durch sein Arbeitszimmer.
Ich habe euren Meister. Ich habe Mak. Einen Menschen, der die Strahlen nicht fürchtet. Für den es keine Barrieren gibt. Der die Dinge umordnen will. Der uns hasst. Ein unbeschriebenes Blatt und folglich allen Verführungen offen. Einer, der mir glauben und mich noch treffen wollen wird. Er möchte es ja jetzt schon. Meine Agenten haben ihm gegenüber mehrfach betont, dass der Generalstaatsanwalt gut und gerecht ist, ein echter Kenner der Gesetze und ein wahrer Hüter des Rechts; dass die Väter ihm nicht grün sind und ihn nur dulden, weil sie einander misstrauen. Meine Agenten haben mich ihm gezeigt, heimlich, unter günstigen Umständen. Und mein Gesicht hat ihm gefallen. Die Hauptsache aber ist: Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit haben sie ihm bedeutet, dass ich weiß, wo die Zentrale ist. Er hat sich hervorragend im Griff - doch in diesem Moment, meinten die Agenten, hat er sich verraten. Über so einen Mann verfüge ich! Einen, der unbedingt die Zentrale einnehmen möchte - und es tun könnte, er als Einziger. Das heißt, bis jetzt habe ich ihn noch nicht, aber die Netze sind geworfen, der Köder ist geschluckt. Und heute ziehe ich die Angel ein. Oder ich bin erledigt … erledigt … erledigt …
Jäh fuhr er herum und starrte entsetzt auf das gelbe Telefon.
Seine Phantasie ließ sich nicht länger zügeln. Wieder sah er dies kleine Zimmer, bespannt mit violettem Samt - stickig, säuerlich riechend, fensterlos. Darin ein kahler, schäbiger Tisch und fünf vergoldete Stühle … Wir, alle anderen, standen: ich, der Wanderer mit den Augen eines begierigen Mörders und dieser kahlköpfige Henker - ein Tölpel, ein Schwätzer. Der Henker wusste, wo die Zentrale liegt, er hatte so viele Menschen zugrunde gerichtet, um es zu erfahren, und dann - eine Plaudertasche, ein Trunkenbold, ein Angeber. Als ob man über so etwas mit irgendjemandem reden dürfte. Zumal mit Verwandten, besonders mit solchen Verwandten. Und dann noch Chef des Departements für Volksgesundheit, Auge und Ohr der Unbekannten Väter, Schild und Streitaxt der Nation. Der Papa hatte die Augen zusammengekniffen und gesagt: »Tilge es vom Antlitz der Erde!«, und der Wanderer hatte zweimal aus nächster Nähe geschossen. »Wieder habt ihr die Tapeten bespritzt«, hatte der Schwiegervater mürrisch geknurrt. Und sie stritten weiter darüber, warum es im Zimmer stinkt. Ich aber hatte Knie aus Watte und dachte: Wissen sie es, oder wissen sie es nicht? Der Wanderer fletschte die Zähne wie ein hungriges Raubtier und starrte mich an, als erriete er es. Einen Dreck hat er erraten. Jetzt verstehe ich, warum er immer so bemüht war, dass nur ja niemand das Geheimnis der Zentrale erfährt. Er hat die ganze Zeit gewusst, wo sie liegt, und nur auf eine Gelegenheit gewartet, um sie in seine Gewalt zu bringen. Aber du kommst zu spät, Wanderer, du kommst zu spät. Auch du, Papa, kommst zu spät. Ebenso wie du, Schwiegervater. Und von dir, Hampelmann, ist erst gar nicht die Rede.
Er zog den Vorhang zurück und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Seine Angst hatte er fast erstickt, und um sie endgültig zu besiegen, stellte er sich vor, wie Mak gewaltsam den Maschinenraum der Zentrale stürmte.
Aber das hätte auch Wasserblase mit seiner Leibwache tun können, mit dieser Bande aus Brüdern und Cousins, Neffen, dicken Freunden und Protegés, diesem grässlichen Pack, das noch nie von einem Gesetz gehört hatte und immer nur der einen Regel gefolgt war: Schieße immer als Erster … Man musste schon der Wanderer sein, um die Hand gegen Wasserblase zu erheben! Noch am selben Abend hatten sie ihn am Tor zu seiner Villa überfallen, seinen Wagen durchlöchert, den Fahrer und die Sekretärin getötet und waren dann auf rätselhafte Weise selbst umgekommen, alle vierundzwanzig Mann, mit zwei Maschinengewehren … Ja, Wasserblase wäre auch in der Lage gewesen, in den Maschinenraum vorzudringen, aber dann wäre er steckengeblieben. Er hätte es nicht weiter geschafft, weil dahinter die Depressionsstrahlenschranke liegt. Inzwischen sind es vielleicht sogar zwei Strahlenschranken - aber schon eine würde reichen, denn niemand kann sie überwinden. Ein Entarteter verlöre vor Schmerz das Bewusstsein, und jeder normale Bürger sänke auf die Knie und finge an, in Todessehnsucht zu wimmern. Nur Mak dringt weiter vor und legt seine Hand an die Generatoren. Zuallererst wird er die Zentrale und das gesamte System der Türme auf Depression schalten. Und dann geht er vollkommen ungehindert hoch zum Rundfunkstudio und legt ein Band mit einer vorbereiteten Rede ein, zur zyklischen Wiedergabe. Das ganze Land, von der hontianischen Grenze bis zu den Regionen jenseits des Flusses ist depressiv. Millionen von Schwachköpfen liegen herum, tränenüberströmt und unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Aus den Lautsprechern schallt es ohrenbetäubend, dass die Unbekannten Väter Verbrecher sind, dass sie so und so heißen und sich dort und dort befinden. Tötet sie, rettet das Land - das sage ich euch, Mak Sim, der lebendige Gott dieser Welt (oder der legitime Erbe des Kaiserthrons, oder der große Diktator - was ihm eben besser gefällt). Auf, zu den Waffen, meine Garde. Zu den Waffen, meine Armee. Zu den Waffen, meine Untertanen. In der Zwischenzeit begibt sich Maxim zurück in den Maschinenraum und stellt die Generatoren um: auf erhöhte Aufmerksamkeit. Schon lauscht das ganze Land mit gespitzten Ohren und ist bemüht, kein einziges Wort zu verpassen. Sie wiederholen das Gehörte, um es auswendig zu lernen. Die Lautsprecher dröhnen, die Türme strahlen, und das noch eine weitere Stunde. Dann aber stellt Mak die Emitter auf Begeisterung ein, dreißig Minuten Begeisterung, und dann ist Schluss der Sendung. Und wenn ich wieder zu mir komme (Massaraksch! - anderthalb Stunden lang höllische Schmerzen, aber das muss ich durchstehen!), dann gibt es schon keinen Papa mehr, ja, überhaupt keinen mehr von denen. Dann sind da nur noch Mak, der große Gott Mak, und sein treuer Berater, der ehemalige Generalstaatsanwalt und jetzige Regierungschef des großen Mak. Ach, Gott mit ihr, mit dieser Regierung, einfach leben werde ich, nichts wird mir mehr drohen, und dann sehen wir weiter. Mak gehört nicht zu denen, die nützliche Freunde im Stich lassen, er lässt nicht einmal unnütze Freunde im Stich, und ich werde ein sehr nützlicher Freund sein. Oh, was für ein nützlicher Freund ich ihm sein werde!
Er unterbrach sich und trat wieder an den Tisch, warf einen Blick auf das gelbe Telefon, schmunzelte, hob dann den Hörer vom grünen Telefon ab und wählte die Nummer des Stellvertretenden Leiters des Departements für spezielle Untersuchungen.
»Kaulquappe? Guten Morgen, hier Schlaukopf. Wie geht’s? Was macht der Magen? … Na, wunderbar … Der Wanderer ist noch nicht zurück? … Aha. Na gut … Man hat mich eben von oben angerufen und aufgefordert, euch ein bisschen zu inspizieren … Nein, nein, ich denke, eine reine Formalität, ich verstehe sowieso nichts von eurem Kram. Bereite aber schon mal einen Bericht vor … einen Entwurf für das Inspektionsgutachten und so weiter. Und sorge dafür, dass alle an ihren Plätzen sind, wenn ich komme, nicht wie beim vorigen Mal … Hm … Gegen elf, wahrscheinlich … Richte es so ein, dass ich um zwölf wieder gehen kann, mit allen Unterlagen … Na, bis nachher. Gehen wir leiden … Du leidest doch auch? Oder habt ihr womöglich längst ein Schutzmittel und versteckt es nur vor der Obrigkeit? Na, na, war ein Scherz … Bis dann.«
Er legte den Hörer auf und sah auf die Uhr. Viertel vor zehn. Laut seufzend schleppte er sich ins Badezimmer. Wieder dieser Albtraum … ein halbstündiger Alb, gegen den es keinen Schutz gab. Keine Rettung. Der einem die Freude am Leben raubte. Was für ein Jammer: Den Wanderer würde man verschonen müssen.
Die Wanne war bereits voll mit heißem Wasser. Der Staatsanwalt legte seinen Morgenmantel ab, zog das Nachthemd aus und schob sich eine Schmerztablette unter die Zunge. So verlief nun das ganze Leben. Ein Vierundzwanzigstel davon war die Hölle. Mehr als vier Prozent. Die Vorladungen in den Palast nicht mitgerechnet. Na, die würden ja bald wegfallen. Die vier Prozent aber bleiben. Übrigens, das werden wir noch sehen! Wenn alles geregelt ist, befasse ich mich selbst mit dem Wanderer. Dann stieg er in die Wanne, machte es sich bequem und entspannte sich. Gerade wollte er sich ausmalen, wie er sich den Wanderer vorknöpfen würde … Aber er kam nicht mehr dazu. Der bekannte Schmerz schlug in seinen Scheitel ein, schob sich die Wirbelsäule hinunter, krallte sich in jede Zelle, in jeden Nerv und begann daran zu reißen - systematisch, grausam, im Takt seines rasenden Herzens.
Als alles vorbei war, lag er noch ein wenig in matter Erschöpfung. Die Höllenqualen hatten auch ihren Vorteil - jede halbe Stunde Albdruck schenkte ihm ein paar Minuten paradiesischer Wonne. Dann stieg er aus dem Wasser, trocknete sich vor dem Spiegel ab und nahm durch die halbgeöffnete Tür seine frische Wäsche vom Kammerdiener entgegen. Er zog sich an, kehrte ins Arbeitszimmer zurück, trank noch ein Glas warme Milch, diesmal mit Mineralwasser vermischt, und aß dann einen klebrigen Brei mit Baumhonig. Er saß kurze Zeit still, um endgültig zu sich zu kommen, rief dann den Referenten vom Tagesdienst an und trug ihm auf, den Wagen vorfahren zu lassen.
Zum Departement für spezielle Untersuchungen führte eine von üppigen, künstlich anmutenden Bäumen gesäumte Regierungstraße, die um diese Tageszeit völlig leer war. Ohne an den Ampeln zu halten, raste der Chauffeur dahin; ab und zu schaltete er die durchdringende basstiefe Sirene ein. Drei Minuten vor elf rollten sie vor das hohe Eisentor des Departements. Ein Gardist in Paradeuniform trat zu ihnen, bückte sich, erkannte den Staatsanwalt und salutierte. Sogleich tat sich das Tor auf und gab den Blick auf einen üppigen Garten frei, auf weiße und gelbe Wohnblöcke und, dahinter, den gigantischen Glasbau des Instituts, der die Form eines Parallelepipeds hatte. Langsam fuhren sie die Straße entlang, die mit strengen Warnhinweisen zur Geschwindigkeitskontrolle gesäumt war, vorbei an einem Kinderspielplatz, dem Flachbau einer Schwimmhalle und einer fröhlich bunten Klubgaststätte. Ringsum: Grün, Wolken von Grün, dazu die wunderbarste reine Luft und, Massaraksch, ein erstaunlicher Duft; nirgendwo sonst gab es den, weder im Wald noch auf dem Feld. Dieser Wanderer! Das alles hat er sich ausgedacht. Höllische Gelder sind dafür verpulvert worden, aber wie sehr man ihn hier liebt. So muss man leben, so sich einrichten! Unsummen hat es gekostet, der Schwager war damals sehr unzufrieden, ja, ist es jetzt noch. Ein Risiko? Natürlich. Der Wanderer hat etwas riskiert, aber dafür ist sein Departement jetzt auch sein Departement: Hier verrät ihn keiner, stellt ihm niemand Fallen. Fünfhundert Menschen arbeiten hier für ihn, hauptsächlich junge Leute. Sie lesen keine Zeitungen, hören kein Radio - sie haben keine Zeit dafür … Sehen Sie, diese wichtigen wissenschaftlichen Untersuchungen … Strahlung ist hier gar nicht nötig, schießt am Ziel vorbei, genauer gesagt, sie trifft ein ganz anderes. Ja, Wanderer, ich an deiner Stelle würde mir mit den Schutzhelmen noch viel Zeit lassen. Womöglich tust du das auch? Wahrscheinlich. Aber, was viel wichtiger ist: Wie kriegt man dich zu fassen? Wenn sich bloß ein zweiter Wanderer fände … Doch ein zweites Köpfchen wie deins gibt es nirgends auf der Welt. Und das weiß er, hält ein wachsames Auge auf jeden mehr oder weniger talentierten Menschen. Nimmt ihn von klein auf unter seine Fittiche, ist nett zu ihm, entfremdet ihn seinen Eltern - und die Eltern, diese Dummköpfe, sind auch noch bis an ihr Lebensende froh darüber; und siehe da, schon hat sich ein weiterer Soldat in seine Front eingereiht … Ach, wie gut, dass der Wanderer jetzt nicht da ist, was ist das für ein Glück!
Der Wagen hielt, der Referent riss die Tür auf. Der Staatsanwalt stieg aus und ging die Stufen zum verglasten Vestibül hinauf. Kaulquappe und seine Lakaien erwarteten ihn schon. Der Staatsanwalt drückte, gebührende Langeweile im Gesicht, Kaulquappe schlaff die Hand, warf einen Blick auf die Lakaien und gestattete ihnen, ihn zum Lift zu geleiten. Sie betraten ihn nach Protokoll: zuerst der Herr Generalstaatsanwalt, nach ihm der Herr Stellvertretende Departementsleiter, danach der Lakai des Generalstaatsanwalts und der ranghöchste Lakai des Herrn Stellvertretenden Leiters. Die Übrigen verblieben im Vestibül. In Kaulquappes Arbeitszimmer begab man sich ebenfalls förmlich: zuerst der Herr Staatsanwalt und hinter ihm Kaulquappe. Den Lakai des Herrn Generalstaatsanwalts und den Oberlakai Kaulquappes ließen sie hinter der Tür zur Anmeldung zurück. Der Staatsanwalt ließ sich sogleich matt in einen Sessel sinken; Kaulquappe hingegen wurde unruhig, drückte auf den Knöpfen an seiner Tischkante herum und befahl - als nun eine ganze Horde von Sekretären im Zimmer erschien -, Tee zu servieren.
Um sich zu erheitern, beobachtete der Staatsanwalt Kaulquappe ein wenig. Kaulquappe machte den Eindruck, als habe er etwas verbrochen: Er vermied, seinem Gast in die Augen zu sehen, fuhr sich über die Haare und rieb sich krampfhaft die Hände; außerdem hüstelte er unnatürlich und machte andauernd sinnlose, hektische Bewegungen. So war Kaulquappe immer. Sein Aussehen und sein Verhalten waren sein Kapital. Ständig weckte er den Verdacht, kein reines Gewissen zu haben, und zog damit ununterbrochen sorgfältigste Überprüfungen auf sich. Das Departement für soziale Gesundheit studierte jede Stunde seines Lebens. Da sein Leben aber makellos war und jede neue Überprüfung diese unerwartete Tatsache bestätigte, kletterte Kaulquappe ungewöhnlich schnell auf der Karriereleiter nach oben.
Der Staatsanwalt wusste das alles sehr gut: Er hatte Kaulquappe schon dreimal auf die allergründlichste Weise überprüft. Und doch ertappte er sich - während er ihm zusah und sich über ihn amüsierte - bei dem Gedanken, dass Kaulquappe, dieser gerissene Kerl, bestimmt wisse, wo sich der Wanderer befand, und habe nun schreckliche Angst, man könnte ihm dieses Wissen entlocken. Der Staatsanwalt beherrschte sich nicht länger.
»Gruß vom Wanderer«, sagte er lässig, wobei er mit den Fingern auf die Armlehne trommelte.
Kaulquappe warf ihm einen kurzen Blick zu, senkte aber sofort wieder die Augen. »Hm, ja …« Er biss sich auf die Lippe. »Hm, gleich bringt man den Tee …«
»Er hat darum gebeten, dass du ihn anrufst.« Der Staatsanwalt tat noch lässiger.
»Was? Ah, gut … Der Tee wird heute einmalig. Die neue Sekretärin ist geradezu darauf spezialisiert. Das heißt also … ähm … wo soll ich ihn denn anrufen?«
»Ich verstehe nicht«, sagte der Staatsanwalt.
»Ich meine, dass … äh … wenn ich ihn anrufen soll, muss ich doch … ähm … seine Nummer wissen. Er hinterlässt doch nie seine Nummer.« Rot angelaufen vor lauter Qual, hantierte Kaulquappe herum, klopfte mit den Händen auf den Tisch und fand schließlich einen Bleistift. »Wo soll ich anrufen?«
Der Staatsanwalt gab auf. »War nur Spaß.«
»Was … äh … wieso …« Kaulquappes Miene verriet nun in schneller Abfolge die verdächtigsten Emotionen. »Ah! Ein Spaß?« Er lachte gekünstelt. »Da hast du mich ja pfiffig … So ein Spaß! Und ich dachte schon … Ha-ha-ha … Ach, da ist ja auch schon das Teechen!«
Der Staatsanwalt nahm aus den sehr gepflegten Händen der sehr gepflegten Sekretärin ein Glas starken heißen Tee entgegen und sagte: »Schön, jetzt hatten wir unseren Spaß. Aber meine Zeit ist knapp. Wo hast du den Schrieb?«
Nach vielen überflüssigen Bewegungen zog Kaulquappe den Entwurf des Inspektionsprotokolls hervor und gab ihn dem Staatsanwalt. Urteilte man danach, wie er sich wand und krümmte, strotzte das Schriftstück von Falschinformationen, diente dem Ziel, die Inspektoren in die Irre zu führen, und war überhaupt in rein subversiver Absicht verfasst worden.
»So …« Der Staatsanwalt lutschte an einem Stück Zucker. »Was hast du hier … Protokoll der Revision … Laboratorium für Interferenz … Laboratorium für Spektraluntersuchungen … Laboratorium für Integralemission … Ich begreife kein Wort, so ein Kauderwelsch! Wie findest du dich in diesem Kram zurecht?«
»Ich … äh … weißt du, ich werde ja auch nicht draus klug. Ich bin doch von der Ausbildung her … äh … Verwalter, meine Aufgabe … ähm … ist die allgemeine Leitung.«
Kaulquappe verbarg seine Augen, biss sich auf die Lippen, wühlte in seinen Haaren - und schon war sonnenklar, dass es sich hier mitnichten um einen Verwalter handelte, sondern um einen hontianischen Spion der höchsten Qualifikation … Was für ein Typ!
Der Staatsanwalt wandte sich wieder dem Protokoll zu. Er machte eine tiefgründige Bemerkung zur Überziehung der Mittel durch die Gruppe für Leistungssteigerung und fragte, wer Soi Barutu sei - etwa ein Verwandter des bekannten Propaganda-Schriftstellers Moru Barutu? Er kritisierte das linsenlose Refraktometer, das horrende Summen verschlungen, aber noch immer keine Anwendung gefunden habe, und wertete die Ergebnisse des Sektors für die Erforschung und Optimierung von Strahlen aus. Dabei merkte er an, dass er keine wesentlichen Fortschritte erkennen könne (Gott sei Dank, ergänzte er in Gedanken), und dass diese seine Meinung unbedingt in die Reinschrift des Protokolls aufzunehmen wäre.
Den Abschnitt, der die Arbeit des Sektors Strahlenschutz betraf, überflog er noch flüchtiger. »Ihr tretet auf der Stelle«, erklärte er. »Hinsichtlich des physikalischen Schutzes habt ihr überhaupt nichts erreicht, und was den physiologischen Schutz angeht - noch weniger. Überhaupt ist physiologische Abwehr nicht das, was wir brauchen - warum sollte sich wohl jemand auseinanderschnippeln lassen? Was für ein Unsinn! Die Chemiker hingegen sind tüchtig, haben eine weitere Minute rausgeschunden. Im vorigen Jahr eine, im vorvorigen anderthalb. Was folgt daraus? Es folgt, dass ich, wenn ich eine Pille schlucke, mich statt dreißig Minuten nur noch zweiundzwanzig quäle. Nicht schlecht. Fast dreißig Prozent. Notiere meine Meinung: Das Tempo für die Arbeiten am physikalischen Schutz erhöhen, die Mitarbeiter der Abteilung für chemischen Schutz fördern und motivieren. Das war’s.«
Er warf Kaulquappe die Blätter hin.
»Lass das sauber abtippen, auch meine Einschätzung. Und nun führe mich pro forma, na, sagen wir … äh … bei den Physikern war ich letztes Mal. Bring mich also zu den Chemikern, ich sehe mir an, wie es so bei ihnen ist.«
Kaulquappe sprang auf und hämmerte wieder auf seine Knöpfe. Der Staatsanwalt erhob sich mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung.
In Begleitung von Kaulquappe und dem Tagesreferenten schlenderte er durch die Labors der Abteilung für chemischen Schutz, bedachte die Leute, die einen Streifen auf dem Kittelärmel trugen, mit höflichem Lächeln, klopfte den Streifenlosen auf die Schulter und verharrte bei den Mitarbeitern mit zwei Streifen - drückte ihnen die Hand, nickte mit dem Kopf, als verstünde er, worüber sie sprachen, und erkundigte sich, ob es Beanstandungen gebe.
Beanstandungen gab es keine. Alle im Labor waren am Arbeiten oder gaben sich den Anschein - das wusste man bei ihnen nie so genau. An den Geräten blinkten Lämpchen, in den Gefäßen brodelten Flüssigkeiten, es stank und irgendwo quälte man Tiere. Die Räume waren hell, sauber und geräumig. Die Menschen wirkten ruhig und wohlgenährt, Enthusiasmus zeigten sie aber nicht. Sie begegneten dem Inspektor korrekt, aber ohne Zuneigung - auf jeden Fall ließen sie die geziemende Unterwürfigkeit vermissen.
Und fast in jedem Raum - ob Büro oder Labor - hing ein Porträt des Wanderers: über dem Arbeitsplatz, neben Tabellen und Grafiken, an der Wand zwischen den Fenstern, über der Tür, manchmal sogar unter Glas auf dem Tisch. Es waren Fotografien, Bleistift- und Kohlezeichnungen, und eins der Bilder war sogar in Öl. Man sah den Wanderer beim Ballspiel, den Wanderer, wie er eine Vorlesung hielt oder wie er in einen Apfel biss. Mal sah man den Wanderer streng, mal nachdenklich, dann müde oder wütend - und schließlich einen Wanderer, der aus vollem Halse lachte. Diese Bastarde hatten sogar Cartoons auf ihn gezeichnet und sie an die auffälligsten Stellen geheftet. Der Staatsanwalt versuchte sich vorzustellen, dass er ins Arbeitszimmer des Unterjustizrates Filtik träte und dort eine Karikatur auf sich entdeckte. Massaraksch, das war unvorstellbar, unmöglich!
Während er lächelte, auf Schultern klopfte und Hände drückte, dachte er die ganze Zeit, dass er seit vorigem Jahr nun schon das zweite Mal hier war, und alles anscheinend unverändert vorfand, er aber früher nie auf diese Details geachtet hatte. Und nun achtete er darauf. Warum erst jetzt? … Ah, deswegen: Vor ein oder zwei Jahren war der Wanderer zwar formal einer von ihnen gewesen, de facto aber hatte er weder Einfluss auf die Politik noch einen Platz darin oder eigene Ziele. Seit jener Zeit aber hatte er viel erreicht. Die gesamtstaatliche Operation zur Unschädlichmachung von ausländischen Spionen - das war sein Verdienst. Der Staatsanwalt hatte diese Prozesse selbst geführt und erschüttert feststellen müssen, dass er es hier nicht mit den üblichen Spionen der Entarteten zu tun hatte, die man nicht ernst zu nehmen brauchte, sondern mit ausgekochten Aufklärern, die vom Inselimperium eingeschleust worden waren, um wissenschaftliche und ökonomische Informationen zu sammeln. Der Wanderer hatte sie alle gestellt, bis auf den letzten; seitdem war er der unangefochtene Chef der besonderen Abwehr.
Weiter: Es war der Wanderer, der die Verschwörung der glatzköpfigen Wasserblase aufdeckte - einer unheimlichen Figur, die fest im Sattel gesessen und mit aller Kraft versucht hatte, dem Wanderer als Chef der Abwehr das Wasser abzugraben - und ihm dabei sehr gefährlich wurde. Doch der Wanderer brachte ihn zur Strecke, allein, hat keinem anderen vertraut. Er ist immer offen aufgetreten, hat sich nie versteckt, nur im Alleingang gehandelt - keine Koalitionen, keine Pakte, keine Bündnisse. Drei Chefs des Militärdepartements hat er nacheinander gestürzt - es blieb ihnen nicht einmal die Zeit, »piep« zu sagen, so schnell wurden sie nach oben zitiert und entlassen - bis er erreichte, dass Hampelmann auf den Posten kam -, Hampelmann, der panische Angst hat vorm Krieg. Und vor einem Jahr hat er das Projekt »Gold« vereitelt, das vom Reichsverband für Industrie und Finanzen vorgelegt worden war. Damals schien es, als würde man den Wanderer jeden Augenblick davonjagen, denn den Papa hatte die Vorlage begeistert. Aber irgendwie konnte der Wanderer ihm schließlich doch beweisen, dass der Nutzen des Projekts nur von kurzer Dauer sein würde: Nach zehn Jahren würde eine Massenepidemie des Wahnsinns ausbrechen, gefolgt vom vollständigen Ruin. Stets hat er es geschafft, sie zu überzeugen, obwohl kein anderer sie je von etwas überzeugen konnte; nur dem Wanderer ist das gelungen. Und es liegt auch auf der Hand, warum: Er hat sich nie vor irgendetwas gefürchtet. Freilich, er hat sich lange in seinem Arbeitszimmer vergraben, letztlich aber seinen wahren Wert erkannt. Er hat begriffen, dass wir ihn alle brauchen, wer auch immer wir sind und wie auch immer wir uns gegenseitig anfeinden. Denn nur er ist in der Lage, einen Schutz gegen die Strahlen zu entwickeln, er allein kann uns von diesen Qualen erlösen.
Und diese weiß bekittelten Rotznasen zeichnen Karikaturen auf ihn!
Der Referent riss die nächste Tür auf, und der Staatsanwalt erblickte seinen Mak. Im weißen Kittel, einen Streifen auf dem Ärmel, hockte er auf dem Fensterbrett und sah hinaus. Würde sich irgendein Justizrat erlauben, während der Dienstzeit auf dem Fensterbrett zu sitzen und Däumchen zu drehen, könnte man ihn ruhigen Gewissens als Nichtstuer und Saboteur abschieben. Im gegebenen Fall aber, Massaraksch, durfte man nichts sagen. Denn, packst du ihn am Schlafittchen, antwortet er glatt: »Erlauben Sie! Ich mache gerade ein Gedankenexperiment. Gehen Sie und stören Sie nicht!«
Der große Mak drehte also Däumchen. Er warf den Eintretenden einen flüchtigen Blick zu und wollte gerade wieder zum Fenster hinausblicken, als er sich noch einmal umwandte und sie genauer betrachtete. Er hat mich erkannt, durchfuhr es den Staatsanwalt. Du hast mich erkannt, mein kluges Kerlchen. Er lächelte Mak höflich zu, klopfte dem jungen Laboranten auf die Schulter, der den Rechner bediente, blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich um.
»Nun, meine Herren«, fragte er in den Raum zwischen Mak und Kaulquappe hinein, »was tut sich hier?«
»Herr Sim« - Kaulquappe lief rot an, zwinkerte und rieb sich die Hände - »erläutern Sie dem Herrn Inspektor, womit Sie - äh …«
»Ich kenne Sie doch«, sagte der große Mak und stand auf einmal zwei Schritte neben dem Staatsanwalt. »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht irre, sind Sie der Generalstaatsanwalt?«
Ja, man hatte es nicht leicht mit ihm, denn mit einem Schlag war der sorgfältig durchdachte Plan zum Teufel: Mak dachte gar nicht daran, etwas zu verbergen; er hatte keine Angst, war einfach nur neugierig. Dabei sah er, groß wie er war, auf den Generalstaatsanwalt herab wie auf ein merkwürdiges, exotisches Tier …
Der Staatsanwalt musste improvisieren. »Ja.« Er zeigte sich kühl, verwundert und hörte auf zu lächeln. »Soweit mir bekannt ist, bin ich tatsächlich der Generalstaatsanwalt, obwohl ich nicht verstehe.« Er runzelte die Stirn und blickte Mak aufmerksam an. Der grinste breit. »Ja, natürlich!«, rief der Staatsanwalt aus. »Mak Sim. Maxim Kammerer! Aber, entschuldigen Sie, man hat mir doch gemeldet, Sie seien im Straflager umgekommen. Massaraksch, wie kommen Sie hierher?«
»Eine lange Geschichte.« Mak winkte ab. »Übrigens bin auch ich erstaunt, Sie hier zu sehen. Ich hätte nicht vermutet, dass unsere Arbeit das Justizdepartement interessiert.«
»Ihre Arbeit interessiert Leute, von denen man es am wenigsten erwartet«, erwiderte der Staatsanwalt. Er fasste Mak am Arm, führte ihn etwas weiter weg zu einem Fenster und fragte flüsternd: »Wann können Sie uns die Pillen geben? Ich meine die richtigen, für alle dreißig Minuten.«
»Sind Sie denn auch …?«, fragte Mak. »Ach, ja, natürlich …«
Der Staatsanwalt schüttelte leidvoll den Kopf und verdrehte seufzend die Augen.
»Unser Segen und unser Fluch«, sagte er. »Das Glück unseres Staates und der Kummer seiner Regierenden. Massaraksch, ich bin schrecklich froh, dass Sie am Leben sind, Mak! Ich muss gestehen, dass Ihr Fall einer der wenigen in meiner Laufbahn war, die ein bitteres Gefühl der Unzufriedenheit in mir hinterließen. Nein, nein, versuchen Sie nicht, das zu bestreiten: Nach den Buchstaben des Gesetzes waren Sie schuldig, von dieser Seite her ist alles in Ordnung. Sie haben einen Turm angegriffen, wohl sogar einen Gardisten getötet - dafür streichelt einem niemand über den Kopf. Und doch … Ich gestehe, meine Hand hat gezittert, als ich Ihr Urteil unterschrieb, wie wenn ich ein Kind hätte verurteilen müssen, nehmen Sie’s mir nicht übel. Und letzten Endes war das Ganze doch unser Einfall gewesen, nicht Ihrer, und die Verantwortung liegt …«
»Ich nehm’s Ihnen nicht übel«, unterbrach ihn Mak. »Und Sie sind nicht weit von der Wahrheit entfernt, der Unfug mit diesem Turm war wirklich kindisch. Gott sei Dank hat man uns damals nicht erschossen.«
»Das war alles, was ich tun konnte«, sagte der Staatsanwalt. »Ich erinnere mich, ich war sehr betroffen, als ich von Ihrem Tod erfuhr …« Dann lachte er und drückte freundschaftlich Maks Arm. »Ich bin sehr froh, dass es so gut ausgegangen ist. Und sehr froh, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er sah auf die Uhr. »Hören Sie, Mak, weshalb sind Sie hier? Nein, nein, ich habe nicht vor, Sie festzunehmen, das ist nicht meine Sache, soll sich jetzt die Militärkommandantur mit Ihnen befassen. Doch was machen Sie hier, in diesem Institut? Sind Sie Chemiker? Noch dazu …« Er wies auf den Streifen.
»Ich bin von allem ein bisschen«, antwortete Mak. »Ein bisschen Chemiker, ein bisschen Physiker …«
»Ein bisschen im Untergrund.« Der Staatsanwalt lachte gutmütig.
»Ein kleines bisschen«, entgegnete Mak entschieden.
»Ein bisschen Zauberer …«, sagte der Staatsanwalt.
Mak musterte ihn aufmerksam.
»Ein bisschen Fantast«, fuhr der Staatsanwalt fort, »ein bisschen Abenteurer …«
»Das sind keine Fachgebiete«, wandte Mak ein, »sondern Eigenschaften jedes anständigen Wissenschaftlers, wenn Sie erlauben.«
»Und jedes anständigen Politikers«, fügte der Staatsanwalt hinzu.
»Eine ungewöhnliche Wortverbindung«, parierte Mak.
Der Staatsanwalt warf ihm einen fragenden Blick zu, begriff dann und lachte erneut.
»Ja, die politische Tätigkeit hat ihre Besonderheiten. Politik ist die Kunst, mit sehr schmutzigem Wasser etwas sauber zu waschen. Lassen Sie sich nicht auf Politik ein, Mak, sinken Sie nicht so tief, bleiben Sie bei Ihrer Chemie.« Er sah auf die Uhr und sagte verdrossen: »Verdammt, ich habe jetzt gar keine Zeit, und würde doch so gern mit Ihnen plaudern. Ich habe mir Ihre Akte angesehen; Sie sind eine sehr interessante Persönlichkeit, aber auch sicher sehr beschäftigt …«
»Ja«, stimmte Mak zu, »aber sicher nicht so beschäftigt wie der Generalstaatsanwalt.«
»Aha«, erwiderte der Staatsanwalt und lächelte. »Und dabei will Ihre Obrigkeit uns immerzu einreden, Sie würden Tag und Nacht arbeiten. Das kann ich zum Beispiel von mir nicht behaupten. Ein Generalstaatsanwalt hat mitunter freie Abende. Sie werden sich wundern, aber ich habe eine Menge Fragen an Sie, Mak. Ehrlich gesagt, wollte ich mich schon damals mit Ihnen unterhalten, nach dem Prozess. Aber die Akten, wissen Sie, diese endlosen Akten …«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte Mak. »Umso mehr, als auch ich Fragen an Sie habe.«
Na, na, wies ihn der Staatsanwalt im Stillen zurecht. Nicht so offenherzig, wir sind hier nicht allein. Laut aber erwiderte er hocherfreut: »Wunderbar! Soweit es in meinen Kräften steht … Doch jetzt, ich bitte um Entschuldigung, jetzt muss ich eilen.«
Dann drückte er die riesige Pranke - die Pranke seines Mak! Er hatte ihn gefangen, jawohl! Er zappelte schon an seiner Angel! Herrlich hat er mitgespielt, dachte er. Zweifellos möchte er mich treffen - und jetzt ziehe ich die Leine. Der Staatsanwalt blieb in der Tür stehen, schnippte mit den Fingern und wandte sich um.
»Verzeihen Sie, Mak, was machen Sie heute Abend? Mir fällt gerade ein, dass ich freihabe …«
»Heute?«, fragte Mak. »Ehrlich gesagt, ich wollte …«
»Kommen Sie zu zweit!«, rief der Staatsanwalt. »Das ist sogar noch besser. Ich mache Sie mit meiner Frau bekannt, und es wird ein reizender Abend. Ist Ihnen acht Uhr recht? Ich schicke Ihnen den Wagen. Abgemacht?«
»Abgemacht.«
Abgemacht, frohlockte der Staatsanwalt, während er durch die letzten Labors der Abteilung lief, lächelte, auf Schultern klopfte, Hände drückte. Abgemacht, dachte er, während er in Kaulquappes Arbeitszimmer das Protokoll unterschrieb. Abgemacht, Massaraksch, abgemacht, klang es auf dem Heimweg triumphierend in ihm nach.
Er gab dem Chauffeur entsprechende Instruktionen. Er befahl dem Referenten, das Departement zu informieren, dass der Herr Staatsanwalt beschäftigt sei. Er befahl ihm, niemanden zu empfangen, das Telefon abzuschalten und sich selbst zum Teufel zu scheren - aber bitte so, dass er die ganze Zeit über für ihn zu erreichen sei. Er bestellte seine Frau zu sich, küsste sie auf den Hals, wobei ihm flüchtig bewusst wurde, dass sie sich an die zehn Tage nicht gesehen hatten, und bat sie, ein Abendessen herzurichten, ein gutes, leichtes, delikates Abendessen für vier Personen, bei Tisch recht liebenswürdig zu sein und sich darauf einzustellen, einen sehr interessanten Mann kennenzulernen. Und sie solle viele verschiedene Weine besorgen - von den besten Sorten.
Danach verschanzte er sich in seinem Arbeitszimmer, nahm sich wieder die grüne Mappe vor und dachte ein weiteres Mal alles durch, von Anfang an. Nur einmal wurde er gestört: als ein Kurier aus dem Militärdepartement den letzten Frontbericht brachte. Die Front war zusammengebrochen. Irgendjemand hatte die Hontianer auf die gelben Fahrzeuge aufmerksam gemacht, so dass sie in der vergangenen Nacht nahezu 95 % der Emitterpanzer mit Atomgranaten abgeschossen und vernichtet hatten. Über das Schicksal der durchgebrochenen Truppen liefen keine Nachrichten mehr ein. Das war das Ende. Das Ende des Krieges. Das Ende von General Schekagu und General Odu, vom Bebrillten, von Teekessel, Wolke und anderen, Unbedeutenderen. Gut möglich, dass es das Ende des Onkels war. Und selbstredend wäre es das Ende des Schlaukopfs - wenn er kein Schlaukopf wäre …
Er ließ den Bericht in einem Glas Wasser aufweichen und lief im Kreis durch sein Arbeitszimmer. Er war ungeheuer erleichtert. Zumindest wusste er jetzt genau, wann man ihn nach oben beordern würde. Als Erster wäre der Schwiegervater dran; dann würden sie mindestens einen Tag brauchen, um ihre Wahl zwischen Hampelmann und Zahn zu treffen. Dann dürften sie mit dem Bebrillten und Wolke beschäftigt sein. Also noch ein Tag. Teekessel erledigen sie nebenbei; General Schekagu hingegen würde sie allein mindestens zwei Tage kosten. Und danach, erst danach … Aber dann würde es für sie kein »Danach« mehr geben.
Er blieb in seinem Arbeitszimmer, bis sein Gast eintraf.
Dieser machte den allerbesten Eindruck. Er war großartig. Er war so großartig, dass die Frau des Staatsanwalts bei Maks Erscheinen gleich zwanzig Jahre jünger wurde. Sie war eine Dame der Gesellschaft (im scheußlichsten Sinne des Wortes). Sie war kalt, und ihr Mann nahm sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr als weibliches Wesen wahr, sondern als alten Kampfgefährten. Aber kaum hatte sie Mak gesehen, wirkte sie nicht nur zwanzig Jahre jünger, sondern verhielt sich auch vollkommen natürlich, ja, hätte sich nicht natürlicher verhalten können, hätte sie gewusst, welche Rolle dieser Gast in ihrem Schicksal spielen sollte …
»Aber warum sind Sie allein?«, fragte sie verwundert. »Mein Mann hatte von einem Abendessen für vier gesprochen …«
»In der Tat«, bestätigte der Staatsanwalt. »Ich hatte Sie so verstanden, dass Sie mit Ihrem Mädchen kämen. Ich erinnere mich an sie. Ihretwegen wäre sie fast ins Unglück geraten.«
»Sie ist ins Unglück geraten«, sagte Mak ruhig. »Aber darüber reden wir später, wenn Sie erlauben. Wohin soll ich mich setzen?«
Sie speisten lange, tranken ein wenig, waren heiter und lachten viel. Der Staatsanwalt erzählte den neuesten Klatsch. Seine Frau kolportierte gut gelaunt ein paar schlüpfrige Witze, und Mak beschrieb in humorigem Ton seinen Flug mit dem Bomber. Während der Staatsanwalt über diese Schilderung lachte, dachte er entsetzt, was wohl jetzt mit ihm wäre, wenn auch nur eine Rakete ihr Ziel getroffen hätte.
Als sie mit dem Essen fertig waren, entschuldigte sich die Frau des Staatsanwalts und schlug den Männern vor zu beweisen, dass sie in der Lage seien, zumindest eine Stunde ohne die Gesellschaft einer Dame auszukommen. Der Staatsanwalt nahm die Herausforderung an, fasste Mak am Arm und führte ihn in sein Arbeitszimmer, um mit ihm einen Wein zu trinken, wie ihn nur etwa dreißig Leute im Land kosten durften.
Sie machten es sich in einer gemütlichen Ecke bequem, saßen in weichen Sesseln an einem niedrigen Tisch, nippten an dem Wein und sahen einander an. Mak war sehr ernst. Dieser kluge Bursche ahnte offensichtlich, worüber sie reden würden. Und so entschloss sich der Staatsanwalt plötzlich, auf seinen ursprünglichen Gesprächsplan zu verzichten, der spitzfindig war und zermürbend, sich auf halbe Anspielungen stützte sowie auf allmähliche gegenseitige Offenbarungen. Radas Schicksal, die Intrige des Wanderers, die Ränke der Unbekannten Väter - alles das war jetzt ohne Bedeutung. Mit erstaunlicher, ja, fast verzweifelter Klarheit begriff er, dass all seine Meisterschaft in derartigen Gesprächen bei diesem Menschen überflüssig war. Mak würde entweder einverstanden sein, oder er würde ablehnen. Das war sehr einfach, wie auch die Tatsache, dass der Staatsanwalt entweder weiterleben oder in ein paar Tagen zermalmt sein würde.
Ihm zitterten die Finger, schnell stellte er sein Glas auf den Tisch und begann ohne Umschweife: »Ich weiß, Mak, dass Sie im Untergrund kämpfen, Mitglied des Stabes und ein aktiver Gegner der herrschenden Ordnung sind. Außerdem sind Sie ein geflohener Sträfling und der Mörder einer Panzerbesatzung der Spezialabteilung … Nun zu mir. Ich bin der Generalstaatsanwalt, eine Vertrauensperson der Regierung, in die höchsten Staatsgeheimnisse eingeweiht - und ebenfalls ein Feind der bestehenden Ordnung. Ich biete Ihnen den Sturz der Unbekannten Väter an. Wenn ich sage ›Ihnen‹, dann meine ich Sie und nur Sie: Ihre Organisation betrifft das nicht. Ich bitte Sie zu verstehen, dass die Einmischung des Untergrunds die Sache nur verdirbt. Ich schlage Ihnen ein Komplott vor, das auf der Kenntnis des wichtigsten Staatsgeheimnisses basiert. Ich werde Ihnen dieses Geheimnis mitteilen. Einzig wir beide dürfen es wissen. Erfährt es ein Dritter, werden wir umgehend liquidiert. Bedenken Sie, dass es im Untergrund und seinem Stab von Spitzeln wimmelt. Kommen Sie also nicht auf die Idee, sich jemandem anzuvertrauen, insbesondere nicht Ihren nahen Freunden.«
In einem Zug leerte er sein Glas, ohne zu schmecken, was er da trank.
»Ich weiß, wo die Zentrale liegt. Sie sind der einzige Mensch, der in der Lage ist, sich dieser Zentrale zu bemächtigen. Ich biete Ihnen dafür, wie auch für die nächstfolgenden Schritte, einen ausgearbeiteten Plan an. Sie verwirklichen diesen Plan und stellen sich an die Spitze des Staates. Ich bleibe als Ihr politischer und ökonomischer Berater bei Ihnen, weil Sie von diesen Dingen nichts verstehen. Ihr politisches Programm ist mir in groben Zügen bekannt: die Verwendung der Zentrale zur Umerziehung des Volkes im Sinne von Humanität und Moral, und darauf aufbauend die Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung in baldiger Zukunft. Ich habe keine Einwände. Ich bin schon deshalb einverstanden, weil nichts schlimmer sein könnte als die gegenwärtige Situation. Das war’s. Ich habe alles gesagt. Jetzt haben Sie das Wort.«
Mak schwieg. Er drehte das teure Glas mit dem kostbaren Wein in der Hand und schwieg. Der Staatsanwalt wartete. Er hatte das Gespür für seinen Körper verloren. Ihm schien, als sei er gar nicht da, als schwebe er irgendwo in der Himmelsleere, sehe hinunter und erblicke dort eine gemütliche, gedämpft beleuchtete Zimmerecke, den schweigenden Mak und daneben, in einem Sessel, etwas Totes, Erstarrtes, Stummes …
Dann fragte Mak: »Wie groß ist meine Chance, die Eroberung der Zentrale zu überleben?«
»Fünfzig zu fünfzig«, antwortete der Staatsanwalt.
Genauer gesagt: Er glaubte es zu antworten, denn Mak runzelte die Stirn und wiederholte seine Frage, diesmal lauter.
»Fünfzig zu fünfzig.« Die Stimme des Staatsanwalts klang heiser. »Vielleicht mehr. Ich weiß es nicht.«
Wieder schwieg Mak lange.
»Gut«, sagte er endlich. »Wo befindet sich die Zentrale?«

19

Gegen Mittag klingelte das Telefon. Maxim nahm den Hörer ab. Die Stimme des Staatsanwalts sagte: »Bitte Herrn Sim.«
»Am Apparat«, erwiderte Maxim. »Guten Tag.«
Er spürte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war.
»Er ist zurück«, sagte der Staatsanwalt. »Handeln Sie sofort. Ist das möglich?«
»Ja«, presste Maxim durch die Zähne. »Aber Sie hatten mir etwas versprochen …«
»Ich habe noch nichts erreicht«, erwiderte der Staatsanwalt. In seinen Worten lag Panik. »Und jetzt ist es zu spät. Handeln Sie unverzüglich, Sie dürfen keine Minute warten. Hören Sie, Mak?«
»Gut«, stimmte Maxim zu. »War das Ihrerseits alles?«
»Er ist schon unterwegs. In dreißig, vierzig Minuten dürfte er bei Ihnen eintreffen.«
»Verstanden. Ist das jetzt alles?«
»Ja. Los, Mak, los. Gott mit Ihnen.«
Maxim warf den Hörer auf und überlegte einige Sekunden. Massaraksch, alles geht drunter und drüber. Aber ich werde schon noch Zeit finden zum Nachdenken. Er griff wieder nach dem Telefon.
»Professor Allu Sef, bitte.«
»Ich höre!«, bellte Sef.
»Hier ist Mak.«
»Massaraksch, ich hatte doch gebeten, mich heute in Ruhe zu lassen.«
»Halt die Luft an und hör zu. Fahr sofort runter in die Empfangshalle und warte dort auf mich.«
»Massaraksch, ich bin beschäftigt!«
Maxim knirschte mit den Zähnen und schielte zum Laboranten hinüber. Der arbeitete fleißig an seinem Rechner.
»Sef«, begann Maxim noch einmal. »Fahr sofort in die Halle. Verstehst du? Sofort!« Er unterbrach die Verbindung und wählte Wildschweins Nummer. Er hatte Glück: Wildschwein war zu Hause. »Hier Mak. Gehen Sie hinaus auf die Straße und warten Sie dort auf mich, ich habe eine dringende Angelegenheit.«
»Gut«, sagte Wildschwein. »Ich komme.«
Nachdem Maxim den Hörer aufgelegt hatte, griff er in eins der Schreibtischfächer und zog die erstbeste Akte heraus, blätterte darin und überlegte fieberhaft, ob er an alles gedacht hatte. Der Wagen steht in der Garage, die Bombe liegt im Kofferraum, der Benzintank ist gefüllt. Eine Waffe habe ich nicht - was soll’s, ich brauche keine. Die Papiere stecken in meiner Tasche, Wildschwein wartet. Sehr gut, dass mir Wildschwein eingefallen ist. Freilich, er kann ablehnen. Aber nein, das wird er nicht tun. Ich würde es auch nicht. Das wär’s … Anscheinend alles.
Er wandte sich an den Laboranten: »Ich muss weg. Sag, dass ich im Departement für Bauwesen bin. In ein, zwei Stunden komme ich zurück. Bis dann.«
Er klemmte sich die Akte unter den Arm, verließ das Labor und lief die Treppe hinunter. Sef rannte bereits in der Halle hin und her. Als er Maxim erblickte, blieb er stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und zog eine Grimasse.
»Welcher Satan, Massaraksch …«, rief er von fern.
Ohne sich aufzuhalten, zog Maxim ihn zum Ausgang.
»Was ist los?« Sef sträubte sich. »Wohin? Weshalb?«
Maxim schob ihn durch die Tür und zerrte ihn auf dem Asphaltweg um die Ecke zu den Garagen. Ringsum war alles leer, nur ein Rasenmäher puffte und knatterte auf einem entfernten Wiesenstück.
»Wohin schleppst du mich denn?«, schrie Sef.
»Sei still«, sagte Maxim. »Und hör zu. Sammle sofort alle von uns. Alle, an die du rankommst. Zum Teufel mit deiner Fragerei! Hör zu! Alle, an die du rankommst! Mit Waffen! Gegenüber vom Tor steht ein Pavillon, kennst du den? Verschanzt euch dort und wartet. In etwa dreißig Minuten … Hörst du zu, Sef?«
»Und weiter?«, fragte Sef ungeduldig.
»In etwa dreißig Minuten wird der Wanderer zum Tor fahren …«
»Er ist zurück?«
»Unterbrich mich nicht. Ungefähr in dreißig Minuten wird der Wanderer auf das Tor zufahren. Wenn nicht, ist’s gut. Dann bleibt ihr einfach sitzen und wartet auf mich. Kommt er aber - erschießt ihn!«
»Bist du übergeschnappt?« Sef blieb stehen. Maxim ging weiter, und Sef lief ihm fluchend nach. »Wir werden doch alle abgeknallt, Massaraksch! Die Wache! Ringsum sind lauter Spitzel.«
»Tut, was in euren Kräften steht«, sagte Maxim. »Der Wanderer muss beseitigt werden.«
Sie waren vor der Garage angelangt. Er lehnte sich mit ganzer Kraft gegen den Riegel und schob die Tür auf.
»So eine Schnapsidee«, murrte Sef. »Weshalb? Warum den Wanderer? Ist doch ein recht anständiger Kerl, hier mögen ihn alle …«
»Wie du willst«, entgegnete Maxim kalt. Er öffnete den Kofferraum, fühlte durch das Ölpapier den Zeitzündermechanismus und schlug die Haube wieder zu. »Mehr kann ich dir jetzt nicht erklären. Wir haben eine Chance. Eine einzige.« Er setzte sich ans Steuer und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. »Und noch was: Erledigt ihr diesen anständigen Kerl nicht, erledigt er mich. Dir bleibt wenig Zeit. Handle, Sef.«
Er warf den Motor an und fuhr im Rückwärtsgang langsam aus der Garage.
Sef stand an der Tür. Zum ersten Mal sah Maxim ihn so: verblüfft, fassungslos, erschrocken. »Leb wohl, Sef«, flüsterte er für alle Fälle vor sich hin.
Der Wagen rollte zum Tor. Unbewegten Gesichts und ohne Eile notierte der Gardist die Nummer, öffnete den Kofferraum, schaute hinein, schloss ihn wieder, kehrte zu Maxim zurück und fragte streng: »Was führen Sie mit sich?«
»Ein Refraktometer.« Maxim hielt ihm seinen Passierschein und die Ausfuhrerlaubnis hin.
»Refraktometer RL-7, Inventarnummer …«, brabbelte der Gardist. »Ich schreib’s gleich auf.«
In aller Ruhe kramte er in seiner Tasche nach dem Notizbuch.
»Bitte etwas schneller, ich habe es eilig«, bat Maxim.
»Wer hat die Genehmigung unterschrieben?«
»Weiß ich nicht, wahrscheinlich der Verwaltungschef.«
»Sie wissen es nicht. Hätte er leserlich unterschrieben, wäre alles in Ordnung.«
Endlich öffnete er das Tor. Maxim lenkte seinen Wagen auf die Straße und holte aus ihm heraus, was er hergab. Misslingt es, dachte er, und bleibe ich am Leben, muss ich verschwinden. Verfluchter Wanderer, er hat’s gespürt, dieser Hundesohn, ist zurückgekehrt. Und was mache ich, wenn’s gelingt? Nichts ist vorbereitet, Schlaukopf hat weder einen Grundriss des Palastes noch Fotografien der Väter besorgen können. Die Jungs stehen nicht bereit, wir haben keinen Aktionsplan. Verdammter Wanderer! Drei Tage hätte ich noch zum Ausarbeiten des Plans gehabt. Wahrscheinlich muss ich es so machen: der Palast, die Väter, Telegraf und Telefon, die Bahnhöfe, eine Eildepesche an die Straflager - der General soll all unsere Leute sammeln und herkommen. Massaraksch, ich habe keine Ahnung, wie man die Macht ergreift. Und dann ist da ja noch die Garde, die Armee und der Stab, Massaraksch! Die werden doch sofort aktiv! Mit ihnen muss man anfangen. Nun, das ist Wildschweins Sache, er wird sich gern damit befassen, kennt sich ja aus. Aber irgendwo in der Ferne gibt’s noch die weißen Submarines. Massaraksch, es ist doch noch Krieg!
Er schaltete das Radio ein. Über einen schmissigen Marsch hinweg schrie ein Sprecher mit absichtlich heiserer Stimme: »… wieder und wieder ist vor der ganzen Welt die unendliche Weisheit der Unbekannten Väter demonstriert worden - diesmal ihre militärische Weisheit! Als sei von neuem das strategische Genie Gabellus und des Eisernen Kriegers erwacht! Als hätten sich von neuem die ruhmreichen Schatten unserer kriegerischen, unbesiegbaren Ahnen erhoben und an der Spitze unserer Panzerkolonnen in den Kampf gestürzt! Die hontianischen Provokateure und Kriegstreiber haben solch eine Niederlage erlitten, dass sie fortan niemals mehr wagen werden, die Nase über ihre Grenze zu stecken oder die Hand nach unserem heiligen Land auszustrecken! Armadas von Bombenflugzeugen, Raketen und Lenkgeschossen haben die hontianischen Möchtegern-Krieger auf unsere Städte gehetzt, doch hat nicht die Strategie brutaler Gewalt und gierigen Drucks gesiegt, sondern unsere weise Strategie der genauesten Berechnung und ständigen Bereitschaft zur Abwehr des Feindes. Nein, nicht vergebens haben wir Entbehrungen erduldet, als wir die letzten Groschen für die Stärkung der Verteidigung, für die Schaffung des undurchdringlichen Panzers der Raketenabwehr ausgegeben haben! ›Unser RAS hat auf der Welt nicht seinesgleichen‹, erklärte erst vor einem halben Jahr der Feldmarschall im Ruhestand, der zweifache Träger des Goldbannerordens Isa Petrozu. Alter Kämpfer, du hattest Recht. Keine einzige Bombe, keine Rakete, kein Geschoss sind auf das heilige Land der Unbekannten Väter gefallen! ›Das unüberwindliche Netz der Stahltürme ist nicht nur ein unbezwingbarer Schild, es ist ein Symbol des Genies und übermenschlichen Scharfsinns derjenigen, denen wir alles verdanken - unserer Unbekannten Väter‹, schreibt in der heutigen Ausgabe …«
Maxim schaltete das Radio aus. Ja, der Krieg ist wohl zu Ende. Aber wer weiß, was sie sich sonst noch alles überlegen. Maxim verließ die Hauptstraße, bog in eine schmale Gasse zwischen zwei hohen Wolkenkratzern aus rosafarbenem Stein ein und holperte über das Kopfsteinpflaster zu einem baufälligen, über die Jahre schwarz gewordenen Häuschen. Wildschwein wartete schon; an einen Laternenmast gelehnt, rauchte er eine Zigarette. Als der Wagen hielt, warf er den Stummel weg, zwängte sich durch die kleine Autotür und setzte sich neben Maxim. Er war ruhig und beherrscht, wie immer.
»Guten Tag, Mak«, sagte er. »Was ist passiert?«
Maxim wendete und fuhr wieder auf die Hauptstraße. »Wissen Sie, was eine thermische Bombe ist?«, fragte er.
»Ich habe davon gehört«, erwiderte Wildschwein.
»Gut. Hatten Sie irgendwann mit Synchronzündern zu tun?«
»Gestern zum Beispiel.«
»Ausgezeichnet.«
Einige Zeit fuhren sie schweigend. Hier war viel Verkehr, und Maxim musste sich konzentrieren, um sich zwischen riesigen Lastwagen und alten, stinkenden Autobussen hindurchzulavieren, keinen Wagen zu streifen und sich von keinem streifen zu lassen, grünes Licht zu erwischen, und dann wieder grünes Licht zu erwischen, um zumindest die klägliche Geschwindigkeit zu halten, in der sie vorankamen. Schließlich schoss ihr Wagen auf die Waldchaussee hinaus - auf jene ihm gut bekannte, rechts und links von riesigen Bäumen gesäumte Autobahn.
Komisch, dachte Maxim plötzlich. Genau auf dieser Straße bin ich in die hiesige Welt gekommen, genauer gesagt, der arme Fank hat mich hineinchauffiert, und ich habe nichts begriffen und geglaubt, er sei Spezialist für Fremde aus dem All. Nun rolle ich auf derselben Straße vielleicht wieder aus dieser Welt hinaus - womöglich sogar aus aller Welt - und nehme zudem einen wertvollen Menschen mit. Er warf einen Blick auf Wildschwein. Dessen Gesicht war ruhig, er saß still, den Ellenbogen seiner Prothese ans Fenster gestützt, und wartete, bis ihm das Nötige erklärt würde. Wahrscheinlich wunderte er sich, wahrscheinlich war er aufgeregt, doch er ließ es sich nicht anmerken, und Maxim fühlte Stolz, dass so ein Mensch ihm vertraute, sich ohne Bedenken auf ihn verließ.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Wildschwein«, sagte er.
»Tatsächlich?« Wildschwein drehte ihm sein hageres, gelbliches Gesicht zu.
»Wissen Sie noch, einmal, bei einer Sitzung des Stabes, haben Sie mich beiseitegenommen und mir ein paar wertvolle Ratschläge gegeben.«
»Ich erinnere mich.«
»Dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich habe Ihren Rat beherzigt.«
»Ja, das ist mir nicht entgangen. Sie haben mich damit sogar ein bisschen enttäuscht.«
»Aber Sie hatten damals Recht«, sagte Maxim. »Ich habe auf Sie gehört und dadurch nun die Möglichkeit, in die Zentrale vorzudringen.«
Wildschwein zuckte zusammen. »Jetzt?«, fragte er schnell.
»Ja. Wir müssen uns beeilen, ich konnte nichts vorbereiten. Möglich, dass man mich tötet und dann alles vergebens war. Für den Fall habe ich Sie mitgenommen.«
»Ich höre.«
»Ich gehe in das Gebäude, Sie bleiben im Wagen. Nach einiger Zeit wird es Alarm geben, eventuell sogar eine Schießerei. Das hat Sie nicht zu interessieren, Sie warten weiterhin im Wagen. Sie warten …« Maxim überschlug es in Gedanken. »Sie warten zwanzig Minuten. Erhalten Sie in dieser Zeit einen Strahlenschub, ist alles glatt gelaufen. Und Sie können glücklich lächelnd in Ohnmacht fallen. Wenn aber nicht - dann steigen Sie aus. Im Kofferraum liegt eine Bombe mit Synchronzünder, der auf zehn Minuten eingestellt ist. Legen Sie sie aufs Pflaster, schalten Sie den Zünder ein und fahren Sie los. Panik wird ausbrechen, große Panik. Versuchen Sie, diese Panik so gut wie möglich zu nutzen.«
Wildschwein dachte kurz nach.
»Gestatten Sie mir, jemanden anzurufen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Maxim.
»Schauen Sie«, erklärte Wildschwein, »wenn Sie nicht umkommen, brauchen Sie Leute, die bereit sind zu kämpfen. Tötet man Sie aber, brauche ich diese Leute. Sie haben mich doch für den Fall mitgenommen, dass man Sie tötet. Allein kann ich nur einen Anfang machen, und die Zeit wird knapp sein, so dass die anderen beizeiten benachrichtigt werden sollten. Genau das will ich tun.«
»Reden Sie vom Stab?«, fragte Maxim feindselig.
»Ganz und gar nicht. Ich habe meine eigene Gruppe.«
Maxim schwieg. Der fünfstöckige graue Bau mit der Steinmauer davor war schon zu sehen. Maxim kannte ihn gut … Irgendwo dort huschte Fischi durch die Gänge, brüllte und geiferte aufgebracht das Nilpferd. Dort war die Zentrale. Der Kreis schloss sich.
»Einverstanden«, murmelte Maxim. »Am Eingang ist ein Münzfernsprecher. Wenn ich das Gebäude betreten habe - nicht früher! -, können Sie aussteigen und telefonieren.«
»Gut«, sagte Wildschwein.
Sie näherten sich der Autobahnausfahrt. Maxim erinnerte sich plötzlich an Rada und versuchte sich auszumalen, was mit ihr würde, wenn er nicht zurückkehrte. Schlecht würde es ihr ergehen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde man sie, im Gegenteil, auch freilassen. Dennoch wäre sie allein. Gai nicht da, ich nicht da. Armes Mädchen …
»Haben Sie Familie?«, fragte er Wildschwein.
»Ja. Meine Frau.«
Maxim biss sich auf die Lippe. »Verzeihen Sie, dass es sich so unglücklich gefügt hat«, bat er.
»Das macht nichts.« Wildschweins Stimme klang ruhig. »Ich habe mich verabschiedet. Ich verabschiede mich immer, wenn ich das Haus verlasse. Das hier ist also die Zentrale? Wer hätte das gedacht.«
Maxim hielt auf dem Parkplatz, nachdem er das Auto zwischen einen klapprigen Kleinwagen und eine Luxuslimousine der Regierung gezwängt hatte.
»Das war’s«, seufzte er. »Wünschen Sie mir Erfolg.«
»Von ganzem Herzen«, erwiderte Wildschwein. Seine Stimme brach, und er räusperte sich. »Dass ich diesen Tag noch erlebe …«
Maxim lehnte die Wange gegen das Steuer. »Schön wäre es, diesen Tag zu überleben«, sagte er. »Den Abend zu sehen …«
Wildschwein sah ihn besorgt an.
»Ich habe keine Lust zu gehen«, erklärte Maxim. »Gar keine Lust. Übrigens, Wildschwein, merken Sie sich und erzählen Sie auch Ihren Freunden, dass Sie nicht auf der inneren Oberfläche einer Kugel leben. Sie leben auf ihrer äußeren Oberfläche. Und es gibt eine Vielzahl solcher Kugeln auf der Welt. Auf einigen lebt man wesentlich schlechter als bei Ihnen, auf anderen sehr viel besser. Nirgendwo aber lebt man dümmer. Sie glauben mir nicht? Ach, scheren Sie sich zum Teufel … Ich muss los.«
Er stieß die Tür auf und stieg aus, überquerte den asphaltierten Parkplatz und ging, Stufe für Stufe, die steinerne Treppe hinauf. In seiner Tasche befand sich ein Passierschein für den Eingang, ausgestellt vom Generalstaatsanwalt, ein Passierschein für den Inneren Bereich, den der Staatsanwalt irgendwo für ihn gestohlen hatte, sowie eine einfache rosa Karte - als Ersatz für einen weiteren Passierschein, den der Staatsanwalt weder hatte ausstellen noch für ihn stehlen können. Es war heiß, der Himmel glänzte wie Aluminium. Dieser undurchdringliche Himmel der bewohnten Insel … Die steinernen Stufen sengten durch die Schuhsohlen, aber vielleicht schien es ihm auch nur so. Es war töricht, das ganze Unterfangen stümperhaft. Warum, zum Teufel, soll ich es tun, wenn sie es nicht anständig vorbereitet haben? Womöglich sitzt dort nicht ein Offizier, sondern zwei. Oder es warten drei Offiziere in dem Raum, die MPs im Anschlag. Rittmeister Tschatschu hatte mit einer Pistole geschossen, das Kaliber ist das Gleiche, nur werden es mehr Kugeln sein. Und ich bin nicht mehr der Alte … Sie hat mich tüchtig gebeutelt, meine bewohnte Insel. Entkommen lassen sie mich diesmal nicht. Ich bin ein Schwachkopf, war einer und bin einer geblieben. Habe mich vom Herrn Staatsanwalt kaufen, mich an seine Angel locken lassen. Wieso hat er mir vertraut? Unbegreiflich. Schön wäre es, jetzt in die Berge zu verschwinden und reine Gebirgsluft einzuatmen. Bin noch nicht dazugekommen. Dabei liebe ich die Berge … Er ist doch ein kluger, argwöhnischer Mensch - und überantwortet mir so mir nichts, dir nichts das Allerheiligste, das Größte und Wichtigste in seiner Welt - aber nein, es ist abscheulich, ekelerregend und niederträchtig. Verflucht soll es sein, dieses Allerheiligste, Massaraksch, und noch einmal Massaraksch, und dreiunddreißigmal Massaraksch!
Er öffnete die Glastür und hielt dem Gardisten den ersten Passierschein hin. Dann ging er durch die Halle - vorbei an dem Mädchen mit der Brille, das noch immer am Stempeln war, und vorbei am Empfangschef mit dem lächerlichen Kopfputz, der sich am Telefon noch immer mit jemandem stritt. Bevor er in den Gang einbog, zeigte er einem anderen Gardisten den Passierschein für den Inneren Bereich. Der Gardist nickte ihm zu - sie waren schon, konnte man sagen, Bekannte, denn in den letzten drei Tagen hatte Maxim sich täglich hier gezeigt.
Weiter.
Er ging einen langen Flur ohne Türen entlang und bog dann nach links. Hier war er erst zum zweiten Mal. Das erste Mal - vorgestern, aus Versehen. (»Wohin wollen Sie eigentlich, mein Herr?« - »Ich will eigentlich ins Zimmer sechzehn, Korporal.« - »Sie sind hier falsch, mein Herr. Sie müssen den nächsten Gang entlang.« - »Bitte um Verzeihung, Korporal, entschuldigen Sie. Tatsächlich …«)
Jetzt reichte er dem Korporal seinen Passierschein für den Innenbereich und warf einen Blick auf die zwei baumstarken Gardisten mit Maschinenpistolen, die unbeweglich zu beiden Seiten der gegenüberliegenden Tür standen. Dann schielte er zu der Tür, durch die er zu gehen hatte: »Abteilung für Sondertransporte«. Der Korporal studierte aufmerksam den Passierschein, drückte dann, die Augen immer noch auf den Schein gerichtet, einen Knopf in der Wand, und hinter der Tür ertönte ein Klingelzeichen. Sicher macht sich jetzt der Offizier bereit, der dort neben dem grünen Vorhang sitzt. Oder zwei Offiziere. Vielleicht sogar drei … Und warten darauf, dass ich hereinkomme. Erschrecke ich oder weiche zurück, stehen gleich der Korporal und die Gardisten vor mir, die die Tür ohne Schildchen bewachen. Und hinter dieser Tür hockt sicher ein ganzer Haufen von Soldaten …
Der Korporal gab ihm den Passierschein zurück. »Bitte. Halten Sie Ihre Papiere bereit.«
Maxim zog seine rosafarbene Pappe hervor, öffnete die Tür und trat ein.
Massaraksch!
So war das also.
Nicht ein Zimmer, sondern drei. In einer Flucht. Und erst ganz am Ende die grüne Portiere. Bis zu diesem Vorhang ein Teppichläufer. Mindestens dreißig Meter.
Und nicht zwei Offiziere, nicht drei Offiziere: Sechs!
Zwei Feldgraue im ersten Zimmer. Ihre Maschinenpistolen zielen auf ihn.
Zwei im Schwarz der Garde im zweiten Zimmer. Sie haben noch nicht auf ihn angelegt, sind aber dazu bereit.
Zwei Zivilisten neben dem grünen Vorhang. Einer hat den Kopf weggedreht und schaut irgendwohin zur Seite.
Los, Mak!
Und dann stürmte er vor. Es wurde eine Art Dreisprung aus dem Stand. Er konnte noch denken: wenn nur keine Sehne reißt … Heftig schlug die Luft gegen sein Gesicht.
Dann die grüne Portiere. Der Zivilist zur Linken sieht zur Seite, sein Hals ist ungeschützt. Die Handkante.
Der rechte blinzelt wohl gerade. Seine Lider sind unbeweglich und halb geschlossen. Von oben auf den Scheitel - und in den Lift.
Dunkel. Wo ist der Knopf? Massaraksch, wo ist der Knopf?
Langsam und dumpf hämmerte ein Maschinengewehr, gleich darauf ein zweites. Nichts zu mäkeln, ausgezeichnete Reaktion. »Tat-tat-tat … tat-tat-tat … tat-tat-tat …« Aber bis jetzt schießen sie nur gegen die Tür, dahin, wo sie mich gesehen haben. Sie haben noch nicht begriffen, was passiert ist. Handeln im Reflex.
Der Knopf!
Hinter dem Vorhang gleitet langsam und schräg ein Schatten zu Boden - einer der Zivilisten.
Massaraksch, da ist er ja, an der sichtbarsten Stelle!
Maxim drückte auf den Knopf, und die Kabine sank rasch hinab - ein Schnelllift. Jetzt fing das Bein an zu schmerzen. Doch eine Zerrung? Aber das ist im Moment unwichtig. Massaraksch, ich bin ja schon durch!
Der Lift hielt. Maxim sprang hinaus, und gleich darauf krachte und klirrte es im Schacht. Späne flogen. Von oben feuerten sie aus drei Läufen auf das Dach der Kabine. Gut, gut, schießt nur … Gleich wird ihnen klar, dass sie nicht schießen, sondern den Lift heraufholen und dann selbst hinunterfahren müssen. Das haben sie vergessen, haben den Kopf verloren …
Er blickte um sich. Massaraksch, wieder war es anders. Nicht ein Eingang, sondern drei. Drei völlig gleiche Tunnel … Aha, das sind einfach Reservegeneratoren. Einer ist in Betrieb, zwei werden gewartet. Welcher ist jetzt eingeschaltet? Anscheinend dieser.
Er rannte in den mittleren Tunnel. Hinter seinem Rücken rumorte der Fahrstuhl. Nein, nein, schon zu spät. Nicht das notwendige Tempo, ihr schafft es nicht … Obwohl, der Tunnel ist lang, und der Fuß tut weh. Da, eine Kurve, nun kriegt ihr mich sicher nicht mehr. Maxim lief bis zu den Generatoren, die unter einer Stahlplatte brummten, blieb stehen, ließ die Arme sinken und verharrte einige Sekunden. So, drei Viertel der Sache sind erledigt, sogar sieben Achtel. Nur noch ein Klacks, die Hälfte eines Vierunddreißigstels … Jetzt werden sie im Lift hinunterrasen und in den Tunnel stürmen, aber sie haben bestimmt von nichts eine Ahnung. Und dann wird die Depressionsstrahlung sie zurücktreiben. Was kann jetzt noch passieren? Dass sie eine Gasgranate in den Gang werfen. Kaum, woher sollten sie die haben. Alarm ist bestimmt schon ausgelöst. Die Väter könnten natürlich die Depressionsbarriere ausschalten. Aber dazu werden sie sich nicht entschließen und auch nicht mehr dazu kommen: Sie müssten sich erst zusammensetzen, alle fünf, müssten ihre fünf Schlüssel zusammenlegen und herausfinden, ob das Ganze nicht doch ein böser Streich eines der ihren ist oder eine Provokation. Nein wirklich, wer in aller Welt kann durch die Strahlenschranke hierher vordringen? Der Wanderer, sofern er heimlich einen Schutz entwickelt hat? Aber die sechs mit ihren Maschinenpistolen würden ihn aufhalten. Ansonsten käme keiner infrage. Na bitte, und während sie sich zanken und versuchen, Klarheit zu gewinnen, bin ich hier fertig.
Hinter der Tunnelbiegung hämmerten im Dunkeln die Maschinenpistolen. Ist erlaubt. Habe nichts dagegen … Maxim beugte sich über die Verteileranlage, nahm vorsichtig das Schutzgehäuse ab und schleuderte es in eine Ecke. Hm, ein ganz primitives Ding. Gut, dass ich nicht vergessen habe, über die hiesige Elektronik nachzulesen. Er steckte die Finger in die Schaltung. Aber wenn ich das vergessen hätte? Oder der Wanderer vorgestern zurückgekehrt wäre? Meine Herren! Massaraksch, was man hier für elektrische Schläge abbekommt. Ja, dann wäre es mir wohl so ergangen wie einem Embryomechaniker, der sich schnellstens schlaumachen muss über … Ja, worüber? Über einen Dampfkessel? Nein, würde ein Embryomechaniker kapieren. Über ein Kamelgespann? Ja, über ein Kamelgespann! Also, du Embryomechaniker, würdest du damit zurechtkommen? Wohl kaum … Massaraksch, warum haben sie hier nichts isoliert. Aha, da bist du ja … Und nun, mit Gott, wie der Herr Generalstaatsanwalt sagt …
Direkt vor dem Verteiler setzte er sich auf den Fußboden und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war getan. Ein mächtiges Depressionsfeld senkte sich auf das ganze Land, vom Gebiet jenseits des Flusses bis zur hontianischen Grenze, vom Ozean bis zum Alabasterkamm.
Die Maschinenpistolen hinter der Biegung waren verstummt: Die Herren Offiziere befanden sich in Depression. Werde mir gleich ansehen, wie das ist, Offiziere in Depression …
Der Herr Staatsanwalt wird sich zum ersten Mal in seinem Leben über einen Strahlenschlag freuen. Aber ansehen wollte ich ihn nicht …
Und die Unbekannten Väter, die nicht rechtzeitig begriffen haben, was vor sich geht, krümmen sich jetzt vor Schmerz und haben alle Hufe von sich gestreckt, wie Rittmeister Tschatschu es zu nennen pflegte. Der liegt jetzt übrigens auch in tiefster Depression, und dieser Gedanke entzückt mich geradezu.
Sef und die Jungs haben sicher auch alle Hufe von sich gestreckt. Entschuldigt, Jungs, es muss sein.
Der Wanderer! Wie schön: Auch der schreckliche Wanderer liegt jetzt da, hat seine riesigen Ohren auf den Fußboden gebreitet … die größten Ohren im ganzen Land. Aber vielleicht haben sie ihn ja auch schon erschossen. Das wäre noch besser.
Und Rada, meine arme kleine Rada, ist auch in Depression. Macht nichts, mein Mädchen, das tut bestimmt nicht weh und geht ja auch schnell vorüber.
Wildschwein …
Er sprang auf. Wie viel Zeit war vergangen? Er stürzte durch den Tunnel zurück. Wildschwein hat sicher auch alle viere von sich gestreckt, aber wenn er die Schießerei vorhin gehört hatte, konnte er die Nerven verloren haben. Das war natürlich sehr unwahrscheinlich, denn Wildschwein hatte gute Nerven, aber wer weiß!
Er lief zum Lift und opferte noch eine Sekunde, um sich die Herren Offiziere in Depression anzusehen. Der Anblick war erschütternd: Alle drei hatten ihre Maschinenpistolen hingeworfen und weinten, ohne Kraft, auch nur die Tränen abzuwischen. Gut, dachte Maxim, weint ein bisschen, das ist gut, weint um meinen Gai, um Amsel, um Gel, um meinen Förster. Vermutlich habt ihr seit eurer Kindheit nicht mehr geweint, und mit Sicherheit nie um die, die ihr umgebracht habt. Also weint wenigstens vor eurem Tod.
Der Lift brachte ihn im Nu hinauf. Die Zimmerflucht war voller Menschen: Offiziere, Soldaten, Korporale, Gardisten, Zivile - alle bewaffnet, und alle lagen und saßen traurig herum, einige weinten laut, einer murmelte vor sich hin, schüttelte den Kopf und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Und dort hatte sich jemand erschossen … Massaraksch, die Schwarzen Strahlen waren verheerend, nicht umsonst hatten die Väter sie nur für den Notfall vorgesehen.
Er lief ins Vestibül, sprang über sich kraftlos regende Gestalten hinweg und rannte die Steinstufen hinunter. Neben seinem Wagen blieb er stehen und atmete erleichtert auf. Wildschwein hatte die Nerven behalten: Er lag, die Augen geschlossen und halb zur Seite gekippt, auf dem vorderen Sitz.
Maxim holte die Bombe aus dem Kofferraum, streifte das Ölpapier ab, klemmte sie vorsichtig unter den Arm und kehrte ohne Eile zum Lift zurück. Sorgsam überprüfte er den Zünder, schaltete das Uhrwerk ein, legte die Bombe in die Kabine und drückte den Knopf. Die Kabine glitt hinunter; sie trug ein Flammenmeer mit sich in die Unterwelt, das in zehn Minuten explodieren würde. Genauer gesagt, in neun Minuten und einigen Sekunden …
Im Wagen richtete Maxim Wildschwein vorsichtig auf, setzte sich ans Steuer und fuhr den Wagen vom Parkplatz. Das graue Gebäude ragte drohend über ihm empor - schwer, plump und dem Untergang geweiht, voller Menschen, die zum Tode verurteilt und nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen oder auch nur zu begreifen, was geschah.
Das ist das Nest, dachte Maxim, das schreckliche Schlangennest - vollgestopft mit Abschaum, mit eigens und sorgfältig ausgesuchtem, erlesenem Abschaum. Hier, an diesem Ort, hat man ihn konzentriert, damit er sein abscheuliches Werk verrichte - per Radio, im Fernsehen, über die Strahlentürme. Alle dort sind Feinde, und keiner von ihnen würde auch nur eine Sekunde zögern, mich, Wildschwein, Sef, Rada oder meine anderen Freunde, mir lieben Menschen, zu verraten, mit Kugeln zu durchsieben, zu kreuzigen … Und doch ist es gut, dass ich mich erst jetzt an sie erinnere. Vorher hätte mich dieser Gedanke gehindert, hätte Fischi vor mir gesehen, den einzigen Menschen in diesem zum Untergang verdammten Schlangennest … Ja, aber auch sie, Fischi … Was - Fischi? Was weiß ich denn über sie? Dass sie mich sprechen gelehrt und mein Bett gemacht hat? Lass Fischi aus dem Spiel, du weißt sehr wohl, dass es nicht nur um sie geht, wies er sich zurecht. Die Sache ist die: Mit dem heutigen Tag trittst du zum entschlossenen Kampf an, zu einem Kampf auf Leben und Tod, wie alle ihn hier kämpfen. Und du kämpfst gegen Schwachköpfe: gegen bösartige Schwachköpfe, die von Strahlen verdummt wurden; gegen hinterhältige, ignorante und habsüchtige Schwachköpfe, die diese Strahlen angeordnet haben; gegen wohlmeinende Schwachköpfe, die mit Hilfe der Strahlen aus bösartigen, vom Satan besessenen Marionetten weichherzige, gute Marionetten machen wollen. Und sie alle werden versuchen, dich und deine Freunde umzubringen und deine Sache zu verderben. Weil - das merke dir und vergiss es nie! -, weil man auf diesem Planeten kein anderes Mittel kennt, die Andersdenkenden zu überzeugen … Hexenmeister hat gesagt: Möge dein Gewissen dich nicht hindern, klar zu denken, und möge dein Verstand lernen, sofern nötig, lauter zu sein als das Gewissen. Recht hatte er. Es ist eine bittere Wahrheit, eine furchtbare Wahrheit. Was ich eben getan habe, nennt man hier eine Heldentat. Und Wildschwein darf diesen Tag erleben. Der Förster, Amsel, der Grüne und Gel Ketschef haben an diesen Tag geglaubt wie an ein schönes Märchen, ebenso mein Gai und noch …zig, ja Hunderte, Tausende von Menschen, die ich nie gesehen habe. Und trotzdem ist mir unwohl dabei. Wenn ich möchte, dass sie mir auch künftig vertrauen und mir folgen, darf ich nie jemandem erzählen, dass ich meine größte Heldentat nicht in dem Moment beging, als ich durch den Kugelregen lief, sondern jetzt, wo ich noch Zeit hätte, zurückzukehren und die Bombe zu entschärfen; aber stattdessen trete ich aufs Gas und fahre immer weiter weg von diesem verfluchten Ort …
Er raste dieselbe Autobahn entlang, auf der Fank und er vor einem halben Jahr in der Luxuslimousine gefahren waren - vorbei an der endlosen Kolonne von Panzerspähwagen. Fank hatte es eilig gehabt, um ihn eigenhändig dem Wanderer übergeben zu können. Jetzt war klar, warum. Hat der Wanderer schon damals gewusst, dass ich unempfindlich gegen die Strahlung bin, nichts verstehe und er mich nach seiner Pfeife tanzen lassen kann? Er hat es gewusst, er wusste es, der Dreckskerl! Er ist wirklich ein Satan und der schrecklichste Mensch in diesem Land, vielleicht sogar auf dem ganzen Planeten. Er weiß alles, hat der Generalstaatsanwalt gesagt und sich ängstlich umgesehen. Nein, nicht alles … Du hast den Wanderer überrumpelt, Mak. Du hast gegen den Satan gewonnen. Und jetzt bring ihn zur Strecke, solange es nicht zu spät ist! Aber möglicherweise haben sie ihn auch schon erledigt, am Eingang zu seiner eigenen Höhle … Ach, ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht. Die Jungs sind ihm nicht gewachsen, Wasserblase hatte vierundzwanzig Verwandte mit Maschinengewehren. Massaraksch! Ich weiß nicht, wie man eine Revolution macht. Ich habe nichts vorbereitet, um Telegraf, Telefon und Brücken in meine Gewalt zu bringen, ich habe fast keine Leute; die einfachen Untergrundkämpfer kennen mich nicht, und der Stab wird gegen mich sein. Ich habe es nicht einmal geschafft, den General im Lager zu benachrichtigen, damit er sich darauf einstellt, die Politischen zusammentrommelt und mit einem Militärzug hierherschickt. Aber komme, was wolle: Den Wanderer muss ich erledigen. Ihn erledigen und mich ein paar Stunden halten, bis Armee und Garde vom Strahlenentzug niedergedrückt werden. Niemand von ihnen ahnt ja von diesem Zustand, wahrscheinlich nicht einmal der Wanderer. Woher sollte er es wissen - im ganzen Land habe nur ich einmal jemanden - den armen Gai - aus dem Emissionsfeld hinausgebracht.
Die Chaussee war voller Autos. Alle standen quer, schräg oder im Straßengraben. Die von der Depression niedergeschmetterten Fahrer und Passagiere saßen mit hängenden Köpfen auf den Trittbrettern, waren kraftlos von ihren Sitzen gesunken, wälzten sich an den Straßenrändern. Das alles hinderte Maxim. Er musste immer wieder bremsen, ausweichen - und so bemerkte er nicht gleich, dass ihm aus der Stadt ein flacher, grellgelber Regierungswagen entgegenkam, der ebenfalls ständig ausweichen musste, dabei seine Geschwindigkeit aber fast nicht verringerte.
Sie begegneten sich auf einem verhältnismäßig freien Stück der Chaussee und rasten aneinander vorbei; fast hätten sie sich gestreift. Maxim erkannte einen kahlen Schädel und gewaltige Segelohren, und bekam ein flaues Gefühl, weil nun wieder alles durcheinandergeriet. Der Wanderer! Massaraksch! Das ganze Land liegt in Depression, alle Entarteten sind besinnungslos, und dieses Scheusal, dieser Teufel hat sich wieder herausgewunden! Also hat er trotz allem einen Schutz erfunden. Und ich habe keine Waffe. Maxim sah in den Rückspiegel: Der lange gelbe Wagen wendete. Was hilft’s - muss ich eben ohne Waffe auskommen. Und was den Wanderer betrifft, so werden mich bestimmt keine Gewissensbisse quälen. Maxim drückte aufs Gaspedal. Tempo, Tempo. Los, mein Guter, schneller. Die niedrige gelbe Motorhaube glitt heran, wurde größer, schon konnte er die starren grünen Augen über dem Lenkrad erkennen … Jetzt, Mak!
Maxim spreizte die Beine, stützte sich ab, hielt einen Arm schützend vor Wildschwein und trat mit aller Kraft auf die Bremse.
Ohrenbetäubendes Heulen und Kreischen … Dann krachte die gelbe Kühlerhaube auf seinen Kofferraum, schob sich wie eine Ziehharmonika nach oben. Glas splitterte. Maxim stieß mit dem Fuß die Tür auf und ließ sich hinausfallen, spürte furchtbare Schmerzen in der Ferse, dem lädierten Knie, seinem Arm - und hatte es sogleich vergessen, denn der Wanderer stand schon vor ihm. Unmöglich, aber es war so. Dieser Satan, dieser Satan - lang, hager, gefährlich, mit zum Schlag erhobener Hand.
Maxim stürzte sich auf ihn, legte seine ganze Kraft in diesen Sprung, aber - daneben! Dann ein fürchterlicher Schlag gegen den Hinterkopf … Die Welt schwankte, kippte fast um, dann aber doch nicht … Und wieder stand der Wanderer vor ihm, wieder sah er den kahlen Schädel, die aufmerksamen grünen Augen, die zum Parieren des Schlags bereite Hand. Stopp, halt, er trifft daneben … He! Wohin guckt er denn? Na, so kriegst du mich nicht … Mit versteinerter Miene starrte der Wanderer über Maxims Kopf hinweg. Und schon griff Maxim ihn an, diesmal erfolgreich. Der lange Kerl knickte ein und sank langsam auf den Asphalt. Da schöpfte Maxim tief Atem und drehte sich um.
Den grauen Kubus der Zentrale konnte man von hier aus gut erkennen, aber es war kein Kubus mehr: Vor Maxims Augen stürzte er in sich zusammen. Zitternde, glutheiße Luft stieg über ihm auf, Dampf, Rauch. Und dann zuckte etwas gleißend Weißes, dessen Hitze Maxim bis hierher spüren konnte, fröhlich und beängstigend zugleich aus den langen vertikalen Rissen und Fensterlöchern …. Gut, das war also erledigt. Triumphierend wandte sich Maxim dem Wanderer zu. Der Teufel lag auf der Seite, hatte die langen Arme über dem Bauch gekreuzt und die Augen geschlossen. Vorsichtig trat Maxim näher. Wildschwein lehnte sich aus dem verbeulten Wagen heraus, zappelte und hantierte, um ins Freie zu gelangen. Maxim blieb neben dem Wanderer stehen, beugte sich hinab und überlegte, wie er zuschlagen müsste, um ihn sofort zu töten. Massaraksch, die verfluchte Hand wollte sich nicht gegen einen Liegenden erheben. Und da öffnete der Wanderer einen Spaltbreit die Augen und krächzte auf Deutsch: »Dummkopf! Rotznase!«
Maxim verstand ihn nicht gleich. Und als er ihn verstand, wurden ihm die Knie weich, und vor den Augen sah er schwarz …
Dummkopf …
Rotznase …
Dummkopf …
Rotznase …
Dann hörte er aus der grauen widerhallenden Leere heraus klar und deutlich Wildschweins Stimme: »Gehen Sie zur Seite, Mak, ich habe eine Pistole.«
Ohne hinzusehen, hielt Maxim ihn am Arm fest.
Mühsam setzte sich der Wanderer auf, die Arme noch immer auf den Leib gepresst. »Rotznase«, zischte er erschöpft. »Stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze. Suchen Sie einen Wagen, bisschen flott. So stehen Sie doch nicht herum, bewegen Sie sich!«
Dumpf, wie durch Watte hindurch, schaute sich Maxim um. Die Chaussee belebte sich. Die Zentrale existierte nicht mehr - sie war zu einer Lache geschmolzenen Metalls geworden, zu Dampf, Gestank. Die Türme funktionierten nicht mehr, die Marionetten hörten auf, Marionetten zu sein. Die Menschen kamen zu sich, sahen erstaunt und finster um sich, traten neben ihren Autos von einem Fuß auf den anderen und versuchten zu verstehen, was mit ihnen geschehen war, wie sie hierherkamen und was jetzt zu tun sei.
»Wer sind Sie?«, fragte Wildschwein.
»Geht Sie nichts an«, keuchte der Wanderer auf Deutsch. Er hatte Schmerzen, stöhnte und rang nach Luft.
»Ich verstehe nicht.« Wildschwein hob den Lauf seiner Pistole.
»Kammerer«, sagte der Wanderer. »Stopfen Sie Ihrem Terroristen das Maul und suchen Sie einen Wagen.«
»Was für einen Wagen?«, fragte Maxim hilflos.
»Massaraksch«, ächzte der Wanderer. Irgendwie schaffte er es aufzustehen; nach wie vor gekrümmt und eine Faust gegen den Leib gestemmt, ging er mit unsicheren Schritten zu Maxims Auto und zwängte sich hinein. »Steigen Sie ein, schnell!«, sagte er ärgerlich, bereits hinter dem Lenkrad sitzend. Dann blickte er über die Schulter zurück, auf die von Flammen rot gefärbte Rauchsäule. »Was haben Sie da reingeworfen?« Seine Stimme klang hoffnungslos.
»Eine thermische Bombe.«
»In den Keller oder die Vorhalle?«
»In den Keller.«
Der Wanderer stöhnte auf, saß eine Weile mit gesenktem Kopf da und ließ schließlich den Motor an. Der Wagen ruckelte und klirrte.
»Jetzt steigen Sie doch endlich ein!«, brüllte der Wanderer.
»Wer ist das?«, fragte Wildschwein. »Ein Hontianer?«
Maxim verneinte, öffnete mit einem Ruck die hintere Tür, die sich verklemmt hatte, und murmelte: »Steigen Sie ein.«
Er selbst ging um den Wagen herum und setzte sich neben den Wanderer. Das Auto ruckte, irgendetwas quietschte, barst; aber dann rollte es, plump schlingernd, die Chaussee entlang. Die nicht mehr schließenden Türen klapperten, und der Auspuff knallte laut.
»Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun?«, fragte der Wanderer.
»Moment«, bat Maxim. »Sagen Sie mir wenigstens: Wer sind Sie?«
»Ich bin Mitarbeiter des Galaktischen Sicherheitsdienstes«, antwortete der Wanderer. Es klang bitter. »Schon fünf Jahre sitze ich hier. Wir bereiten die Rettung dieses unglückseligen Planeten vor. Sorgfältig, behutsam, unter Berücksichtigung aller möglichen Folgen. Aller, verstehen Sie? Und wer sind Sie? Wer sind Sie, dass Sie Ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken, unsere Pläne durcheinanderbringen, schießen und sprengen - wer sind Sie?«
»Ich habe doch nicht gewusst …«, begann Maxim zaghaft. »Woher hätte ich wissen sollen …«
»Ja, natürlich, Sie haben nichts gewusst. Aber Sie wussten, dass eigenmächtige Einmischung verboten ist, immerhin gehören Sie zur Gruppe für Freie Suche … Sie hätten es wissen müssen. Auf der Erde verliert die Mutter seinetwegen den Verstand, pausenlos rufen irgendwelche Mädchen an, der Vater vernachlässigt seine Arbeit … Was wollten Sie denn als Nächstes tun?«
»Sie erschießen«, sagte Maxim.
»Was?!«
Der Wagen geriet ins Schleudern.
»Ja«, fuhr Maxim fort. »Was sollte ich denn machen? Man hatte mir erzählt, Sie seien der schlimmste Halunke hier, und …« Er lachte auf. »Und daran war nicht schwer zu glauben …«
Der Wanderer schielte zu ihm herüber. »Na gut. Und weiter?«
»Dann hätte die Revolution beginnen sollen.«
»Wieso denn das?«
»Die Zentrale ist doch zerstört und die Strahlung beseitigt.«
»Na und?«
»Jetzt werden sie schnell begreifen, dass man sie unterdrückt, dass ihr Leben elend ist, und sie werden sich erheben.«
»Wohin denn erheben?«, fragte der Wanderer missmutig. »Und wer wird sich erheben? Die Unbekannten Väter sind gesund und munter, die Garde ist heil und unversehrt, die Armee vollständig mobilisiert, im Land herrscht Kriegszustand. Worauf haben Sie denn gehofft?«
Maxim biss sich auf die Lippe. Er könnte diesem missmutigen Untier jetzt natürlich seine Pläne, Zukunftsvorstellungen und so weiter darlegen, doch was hätte das für einen Sinn? Da nun einmal nichts vorbereitet war, es sich einfach so ergeben hatte … »Worauf ich gehofft habe, ist nicht wichtig, es geht darum, was sie jetzt daraus machen.« Er zeigte über die Schulter auf Wildschwein. »Dieser Mann, beispielsweise … Meine Sache war, es ihnen zu ermöglichen.«
»Ihre Sache …«, murmelte der Wanderer. »Ihre Sache wäre gewesen, im Eckchen zu sitzen und zu warten, bis ich Sie dort wieder raushole …«
»Ja, natürlich«, sagte Maxim. »Nächstes Mal werde ich das berücksichtigen …«
»Sie fliegen noch heute zurück zur Erde«, sagte der Wanderer entschieden.
»Ich denke gar nicht dran«, widersprach Maxim.
»Sie fliegen heute zur Erde!«, wiederholte der Wanderer mit erhobener Stimme. »Auf diesem Planeten habe ich auch ohne Sie Sorgen genug. Nehmen Sie Ihre Rada und schwirren Sie ab.«
»Rada ist bei Ihnen?«, fragte Maxim schnell.
»Ja. Schon lange. Frisch und gesund, keine Sorge.«
»Danke dafür, danke«, sagte Maxim. »Vielen Dank.«
Der Wagen fuhr in die Stadt hinein. Auf der Hauptstraße hupte, brummte und qualmte es - ein fürchterlicher Stau. Der Wanderer bog in eine Gasse und fuhr durch die Elendsviertel der Stadt. Hier schien alles leblos. An den Ecken standen Militärpolizisten wie die Salzsäulen: die Hände auf dem Rücken, das Gesicht unterm Stahlhelm. Man hatte schnell auf die Ereignisse reagiert - Generalalarm, und alle befanden sich auf ihrem Platz, gleich nachdem sie aus der Depression erwacht waren. Vielleicht hätte ich nicht so eilig sprengen, sondern mich an den Plan des Staatsanwalts halten sollen?, überlegte Maxim. Nein, nein, Massaraksch! Soll alles laufen, wie es läuft. Er soll mich nicht zu Unrecht tadeln. Sie müssen sich jetzt selbst über alles klarwerden, und sie werden das schaffen, sobald es in ihren Köpfen dämmert. Der Wanderer steuerte wieder auf die Hauptstraße zurück.
Wildschwein klopfte ihm mit dem Pistolenlauf dezent auf die Schulter. »Seien Sie so freundlich und setzen mich bitte ab. Dort. Wo die Leute stehen …«
An einem Zeitungskiosk lehnten, die Hände tief in den Taschen ihrer langen grauen Regenmäntel, fünf Männer. Außer ihnen war niemand auf den Gehwegen - offenbar hatte der Depressionsstoß die Menschen verstört, und nun verbargen sie sich.
»Was haben Sie vor?«, fragte der Wanderer, während er abbremste.
»Frische Luft schnappen«, antwortete Wildschwein. »Heute ist selten schönes Wetter.«
»Er gehört zu uns«, erklärte Maxim ihm. (Der Wanderer bleckte furchterregend seine Zähne.) »In seiner Gegenwart können Sie über alles sprechen.«
Das Auto hielt am Straßenrand. Die Männer in den Regenmänteln begaben sich vorsichtshalber hinter den Kiosk. Man konnte sehen, wie sie von dort hervorlugten.
»Zu uns?« Wildschwein zog eine Braue hoch. »Wer ist das - wir?«
Maxim warf dem Wanderer einen verlegenen Blick zu. Der aber dachte nicht daran, ihm zu helfen.
»Ist schon gut«, sagte Wildschwein. »Ich glaube Ihnen. Wir werden uns zunächst mit dem Stab befassen. Mit ihm muss man anfangen, denke ich. Sie wissen, wovon ich rede - dort gibt es Leute, die man aus dem Weg räumen muss, solange sie die Bewegung noch nicht unter Kontrolle haben.«
»Ein richtiger Gedanke«, knurrte plötzlich der Wanderer. »Übrigens, scheint mir, kenne ich Sie. Sie sind Tik Fesku, genannt ›Wildschwein‹. Stimmt’s?«
»Richtig«, sagte Wildschwein höflich. Dann wandte er sich an Maxim. »Und Sie übernehmen die Väter. Das ist eine schwere Aufgabe, aber wie für Sie geschaffen. Wo sind Sie zu finden?«
»Warten Sie, Wildschwein«, hielt Maxim ihn zurück. »Fast hätte ich’s vergessen: In wenigen Stunden versinkt das ganze Land im Strahlenentzug. Viele Tage lang werden alle absolut hilflos sein.«
»Alle?«, fragte Wildschwein zweifelnd.
»Alle, außer den Entarteten. Diese Zeit, diese Tage müssen Sie nutzen.«
Wildschwein dachte nach.
»Wenn dem so ist, sehr gut«, sagte er. »Aber wir werden uns ja gerade mit den Entarteten befassen. Trotzdem, wo also kann man Sie erreichen?«
Maxim kam nicht zum Antworten.
»Über die alte Telefonnummer«, mischte sich der Wanderer ein. »Und am gewohnten Platz. Und Folgendes: Gründen Sie Ihr Komitee. Stellen Sie wieder die Organisation her, die im Kaiserreich bestanden hat. Ein paar von Ihren Leuten arbeiten bei mir im Institut. Massaraksch!«, schimpfte er auf einmal. »Weder Zeit haben wir noch die nötigen Leute greifbar. Der Teufel sollte Sie holen, Maxim!«
»Hauptsache, dass es die Zentrale nicht mehr gibt.« Wildschwein hatte Maxim die Hand auf die Schulter gelegt. »Sie sind ein Mordskerl, Mak. Danke.« Er drückte Maxims Schulter und kletterte ungelenk, mit Hilfe seiner Prothese, aus dem Wagen. Dann brach es plötzlich aus ihm heraus. »Mein Gott«, seufzte er und verharrte einen Moment mit geschlossenen Augen. »Gibt es sie wirklich nicht mehr? Das ist ja … das ist …«
»Schließen Sie die Tür«, sagte der Wanderer. »Fester, fester …«
Aus dem Stand raste das Auto davon. Maxim drehte sich um. Wildschwein stand inmitten der fünf grauen Mäntel und redete, wobei er mit der Pistole, die er in der gesunden Hand hielt, herumfuchtelte. Die Leute standen unbeweglich. Sie begriffen noch nicht oder konnten es nicht glauben.
Die Straße war jetzt leer. Dicht neben dem Gehsteig rollten ihnen Schützenpanzerwagen voller Gardisten entgegen, und weit vorn, dort, wo die Abzweigung zum Institut lag, versperrten bereits Fahrzeuge den Weg, liefen schwarze Gestalten hin und her. Und plötzlich leuchtete in der Kolonne der Schützenpanzerwagen ein grellgelbes Patrouillenfahrzeug mit langer Teleskopantenne …
»Massaraksch«, murmelte Maxim. »Diese Dinger habe ich ganz vergessen!«
»Du hast vieles vergessen«, sagte der Wanderer. »Du hast die mobilen Emitter vergessen, hast das Inselimperium vergessen und die Wirtschaft. Weißt du, dass im Land Inflation herrscht? Weißt du überhaupt, was Inflation ist? Ist dir bekannt, dass Hunger droht, dass der Boden nichts hergibt? Und dass wir es nicht geschafft haben, Getreide- und Medikamentenvorräte anzulegen? Weißt du, dass der Strahlenentzug in zwanzig Prozent der Fälle zum Wahnsinn führt?« Er wischte sich mit der Faust über die mächtige kahle Stirn. »Wir brauchen Ärzte, zwölftausend Ärzte. Wir brauchen Eiweißsynthetisatoren. Müssen fürs Erste unbedingt hundert Millionen Hektar des verseuchten Bodens deaktivieren, die Degeneration der Biosphäre aufhalten. Massaraksch, wir brauchen wenigstens einen Erdenmenschen auf den Inseln, in der Admiralität dieses Schurken. Keiner konnte sich bisher dort halten. Keiner hat es geschafft, auch nur zurückzukehren und zusammenhängend zu berichten, was sich dort tut …«
Maxim schwieg. Sie fuhren an die Wagen heran, die die Durchfahrt versperrten. Ein untersetzter, dunkelgesichtiger Offizier, der auf eine merkwürdig bekannte Art gestikulierte, kam zu ihnen herüber und verlangte krächzend die Dokumente. Verärgert und ungeduldig hielt ihm der Wanderer eine blanke Metallmarke unter die Nase. Der Offizier salutierte mürrisch und warf einen Blick auf Maxim. Es war der Herr Rittmeister … nein, inzwischen bereits Brigadegeneral der Garde Tschatschu. Er riss die Augen auf.
»Gehört dieser Mann zu Ihnen, Exzellenz?«, fragte er.
»Ja. Befehlen Sie unverzüglich, mich durchzulassen.«
»Verzeihung, Exzellenz, aber dieser Mann …«
»Sofort durchlassen!«, schnauzte ihn der Wanderer an.
Brigadegeneral Tschatschu salutierte noch einmal verdrossen, machte kehrt und winkte den Soldaten. Einer der Lastwagen fuhr zur Seite, und der Wanderer steuerte den Wagen eilig durch die entstehende Lücke.
»So läuft das«, sagte er. »Sie sind bereit, waren es immer. Du aber dachtest - eins, zwei, und schon erledigt. Den Wanderer erschießen, die Unbekannten Väter hängen, Feiglinge und Faschisten aus dem Stab jagen - und Schluss mit der Revolution.«
»So habe ich nie gedacht«, widersprach Maxim. Er war sehr unglücklich, ja, niedergeschmettert, und fühlte sich hilflos und furchtbar dumm.
Der Wanderer blickte ihn von der Seite an und lächelte schief. »Na schön, schön«, sagte er. »Ich bin einfach wütend. Nicht auf dich - auf mich selbst. Ich bin für alles verantwortlich, was hier geschieht, und es ist meine Schuld, dass es so gekommen ist. Ich hab dich einfach nicht gekriegt.« Wieder lächelte er. »Flinke Jungs seid ihr da in der GFS …«
»Nein«, wehrte Maxim ab. »Machen Sie sich nicht solche Vorwürfe. Ich tue das ja auch nicht. Verzeihung, wie heißen Sie?«
»Nennen Sie mich Rudolf.«
»Ja, also … Ich quäle mich nicht mit Selbstvorwürfen. Und habe das auch nicht vor. Ich habe vor zu arbeiten, die Revolution durchzuführen.«
»Hab lieber vor, nach Hause zu fliegen«, riet ihm der Wanderer.
»Ich bin hier zu Hause«, rief Maxim ungeduldig. »Reden wir nicht mehr davon. Mich interessieren die mobilen Emitter. Was tun wir mit ihnen?«
»Mit ihnen muss man gar nichts tun«, erwiderte der Wanderer. »Überleg lieber, was wir mit der Inflation machen.«
»Ich frage nach den Emittern«, beharrte Maxim.
Der Wanderer seufzte. »Sie werden von Akkumulatoren gespeist«, erklärte er. »Und diese kann man nur bei mir im Institut laden. In drei Tagen sind sie leer. Aber in einem Monat dürfte eine Invasion beginnen … Normalerweise können wir die Submarines vom Kurs abbringen, so dass nur einzelne bis zur Küste durchkommen. Diesmal aber rüsten sie eine ganze Armada. Ich hatte auf die Depressionsstrahlung gebaut, aber jetzt müssen wir sie einfach versenken.« Er verstummte. »Du bist also zu Hause. Gut, nehmen wir’s mal an. Womit willst du dich jetzt konkret befassen?«
Sie fuhren am Departement vor. Das schwere Tor war fest verschlossen. In der Steinmauer klafften schwarze Schießscharten, die Maxim dort früher nicht gesehen hatte. Das Departement ähnelte jetzt einer Festung, die bereit war zum Kampf. Neben dem kleinen Pavillon standen drei Gestalten, und Sefs roter Bart leuchtete vor dem Grün wie eine exotische Blume.
»Ich weiß nicht«, sagte Maxim. »Ich werde tun, was erfahrene Leute von mir verlangen. Wenn nötig, befasse ich mich mit der Inflation. Wenn es sein muss, versenke ich Submarines. Meine wichtigste Aufgabe aber weiß ich sicher: Solange ich lebe, wird es hier niemandem mehr gelingen, eine Zentrale zu errichten. Auch nicht mit der allerbesten Absicht …«
Der Wanderer schwieg. Das Tor war ganz nahe. Sef zwängte sich durch die Hecke und trat auf den Weg. Über seiner Schulter hing eine Maschinenpistole. Schon aus dieser Entfernung konnte man sehen, dass er wütend war und nicht verstand, was vor sich ging. Gleich würde er unter furchtbaren Flüchen eine Erklärung fordern - warum man ihn, Massaraksch, bei der Arbeit gestört und ihm den Kopf mit dem Wanderer vernebelt hatte, um ihn dann wie ein kleines Kind zwischen Blümchen herumsitzen zu lassen - und das nun schon seit zwei Stunden.
Gesammelte Werke 1
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