FÜNFTER TEIL
Erdenmensch
18
Der Generalstaatsanwalt hatte einen leichten
Schlaf, und das Summen des Telefons weckte ihn sofort. Ohne die
Augen zu öffnen, griff er nach dem Hörer und sagte heiser: »Ich
höre.«
Als bäte er um Entschuldigung, säuselte der
Referent: »Es ist sieben Uhr, Eure Exzellenz.«
»Ja.« Der Staatsanwalt hielt die Augen noch immer
geschlossen. »Ja. Danke.«
Er schaltete das Licht ein, schlug die Decke zurück
und setzte sich auf. Einige Zeit saß er so, den Blick auf seine
dürren bleichen Beine geheftet, und dachte traurig und erstaunt
darüber nach, dass er, obwohl er nun schon auf die sechzig zuging,
sich keines Tages entsinnen konnte, an dem man ihn hätte
ausschlafen lassen. Immer hatte ihn jemand geweckt. Als er
Rittmeister war, war es dieses Rindvieh von Offiziersbursche, der
ihn nach den Besäufnissen aus dem Schlaf riss. Als er Vorsitzender
des Sondergerichts war, trieb ihn dieser Dummkopf von Sekretär mit
seinen nicht unterschriebenen Urteilen aus dem Bett. Als Gymnasiast
wurde er von seiner Mutter geweckt, damit er zum Unterricht ging,
und das war die scheußlichste Zeit, das schlimmste Erwachen. Und
immer hatte es geheißen: Es muss sein! Es muss sein, Euer
Wohlgeboren. Es muss sein, Herr Vorsitzender. Es muss sein,
Söhnchen.
Und jetzt mahnte er sich selbst mit diesem »Es muss sein«. Er
stand auf, warf sich den Morgenmantel über, netzte das Gesicht mit
einer Handvoll Kölnischwasser und setzte sein Gebiss ein. Dann sah
er in den Spiegel, rieb sich die Wangen, verzog gehässig das
Gesicht und begab sich in sein Arbeitszimmer.
Die warme Milch stand schon auf dem Tisch, und
unter der gestärkten Serviette stand ein kleines Schälchen mit
Salzgebäck. Beides war Medizin für ihn, doch bevor er sie nahm,
trat er an den Safe, öffnete ihn, holte eine grüne Mappe heraus und
legte sie neben sein Frühstück. Während er das knusprige Gebäck aß
und die Milch dazu trank, sah er die Mappe genau durch - bis er
sich davon überzeugt hatte, dass sie seit dem Vorabend von
niemandem geöffnet worden war. Wie viel sich verändert hat, fuhr es
ihm durch den Kopf. Nur drei Monate sind vergangen, und wie hat
sich alles verändert. Unwillkürlich starrte er zu dem gelben
Telefon hinüber, konnte sekundenlang den Blick nicht lösen. Das
Telefon schwieg, es war leuchtend und schön wie ein buntes
Spielzeug - und angsteinflößend wie eine tickende Bombe, die sich
nicht entschärfen ließ …
Krampfhaft und mit beiden Händen umklammerte der
Staatsanwalt die grüne Mappe und schloss die Augen. Er spürte, wie
die Angst in ihm hochstieg, und wollte sie schnell bezwingen. Nein,
so ging das nicht: Er musste jetzt absolute Ruhe bewahren, kühl und
nüchtern überlegen. Eine Wahl habe ich ohnehin nicht. Also muss
ich’s riskieren. Ein Risiko, was soll’s. Das gab es immer und wird
es immer geben, nur minimal muss man es halten. Und das werde ich
tun. Ja, Massaraksch, minimal werde ich’s halten! Sie sind nicht
davon überzeugt, Schlaukopf? Ach, Sie zweifeln? Sie zweifeln
ständig, Schlaukopf, das steckt eben in Ihnen, Sie Prachtexemplar …
Versuchen wir, Ihre Zweifel zu zerstreuen. Haben Sie von einem
gewissen Maxim Kammerer gehört? Tatsächlich,
Sie haben? Aber das kommt Ihnen nur so vor, Sie haben nie von ihm
gehört, jetzt ist es das erste Mal. Und jetzt, bitte sehr, folgen
Sie meinen Ausführungen und bilden Sie sich ein objektives,
unvoreingenommenes Urteil über ihn. Ihre sachliche Meinung bedeutet
mir sehr viel, Schlaukopf, wissen Sie, von ihr hängt nun ab, ob
meine Haut heil und ganz bleibt. Meine blasse, blaugeäderte, mir
ach so teure Haut.
Er aß das letzte Gebäck und trank in einem Zug die
Milch aus.
Dann sagte er laut: »Fangen wir an.«
Er schlug die Mappe auf. Die Vergangenheit dieses
Menschen liegt im Dunkeln. Natürlich ist das kein sonderlich guter
Anfang für eine Bekanntschaft. Aber wir beide wissen ja zum Glück
nicht nur, wie man von der Vergangenheit auf die Gegenwart, sondern
auch, wie man von der Gegenwart auf die Vergangenheit schließt. Und
wenn wir etwas über die Vergangenheit unseres Mak wissen müssen,
dann rekonstruieren wir sie eben aus der Gegenwart. Extrapolation
nennt man das. Unser Mak beginnt seine Gegenwart damit, dass er aus
dem Straflager flieht. Ganz plötzlich. Unerwartet. Genau in dem
Augenblick, da der Wanderer und ich die Hände nach ihm ausstrecken.
Hier, der panische Bericht des Generalkommandanten - das klassische
Gezeter eines Idioten, der Unsinn verzapft hat und jetzt seine
Strafe fürchtet. Er sei vollkommen unschuldig, habe immer nach
Vorschrift gehandelt und nicht gewusst, dass das Objekt sich
freiwillig zu den Pionieren, den Todeskandidaten, gemeldet hätte.
Das Objekt aber habe es getan und sei im Minenfeld umgekommen. Er
hat es nicht gewusst. Der Wanderer und ich haben es auch nicht
gewusst. Aber man hätte es wissen müssen. Das Objekt ist
unberechenbar, von ihm hatten Sie Derartiges zu erwarten, Herr
Schlaukopf. Ja, damals war ich verblüfft, inzwischen aber wissen
wir, was sich ereignet hat: Jemand hatte unserem Mak die Funktion
der Türme erklärt, so dass er beschloss, das Land der
Unbekannten Väter zu verlassen und sich in Richtung Süden
davonzumachen, nicht aber, ohne vorher seinen Tod vorzutäuschen.
Der Staatsanwalt senkte den Kopf auf die Arme und wischte sich
kraftlos über die Stirn. Damit hat alles angefangen. Das war der
erste in der Serie meiner Fehler: Ich habe geglaubt, er ist tot.
Wie auch nicht? Welcher normale Mensch flieht schon in den Süden!
Jeder hätte es geglaubt. Aber der Wanderer tat es nicht.
Der Staatsanwalt griff zum nächsten Bericht. Ach,
dieser Wanderer! Dieses Genie … So hätte ich mich verhalten sollen,
so wie er. Ich jedoch war mir sicher, dass Mak umgekommen ist.
Süden bleibt nun mal Süden. Aber der Wanderer überschwemmte das
ganze Flussgebiet mit seinen Agenten. Ach, der dicke Fank.
Seinerzeit habe ich ihn nicht erwischt, ihn nicht an die Kandare
nehmen können; der kahle Fettwanst ist mager geworden, während er
durch das Land hetzte, schnüffelte und suchte. Sein »Huhn« ist an
der Sechsten Trasse am Fieber verreckt; »Tapa das Hähnchen« haben
die Bergbewohner geschnappt, und dann ist die Fünfundfünfzig -
keine Ahnung, wer dahintersteckt - den Piraten an der Küste ins
Netz gegangen. Vorher allerdings hatte sie noch melden können, dass
Mak dort gewesen war, sich dann einer Patrouille gestellt hatte und
in seine Kolonne zurückgeführt worden war.
So handeln Leute mit Köpfchen: Sie glauben nichts
und schonen niemanden. Auch ich hätte mich so verhalten sollen -
alle anderen Dinge liegen lassen und mich nur Mak widmen, denn ich
hatte ja schon damals begriffen, was der für eine Kraft besitzt.
Stattdessen habe ich mich mit Hampelmann angelegt und verloren, und
dann habe ich mich auf diesen idiotischen Krieg eingelassen und
auch verloren. Und jetzt würde ich wieder den Kürzeren ziehen, doch
nun habe ich Glück: Mak ist in der Stadt aufgetaucht, in der Höhle
des Löwen, Wanderer, und ich habe früher davon erfahren als der
Wanderer selbst. Ja, Wanderer, du Knorpelohr, jetzt hast du
verspielt. Dass du aber auch gerade jetzt verreisen musstest! Und
weißt du, es stört mich überhaupt nicht, dass ich wieder keine
Ahnung habe, weshalb und wohin du gefahren bist. Du bist weg, und
das ist gut so. Du hast dich natürlich bei allem auf Fank verlassen
- und Fank hat dir auch Mak hierhergebracht -, aber jetzt liegt er
unglücklicherweise bewusstlos im Palasthospital, von seinen
Kriegsabenteuern zur Strecke gebracht. Und Fank scheint eine
wichtige Person zu sein, denn nur solche kommen ins Palasthospital!
Jetzt mache ich aber keinen Fehler mehr, jetzt bleibt er dort,
solange es mir nützt. Du bist nicht da, Fank ist nicht da, aber
unser Mak ist da, und das trifft sich ausgezeichnet …
Der Staatsanwalt spürte Freude in sich aufsteigen,
verdrängte sie jedoch sofort. Wieder diese Emotionen, Massaraksch.
Ruhig, Schlaukopf, ruhig. Du lernst einen neuen Menschen kennen,
und der heißt Mak. Du musst sehr objektiv sein, umso mehr, als
dieser neue Mak dem alten überhaupt nicht mehr gleicht. Er ist
erwachsen geworden und weiß nun, was man unter Finanzen und
Kinderkriminalität versteht. Klüger ist er jetzt, härter. Er hat es
bis in den Stab des Untergrunds geschafft (Referenzen: Memo Gramenu
und Allu Sef) und seine Mitstreiter wie ein Blitz aus heiterem
Himmel mit dem Vorschlag überrascht, Gegenpropaganda zu betreiben.
Der Stab hat aufgeheult, denn das bedeutete, dem gesamten
Untergrund die wahre Funktion der Türme zu enthüllen, doch Mak hat
sie überzeugt. Er hat ihnen Angst gemacht, sie verwirrt; dann haben
sie seinen Vorschlag angenommen und ihn mit der Ausarbeitung
beauftragt. Schnell und sicher hat er die Situation analysiert. Und
sie haben verstanden, mit wem sie zu tun haben. Oder haben es
gespürt. Da, die letzte Meldung: Die Fraktion der Aufklärer hat ihn
zur Erörterung eines Umerziehungsprogramms hinzugebeten, und er war
gern dazu bereit. Hatte gleich eine Menge Ideen. Nicht wer
weiß wie großartige, aber darum geht es auch nicht, die
Umerziehung ist sowieso Quatsch. Wichtig ist, dass er jetzt kein
Terrorist mehr ist, nichts in die Luft sprengen und keinen
umbringen will. Wichtig ist, dass er sich mit politischer Tätigkeit
befasst, sich Autorität im Stab erwirbt, Reden hält, kritisiert,
aufwärtsstrebt, dass er Einfälle hat und sie verwirklichen will -
und das ist genau das, was wir brauchen, Herr Schlaukopf!
Der Staatsanwalt lehnte sich im Sessel
zurück.
Und da ist noch etwas, was wir brauchen. Ein
Bericht über seine Lebensweise: Er arbeitet jetzt viel, sowohl im
Labor als auch zu Hause, sehnt sich aber immer noch nach diesem
Mädchen, Rada Gaal. Er treibt Sport, hat fast keine Freunde, raucht
nicht, trinkt kaum und isst mäßig. Andererseits verrät seine
Lebensweise eine klare Neigung zum Luxus. Er kennt seinen Wert: Den
Dienstwagen, der ihm in seiner Position zusteht, hat er als etwas
Selbstverständliches angenommen und obendrein noch Leistung und
äußere Form bemängelt. Auch mit der Zweizimmerwohnung ist er
unzufrieden, hält sie für zu eng und bar jeglichen Komforts. Sein
Zuhause hat er mit echten Bildern und Antiquitäten ausgestattet und
dafür fast seinen gesamten Vorschuss aufgebraucht. Und so weiter.
Gutes Material, sehr gutes Material. Übrigens, über wie viel Geld
verfügt er zurzeit? Aha, Bereichsleiter im Laboratorium für
chemische Synthese. Haben ihm keine schlechte Funktion gegeben. Und
sicherlich eine noch bessere in Aussicht gestellt. Ich wüsste gern,
was sie ihm gesagt haben, wozu ihn der Wanderer braucht. Fank weiß
das, dieses fette Schwein, aber er wird es nicht sagen, eher
verreckt er. Wüsste man doch nur, könnte man ihm doch nur aus der
Nase ziehen, was er weiß! Mit welcher Freude würde ich ihn
anschließend umlegen. Wie er mir das Leben vergällt hat, dieser
Dreckskerl. Auch diese Rada hat er mir weggenommen. Dabei käme sie
mir jetzt so gut zupass. Rada … Was sie für eine Waffe wäre
gegen den reinen, ehrlichen und tapferen Mak! Aber vielleicht ist
es gar nicht so schlecht. Denn nicht ich halte schließlich deine
Liebste hinter Schloss und Riegel, Mak. Da steckt allein der
Wanderer dahinter, sind alles seine Intrigen. Dieser elende
Erpresser …
Der Staatsanwalt zuckte zusammen: Leise klingelte
das gelbe Telefon. Es klingelte nur, weiter nichts. Leise, sogar
melodisch. Erwachte für den Bruchteil einer Sekunde zum Leben und
erstarrte wieder, als hätte es sich nur in Erinnerung rufen wollen.
Ohne es aus den Augen zu lassen, fuhr sich der Staatsanwalt mit
zitternden Fingern über die Stirn. Nein, das war eine
Fehlverbindung. Natürlich, eine Fehlverbindung. Es kann ja alles
Mögliche passieren - ein Telefon ist ein komplizierter Apparat,
irgendein Funke konnte übergesprungen sein. Er wischte sich die
Finger am Morgenmantel ab. Und im selben Moment klingelte das
Telefon los - wie ein Schuss aus nächster Nähe, wie ein Messer an
der Kehle, ein Sturz vom Dach auf den Asphalt. Der Staatsanwalt
nahm den Hörer ab. Er wollte es nicht, bemerkte nicht einmal, dass
er es tat, ja, bildete sich sogar ein, es nicht zu tun, sondern auf
Zehenspitzen schnell ins Schlafzimmer zu laufen, sich anzukleiden,
den Wagen aus der Garage zu fahren und so schnell es ging
davonzujagen … Aber wohin?
»Generalstaatsanwalt.« Er räusperte sich
heiser.
»Schlaukopf? Hier ist der Papa.«
Jetzt … Jetzt also … Gleich würde es heißen: Wir
erwarten dich in einer Stunde …
»Ich habe deine Stimme erkannt«, murmelte er
kraftlos. »Grüß dich, Papa.«
»Hast du den Bericht gelesen?«
»Nein.«
Nicht? Dann komm her, wir tragen ihn dir vor
…
»Aus!«, sagte der Papa. »Wir haben’s mit dem Krieg
versaut.«
Der Staatsanwalt schluckte. Er musste irgendetwas
sagen. Ganz schnell etwas sagen, am besten einen Witz machen. Ein
dezentes Witzchen. Gott, verhilf mir zu einem Witz!
»Du schweigst? Und was hatte ich dir gesagt? Lass
die Finger davon. Halte dich an die Zivilisten - die Zivilisten,
nicht ans Militär. Ach, Schlaukopf …«
»Du bist der Papa«, presste der Staatsanwalt
hervor. »Kinder sind nun mal ihren Eltern gegenüber
ungehorsam.«
Der Papa kicherte. »Kinder … Und wo steht
geschrieben: ›Wenn dein Kind dir den Gehorsam verweigert …‹ Wie
heißt es weiter, weißt du’s nicht, Schlaukopf?«
Gott, mein Gott! »Tilge es vom Antlitz der Erde.«
So hatte er es damals auch gesagt: »Tilge es vom Antlitz der Erde«,
und der Wanderer hatte die schwere schwarze Pistole vom Tisch
genommen und zweimal abgedrückt, und das Kind hatte nach seiner
durchschossenen Glatze gegriffen und war auf den Teppich
gestürzt.
»Hast du dein Gedächtnis verloren?«, meldete sich
der Papa. »Ach, Schlaukopf, was wirst du jetzt tun?«
»Ich habe mich geirrt«, krächzte der Staatsanwalt.
»Ein Irrtum … Nur wegen Hampelmann …«
»Hast dich geirrt … Na gut, denke darüber nach,
Schlaukopf. Überlege. Ich ruf nochmal an.«
Schluss. Weg war er. Und keine Ahnung, wo man ihn
erreichen könnte, weinen, ihn anflehen. Aber das wäre dumm. Das hat
noch keinem geholfen. Gut, warte … Wart’s nur ab, du Schwein! Mit
voller Wucht schlug er seine offene Hand auf die Tischkante, damit
sie blutete und schmerzte, damit sie aufhörte zu zittern … Es half
ein wenig. Dann aber bückte er sich, öffnete mit der anderen Hand
die unterste Schublade, zog den Flachmann heraus, öffnete den
Stöpsel mit den Zähnen und nahm ein paar Schluck. Ihm wurde heiß.
So … Ruhig … Wir werden ja sehen. Es ist wie beim Wettlauf: Wer ist
schneller? Den Schlaukopf kriegt ihr nicht so einfach, er
wird euch noch zu schaffen machen. So schnell zitiert man ihn
nicht zu sich. Wenn das ginge, hätten sie es längst getan. Macht
nichts, dass der Papa angerufen hat. Das tut er ja immer. Mir
bleibt noch Zeit. Zwei Tage, drei Tage, vier. »Du hast noch Zeit!«,
schrie er sich an. »Spiel nicht verrückt!« Er sprang auf und
hastete im Kreis durch sein Arbeitszimmer.
Ich habe euren Meister. Ich habe Mak. Einen
Menschen, der die Strahlen nicht fürchtet. Für den es keine
Barrieren gibt. Der die Dinge umordnen will. Der uns hasst. Ein
unbeschriebenes Blatt und folglich allen Verführungen offen. Einer,
der mir glauben und mich noch treffen wollen wird. Er möchte es ja
jetzt schon. Meine Agenten haben ihm gegenüber mehrfach betont,
dass der Generalstaatsanwalt gut und gerecht ist, ein echter Kenner
der Gesetze und ein wahrer Hüter des Rechts; dass die Väter ihm
nicht grün sind und ihn nur dulden, weil sie einander misstrauen.
Meine Agenten haben mich ihm gezeigt, heimlich, unter günstigen
Umständen. Und mein Gesicht hat ihm gefallen. Die Hauptsache aber
ist: Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit haben sie ihm
bedeutet, dass ich weiß, wo die Zentrale ist. Er hat sich
hervorragend im Griff - doch in diesem Moment, meinten die Agenten,
hat er sich verraten. Über so einen Mann verfüge ich! Einen, der
unbedingt die Zentrale einnehmen möchte - und es tun könnte, er als
Einziger. Das heißt, bis jetzt habe ich ihn noch nicht, aber die
Netze sind geworfen, der Köder ist geschluckt. Und heute ziehe ich
die Angel ein. Oder ich bin erledigt … erledigt … erledigt …
Jäh fuhr er herum und starrte entsetzt auf das
gelbe Telefon.
Seine Phantasie ließ sich nicht länger zügeln.
Wieder sah er dies kleine Zimmer, bespannt mit violettem Samt -
stickig, säuerlich riechend, fensterlos. Darin ein kahler,
schäbiger Tisch und fünf vergoldete Stühle … Wir, alle anderen,
standen: ich, der Wanderer mit den Augen eines begierigen Mörders
und
dieser kahlköpfige Henker - ein Tölpel, ein Schwätzer. Der Henker
wusste, wo die Zentrale liegt, er hatte so viele Menschen zugrunde
gerichtet, um es zu erfahren, und dann - eine Plaudertasche, ein
Trunkenbold, ein Angeber. Als ob man über so etwas mit
irgendjemandem reden dürfte. Zumal mit Verwandten, besonders mit
solchen Verwandten. Und dann noch Chef des Departements für
Volksgesundheit, Auge und Ohr der Unbekannten Väter, Schild und
Streitaxt der Nation. Der Papa hatte die Augen zusammengekniffen
und gesagt: »Tilge es vom Antlitz der Erde!«, und der Wanderer
hatte zweimal aus nächster Nähe geschossen. »Wieder habt ihr die
Tapeten bespritzt«, hatte der Schwiegervater mürrisch geknurrt. Und
sie stritten weiter darüber, warum es im Zimmer stinkt. Ich aber
hatte Knie aus Watte und dachte: Wissen sie es, oder wissen sie es
nicht? Der Wanderer fletschte die Zähne wie ein hungriges Raubtier
und starrte mich an, als erriete er es. Einen Dreck hat er erraten.
Jetzt verstehe ich, warum er immer so bemüht war, dass nur ja
niemand das Geheimnis der Zentrale erfährt. Er hat die ganze Zeit
gewusst, wo sie liegt, und nur auf eine Gelegenheit gewartet, um
sie in seine Gewalt zu bringen. Aber du kommst zu spät, Wanderer,
du kommst zu spät. Auch du, Papa, kommst zu spät. Ebenso wie du,
Schwiegervater. Und von dir, Hampelmann, ist erst gar nicht die
Rede.
Er zog den Vorhang zurück und lehnte die Stirn an
das kühle Glas. Seine Angst hatte er fast erstickt, und um sie
endgültig zu besiegen, stellte er sich vor, wie Mak gewaltsam den
Maschinenraum der Zentrale stürmte.
Aber das hätte auch Wasserblase mit seiner
Leibwache tun können, mit dieser Bande aus Brüdern und Cousins,
Neffen, dicken Freunden und Protegés, diesem grässlichen Pack, das
noch nie von einem Gesetz gehört hatte und immer nur der einen
Regel gefolgt war: Schieße immer als Erster … Man musste schon der
Wanderer sein, um die Hand gegen Wasserblase
zu erheben! Noch am selben Abend hatten sie ihn am Tor zu seiner
Villa überfallen, seinen Wagen durchlöchert, den Fahrer und die
Sekretärin getötet und waren dann auf rätselhafte Weise selbst
umgekommen, alle vierundzwanzig Mann, mit zwei Maschinengewehren …
Ja, Wasserblase wäre auch in der Lage gewesen, in den Maschinenraum
vorzudringen, aber dann wäre er steckengeblieben. Er hätte es nicht
weiter geschafft, weil dahinter die Depressionsstrahlenschranke
liegt. Inzwischen sind es vielleicht sogar zwei Strahlenschranken -
aber schon eine würde reichen, denn niemand kann sie überwinden.
Ein Entarteter verlöre vor Schmerz das Bewusstsein, und jeder
normale Bürger sänke auf die Knie und finge an, in Todessehnsucht
zu wimmern. Nur Mak dringt weiter vor und legt seine Hand an die
Generatoren. Zuallererst wird er die Zentrale und das gesamte
System der Türme auf Depression schalten. Und dann geht er
vollkommen ungehindert hoch zum Rundfunkstudio und legt ein Band
mit einer vorbereiteten Rede ein, zur zyklischen Wiedergabe. Das
ganze Land, von der hontianischen Grenze bis zu den Regionen
jenseits des Flusses ist depressiv. Millionen von Schwachköpfen
liegen herum, tränenüberströmt und unfähig, auch nur einen Finger
zu rühren. Aus den Lautsprechern schallt es ohrenbetäubend, dass
die Unbekannten Väter Verbrecher sind, dass sie so und so heißen
und sich dort und dort befinden. Tötet sie, rettet das Land - das
sage ich euch, Mak Sim, der lebendige Gott dieser Welt (oder der
legitime Erbe des Kaiserthrons, oder der große Diktator - was ihm
eben besser gefällt). Auf, zu den Waffen, meine Garde. Zu den
Waffen, meine Armee. Zu den Waffen, meine Untertanen. In der
Zwischenzeit begibt sich Maxim zurück in den Maschinenraum und
stellt die Generatoren um: auf erhöhte Aufmerksamkeit. Schon
lauscht das ganze Land mit gespitzten Ohren und ist bemüht, kein
einziges Wort zu verpassen. Sie wiederholen das Gehörte, um es
auswendig zu lernen. Die
Lautsprecher dröhnen, die Türme strahlen, und das noch eine
weitere Stunde. Dann aber stellt Mak die Emitter auf Begeisterung
ein, dreißig Minuten Begeisterung, und dann ist Schluss der
Sendung. Und wenn ich wieder zu mir komme (Massaraksch! -
anderthalb Stunden lang höllische Schmerzen, aber das muss ich
durchstehen!), dann gibt es schon keinen Papa mehr, ja, überhaupt
keinen mehr von denen. Dann sind da nur noch Mak, der große Gott
Mak, und sein treuer Berater, der ehemalige Generalstaatsanwalt und
jetzige Regierungschef des großen Mak. Ach, Gott mit ihr, mit
dieser Regierung, einfach leben werde ich, nichts wird mir mehr
drohen, und dann sehen wir weiter. Mak gehört nicht zu denen, die
nützliche Freunde im Stich lassen, er lässt nicht einmal unnütze
Freunde im Stich, und ich werde ein sehr nützlicher Freund sein.
Oh, was für ein nützlicher Freund ich ihm sein werde!
Er unterbrach sich und trat wieder an den Tisch,
warf einen Blick auf das gelbe Telefon, schmunzelte, hob dann den
Hörer vom grünen Telefon ab und wählte die Nummer des
Stellvertretenden Leiters des Departements für spezielle
Untersuchungen.
»Kaulquappe? Guten Morgen, hier Schlaukopf. Wie
geht’s? Was macht der Magen? … Na, wunderbar … Der Wanderer ist
noch nicht zurück? … Aha. Na gut … Man hat mich eben von oben
angerufen und aufgefordert, euch ein bisschen zu inspizieren …
Nein, nein, ich denke, eine reine Formalität, ich verstehe sowieso
nichts von eurem Kram. Bereite aber schon mal einen Bericht vor …
einen Entwurf für das Inspektionsgutachten und so weiter. Und sorge
dafür, dass alle an ihren Plätzen sind, wenn ich komme, nicht wie
beim vorigen Mal … Hm … Gegen elf, wahrscheinlich … Richte es so
ein, dass ich um zwölf wieder gehen kann, mit allen Unterlagen …
Na, bis nachher. Gehen wir leiden … Du leidest doch auch? Oder habt
ihr womöglich längst ein Schutzmittel und versteckt es nur vor der
Obrigkeit? Na, na, war ein Scherz … Bis dann.«
Er legte den Hörer auf und sah auf die Uhr. Viertel
vor zehn. Laut seufzend schleppte er sich ins Badezimmer. Wieder
dieser Albtraum … ein halbstündiger Alb, gegen den es keinen Schutz
gab. Keine Rettung. Der einem die Freude am Leben raubte. Was für
ein Jammer: Den Wanderer würde man verschonen müssen.
Die Wanne war bereits voll mit heißem Wasser. Der
Staatsanwalt legte seinen Morgenmantel ab, zog das Nachthemd aus
und schob sich eine Schmerztablette unter die Zunge. So verlief nun
das ganze Leben. Ein Vierundzwanzigstel davon war die Hölle. Mehr
als vier Prozent. Die Vorladungen in den Palast nicht mitgerechnet.
Na, die würden ja bald wegfallen. Die vier Prozent aber bleiben.
Übrigens, das werden wir noch sehen! Wenn alles geregelt ist,
befasse ich mich selbst mit dem Wanderer. Dann stieg er in die
Wanne, machte es sich bequem und entspannte sich. Gerade wollte er
sich ausmalen, wie er sich den Wanderer vorknöpfen würde … Aber er
kam nicht mehr dazu. Der bekannte Schmerz schlug in seinen Scheitel
ein, schob sich die Wirbelsäule hinunter, krallte sich in jede
Zelle, in jeden Nerv und begann daran zu reißen - systematisch,
grausam, im Takt seines rasenden Herzens.
Als alles vorbei war, lag er noch ein wenig in
matter Erschöpfung. Die Höllenqualen hatten auch ihren Vorteil -
jede halbe Stunde Albdruck schenkte ihm ein paar Minuten
paradiesischer Wonne. Dann stieg er aus dem Wasser, trocknete sich
vor dem Spiegel ab und nahm durch die halbgeöffnete Tür seine
frische Wäsche vom Kammerdiener entgegen. Er zog sich an, kehrte
ins Arbeitszimmer zurück, trank noch ein Glas warme Milch, diesmal
mit Mineralwasser vermischt, und aß dann einen klebrigen Brei mit
Baumhonig. Er saß kurze Zeit still, um endgültig zu sich zu kommen,
rief dann den Referenten vom Tagesdienst an und trug ihm auf, den
Wagen vorfahren zu lassen.
Zum Departement für spezielle Untersuchungen
führte eine von üppigen, künstlich anmutenden Bäumen gesäumte
Regierungstraße, die um diese Tageszeit völlig leer war. Ohne an
den Ampeln zu halten, raste der Chauffeur dahin; ab und zu
schaltete er die durchdringende basstiefe Sirene ein. Drei Minuten
vor elf rollten sie vor das hohe Eisentor des Departements. Ein
Gardist in Paradeuniform trat zu ihnen, bückte sich, erkannte den
Staatsanwalt und salutierte. Sogleich tat sich das Tor auf und gab
den Blick auf einen üppigen Garten frei, auf weiße und gelbe
Wohnblöcke und, dahinter, den gigantischen Glasbau des Instituts,
der die Form eines Parallelepipeds hatte. Langsam fuhren sie die
Straße entlang, die mit strengen Warnhinweisen zur
Geschwindigkeitskontrolle gesäumt war, vorbei an einem
Kinderspielplatz, dem Flachbau einer Schwimmhalle und einer
fröhlich bunten Klubgaststätte. Ringsum: Grün, Wolken von Grün,
dazu die wunderbarste reine Luft und, Massaraksch, ein
erstaunlicher Duft; nirgendwo sonst gab es den, weder im Wald noch
auf dem Feld. Dieser Wanderer! Das alles hat er sich ausgedacht.
Höllische Gelder sind dafür verpulvert worden, aber wie sehr man
ihn hier liebt. So muss man leben, so sich einrichten! Unsummen hat
es gekostet, der Schwager war damals sehr unzufrieden, ja, ist es
jetzt noch. Ein Risiko? Natürlich. Der Wanderer hat etwas riskiert,
aber dafür ist sein Departement jetzt auch sein Departement:
Hier verrät ihn keiner, stellt ihm niemand Fallen. Fünfhundert
Menschen arbeiten hier für ihn, hauptsächlich junge Leute. Sie
lesen keine Zeitungen, hören kein Radio - sie haben keine Zeit
dafür … Sehen Sie, diese wichtigen wissenschaftlichen
Untersuchungen … Strahlung ist hier gar nicht nötig, schießt am
Ziel vorbei, genauer gesagt, sie trifft ein ganz anderes. Ja,
Wanderer, ich an deiner Stelle würde mir mit den Schutzhelmen noch
viel Zeit lassen. Womöglich tust du das auch? Wahrscheinlich. Aber,
was viel wichtiger ist: Wie kriegt man dich zu fassen? Wenn sich
bloß
ein zweiter Wanderer fände … Doch ein zweites Köpfchen wie deins
gibt es nirgends auf der Welt. Und das weiß er, hält ein wachsames
Auge auf jeden mehr oder weniger talentierten Menschen. Nimmt ihn
von klein auf unter seine Fittiche, ist nett zu ihm, entfremdet ihn
seinen Eltern - und die Eltern, diese Dummköpfe, sind auch noch bis
an ihr Lebensende froh darüber; und siehe da, schon hat sich ein
weiterer Soldat in seine Front eingereiht … Ach, wie gut, dass der
Wanderer jetzt nicht da ist, was ist das für ein Glück!
Der Wagen hielt, der Referent riss die Tür auf. Der
Staatsanwalt stieg aus und ging die Stufen zum verglasten Vestibül
hinauf. Kaulquappe und seine Lakaien erwarteten ihn schon. Der
Staatsanwalt drückte, gebührende Langeweile im Gesicht, Kaulquappe
schlaff die Hand, warf einen Blick auf die Lakaien und gestattete
ihnen, ihn zum Lift zu geleiten. Sie betraten ihn nach Protokoll:
zuerst der Herr Generalstaatsanwalt, nach ihm der Herr
Stellvertretende Departementsleiter, danach der Lakai des
Generalstaatsanwalts und der ranghöchste Lakai des Herrn
Stellvertretenden Leiters. Die Übrigen verblieben im Vestibül. In
Kaulquappes Arbeitszimmer begab man sich ebenfalls förmlich: zuerst
der Herr Staatsanwalt und hinter ihm Kaulquappe. Den Lakai des
Herrn Generalstaatsanwalts und den Oberlakai Kaulquappes ließen sie
hinter der Tür zur Anmeldung zurück. Der Staatsanwalt ließ sich
sogleich matt in einen Sessel sinken; Kaulquappe hingegen wurde
unruhig, drückte auf den Knöpfen an seiner Tischkante herum und
befahl - als nun eine ganze Horde von Sekretären im Zimmer erschien
-, Tee zu servieren.
Um sich zu erheitern, beobachtete der Staatsanwalt
Kaulquappe ein wenig. Kaulquappe machte den Eindruck, als habe er
etwas verbrochen: Er vermied, seinem Gast in die Augen zu sehen,
fuhr sich über die Haare und rieb sich krampfhaft die Hände;
außerdem hüstelte er unnatürlich und machte andauernd sinnlose,
hektische Bewegungen. So war Kaulquappe
immer. Sein Aussehen und sein Verhalten waren sein Kapital.
Ständig weckte er den Verdacht, kein reines Gewissen zu haben, und
zog damit ununterbrochen sorgfältigste Überprüfungen auf sich. Das
Departement für soziale Gesundheit studierte jede Stunde seines
Lebens. Da sein Leben aber makellos war und jede neue Überprüfung
diese unerwartete Tatsache bestätigte, kletterte Kaulquappe
ungewöhnlich schnell auf der Karriereleiter nach oben.
Der Staatsanwalt wusste das alles sehr gut: Er
hatte Kaulquappe schon dreimal auf die allergründlichste Weise
überprüft. Und doch ertappte er sich - während er ihm zusah und
sich über ihn amüsierte - bei dem Gedanken, dass Kaulquappe, dieser
gerissene Kerl, bestimmt wisse, wo sich der Wanderer befand, und
habe nun schreckliche Angst, man könnte ihm dieses Wissen
entlocken. Der Staatsanwalt beherrschte sich nicht länger.
»Gruß vom Wanderer«, sagte er lässig, wobei er mit
den Fingern auf die Armlehne trommelte.
Kaulquappe warf ihm einen kurzen Blick zu, senkte
aber sofort wieder die Augen. »Hm, ja …« Er biss sich auf die
Lippe. »Hm, gleich bringt man den Tee …«
»Er hat darum gebeten, dass du ihn anrufst.« Der
Staatsanwalt tat noch lässiger.
»Was? Ah, gut … Der Tee wird heute einmalig. Die
neue Sekretärin ist geradezu darauf spezialisiert. Das heißt also …
ähm … wo soll ich ihn denn anrufen?«
»Ich verstehe nicht«, sagte der Staatsanwalt.
»Ich meine, dass … äh … wenn ich ihn anrufen soll,
muss ich doch … ähm … seine Nummer wissen. Er hinterlässt doch nie
seine Nummer.« Rot angelaufen vor lauter Qual, hantierte Kaulquappe
herum, klopfte mit den Händen auf den Tisch und fand schließlich
einen Bleistift. »Wo soll ich anrufen?«
Der Staatsanwalt gab auf. »War nur Spaß.«
»Was … äh … wieso …« Kaulquappes Miene verriet nun
in schneller Abfolge die verdächtigsten Emotionen. »Ah! Ein Spaß?«
Er lachte gekünstelt. »Da hast du mich ja pfiffig … So ein Spaß!
Und ich dachte schon … Ha-ha-ha … Ach, da ist ja auch schon das
Teechen!«
Der Staatsanwalt nahm aus den sehr gepflegten
Händen der sehr gepflegten Sekretärin ein Glas starken heißen Tee
entgegen und sagte: »Schön, jetzt hatten wir unseren Spaß. Aber
meine Zeit ist knapp. Wo hast du den Schrieb?«
Nach vielen überflüssigen Bewegungen zog Kaulquappe
den Entwurf des Inspektionsprotokolls hervor und gab ihn dem
Staatsanwalt. Urteilte man danach, wie er sich wand und krümmte,
strotzte das Schriftstück von Falschinformationen, diente dem Ziel,
die Inspektoren in die Irre zu führen, und war überhaupt in rein
subversiver Absicht verfasst worden.
»So …« Der Staatsanwalt lutschte an einem Stück
Zucker. »Was hast du hier … Protokoll der Revision … Laboratorium
für Interferenz … Laboratorium für Spektraluntersuchungen …
Laboratorium für Integralemission … Ich begreife kein Wort, so ein
Kauderwelsch! Wie findest du dich in diesem Kram zurecht?«
»Ich … äh … weißt du, ich werde ja auch nicht draus
klug. Ich bin doch von der Ausbildung her … äh … Verwalter, meine
Aufgabe … ähm … ist die allgemeine Leitung.«
Kaulquappe verbarg seine Augen, biss sich auf die
Lippen, wühlte in seinen Haaren - und schon war sonnenklar, dass es
sich hier mitnichten um einen Verwalter handelte, sondern um einen
hontianischen Spion der höchsten Qualifikation … Was für ein
Typ!
Der Staatsanwalt wandte sich wieder dem Protokoll
zu. Er machte eine tiefgründige Bemerkung zur Überziehung der
Mittel durch die Gruppe für Leistungssteigerung und fragte, wer Soi
Barutu sei - etwa ein Verwandter des bekannten
Propaganda-Schriftstellers Moru Barutu? Er kritisierte
das linsenlose Refraktometer, das horrende Summen verschlungen,
aber noch immer keine Anwendung gefunden habe, und wertete die
Ergebnisse des Sektors für die Erforschung und Optimierung von
Strahlen aus. Dabei merkte er an, dass er keine wesentlichen
Fortschritte erkennen könne (Gott sei Dank, ergänzte er in
Gedanken), und dass diese seine Meinung unbedingt in die
Reinschrift des Protokolls aufzunehmen wäre.
Den Abschnitt, der die Arbeit des Sektors
Strahlenschutz betraf, überflog er noch flüchtiger. »Ihr tretet auf
der Stelle«, erklärte er. »Hinsichtlich des physikalischen Schutzes
habt ihr überhaupt nichts erreicht, und was den physiologischen
Schutz angeht - noch weniger. Überhaupt ist physiologische Abwehr
nicht das, was wir brauchen - warum sollte sich wohl jemand
auseinanderschnippeln lassen? Was für ein Unsinn! Die Chemiker
hingegen sind tüchtig, haben eine weitere Minute rausgeschunden. Im
vorigen Jahr eine, im vorvorigen anderthalb. Was folgt daraus? Es
folgt, dass ich, wenn ich eine Pille schlucke, mich statt dreißig
Minuten nur noch zweiundzwanzig quäle. Nicht schlecht. Fast dreißig
Prozent. Notiere meine Meinung: Das Tempo für die Arbeiten am
physikalischen Schutz erhöhen, die Mitarbeiter der Abteilung für
chemischen Schutz fördern und motivieren. Das war’s.«
Er warf Kaulquappe die Blätter hin.
»Lass das sauber abtippen, auch meine Einschätzung.
Und nun führe mich pro forma, na, sagen wir … äh … bei den
Physikern war ich letztes Mal. Bring mich also zu den Chemikern,
ich sehe mir an, wie es so bei ihnen ist.«
Kaulquappe sprang auf und hämmerte wieder auf seine
Knöpfe. Der Staatsanwalt erhob sich mit dem Ausdruck äußerster
Erschöpfung.
In Begleitung von Kaulquappe und dem
Tagesreferenten schlenderte er durch die Labors der Abteilung für
chemischen
Schutz, bedachte die Leute, die einen Streifen auf dem Kittelärmel
trugen, mit höflichem Lächeln, klopfte den Streifenlosen auf die
Schulter und verharrte bei den Mitarbeitern mit zwei Streifen -
drückte ihnen die Hand, nickte mit dem Kopf, als verstünde er,
worüber sie sprachen, und erkundigte sich, ob es Beanstandungen
gebe.
Beanstandungen gab es keine. Alle im Labor waren am
Arbeiten oder gaben sich den Anschein - das wusste man bei ihnen
nie so genau. An den Geräten blinkten Lämpchen, in den Gefäßen
brodelten Flüssigkeiten, es stank und irgendwo quälte man Tiere.
Die Räume waren hell, sauber und geräumig. Die Menschen wirkten
ruhig und wohlgenährt, Enthusiasmus zeigten sie aber nicht. Sie
begegneten dem Inspektor korrekt, aber ohne Zuneigung - auf jeden
Fall ließen sie die geziemende Unterwürfigkeit vermissen.
Und fast in jedem Raum - ob Büro oder Labor - hing
ein Porträt des Wanderers: über dem Arbeitsplatz, neben Tabellen
und Grafiken, an der Wand zwischen den Fenstern, über der Tür,
manchmal sogar unter Glas auf dem Tisch. Es waren Fotografien,
Bleistift- und Kohlezeichnungen, und eins der Bilder war sogar in
Öl. Man sah den Wanderer beim Ballspiel, den Wanderer, wie er eine
Vorlesung hielt oder wie er in einen Apfel biss. Mal sah man den
Wanderer streng, mal nachdenklich, dann müde oder wütend - und
schließlich einen Wanderer, der aus vollem Halse lachte. Diese
Bastarde hatten sogar Cartoons auf ihn gezeichnet und sie an die
auffälligsten Stellen geheftet. Der Staatsanwalt versuchte sich
vorzustellen, dass er ins Arbeitszimmer des Unterjustizrates Filtik
träte und dort eine Karikatur auf sich entdeckte. Massaraksch, das
war unvorstellbar, unmöglich!
Während er lächelte, auf Schultern klopfte und
Hände drückte, dachte er die ganze Zeit, dass er seit vorigem Jahr
nun schon das zweite Mal hier war, und alles anscheinend
unverändert vorfand, er aber früher nie auf diese Details geachtet
hatte. Und nun achtete er darauf. Warum erst jetzt? … Ah,
deswegen: Vor ein oder zwei Jahren war der Wanderer zwar formal
einer von ihnen gewesen, de facto aber hatte er weder Einfluss auf
die Politik noch einen Platz darin oder eigene Ziele. Seit jener
Zeit aber hatte er viel erreicht. Die gesamtstaatliche Operation
zur Unschädlichmachung von ausländischen Spionen - das war sein
Verdienst. Der Staatsanwalt hatte diese Prozesse selbst geführt und
erschüttert feststellen müssen, dass er es hier nicht mit den
üblichen Spionen der Entarteten zu tun hatte, die man nicht ernst
zu nehmen brauchte, sondern mit ausgekochten Aufklärern, die vom
Inselimperium eingeschleust worden waren, um wissenschaftliche und
ökonomische Informationen zu sammeln. Der Wanderer hatte sie alle
gestellt, bis auf den letzten; seitdem war er der unangefochtene
Chef der besonderen Abwehr.
Weiter: Es war der Wanderer, der die Verschwörung
der glatzköpfigen Wasserblase aufdeckte - einer unheimlichen Figur,
die fest im Sattel gesessen und mit aller Kraft versucht hatte, dem
Wanderer als Chef der Abwehr das Wasser abzugraben - und ihm dabei
sehr gefährlich wurde. Doch der Wanderer brachte ihn zur Strecke,
allein, hat keinem anderen vertraut. Er ist immer offen
aufgetreten, hat sich nie versteckt, nur im Alleingang gehandelt -
keine Koalitionen, keine Pakte, keine Bündnisse. Drei Chefs des
Militärdepartements hat er nacheinander gestürzt - es blieb ihnen
nicht einmal die Zeit, »piep« zu sagen, so schnell wurden sie nach
oben zitiert und entlassen - bis er erreichte, dass Hampelmann auf
den Posten kam -, Hampelmann, der panische Angst hat vorm Krieg.
Und vor einem Jahr hat er das Projekt »Gold« vereitelt, das vom
Reichsverband für Industrie und Finanzen vorgelegt worden war.
Damals schien es, als würde man den Wanderer jeden Augenblick
davonjagen, denn den Papa hatte die Vorlage begeistert. Aber
irgendwie konnte der Wanderer ihm schließlich doch beweisen, dass
der Nutzen des Projekts nur
von kurzer Dauer sein würde: Nach zehn Jahren würde eine
Massenepidemie des Wahnsinns ausbrechen, gefolgt vom vollständigen
Ruin. Stets hat er es geschafft, sie zu überzeugen, obwohl kein
anderer sie je von etwas überzeugen konnte; nur dem Wanderer ist
das gelungen. Und es liegt auch auf der Hand, warum: Er hat sich
nie vor irgendetwas gefürchtet. Freilich, er hat sich lange in
seinem Arbeitszimmer vergraben, letztlich aber seinen wahren Wert
erkannt. Er hat begriffen, dass wir ihn alle brauchen, wer auch
immer wir sind und wie auch immer wir uns gegenseitig anfeinden.
Denn nur er ist in der Lage, einen Schutz gegen die Strahlen zu
entwickeln, er allein kann uns von diesen Qualen erlösen.
Und diese weiß bekittelten Rotznasen zeichnen
Karikaturen auf ihn!
Der Referent riss die nächste Tür auf, und der
Staatsanwalt erblickte seinen Mak. Im weißen Kittel, einen Streifen
auf dem Ärmel, hockte er auf dem Fensterbrett und sah hinaus. Würde
sich irgendein Justizrat erlauben, während der Dienstzeit auf dem
Fensterbrett zu sitzen und Däumchen zu drehen, könnte man ihn
ruhigen Gewissens als Nichtstuer und Saboteur abschieben. Im
gegebenen Fall aber, Massaraksch, durfte man nichts sagen. Denn,
packst du ihn am Schlafittchen, antwortet er glatt: »Erlauben Sie!
Ich mache gerade ein Gedankenexperiment. Gehen Sie und stören Sie
nicht!«
Der große Mak drehte also Däumchen. Er warf den
Eintretenden einen flüchtigen Blick zu und wollte gerade wieder zum
Fenster hinausblicken, als er sich noch einmal umwandte und sie
genauer betrachtete. Er hat mich erkannt, durchfuhr es den
Staatsanwalt. Du hast mich erkannt, mein kluges Kerlchen. Er
lächelte Mak höflich zu, klopfte dem jungen Laboranten auf die
Schulter, der den Rechner bediente, blieb mitten im Zimmer stehen
und schaute sich um.
»Nun, meine Herren«, fragte er in den Raum zwischen
Mak und Kaulquappe hinein, »was tut sich hier?«
»Herr Sim« - Kaulquappe lief rot an, zwinkerte und
rieb sich die Hände - »erläutern Sie dem Herrn Inspektor, womit Sie
- äh …«
»Ich kenne Sie doch«, sagte der große Mak und stand
auf einmal zwei Schritte neben dem Staatsanwalt. »Entschuldigen
Sie, wenn ich nicht irre, sind Sie der Generalstaatsanwalt?«
Ja, man hatte es nicht leicht mit ihm, denn mit
einem Schlag war der sorgfältig durchdachte Plan zum Teufel: Mak
dachte gar nicht daran, etwas zu verbergen; er hatte keine Angst,
war einfach nur neugierig. Dabei sah er, groß wie er war, auf den
Generalstaatsanwalt herab wie auf ein merkwürdiges, exotisches Tier
…
Der Staatsanwalt musste improvisieren. »Ja.« Er
zeigte sich kühl, verwundert und hörte auf zu lächeln. »Soweit mir
bekannt ist, bin ich tatsächlich der Generalstaatsanwalt, obwohl
ich nicht verstehe.« Er runzelte die Stirn und blickte Mak
aufmerksam an. Der grinste breit. »Ja, natürlich!«, rief der
Staatsanwalt aus. »Mak Sim. Maxim Kammerer! Aber, entschuldigen
Sie, man hat mir doch gemeldet, Sie seien im Straflager umgekommen.
Massaraksch, wie kommen Sie hierher?«
»Eine lange Geschichte.« Mak winkte ab. »Übrigens
bin auch ich erstaunt, Sie hier zu sehen. Ich hätte nicht vermutet,
dass unsere Arbeit das Justizdepartement interessiert.«
»Ihre Arbeit interessiert Leute, von denen man es
am wenigsten erwartet«, erwiderte der Staatsanwalt. Er fasste Mak
am Arm, führte ihn etwas weiter weg zu einem Fenster und fragte
flüsternd: »Wann können Sie uns die Pillen geben? Ich meine die
richtigen, für alle dreißig Minuten.«
»Sind Sie denn auch …?«, fragte Mak. »Ach, ja,
natürlich …«
Der Staatsanwalt schüttelte leidvoll den Kopf und
verdrehte seufzend die Augen.
»Unser Segen und unser Fluch«, sagte er. »Das Glück
unseres Staates und der Kummer seiner Regierenden. Massaraksch, ich
bin schrecklich froh, dass Sie am Leben sind, Mak! Ich muss
gestehen, dass Ihr Fall einer der wenigen in meiner Laufbahn war,
die ein bitteres Gefühl der Unzufriedenheit in mir hinterließen.
Nein, nein, versuchen Sie nicht, das zu bestreiten: Nach den
Buchstaben des Gesetzes waren Sie schuldig, von dieser Seite her
ist alles in Ordnung. Sie haben einen Turm angegriffen, wohl sogar
einen Gardisten getötet - dafür streichelt einem niemand über den
Kopf. Und doch … Ich gestehe, meine Hand hat gezittert, als ich Ihr
Urteil unterschrieb, wie wenn ich ein Kind hätte verurteilen
müssen, nehmen Sie’s mir nicht übel. Und letzten Endes war das
Ganze doch unser Einfall gewesen, nicht Ihrer, und die
Verantwortung liegt …«
»Ich nehm’s Ihnen nicht übel«, unterbrach ihn Mak.
»Und Sie sind nicht weit von der Wahrheit entfernt, der Unfug mit
diesem Turm war wirklich kindisch. Gott sei Dank hat man uns damals
nicht erschossen.«
»Das war alles, was ich tun konnte«, sagte der
Staatsanwalt. »Ich erinnere mich, ich war sehr betroffen, als ich
von Ihrem Tod erfuhr …« Dann lachte er und drückte freundschaftlich
Maks Arm. »Ich bin sehr froh, dass es so gut ausgegangen ist. Und
sehr froh, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er sah auf die Uhr.
»Hören Sie, Mak, weshalb sind Sie hier? Nein, nein, ich habe nicht
vor, Sie festzunehmen, das ist nicht meine Sache, soll sich jetzt
die Militärkommandantur mit Ihnen befassen. Doch was machen Sie
hier, in diesem Institut? Sind Sie Chemiker? Noch dazu …« Er wies
auf den Streifen.
»Ich bin von allem ein bisschen«, antwortete Mak.
»Ein bisschen Chemiker, ein bisschen Physiker …«
»Ein bisschen im Untergrund.« Der Staatsanwalt
lachte gutmütig.
»Ein kleines bisschen«, entgegnete Mak
entschieden.
»Ein bisschen Zauberer …«, sagte der
Staatsanwalt.
Mak musterte ihn aufmerksam.
»Ein bisschen Fantast«, fuhr der Staatsanwalt fort,
»ein bisschen Abenteurer …«
»Das sind keine Fachgebiete«, wandte Mak ein,
»sondern Eigenschaften jedes anständigen Wissenschaftlers, wenn Sie
erlauben.«
»Und jedes anständigen Politikers«, fügte der
Staatsanwalt hinzu.
»Eine ungewöhnliche Wortverbindung«, parierte
Mak.
Der Staatsanwalt warf ihm einen fragenden Blick zu,
begriff dann und lachte erneut.
»Ja, die politische Tätigkeit hat ihre
Besonderheiten. Politik ist die Kunst, mit sehr schmutzigem Wasser
etwas sauber zu waschen. Lassen Sie sich nicht auf Politik ein,
Mak, sinken Sie nicht so tief, bleiben Sie bei Ihrer Chemie.« Er
sah auf die Uhr und sagte verdrossen: »Verdammt, ich habe jetzt gar
keine Zeit, und würde doch so gern mit Ihnen plaudern. Ich habe mir
Ihre Akte angesehen; Sie sind eine sehr interessante
Persönlichkeit, aber auch sicher sehr beschäftigt …«
»Ja«, stimmte Mak zu, »aber sicher nicht so
beschäftigt wie der Generalstaatsanwalt.«
»Aha«, erwiderte der Staatsanwalt und lächelte.
»Und dabei will Ihre Obrigkeit uns immerzu einreden, Sie würden Tag
und Nacht arbeiten. Das kann ich zum Beispiel von mir nicht
behaupten. Ein Generalstaatsanwalt hat mitunter freie Abende. Sie
werden sich wundern, aber ich habe eine Menge Fragen an Sie, Mak.
Ehrlich gesagt, wollte ich mich schon damals mit Ihnen unterhalten,
nach dem Prozess. Aber die Akten, wissen Sie, diese endlosen Akten
…«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte Mak. »Umso
mehr, als auch ich Fragen an Sie habe.«
Na, na, wies ihn der Staatsanwalt im Stillen
zurecht. Nicht so offenherzig, wir sind hier nicht allein. Laut
aber erwiderte er hocherfreut: »Wunderbar! Soweit es in meinen
Kräften steht … Doch jetzt, ich bitte um Entschuldigung, jetzt muss
ich eilen.«
Dann drückte er die riesige Pranke - die Pranke
seines Mak! Er hatte ihn gefangen, jawohl! Er zappelte schon an
seiner Angel! Herrlich hat er mitgespielt, dachte er. Zweifellos
möchte er mich treffen - und jetzt ziehe ich die Leine. Der
Staatsanwalt blieb in der Tür stehen, schnippte mit den Fingern und
wandte sich um.
»Verzeihen Sie, Mak, was machen Sie heute Abend?
Mir fällt gerade ein, dass ich freihabe …«
»Heute?«, fragte Mak. »Ehrlich gesagt, ich wollte
…«
»Kommen Sie zu zweit!«, rief der Staatsanwalt. »Das
ist sogar noch besser. Ich mache Sie mit meiner Frau bekannt, und
es wird ein reizender Abend. Ist Ihnen acht Uhr recht? Ich schicke
Ihnen den Wagen. Abgemacht?«
»Abgemacht.«
Abgemacht, frohlockte der Staatsanwalt, während er
durch die letzten Labors der Abteilung lief, lächelte, auf
Schultern klopfte, Hände drückte. Abgemacht, dachte er, während er
in Kaulquappes Arbeitszimmer das Protokoll unterschrieb. Abgemacht,
Massaraksch, abgemacht, klang es auf dem Heimweg triumphierend in
ihm nach.
Er gab dem Chauffeur entsprechende Instruktionen.
Er befahl dem Referenten, das Departement zu informieren, dass der
Herr Staatsanwalt beschäftigt sei. Er befahl ihm, niemanden zu
empfangen, das Telefon abzuschalten und sich selbst zum Teufel zu
scheren - aber bitte so, dass er die ganze Zeit über für ihn zu
erreichen sei. Er bestellte seine Frau zu sich, küsste sie auf den
Hals, wobei ihm flüchtig bewusst wurde, dass sie sich an die zehn
Tage nicht gesehen hatten, und bat sie, ein Abendessen
herzurichten, ein gutes, leichtes, delikates
Abendessen für vier Personen, bei Tisch recht liebenswürdig zu
sein und sich darauf einzustellen, einen sehr interessanten Mann
kennenzulernen. Und sie solle viele verschiedene Weine besorgen -
von den besten Sorten.
Danach verschanzte er sich in seinem Arbeitszimmer,
nahm sich wieder die grüne Mappe vor und dachte ein weiteres Mal
alles durch, von Anfang an. Nur einmal wurde er gestört: als ein
Kurier aus dem Militärdepartement den letzten Frontbericht brachte.
Die Front war zusammengebrochen. Irgendjemand hatte die Hontianer
auf die gelben Fahrzeuge aufmerksam gemacht, so dass sie in der
vergangenen Nacht nahezu 95 % der Emitterpanzer mit Atomgranaten
abgeschossen und vernichtet hatten. Über das Schicksal der
durchgebrochenen Truppen liefen keine Nachrichten mehr ein. Das war
das Ende. Das Ende des Krieges. Das Ende von General Schekagu und
General Odu, vom Bebrillten, von Teekessel, Wolke und anderen,
Unbedeutenderen. Gut möglich, dass es das Ende des Onkels war. Und
selbstredend wäre es das Ende des Schlaukopfs - wenn er kein
Schlaukopf wäre …
Er ließ den Bericht in einem Glas Wasser aufweichen
und lief im Kreis durch sein Arbeitszimmer. Er war ungeheuer
erleichtert. Zumindest wusste er jetzt genau, wann man ihn nach
oben beordern würde. Als Erster wäre der Schwiegervater dran; dann
würden sie mindestens einen Tag brauchen, um ihre Wahl zwischen
Hampelmann und Zahn zu treffen. Dann dürften sie mit dem Bebrillten
und Wolke beschäftigt sein. Also noch ein Tag. Teekessel erledigen
sie nebenbei; General Schekagu hingegen würde sie allein mindestens
zwei Tage kosten. Und danach, erst danach … Aber dann würde es für
sie kein »Danach« mehr geben.
Er blieb in seinem Arbeitszimmer, bis sein Gast
eintraf.
Dieser machte den allerbesten Eindruck. Er war
großartig. Er war so großartig, dass die Frau des Staatsanwalts bei
Maks Erscheinen gleich zwanzig Jahre jünger wurde. Sie war eine
Dame der Gesellschaft (im scheußlichsten Sinne des Wortes). Sie
war kalt, und ihr Mann nahm sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr
als weibliches Wesen wahr, sondern als alten Kampfgefährten. Aber
kaum hatte sie Mak gesehen, wirkte sie nicht nur zwanzig Jahre
jünger, sondern verhielt sich auch vollkommen natürlich, ja, hätte
sich nicht natürlicher verhalten können, hätte sie gewusst, welche
Rolle dieser Gast in ihrem Schicksal spielen sollte …
»Aber warum sind Sie allein?«, fragte sie
verwundert. »Mein Mann hatte von einem Abendessen für vier
gesprochen …«
»In der Tat«, bestätigte der Staatsanwalt. »Ich
hatte Sie so verstanden, dass Sie mit Ihrem Mädchen kämen. Ich
erinnere mich an sie. Ihretwegen wäre sie fast ins Unglück
geraten.«
»Sie ist ins Unglück geraten«, sagte Mak ruhig.
»Aber darüber reden wir später, wenn Sie erlauben. Wohin soll ich
mich setzen?«
Sie speisten lange, tranken ein wenig, waren heiter
und lachten viel. Der Staatsanwalt erzählte den neuesten Klatsch.
Seine Frau kolportierte gut gelaunt ein paar schlüpfrige Witze, und
Mak beschrieb in humorigem Ton seinen Flug mit dem Bomber. Während
der Staatsanwalt über diese Schilderung lachte, dachte er entsetzt,
was wohl jetzt mit ihm wäre, wenn auch nur eine Rakete ihr Ziel
getroffen hätte.
Als sie mit dem Essen fertig waren, entschuldigte
sich die Frau des Staatsanwalts und schlug den Männern vor zu
beweisen, dass sie in der Lage seien, zumindest eine Stunde ohne
die Gesellschaft einer Dame auszukommen. Der Staatsanwalt nahm die
Herausforderung an, fasste Mak am Arm und führte ihn in sein
Arbeitszimmer, um mit ihm einen Wein zu trinken, wie ihn nur etwa
dreißig Leute im Land kosten durften.
Sie machten es sich in einer gemütlichen Ecke
bequem, saßen in weichen Sesseln an einem niedrigen Tisch, nippten
an dem Wein und sahen einander an. Mak war sehr ernst. Dieser
kluge Bursche ahnte offensichtlich, worüber sie reden würden. Und
so entschloss sich der Staatsanwalt plötzlich, auf seinen
ursprünglichen Gesprächsplan zu verzichten, der spitzfindig war und
zermürbend, sich auf halbe Anspielungen stützte sowie auf
allmähliche gegenseitige Offenbarungen. Radas Schicksal, die
Intrige des Wanderers, die Ränke der Unbekannten Väter - alles das
war jetzt ohne Bedeutung. Mit erstaunlicher, ja, fast verzweifelter
Klarheit begriff er, dass all seine Meisterschaft in derartigen
Gesprächen bei diesem Menschen überflüssig war. Mak würde entweder
einverstanden sein, oder er würde ablehnen. Das war sehr einfach,
wie auch die Tatsache, dass der Staatsanwalt entweder weiterleben
oder in ein paar Tagen zermalmt sein würde.
Ihm zitterten die Finger, schnell stellte er sein
Glas auf den Tisch und begann ohne Umschweife: »Ich weiß, Mak, dass
Sie im Untergrund kämpfen, Mitglied des Stabes und ein aktiver
Gegner der herrschenden Ordnung sind. Außerdem sind Sie ein
geflohener Sträfling und der Mörder einer Panzerbesatzung der
Spezialabteilung … Nun zu mir. Ich bin der Generalstaatsanwalt,
eine Vertrauensperson der Regierung, in die höchsten
Staatsgeheimnisse eingeweiht - und ebenfalls ein Feind der
bestehenden Ordnung. Ich biete Ihnen den Sturz der Unbekannten
Väter an. Wenn ich sage ›Ihnen‹, dann meine ich Sie und nur Sie:
Ihre Organisation betrifft das nicht. Ich bitte Sie zu verstehen,
dass die Einmischung des Untergrunds die Sache nur verdirbt. Ich
schlage Ihnen ein Komplott vor, das auf der Kenntnis des
wichtigsten Staatsgeheimnisses basiert. Ich werde Ihnen dieses
Geheimnis mitteilen. Einzig wir beide dürfen es wissen. Erfährt es
ein Dritter, werden wir umgehend liquidiert. Bedenken Sie, dass es
im Untergrund und seinem Stab von Spitzeln wimmelt. Kommen Sie also
nicht auf die Idee, sich jemandem anzuvertrauen, insbesondere nicht
Ihren nahen Freunden.«
In einem Zug leerte er sein Glas, ohne zu
schmecken, was er da trank.
»Ich weiß, wo die Zentrale liegt. Sie sind der
einzige Mensch, der in der Lage ist, sich dieser Zentrale zu
bemächtigen. Ich biete Ihnen dafür, wie auch für die
nächstfolgenden Schritte, einen ausgearbeiteten Plan an. Sie
verwirklichen diesen Plan und stellen sich an die Spitze des
Staates. Ich bleibe als Ihr politischer und ökonomischer Berater
bei Ihnen, weil Sie von diesen Dingen nichts verstehen. Ihr
politisches Programm ist mir in groben Zügen bekannt: die
Verwendung der Zentrale zur Umerziehung des Volkes im Sinne von
Humanität und Moral, und darauf aufbauend die Errichtung einer
gerechten Gesellschaftsordnung in baldiger Zukunft. Ich habe keine
Einwände. Ich bin schon deshalb einverstanden, weil nichts
schlimmer sein könnte als die gegenwärtige Situation. Das war’s.
Ich habe alles gesagt. Jetzt haben Sie das Wort.«
Mak schwieg. Er drehte das teure Glas mit dem
kostbaren Wein in der Hand und schwieg. Der Staatsanwalt wartete.
Er hatte das Gespür für seinen Körper verloren. Ihm schien, als sei
er gar nicht da, als schwebe er irgendwo in der Himmelsleere, sehe
hinunter und erblicke dort eine gemütliche, gedämpft beleuchtete
Zimmerecke, den schweigenden Mak und daneben, in einem Sessel,
etwas Totes, Erstarrtes, Stummes …
Dann fragte Mak: »Wie groß ist meine Chance, die
Eroberung der Zentrale zu überleben?«
»Fünfzig zu fünfzig«, antwortete der
Staatsanwalt.
Genauer gesagt: Er glaubte es zu antworten, denn
Mak runzelte die Stirn und wiederholte seine Frage, diesmal
lauter.
»Fünfzig zu fünfzig.« Die Stimme des Staatsanwalts
klang heiser. »Vielleicht mehr. Ich weiß es nicht.«
Wieder schwieg Mak lange.
»Gut«, sagte er endlich. »Wo befindet sich die
Zentrale?«
19
Gegen Mittag klingelte das Telefon. Maxim nahm den
Hörer ab. Die Stimme des Staatsanwalts sagte: »Bitte Herrn
Sim.«
»Am Apparat«, erwiderte Maxim. »Guten Tag.«
Er spürte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen
war.
»Er ist zurück«, sagte der Staatsanwalt. »Handeln
Sie sofort. Ist das möglich?«
»Ja«, presste Maxim durch die Zähne. »Aber Sie
hatten mir etwas versprochen …«
»Ich habe noch nichts erreicht«, erwiderte der
Staatsanwalt. In seinen Worten lag Panik. »Und jetzt ist es zu
spät. Handeln Sie unverzüglich, Sie dürfen keine Minute warten.
Hören Sie, Mak?«
»Gut«, stimmte Maxim zu. »War das Ihrerseits
alles?«
»Er ist schon unterwegs. In dreißig, vierzig
Minuten dürfte er bei Ihnen eintreffen.«
»Verstanden. Ist das jetzt alles?«
»Ja. Los, Mak, los. Gott mit Ihnen.«
Maxim warf den Hörer auf und überlegte einige
Sekunden. Massaraksch, alles geht drunter und drüber. Aber ich
werde schon noch Zeit finden zum Nachdenken. Er griff wieder nach
dem Telefon.
»Professor Allu Sef, bitte.«
»Ich höre!«, bellte Sef.
»Hier ist Mak.«
»Massaraksch, ich hatte doch gebeten, mich heute in
Ruhe zu lassen.«
»Halt die Luft an und hör zu. Fahr sofort runter in
die Empfangshalle und warte dort auf mich.«
»Massaraksch, ich bin beschäftigt!«
Maxim knirschte mit den Zähnen und schielte zum
Laboranten hinüber. Der arbeitete fleißig an seinem Rechner.
»Sef«, begann Maxim noch einmal. »Fahr sofort in
die Halle. Verstehst du? Sofort!« Er unterbrach die Verbindung und
wählte Wildschweins Nummer. Er hatte Glück: Wildschwein war zu
Hause. »Hier Mak. Gehen Sie hinaus auf die Straße und warten Sie
dort auf mich, ich habe eine dringende Angelegenheit.«
»Gut«, sagte Wildschwein. »Ich komme.«
Nachdem Maxim den Hörer aufgelegt hatte, griff er
in eins der Schreibtischfächer und zog die erstbeste Akte heraus,
blätterte darin und überlegte fieberhaft, ob er an alles gedacht
hatte. Der Wagen steht in der Garage, die Bombe liegt im
Kofferraum, der Benzintank ist gefüllt. Eine Waffe habe ich nicht -
was soll’s, ich brauche keine. Die Papiere stecken in meiner
Tasche, Wildschwein wartet. Sehr gut, dass mir Wildschwein
eingefallen ist. Freilich, er kann ablehnen. Aber nein, das wird er
nicht tun. Ich würde es auch nicht. Das wär’s … Anscheinend
alles.
Er wandte sich an den Laboranten: »Ich muss weg.
Sag, dass ich im Departement für Bauwesen bin. In ein, zwei Stunden
komme ich zurück. Bis dann.«
Er klemmte sich die Akte unter den Arm, verließ das
Labor und lief die Treppe hinunter. Sef rannte bereits in der Halle
hin und her. Als er Maxim erblickte, blieb er stehen, verschränkte
die Hände auf dem Rücken und zog eine Grimasse.
»Welcher Satan, Massaraksch …«, rief er von
fern.
Ohne sich aufzuhalten, zog Maxim ihn zum
Ausgang.
»Was ist los?« Sef sträubte sich. »Wohin?
Weshalb?«
Maxim schob ihn durch die Tür und zerrte ihn auf
dem Asphaltweg um die Ecke zu den Garagen. Ringsum war alles leer,
nur ein Rasenmäher puffte und knatterte auf einem entfernten
Wiesenstück.
»Wohin schleppst du mich denn?«, schrie Sef.
»Sei still«, sagte Maxim. »Und hör zu. Sammle
sofort alle von uns. Alle, an die du rankommst. Zum Teufel mit
deiner
Fragerei! Hör zu! Alle, an die du rankommst! Mit Waffen! Gegenüber
vom Tor steht ein Pavillon, kennst du den? Verschanzt euch dort und
wartet. In etwa dreißig Minuten … Hörst du zu, Sef?«
»Und weiter?«, fragte Sef ungeduldig.
»In etwa dreißig Minuten wird der Wanderer zum Tor
fahren …«
»Er ist zurück?«
»Unterbrich mich nicht. Ungefähr in dreißig Minuten
wird der Wanderer auf das Tor zufahren. Wenn nicht, ist’s gut. Dann
bleibt ihr einfach sitzen und wartet auf mich. Kommt er aber -
erschießt ihn!«
»Bist du übergeschnappt?« Sef blieb stehen. Maxim
ging weiter, und Sef lief ihm fluchend nach. »Wir werden doch alle
abgeknallt, Massaraksch! Die Wache! Ringsum sind lauter
Spitzel.«
»Tut, was in euren Kräften steht«, sagte Maxim.
»Der Wanderer muss beseitigt werden.«
Sie waren vor der Garage angelangt. Er lehnte sich
mit ganzer Kraft gegen den Riegel und schob die Tür auf.
»So eine Schnapsidee«, murrte Sef. »Weshalb? Warum
den Wanderer? Ist doch ein recht anständiger Kerl, hier mögen ihn
alle …«
»Wie du willst«, entgegnete Maxim kalt. Er öffnete
den Kofferraum, fühlte durch das Ölpapier den Zeitzündermechanismus
und schlug die Haube wieder zu. »Mehr kann ich dir jetzt nicht
erklären. Wir haben eine Chance. Eine einzige.« Er setzte sich ans
Steuer und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. »Und noch was:
Erledigt ihr diesen anständigen Kerl nicht, erledigt er mich. Dir
bleibt wenig Zeit. Handle, Sef.«
Er warf den Motor an und fuhr im Rückwärtsgang
langsam aus der Garage.
Sef stand an der Tür. Zum ersten Mal sah Maxim ihn
so: verblüfft, fassungslos, erschrocken. »Leb wohl, Sef«, flüsterte
er für alle Fälle vor sich hin.
Der Wagen rollte zum Tor. Unbewegten Gesichts und
ohne Eile notierte der Gardist die Nummer, öffnete den Kofferraum,
schaute hinein, schloss ihn wieder, kehrte zu Maxim zurück und
fragte streng: »Was führen Sie mit sich?«
»Ein Refraktometer.« Maxim hielt ihm seinen
Passierschein und die Ausfuhrerlaubnis hin.
»Refraktometer RL-7, Inventarnummer …«, brabbelte
der Gardist. »Ich schreib’s gleich auf.«
In aller Ruhe kramte er in seiner Tasche nach dem
Notizbuch.
»Bitte etwas schneller, ich habe es eilig«, bat
Maxim.
»Wer hat die Genehmigung unterschrieben?«
»Weiß ich nicht, wahrscheinlich der
Verwaltungschef.«
»Sie wissen es nicht. Hätte er leserlich
unterschrieben, wäre alles in Ordnung.«
Endlich öffnete er das Tor. Maxim lenkte seinen
Wagen auf die Straße und holte aus ihm heraus, was er hergab.
Misslingt es, dachte er, und bleibe ich am Leben, muss ich
verschwinden. Verfluchter Wanderer, er hat’s gespürt, dieser
Hundesohn, ist zurückgekehrt. Und was mache ich, wenn’s gelingt?
Nichts ist vorbereitet, Schlaukopf hat weder einen Grundriss des
Palastes noch Fotografien der Väter besorgen können. Die Jungs
stehen nicht bereit, wir haben keinen Aktionsplan. Verdammter
Wanderer! Drei Tage hätte ich noch zum Ausarbeiten des Plans
gehabt. Wahrscheinlich muss ich es so machen: der Palast, die
Väter, Telegraf und Telefon, die Bahnhöfe, eine Eildepesche an die
Straflager - der General soll all unsere Leute sammeln und
herkommen. Massaraksch, ich habe keine Ahnung, wie man die Macht
ergreift. Und dann ist da ja noch die Garde, die Armee und der
Stab, Massaraksch! Die werden doch sofort aktiv! Mit ihnen muss man
anfangen. Nun, das ist Wildschweins Sache, er wird sich gern damit
befassen, kennt sich ja aus. Aber irgendwo in der Ferne gibt’s noch
die weißen Submarines. Massaraksch, es ist doch noch Krieg!
Er schaltete das Radio ein. Über einen schmissigen
Marsch hinweg schrie ein Sprecher mit absichtlich heiserer Stimme:
»… wieder und wieder ist vor der ganzen Welt die unendliche
Weisheit der Unbekannten Väter demonstriert worden - diesmal ihre
militärische Weisheit! Als sei von neuem das strategische Genie
Gabellus und des Eisernen Kriegers erwacht! Als hätten sich von
neuem die ruhmreichen Schatten unserer kriegerischen, unbesiegbaren
Ahnen erhoben und an der Spitze unserer Panzerkolonnen in den Kampf
gestürzt! Die hontianischen Provokateure und Kriegstreiber haben
solch eine Niederlage erlitten, dass sie fortan niemals mehr wagen
werden, die Nase über ihre Grenze zu stecken oder die Hand nach
unserem heiligen Land auszustrecken! Armadas von Bombenflugzeugen,
Raketen und Lenkgeschossen haben die hontianischen
Möchtegern-Krieger auf unsere Städte gehetzt, doch hat nicht die
Strategie brutaler Gewalt und gierigen Drucks gesiegt, sondern
unsere weise Strategie der genauesten Berechnung und ständigen
Bereitschaft zur Abwehr des Feindes. Nein, nicht vergebens haben
wir Entbehrungen erduldet, als wir die letzten Groschen für die
Stärkung der Verteidigung, für die Schaffung des undurchdringlichen
Panzers der Raketenabwehr ausgegeben haben! ›Unser RAS hat auf der
Welt nicht seinesgleichen‹, erklärte erst vor einem halben Jahr der
Feldmarschall im Ruhestand, der zweifache Träger des
Goldbannerordens Isa Petrozu. Alter Kämpfer, du hattest Recht.
Keine einzige Bombe, keine Rakete, kein Geschoss sind auf das
heilige Land der Unbekannten Väter gefallen! ›Das unüberwindliche
Netz der Stahltürme ist nicht nur ein unbezwingbarer Schild, es ist
ein Symbol des Genies und übermenschlichen Scharfsinns derjenigen,
denen wir alles verdanken - unserer Unbekannten Väter‹, schreibt in
der heutigen Ausgabe …«
Maxim schaltete das Radio aus. Ja, der Krieg ist
wohl zu Ende. Aber wer weiß, was sie sich sonst noch alles
überlegen.
Maxim verließ die Hauptstraße, bog in eine schmale Gasse zwischen
zwei hohen Wolkenkratzern aus rosafarbenem Stein ein und holperte
über das Kopfsteinpflaster zu einem baufälligen, über die Jahre
schwarz gewordenen Häuschen. Wildschwein wartete schon; an einen
Laternenmast gelehnt, rauchte er eine Zigarette. Als der Wagen
hielt, warf er den Stummel weg, zwängte sich durch die kleine
Autotür und setzte sich neben Maxim. Er war ruhig und beherrscht,
wie immer.
»Guten Tag, Mak«, sagte er. »Was ist
passiert?«
Maxim wendete und fuhr wieder auf die Hauptstraße.
»Wissen Sie, was eine thermische Bombe ist?«, fragte er.
»Ich habe davon gehört«, erwiderte
Wildschwein.
»Gut. Hatten Sie irgendwann mit Synchronzündern zu
tun?«
»Gestern zum Beispiel.«
»Ausgezeichnet.«
Einige Zeit fuhren sie schweigend. Hier war viel
Verkehr, und Maxim musste sich konzentrieren, um sich zwischen
riesigen Lastwagen und alten, stinkenden Autobussen
hindurchzulavieren, keinen Wagen zu streifen und sich von keinem
streifen zu lassen, grünes Licht zu erwischen, und dann wieder
grünes Licht zu erwischen, um zumindest die klägliche
Geschwindigkeit zu halten, in der sie vorankamen. Schließlich
schoss ihr Wagen auf die Waldchaussee hinaus - auf jene ihm gut
bekannte, rechts und links von riesigen Bäumen gesäumte
Autobahn.
Komisch, dachte Maxim plötzlich. Genau auf dieser
Straße bin ich in die hiesige Welt gekommen, genauer gesagt, der
arme Fank hat mich hineinchauffiert, und ich habe nichts begriffen
und geglaubt, er sei Spezialist für Fremde aus dem All. Nun rolle
ich auf derselben Straße vielleicht wieder aus dieser Welt hinaus -
womöglich sogar aus aller Welt - und nehme zudem einen wertvollen
Menschen mit. Er warf einen Blick
auf Wildschwein. Dessen Gesicht war ruhig, er saß still, den
Ellenbogen seiner Prothese ans Fenster gestützt, und wartete, bis
ihm das Nötige erklärt würde. Wahrscheinlich wunderte er sich,
wahrscheinlich war er aufgeregt, doch er ließ es sich nicht
anmerken, und Maxim fühlte Stolz, dass so ein Mensch ihm vertraute,
sich ohne Bedenken auf ihn verließ.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Wildschwein«, sagte
er.
»Tatsächlich?« Wildschwein drehte ihm sein hageres,
gelbliches Gesicht zu.
»Wissen Sie noch, einmal, bei einer Sitzung des
Stabes, haben Sie mich beiseitegenommen und mir ein paar wertvolle
Ratschläge gegeben.«
»Ich erinnere mich.«
»Dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich habe Ihren Rat
beherzigt.«
»Ja, das ist mir nicht entgangen. Sie haben mich
damit sogar ein bisschen enttäuscht.«
»Aber Sie hatten damals Recht«, sagte Maxim. »Ich
habe auf Sie gehört und dadurch nun die Möglichkeit, in die
Zentrale vorzudringen.«
Wildschwein zuckte zusammen. »Jetzt?«, fragte er
schnell.
»Ja. Wir müssen uns beeilen, ich konnte nichts
vorbereiten. Möglich, dass man mich tötet und dann alles vergebens
war. Für den Fall habe ich Sie mitgenommen.«
»Ich höre.«
»Ich gehe in das Gebäude, Sie bleiben im Wagen.
Nach einiger Zeit wird es Alarm geben, eventuell sogar eine
Schießerei. Das hat Sie nicht zu interessieren, Sie warten
weiterhin im Wagen. Sie warten …« Maxim überschlug es in Gedanken.
»Sie warten zwanzig Minuten. Erhalten Sie in dieser Zeit einen
Strahlenschub, ist alles glatt gelaufen. Und Sie können glücklich
lächelnd in Ohnmacht fallen. Wenn aber nicht - dann steigen Sie
aus. Im Kofferraum liegt eine Bombe mit Synchronzünder, der auf
zehn Minuten eingestellt ist.
Legen Sie sie aufs Pflaster, schalten Sie den Zünder ein und
fahren Sie los. Panik wird ausbrechen, große Panik. Versuchen Sie,
diese Panik so gut wie möglich zu nutzen.«
Wildschwein dachte kurz nach.
»Gestatten Sie mir, jemanden anzurufen?«, fragte
er.
»Nein«, antwortete Maxim.
»Schauen Sie«, erklärte Wildschwein, »wenn Sie
nicht umkommen, brauchen Sie Leute, die bereit sind zu kämpfen.
Tötet man Sie aber, brauche ich diese Leute. Sie haben mich doch
für den Fall mitgenommen, dass man Sie tötet. Allein kann ich nur
einen Anfang machen, und die Zeit wird knapp sein, so dass die
anderen beizeiten benachrichtigt werden sollten. Genau das will ich
tun.«
»Reden Sie vom Stab?«, fragte Maxim
feindselig.
»Ganz und gar nicht. Ich habe meine eigene
Gruppe.«
Maxim schwieg. Der fünfstöckige graue Bau mit der
Steinmauer davor war schon zu sehen. Maxim kannte ihn gut …
Irgendwo dort huschte Fischi durch die Gänge, brüllte und geiferte
aufgebracht das Nilpferd. Dort war die Zentrale. Der Kreis schloss
sich.
»Einverstanden«, murmelte Maxim. »Am Eingang ist
ein Münzfernsprecher. Wenn ich das Gebäude betreten habe - nicht
früher! -, können Sie aussteigen und telefonieren.«
»Gut«, sagte Wildschwein.
Sie näherten sich der Autobahnausfahrt. Maxim
erinnerte sich plötzlich an Rada und versuchte sich auszumalen, was
mit ihr würde, wenn er nicht zurückkehrte. Schlecht würde es ihr
ergehen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde man sie, im
Gegenteil, auch freilassen. Dennoch wäre sie allein. Gai nicht da,
ich nicht da. Armes Mädchen …
»Haben Sie Familie?«, fragte er Wildschwein.
»Ja. Meine Frau.«
Maxim biss sich auf die Lippe. »Verzeihen Sie, dass
es sich so unglücklich gefügt hat«, bat er.
»Das macht nichts.« Wildschweins Stimme klang
ruhig. »Ich habe mich verabschiedet. Ich verabschiede mich immer,
wenn ich das Haus verlasse. Das hier ist also die Zentrale? Wer
hätte das gedacht.«
Maxim hielt auf dem Parkplatz, nachdem er das Auto
zwischen einen klapprigen Kleinwagen und eine Luxuslimousine der
Regierung gezwängt hatte.
»Das war’s«, seufzte er. »Wünschen Sie mir
Erfolg.«
»Von ganzem Herzen«, erwiderte Wildschwein. Seine
Stimme brach, und er räusperte sich. »Dass ich diesen Tag noch
erlebe …«
Maxim lehnte die Wange gegen das Steuer. »Schön
wäre es, diesen Tag zu überleben«, sagte er. »Den Abend zu sehen
…«
Wildschwein sah ihn besorgt an.
»Ich habe keine Lust zu gehen«, erklärte Maxim.
»Gar keine Lust. Übrigens, Wildschwein, merken Sie sich und
erzählen Sie auch Ihren Freunden, dass Sie nicht auf der inneren
Oberfläche einer Kugel leben. Sie leben auf ihrer äußeren
Oberfläche. Und es gibt eine Vielzahl solcher Kugeln auf der Welt.
Auf einigen lebt man wesentlich schlechter als bei Ihnen, auf
anderen sehr viel besser. Nirgendwo aber lebt man dümmer. Sie
glauben mir nicht? Ach, scheren Sie sich zum Teufel … Ich muss
los.«
Er stieß die Tür auf und stieg aus, überquerte den
asphaltierten Parkplatz und ging, Stufe für Stufe, die steinerne
Treppe hinauf. In seiner Tasche befand sich ein Passierschein für
den Eingang, ausgestellt vom Generalstaatsanwalt, ein Passierschein
für den Inneren Bereich, den der Staatsanwalt irgendwo für ihn
gestohlen hatte, sowie eine einfache rosa Karte - als Ersatz für
einen weiteren Passierschein, den der Staatsanwalt weder hatte
ausstellen noch für ihn stehlen können. Es war heiß, der Himmel
glänzte wie Aluminium. Dieser undurchdringliche Himmel der
bewohnten Insel … Die steinernen Stufen sengten durch die
Schuhsohlen, aber vielleicht
schien es ihm auch nur so. Es war töricht, das ganze Unterfangen
stümperhaft. Warum, zum Teufel, soll ich es tun, wenn sie es nicht
anständig vorbereitet haben? Womöglich sitzt dort nicht ein
Offizier, sondern zwei. Oder es warten drei Offiziere in dem Raum,
die MPs im Anschlag. Rittmeister Tschatschu hatte mit einer Pistole
geschossen, das Kaliber ist das Gleiche, nur werden es mehr Kugeln
sein. Und ich bin nicht mehr der Alte … Sie hat mich tüchtig
gebeutelt, meine bewohnte Insel. Entkommen lassen sie mich diesmal
nicht. Ich bin ein Schwachkopf, war einer und bin einer geblieben.
Habe mich vom Herrn Staatsanwalt kaufen, mich an seine Angel locken
lassen. Wieso hat er mir vertraut? Unbegreiflich. Schön wäre es,
jetzt in die Berge zu verschwinden und reine Gebirgsluft
einzuatmen. Bin noch nicht dazugekommen. Dabei liebe ich die Berge
… Er ist doch ein kluger, argwöhnischer Mensch - und überantwortet
mir so mir nichts, dir nichts das Allerheiligste, das Größte und
Wichtigste in seiner Welt - aber nein, es ist abscheulich,
ekelerregend und niederträchtig. Verflucht soll es sein, dieses
Allerheiligste, Massaraksch, und noch einmal Massaraksch, und
dreiunddreißigmal Massaraksch!
Er öffnete die Glastür und hielt dem Gardisten den
ersten Passierschein hin. Dann ging er durch die Halle - vorbei an
dem Mädchen mit der Brille, das noch immer am Stempeln war, und
vorbei am Empfangschef mit dem lächerlichen Kopfputz, der sich am
Telefon noch immer mit jemandem stritt. Bevor er in den Gang
einbog, zeigte er einem anderen Gardisten den Passierschein für den
Inneren Bereich. Der Gardist nickte ihm zu - sie waren schon,
konnte man sagen, Bekannte, denn in den letzten drei Tagen hatte
Maxim sich täglich hier gezeigt.
Weiter.
Er ging einen langen Flur ohne Türen entlang und
bog dann nach links. Hier war er erst zum zweiten Mal. Das erste
Mal - vorgestern, aus Versehen. (»Wohin wollen Sie eigentlich,
mein Herr?« - »Ich will eigentlich ins Zimmer sechzehn, Korporal.«
- »Sie sind hier falsch, mein Herr. Sie müssen den nächsten Gang
entlang.« - »Bitte um Verzeihung, Korporal, entschuldigen Sie.
Tatsächlich …«)
Jetzt reichte er dem Korporal seinen Passierschein
für den Innenbereich und warf einen Blick auf die zwei baumstarken
Gardisten mit Maschinenpistolen, die unbeweglich zu beiden Seiten
der gegenüberliegenden Tür standen. Dann schielte er zu der Tür,
durch die er zu gehen hatte: »Abteilung für Sondertransporte«. Der
Korporal studierte aufmerksam den Passierschein, drückte dann, die
Augen immer noch auf den Schein gerichtet, einen Knopf in der Wand,
und hinter der Tür ertönte ein Klingelzeichen. Sicher macht sich
jetzt der Offizier bereit, der dort neben dem grünen Vorhang sitzt.
Oder zwei Offiziere. Vielleicht sogar drei … Und warten darauf,
dass ich hereinkomme. Erschrecke ich oder weiche zurück, stehen
gleich der Korporal und die Gardisten vor mir, die die Tür ohne
Schildchen bewachen. Und hinter dieser Tür hockt sicher ein ganzer
Haufen von Soldaten …
Der Korporal gab ihm den Passierschein zurück.
»Bitte. Halten Sie Ihre Papiere bereit.«
Maxim zog seine rosafarbene Pappe hervor, öffnete
die Tür und trat ein.
Massaraksch!
So war das also.
Nicht ein Zimmer, sondern drei. In einer Flucht.
Und erst ganz am Ende die grüne Portiere. Bis zu diesem Vorhang ein
Teppichläufer. Mindestens dreißig Meter.
Und nicht zwei Offiziere, nicht drei Offiziere:
Sechs!
Zwei Feldgraue im ersten Zimmer. Ihre
Maschinenpistolen zielen auf ihn.
Zwei im Schwarz der Garde im zweiten Zimmer. Sie
haben noch nicht auf ihn angelegt, sind aber dazu bereit.
Zwei Zivilisten neben dem grünen Vorhang. Einer hat
den Kopf weggedreht und schaut irgendwohin zur Seite.
Los, Mak!
Und dann stürmte er vor. Es wurde eine Art
Dreisprung aus dem Stand. Er konnte noch denken: wenn nur keine
Sehne reißt … Heftig schlug die Luft gegen sein Gesicht.
Dann die grüne Portiere. Der Zivilist zur Linken
sieht zur Seite, sein Hals ist ungeschützt. Die Handkante.
Der rechte blinzelt wohl gerade. Seine Lider sind
unbeweglich und halb geschlossen. Von oben auf den Scheitel - und
in den Lift.
Dunkel. Wo ist der Knopf? Massaraksch, wo ist der
Knopf?
Langsam und dumpf hämmerte ein Maschinengewehr,
gleich darauf ein zweites. Nichts zu mäkeln, ausgezeichnete
Reaktion. »Tat-tat-tat … tat-tat-tat … tat-tat-tat …« Aber bis
jetzt schießen sie nur gegen die Tür, dahin, wo sie mich gesehen
haben. Sie haben noch nicht begriffen, was passiert ist. Handeln im
Reflex.
Der Knopf!
Hinter dem Vorhang gleitet langsam und schräg ein
Schatten zu Boden - einer der Zivilisten.
Massaraksch, da ist er ja, an der sichtbarsten
Stelle!
Maxim drückte auf den Knopf, und die Kabine sank
rasch hinab - ein Schnelllift. Jetzt fing das Bein an zu schmerzen.
Doch eine Zerrung? Aber das ist im Moment unwichtig. Massaraksch,
ich bin ja schon durch!
Der Lift hielt. Maxim sprang hinaus, und gleich
darauf krachte und klirrte es im Schacht. Späne flogen. Von oben
feuerten sie aus drei Läufen auf das Dach der Kabine. Gut, gut,
schießt nur … Gleich wird ihnen klar, dass sie nicht schießen,
sondern den Lift heraufholen und dann selbst hinunterfahren müssen.
Das haben sie vergessen, haben den Kopf verloren …
Er blickte um sich. Massaraksch, wieder war es
anders. Nicht ein Eingang, sondern drei. Drei völlig gleiche Tunnel
… Aha, das sind einfach Reservegeneratoren. Einer ist in Betrieb,
zwei werden gewartet. Welcher ist jetzt eingeschaltet? Anscheinend
dieser.
Er rannte in den mittleren Tunnel. Hinter seinem
Rücken rumorte der Fahrstuhl. Nein, nein, schon zu spät. Nicht das
notwendige Tempo, ihr schafft es nicht … Obwohl, der Tunnel ist
lang, und der Fuß tut weh. Da, eine Kurve, nun kriegt ihr mich
sicher nicht mehr. Maxim lief bis zu den Generatoren, die unter
einer Stahlplatte brummten, blieb stehen, ließ die Arme sinken und
verharrte einige Sekunden. So, drei Viertel der Sache sind
erledigt, sogar sieben Achtel. Nur noch ein Klacks, die Hälfte
eines Vierunddreißigstels … Jetzt werden sie im Lift hinunterrasen
und in den Tunnel stürmen, aber sie haben bestimmt von nichts eine
Ahnung. Und dann wird die Depressionsstrahlung sie zurücktreiben.
Was kann jetzt noch passieren? Dass sie eine Gasgranate in den Gang
werfen. Kaum, woher sollten sie die haben. Alarm ist bestimmt schon
ausgelöst. Die Väter könnten natürlich die Depressionsbarriere
ausschalten. Aber dazu werden sie sich nicht entschließen und auch
nicht mehr dazu kommen: Sie müssten sich erst zusammensetzen, alle
fünf, müssten ihre fünf Schlüssel zusammenlegen und herausfinden,
ob das Ganze nicht doch ein böser Streich eines der ihren ist oder
eine Provokation. Nein wirklich, wer in aller Welt kann durch die
Strahlenschranke hierher vordringen? Der Wanderer, sofern er
heimlich einen Schutz entwickelt hat? Aber die sechs mit ihren
Maschinenpistolen würden ihn aufhalten. Ansonsten käme keiner
infrage. Na bitte, und während sie sich zanken und versuchen,
Klarheit zu gewinnen, bin ich hier fertig.
Hinter der Tunnelbiegung hämmerten im Dunkeln die
Maschinenpistolen. Ist erlaubt. Habe nichts dagegen … Maxim
beugte sich über die Verteileranlage, nahm vorsichtig das
Schutzgehäuse ab und schleuderte es in eine Ecke. Hm, ein ganz
primitives Ding. Gut, dass ich nicht vergessen habe, über die
hiesige Elektronik nachzulesen. Er steckte die Finger in die
Schaltung. Aber wenn ich das vergessen hätte? Oder der Wanderer
vorgestern zurückgekehrt wäre? Meine Herren! Massaraksch, was man
hier für elektrische Schläge abbekommt. Ja, dann wäre es mir wohl
so ergangen wie einem Embryomechaniker, der sich schnellstens
schlaumachen muss über … Ja, worüber? Über einen Dampfkessel? Nein,
würde ein Embryomechaniker kapieren. Über ein Kamelgespann? Ja,
über ein Kamelgespann! Also, du Embryomechaniker, würdest du damit
zurechtkommen? Wohl kaum … Massaraksch, warum haben sie hier nichts
isoliert. Aha, da bist du ja … Und nun, mit Gott, wie der Herr
Generalstaatsanwalt sagt …
Direkt vor dem Verteiler setzte er sich auf den
Fußboden und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war
getan. Ein mächtiges Depressionsfeld senkte sich auf das ganze
Land, vom Gebiet jenseits des Flusses bis zur hontianischen Grenze,
vom Ozean bis zum Alabasterkamm.
Die Maschinenpistolen hinter der Biegung waren
verstummt: Die Herren Offiziere befanden sich in Depression. Werde
mir gleich ansehen, wie das ist, Offiziere in Depression …
Der Herr Staatsanwalt wird sich zum ersten Mal in
seinem Leben über einen Strahlenschlag freuen. Aber ansehen wollte
ich ihn nicht …
Und die Unbekannten Väter, die nicht rechtzeitig
begriffen haben, was vor sich geht, krümmen sich jetzt vor Schmerz
und haben alle Hufe von sich gestreckt, wie Rittmeister Tschatschu
es zu nennen pflegte. Der liegt jetzt übrigens auch in tiefster
Depression, und dieser Gedanke entzückt mich geradezu.
Sef und die Jungs haben sicher auch alle Hufe von
sich gestreckt. Entschuldigt, Jungs, es muss sein.
Der Wanderer! Wie schön: Auch der schreckliche
Wanderer liegt jetzt da, hat seine riesigen Ohren auf den Fußboden
gebreitet … die größten Ohren im ganzen Land. Aber vielleicht haben
sie ihn ja auch schon erschossen. Das wäre noch besser.
Und Rada, meine arme kleine Rada, ist auch in
Depression. Macht nichts, mein Mädchen, das tut bestimmt nicht weh
und geht ja auch schnell vorüber.
Wildschwein …
Er sprang auf. Wie viel Zeit war vergangen? Er
stürzte durch den Tunnel zurück. Wildschwein hat sicher auch alle
viere von sich gestreckt, aber wenn er die Schießerei vorhin gehört
hatte, konnte er die Nerven verloren haben. Das war natürlich sehr
unwahrscheinlich, denn Wildschwein hatte gute Nerven, aber wer
weiß!
Er lief zum Lift und opferte noch eine Sekunde, um
sich die Herren Offiziere in Depression anzusehen. Der Anblick war
erschütternd: Alle drei hatten ihre Maschinenpistolen hingeworfen
und weinten, ohne Kraft, auch nur die Tränen abzuwischen. Gut,
dachte Maxim, weint ein bisschen, das ist gut, weint um meinen Gai,
um Amsel, um Gel, um meinen Förster. Vermutlich habt ihr seit eurer
Kindheit nicht mehr geweint, und mit Sicherheit nie um die, die ihr
umgebracht habt. Also weint wenigstens vor eurem Tod.
Der Lift brachte ihn im Nu hinauf. Die Zimmerflucht
war voller Menschen: Offiziere, Soldaten, Korporale, Gardisten,
Zivile - alle bewaffnet, und alle lagen und saßen traurig herum,
einige weinten laut, einer murmelte vor sich hin, schüttelte den
Kopf und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Und dort hatte
sich jemand erschossen … Massaraksch, die Schwarzen Strahlen waren
verheerend, nicht umsonst hatten die Väter sie nur für den Notfall
vorgesehen.
Er lief ins Vestibül, sprang über sich kraftlos
regende Gestalten hinweg und rannte die Steinstufen hinunter. Neben
seinem Wagen blieb er stehen und atmete erleichtert auf.
Wildschwein hatte die Nerven behalten: Er lag, die Augen
geschlossen und halb zur Seite gekippt, auf dem vorderen
Sitz.
Maxim holte die Bombe aus dem Kofferraum, streifte
das Ölpapier ab, klemmte sie vorsichtig unter den Arm und kehrte
ohne Eile zum Lift zurück. Sorgsam überprüfte er den Zünder,
schaltete das Uhrwerk ein, legte die Bombe in die Kabine und
drückte den Knopf. Die Kabine glitt hinunter; sie trug ein
Flammenmeer mit sich in die Unterwelt, das in zehn Minuten
explodieren würde. Genauer gesagt, in neun Minuten und einigen
Sekunden …
Im Wagen richtete Maxim Wildschwein vorsichtig auf,
setzte sich ans Steuer und fuhr den Wagen vom Parkplatz. Das graue
Gebäude ragte drohend über ihm empor - schwer, plump und dem
Untergang geweiht, voller Menschen, die zum Tode verurteilt und
nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen oder auch nur zu
begreifen, was geschah.
Das ist das Nest, dachte Maxim, das schreckliche
Schlangennest - vollgestopft mit Abschaum, mit eigens und
sorgfältig ausgesuchtem, erlesenem Abschaum. Hier, an diesem Ort,
hat man ihn konzentriert, damit er sein abscheuliches Werk
verrichte - per Radio, im Fernsehen, über die Strahlentürme. Alle
dort sind Feinde, und keiner von ihnen würde auch nur eine Sekunde
zögern, mich, Wildschwein, Sef, Rada oder meine anderen Freunde,
mir lieben Menschen, zu verraten, mit Kugeln zu durchsieben, zu
kreuzigen … Und doch ist es gut, dass ich mich erst jetzt an sie
erinnere. Vorher hätte mich dieser Gedanke gehindert, hätte Fischi
vor mir gesehen, den einzigen Menschen in diesem zum Untergang
verdammten Schlangennest … Ja, aber auch sie, Fischi … Was -
Fischi? Was weiß ich denn über sie? Dass sie mich sprechen gelehrt
und mein Bett gemacht hat? Lass Fischi aus dem Spiel, du weißt
sehr wohl, dass es nicht nur um sie geht, wies er sich zurecht. Die
Sache ist die: Mit dem heutigen Tag trittst du zum entschlossenen
Kampf an, zu einem Kampf auf Leben und Tod, wie alle ihn hier
kämpfen. Und du kämpfst gegen Schwachköpfe: gegen bösartige
Schwachköpfe, die von Strahlen verdummt wurden; gegen
hinterhältige, ignorante und habsüchtige Schwachköpfe, die diese
Strahlen angeordnet haben; gegen wohlmeinende Schwachköpfe, die mit
Hilfe der Strahlen aus bösartigen, vom Satan besessenen Marionetten
weichherzige, gute Marionetten machen wollen. Und sie alle werden
versuchen, dich und deine Freunde umzubringen und deine Sache zu
verderben. Weil - das merke dir und vergiss es nie! -, weil man auf
diesem Planeten kein anderes Mittel kennt, die Andersdenkenden zu
überzeugen … Hexenmeister hat gesagt: Möge dein Gewissen dich nicht
hindern, klar zu denken, und möge dein Verstand lernen, sofern
nötig, lauter zu sein als das Gewissen. Recht hatte er. Es ist eine
bittere Wahrheit, eine furchtbare Wahrheit. Was ich eben getan
habe, nennt man hier eine Heldentat. Und Wildschwein darf diesen
Tag erleben. Der Förster, Amsel, der Grüne und Gel Ketschef haben
an diesen Tag geglaubt wie an ein schönes Märchen, ebenso mein Gai
und noch …zig, ja Hunderte, Tausende von Menschen, die ich nie
gesehen habe. Und trotzdem ist mir unwohl dabei. Wenn ich möchte,
dass sie mir auch künftig vertrauen und mir folgen, darf ich nie
jemandem erzählen, dass ich meine größte Heldentat nicht in dem
Moment beging, als ich durch den Kugelregen lief, sondern jetzt, wo
ich noch Zeit hätte, zurückzukehren und die Bombe zu entschärfen;
aber stattdessen trete ich aufs Gas und fahre immer weiter weg von
diesem verfluchten Ort …
Er raste dieselbe Autobahn entlang, auf der Fank
und er vor einem halben Jahr in der Luxuslimousine gefahren waren -
vorbei an der endlosen Kolonne von Panzerspähwagen. Fank
hatte es eilig gehabt, um ihn eigenhändig dem Wanderer übergeben
zu können. Jetzt war klar, warum. Hat der Wanderer schon damals
gewusst, dass ich unempfindlich gegen die Strahlung bin, nichts
verstehe und er mich nach seiner Pfeife tanzen lassen kann? Er hat
es gewusst, er wusste es, der Dreckskerl! Er ist wirklich ein Satan
und der schrecklichste Mensch in diesem Land, vielleicht sogar auf
dem ganzen Planeten. Er weiß alles, hat der Generalstaatsanwalt
gesagt und sich ängstlich umgesehen. Nein, nicht alles … Du hast
den Wanderer überrumpelt, Mak. Du hast gegen den Satan gewonnen.
Und jetzt bring ihn zur Strecke, solange es nicht zu spät ist! Aber
möglicherweise haben sie ihn auch schon erledigt, am Eingang zu
seiner eigenen Höhle … Ach, ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht.
Die Jungs sind ihm nicht gewachsen, Wasserblase hatte
vierundzwanzig Verwandte mit Maschinengewehren. Massaraksch! Ich
weiß nicht, wie man eine Revolution macht. Ich habe nichts
vorbereitet, um Telegraf, Telefon und Brücken in meine Gewalt zu
bringen, ich habe fast keine Leute; die einfachen Untergrundkämpfer
kennen mich nicht, und der Stab wird gegen mich sein. Ich habe es
nicht einmal geschafft, den General im Lager zu benachrichtigen,
damit er sich darauf einstellt, die Politischen zusammentrommelt
und mit einem Militärzug hierherschickt. Aber komme, was wolle: Den
Wanderer muss ich erledigen. Ihn erledigen und mich ein paar
Stunden halten, bis Armee und Garde vom Strahlenentzug
niedergedrückt werden. Niemand von ihnen ahnt ja von diesem
Zustand, wahrscheinlich nicht einmal der Wanderer. Woher sollte er
es wissen - im ganzen Land habe nur ich einmal jemanden - den armen
Gai - aus dem Emissionsfeld hinausgebracht.
Die Chaussee war voller Autos. Alle standen quer,
schräg oder im Straßengraben. Die von der Depression
niedergeschmetterten Fahrer und Passagiere saßen mit hängenden
Köpfen auf den Trittbrettern, waren kraftlos von ihren Sitzen
gesunken, wälzten sich an den Straßenrändern. Das alles hinderte
Maxim. Er musste immer wieder bremsen, ausweichen - und so bemerkte
er nicht gleich, dass ihm aus der Stadt ein flacher, grellgelber
Regierungswagen entgegenkam, der ebenfalls ständig ausweichen
musste, dabei seine Geschwindigkeit aber fast nicht
verringerte.
Sie begegneten sich auf einem verhältnismäßig
freien Stück der Chaussee und rasten aneinander vorbei; fast hätten
sie sich gestreift. Maxim erkannte einen kahlen Schädel und
gewaltige Segelohren, und bekam ein flaues Gefühl, weil nun wieder
alles durcheinandergeriet. Der Wanderer! Massaraksch! Das ganze
Land liegt in Depression, alle Entarteten sind besinnungslos, und
dieses Scheusal, dieser Teufel hat sich wieder herausgewunden! Also
hat er trotz allem einen Schutz erfunden. Und ich habe keine Waffe.
Maxim sah in den Rückspiegel: Der lange gelbe Wagen wendete. Was
hilft’s - muss ich eben ohne Waffe auskommen. Und was den Wanderer
betrifft, so werden mich bestimmt keine Gewissensbisse quälen.
Maxim drückte aufs Gaspedal. Tempo, Tempo. Los, mein Guter,
schneller. Die niedrige gelbe Motorhaube glitt heran, wurde größer,
schon konnte er die starren grünen Augen über dem Lenkrad erkennen
… Jetzt, Mak!
Maxim spreizte die Beine, stützte sich ab, hielt
einen Arm schützend vor Wildschwein und trat mit aller Kraft auf
die Bremse.
Ohrenbetäubendes Heulen und Kreischen … Dann
krachte die gelbe Kühlerhaube auf seinen Kofferraum, schob sich wie
eine Ziehharmonika nach oben. Glas splitterte. Maxim stieß mit dem
Fuß die Tür auf und ließ sich hinausfallen, spürte furchtbare
Schmerzen in der Ferse, dem lädierten Knie, seinem Arm - und hatte
es sogleich vergessen, denn der Wanderer stand schon vor ihm.
Unmöglich, aber es war so. Dieser Satan, dieser Satan - lang,
hager, gefährlich, mit zum Schlag erhobener Hand.
Maxim stürzte sich auf ihn, legte seine ganze Kraft
in diesen Sprung, aber - daneben! Dann ein fürchterlicher Schlag
gegen den Hinterkopf … Die Welt schwankte, kippte fast um, dann
aber doch nicht … Und wieder stand der Wanderer vor ihm, wieder sah
er den kahlen Schädel, die aufmerksamen grünen Augen, die zum
Parieren des Schlags bereite Hand. Stopp, halt, er trifft daneben …
He! Wohin guckt er denn? Na, so kriegst du mich nicht … Mit
versteinerter Miene starrte der Wanderer über Maxims Kopf hinweg.
Und schon griff Maxim ihn an, diesmal erfolgreich. Der lange Kerl
knickte ein und sank langsam auf den Asphalt. Da schöpfte Maxim
tief Atem und drehte sich um.
Den grauen Kubus der Zentrale konnte man von hier
aus gut erkennen, aber es war kein Kubus mehr: Vor Maxims Augen
stürzte er in sich zusammen. Zitternde, glutheiße Luft stieg über
ihm auf, Dampf, Rauch. Und dann zuckte etwas gleißend Weißes,
dessen Hitze Maxim bis hierher spüren konnte, fröhlich und
beängstigend zugleich aus den langen vertikalen Rissen und
Fensterlöchern …. Gut, das war also erledigt. Triumphierend wandte
sich Maxim dem Wanderer zu. Der Teufel lag auf der Seite, hatte die
langen Arme über dem Bauch gekreuzt und die Augen geschlossen.
Vorsichtig trat Maxim näher. Wildschwein lehnte sich aus dem
verbeulten Wagen heraus, zappelte und hantierte, um ins Freie zu
gelangen. Maxim blieb neben dem Wanderer stehen, beugte sich hinab
und überlegte, wie er zuschlagen müsste, um ihn sofort zu töten.
Massaraksch, die verfluchte Hand wollte sich nicht gegen einen
Liegenden erheben. Und da öffnete der Wanderer einen Spaltbreit die
Augen und krächzte auf Deutsch: »Dummkopf! Rotznase!«
Maxim verstand ihn nicht gleich. Und als er ihn
verstand, wurden ihm die Knie weich, und vor den Augen sah er
schwarz …
Dummkopf …
Rotznase …
Dummkopf …
Rotznase …
Dann hörte er aus der grauen widerhallenden Leere
heraus klar und deutlich Wildschweins Stimme: »Gehen Sie zur Seite,
Mak, ich habe eine Pistole.«
Ohne hinzusehen, hielt Maxim ihn am Arm fest.
Mühsam setzte sich der Wanderer auf, die Arme noch
immer auf den Leib gepresst. »Rotznase«, zischte er erschöpft.
»Stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze. Suchen Sie einen Wagen,
bisschen flott. So stehen Sie doch nicht herum, bewegen Sie
sich!«
Dumpf, wie durch Watte hindurch, schaute sich Maxim
um. Die Chaussee belebte sich. Die Zentrale existierte nicht mehr -
sie war zu einer Lache geschmolzenen Metalls geworden, zu Dampf,
Gestank. Die Türme funktionierten nicht mehr, die Marionetten
hörten auf, Marionetten zu sein. Die Menschen kamen zu sich, sahen
erstaunt und finster um sich, traten neben ihren Autos von einem
Fuß auf den anderen und versuchten zu verstehen, was mit ihnen
geschehen war, wie sie hierherkamen und was jetzt zu tun sei.
»Wer sind Sie?«, fragte Wildschwein.
»Geht Sie nichts an«, keuchte der Wanderer auf
Deutsch. Er hatte Schmerzen, stöhnte und rang nach Luft.
»Ich verstehe nicht.« Wildschwein hob den Lauf
seiner Pistole.
»Kammerer«, sagte der Wanderer. »Stopfen Sie Ihrem
Terroristen das Maul und suchen Sie einen Wagen.«
»Was für einen Wagen?«, fragte Maxim hilflos.
»Massaraksch«, ächzte der Wanderer. Irgendwie
schaffte er es aufzustehen; nach wie vor gekrümmt und eine Faust
gegen den Leib gestemmt, ging er mit unsicheren Schritten zu Maxims
Auto und zwängte sich hinein. »Steigen Sie ein, schnell!«, sagte er
ärgerlich, bereits hinter dem Lenkrad sitzend. Dann
blickte er über die Schulter zurück, auf die von Flammen rot
gefärbte Rauchsäule. »Was haben Sie da reingeworfen?« Seine Stimme
klang hoffnungslos.
»Eine thermische Bombe.«
»In den Keller oder die Vorhalle?«
»In den Keller.«
Der Wanderer stöhnte auf, saß eine Weile mit
gesenktem Kopf da und ließ schließlich den Motor an. Der Wagen
ruckelte und klirrte.
»Jetzt steigen Sie doch endlich ein!«, brüllte der
Wanderer.
»Wer ist das?«, fragte Wildschwein. »Ein
Hontianer?«
Maxim verneinte, öffnete mit einem Ruck die hintere
Tür, die sich verklemmt hatte, und murmelte: »Steigen Sie
ein.«
Er selbst ging um den Wagen herum und setzte sich
neben den Wanderer. Das Auto ruckte, irgendetwas quietschte, barst;
aber dann rollte es, plump schlingernd, die Chaussee entlang. Die
nicht mehr schließenden Türen klapperten, und der Auspuff knallte
laut.
»Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun?«, fragte der
Wanderer.
»Moment«, bat Maxim. »Sagen Sie mir wenigstens: Wer
sind Sie?«
»Ich bin Mitarbeiter des Galaktischen
Sicherheitsdienstes«, antwortete der Wanderer. Es klang bitter.
»Schon fünf Jahre sitze ich hier. Wir bereiten die Rettung dieses
unglückseligen Planeten vor. Sorgfältig, behutsam, unter
Berücksichtigung aller möglichen Folgen. Aller, verstehen Sie? Und
wer sind Sie? Wer sind Sie, dass Sie Ihre Nase in fremde
Angelegenheiten stecken, unsere Pläne durcheinanderbringen,
schießen und sprengen - wer sind Sie?«
»Ich habe doch nicht gewusst …«, begann Maxim
zaghaft. »Woher hätte ich wissen sollen …«
»Ja, natürlich, Sie haben nichts gewusst. Aber Sie
wussten, dass eigenmächtige Einmischung verboten ist, immerhin
gehören Sie zur Gruppe für Freie Suche … Sie hätten es
wissen müssen. Auf der Erde verliert die Mutter seinetwegen den
Verstand, pausenlos rufen irgendwelche Mädchen an, der Vater
vernachlässigt seine Arbeit … Was wollten Sie denn als Nächstes
tun?«
»Sie erschießen«, sagte Maxim.
»Was?!«
Der Wagen geriet ins Schleudern.
»Ja«, fuhr Maxim fort. »Was sollte ich denn machen?
Man hatte mir erzählt, Sie seien der schlimmste Halunke hier, und
…« Er lachte auf. »Und daran war nicht schwer zu glauben …«
Der Wanderer schielte zu ihm herüber. »Na gut. Und
weiter?«
»Dann hätte die Revolution beginnen sollen.«
»Wieso denn das?«
»Die Zentrale ist doch zerstört und die Strahlung
beseitigt.«
»Na und?«
»Jetzt werden sie schnell begreifen, dass man sie
unterdrückt, dass ihr Leben elend ist, und sie werden sich
erheben.«
»Wohin denn erheben?«, fragte der Wanderer
missmutig. »Und wer wird sich erheben? Die Unbekannten Väter sind
gesund und munter, die Garde ist heil und unversehrt, die Armee
vollständig mobilisiert, im Land herrscht Kriegszustand. Worauf
haben Sie denn gehofft?«
Maxim biss sich auf die Lippe. Er könnte diesem
missmutigen Untier jetzt natürlich seine Pläne,
Zukunftsvorstellungen und so weiter darlegen, doch was hätte das
für einen Sinn? Da nun einmal nichts vorbereitet war, es sich
einfach so ergeben hatte … »Worauf ich gehofft habe, ist nicht
wichtig,
es geht darum, was sie jetzt daraus machen.« Er zeigte über die
Schulter auf Wildschwein. »Dieser Mann, beispielsweise … Meine
Sache war, es ihnen zu ermöglichen.«
»Ihre Sache …«, murmelte der Wanderer. »Ihre Sache
wäre gewesen, im Eckchen zu sitzen und zu warten, bis ich Sie dort
wieder raushole …«
»Ja, natürlich«, sagte Maxim. »Nächstes Mal werde
ich das berücksichtigen …«
»Sie fliegen noch heute zurück zur Erde«, sagte der
Wanderer entschieden.
»Ich denke gar nicht dran«, widersprach
Maxim.
»Sie fliegen heute zur Erde!«, wiederholte der
Wanderer mit erhobener Stimme. »Auf diesem Planeten habe ich auch
ohne Sie Sorgen genug. Nehmen Sie Ihre Rada und schwirren Sie
ab.«
»Rada ist bei Ihnen?«, fragte Maxim schnell.
»Ja. Schon lange. Frisch und gesund, keine
Sorge.«
»Danke dafür, danke«, sagte Maxim. »Vielen
Dank.«
Der Wagen fuhr in die Stadt hinein. Auf der
Hauptstraße hupte, brummte und qualmte es - ein fürchterlicher
Stau. Der Wanderer bog in eine Gasse und fuhr durch die
Elendsviertel der Stadt. Hier schien alles leblos. An den Ecken
standen Militärpolizisten wie die Salzsäulen: die Hände auf dem
Rücken, das Gesicht unterm Stahlhelm. Man hatte schnell auf die
Ereignisse reagiert - Generalalarm, und alle befanden sich auf
ihrem Platz, gleich nachdem sie aus der Depression erwacht waren.
Vielleicht hätte ich nicht so eilig sprengen, sondern mich an den
Plan des Staatsanwalts halten sollen?, überlegte Maxim. Nein, nein,
Massaraksch! Soll alles laufen, wie es läuft. Er soll mich nicht zu
Unrecht tadeln. Sie müssen sich jetzt selbst über alles klarwerden,
und sie werden das schaffen, sobald es in ihren Köpfen dämmert. Der
Wanderer steuerte wieder auf die Hauptstraße zurück.
Wildschwein klopfte ihm mit dem Pistolenlauf dezent
auf die Schulter. »Seien Sie so freundlich und setzen mich bitte
ab. Dort. Wo die Leute stehen …«
An einem Zeitungskiosk lehnten, die Hände tief in
den Taschen ihrer langen grauen Regenmäntel, fünf Männer. Außer
ihnen war niemand auf den Gehwegen - offenbar hatte der
Depressionsstoß die Menschen verstört, und nun verbargen sie
sich.
»Was haben Sie vor?«, fragte der Wanderer, während
er abbremste.
»Frische Luft schnappen«, antwortete Wildschwein.
»Heute ist selten schönes Wetter.«
»Er gehört zu uns«, erklärte Maxim ihm. (Der
Wanderer bleckte furchterregend seine Zähne.) »In seiner Gegenwart
können Sie über alles sprechen.«
Das Auto hielt am Straßenrand. Die Männer in den
Regenmänteln begaben sich vorsichtshalber hinter den Kiosk. Man
konnte sehen, wie sie von dort hervorlugten.
»Zu uns?« Wildschwein zog eine Braue hoch. »Wer ist
das - wir?«
Maxim warf dem Wanderer einen verlegenen Blick zu.
Der aber dachte nicht daran, ihm zu helfen.
»Ist schon gut«, sagte Wildschwein. »Ich glaube
Ihnen. Wir werden uns zunächst mit dem Stab befassen. Mit ihm muss
man anfangen, denke ich. Sie wissen, wovon ich rede - dort gibt es
Leute, die man aus dem Weg räumen muss, solange sie die Bewegung
noch nicht unter Kontrolle haben.«
»Ein richtiger Gedanke«, knurrte plötzlich der
Wanderer. Ȇbrigens, scheint mir, kenne ich Sie. Sie sind Tik
Fesku, genannt ›Wildschwein‹. Stimmt’s?«
»Richtig«, sagte Wildschwein höflich. Dann wandte
er sich an Maxim. »Und Sie übernehmen die Väter. Das ist eine
schwere Aufgabe, aber wie für Sie geschaffen. Wo sind Sie zu
finden?«
»Warten Sie, Wildschwein«, hielt Maxim ihn zurück.
»Fast hätte ich’s vergessen: In wenigen Stunden versinkt das ganze
Land im Strahlenentzug. Viele Tage lang werden alle absolut hilflos
sein.«
»Alle?«, fragte Wildschwein zweifelnd.
»Alle, außer den Entarteten. Diese Zeit, diese Tage
müssen Sie nutzen.«
Wildschwein dachte nach.
»Wenn dem so ist, sehr gut«, sagte er. »Aber wir
werden uns ja gerade mit den Entarteten befassen. Trotzdem, wo also
kann man Sie erreichen?«
Maxim kam nicht zum Antworten.
»Über die alte Telefonnummer«, mischte sich der
Wanderer ein. »Und am gewohnten Platz. Und Folgendes: Gründen Sie
Ihr Komitee. Stellen Sie wieder die Organisation her, die im
Kaiserreich bestanden hat. Ein paar von Ihren Leuten arbeiten bei
mir im Institut. Massaraksch!«, schimpfte er auf einmal. »Weder
Zeit haben wir noch die nötigen Leute greifbar. Der Teufel sollte
Sie holen, Maxim!«
»Hauptsache, dass es die Zentrale nicht mehr gibt.«
Wildschwein hatte Maxim die Hand auf die Schulter gelegt. »Sie sind
ein Mordskerl, Mak. Danke.« Er drückte Maxims Schulter und
kletterte ungelenk, mit Hilfe seiner Prothese, aus dem Wagen. Dann
brach es plötzlich aus ihm heraus. »Mein Gott«, seufzte er und
verharrte einen Moment mit geschlossenen Augen. »Gibt es sie
wirklich nicht mehr? Das ist ja … das ist …«
»Schließen Sie die Tür«, sagte der Wanderer.
»Fester, fester …«
Aus dem Stand raste das Auto davon. Maxim drehte
sich um. Wildschwein stand inmitten der fünf grauen Mäntel und
redete, wobei er mit der Pistole, die er in der gesunden Hand
hielt, herumfuchtelte. Die Leute standen unbeweglich. Sie begriffen
noch nicht oder konnten es nicht glauben.
Die Straße war jetzt leer. Dicht neben dem Gehsteig
rollten ihnen Schützenpanzerwagen voller Gardisten entgegen, und
weit vorn, dort, wo die Abzweigung zum Institut lag, versperrten
bereits Fahrzeuge den Weg, liefen schwarze Gestalten hin und her.
Und plötzlich leuchtete in der Kolonne der Schützenpanzerwagen ein
grellgelbes Patrouillenfahrzeug mit langer Teleskopantenne …
»Massaraksch«, murmelte Maxim. »Diese Dinger habe
ich ganz vergessen!«
»Du hast vieles vergessen«, sagte der Wanderer. »Du
hast die mobilen Emitter vergessen, hast das Inselimperium
vergessen und die Wirtschaft. Weißt du, dass im Land Inflation
herrscht? Weißt du überhaupt, was Inflation ist? Ist dir bekannt,
dass Hunger droht, dass der Boden nichts hergibt? Und dass wir es
nicht geschafft haben, Getreide- und Medikamentenvorräte anzulegen?
Weißt du, dass der Strahlenentzug in zwanzig Prozent der Fälle zum
Wahnsinn führt?« Er wischte sich mit der Faust über die mächtige
kahle Stirn. »Wir brauchen Ärzte, zwölftausend Ärzte. Wir brauchen
Eiweißsynthetisatoren. Müssen fürs Erste unbedingt hundert
Millionen Hektar des verseuchten Bodens deaktivieren, die
Degeneration der Biosphäre aufhalten. Massaraksch, wir brauchen
wenigstens einen Erdenmenschen auf den Inseln, in der Admiralität
dieses Schurken. Keiner konnte sich bisher dort halten. Keiner hat
es geschafft, auch nur zurückzukehren und zusammenhängend zu
berichten, was sich dort tut …«
Maxim schwieg. Sie fuhren an die Wagen heran, die
die Durchfahrt versperrten. Ein untersetzter, dunkelgesichtiger
Offizier, der auf eine merkwürdig bekannte Art gestikulierte, kam
zu ihnen herüber und verlangte krächzend die Dokumente. Verärgert
und ungeduldig hielt ihm der Wanderer eine blanke Metallmarke unter
die Nase. Der Offizier salutierte mürrisch und warf einen Blick auf
Maxim. Es war der
Herr Rittmeister … nein, inzwischen bereits Brigadegeneral der
Garde Tschatschu. Er riss die Augen auf.
»Gehört dieser Mann zu Ihnen, Exzellenz?«, fragte
er.
»Ja. Befehlen Sie unverzüglich, mich
durchzulassen.«
»Verzeihung, Exzellenz, aber dieser Mann …«
»Sofort durchlassen!«, schnauzte ihn der Wanderer
an.
Brigadegeneral Tschatschu salutierte noch einmal
verdrossen, machte kehrt und winkte den Soldaten. Einer der
Lastwagen fuhr zur Seite, und der Wanderer steuerte den Wagen eilig
durch die entstehende Lücke.
»So läuft das«, sagte er. »Sie sind bereit, waren
es immer. Du aber dachtest - eins, zwei, und schon erledigt. Den
Wanderer erschießen, die Unbekannten Väter hängen, Feiglinge und
Faschisten aus dem Stab jagen - und Schluss mit der
Revolution.«
»So habe ich nie gedacht«, widersprach Maxim. Er
war sehr unglücklich, ja, niedergeschmettert, und fühlte sich
hilflos und furchtbar dumm.
Der Wanderer blickte ihn von der Seite an und
lächelte schief. »Na schön, schön«, sagte er. »Ich bin einfach
wütend. Nicht auf dich - auf mich selbst. Ich bin für alles
verantwortlich, was hier geschieht, und es ist meine Schuld, dass
es so gekommen ist. Ich hab dich einfach nicht gekriegt.« Wieder
lächelte er. »Flinke Jungs seid ihr da in der GFS …«
»Nein«, wehrte Maxim ab. »Machen Sie sich nicht
solche Vorwürfe. Ich tue das ja auch nicht. Verzeihung, wie heißen
Sie?«
»Nennen Sie mich Rudolf.«
»Ja, also … Ich quäle mich nicht mit
Selbstvorwürfen. Und habe das auch nicht vor. Ich habe vor zu
arbeiten, die Revolution durchzuführen.«
»Hab lieber vor, nach Hause zu fliegen«, riet ihm
der Wanderer.
»Ich bin hier zu Hause«, rief Maxim ungeduldig.
»Reden wir nicht mehr davon. Mich interessieren die mobilen
Emitter. Was tun wir mit ihnen?«
»Mit ihnen muss man gar nichts tun«, erwiderte der
Wanderer. »Überleg lieber, was wir mit der Inflation machen.«
»Ich frage nach den Emittern«, beharrte
Maxim.
Der Wanderer seufzte. »Sie werden von Akkumulatoren
gespeist«, erklärte er. »Und diese kann man nur bei mir im Institut
laden. In drei Tagen sind sie leer. Aber in einem Monat dürfte eine
Invasion beginnen … Normalerweise können wir die Submarines vom
Kurs abbringen, so dass nur einzelne bis zur Küste durchkommen.
Diesmal aber rüsten sie eine ganze Armada. Ich hatte auf die
Depressionsstrahlung gebaut, aber jetzt müssen wir sie einfach
versenken.« Er verstummte. »Du bist also zu Hause. Gut, nehmen
wir’s mal an. Womit willst du dich jetzt konkret befassen?«
Sie fuhren am Departement vor. Das schwere Tor war
fest verschlossen. In der Steinmauer klafften schwarze
Schießscharten, die Maxim dort früher nicht gesehen hatte. Das
Departement ähnelte jetzt einer Festung, die bereit war zum Kampf.
Neben dem kleinen Pavillon standen drei Gestalten, und Sefs roter
Bart leuchtete vor dem Grün wie eine exotische Blume.
»Ich weiß nicht«, sagte Maxim. »Ich werde tun, was
erfahrene Leute von mir verlangen. Wenn nötig, befasse ich mich mit
der Inflation. Wenn es sein muss, versenke ich Submarines. Meine
wichtigste Aufgabe aber weiß ich sicher: Solange ich lebe, wird es
hier niemandem mehr gelingen, eine Zentrale zu errichten. Auch
nicht mit der allerbesten Absicht …«
Der Wanderer schwieg. Das Tor war ganz nahe. Sef
zwängte sich durch die Hecke und trat auf den Weg. Über seiner
Schulter hing eine Maschinenpistole. Schon aus dieser Entfernung
konnte man sehen, dass er wütend war und nicht verstand,
was vor sich ging. Gleich würde er unter furchtbaren Flüchen eine
Erklärung fordern - warum man ihn, Massaraksch, bei der Arbeit
gestört und ihm den Kopf mit dem Wanderer vernebelt hatte, um ihn
dann wie ein kleines Kind zwischen Blümchen herumsitzen zu lassen -
und das nun schon seit zwei Stunden.