1. JUNI’78
Kleiner Zwischenfall mit Jadwiga
Michailowna
Um 19:23 Uhr war ich wieder zu Hause und startete
meine Suche nach Maja Glumowa, der Historikerin. Es vergingen keine
fünf Minuten, und mir lagen alle Informationen über sie vor.
Maja Toivowna Glumowa war drei Jahre jünger als Lew
Abalkin. Nach dem Schulabschluss hatte sie bei der KomKon 1 einen
Kursus für Versorgungspersonal absolviert und anschließend an der
Operation »Arche« teilgenommen, die später traurigen Ruhm erlangte.
Danach war Maja Glumowa an die Historische Fakultät der Sorbonne
gegangen, wo sie sich zunächst auf die Anfangsepoche der Ersten
wissenschaftlich-technischen Revolution spezialisierte, dann aber
zur Geschichte der frühen Raumforschung überwechselte. Sie hatte
einen Sohn, Toivo Glumow, elf Jahre alt; über den Ehemann teilte
sie nichts mit. Zurzeit - ein Wunder! - arbeitete sie in der
Spezialsammlung des Museums für Außerirdische Kulturen, das drei
Straßen von uns entfernt am Platz der Sterne lag. Und sie wohnte
ganz in der Nähe - in der Allee der Weißfichten.
Ich rief sie sofort an. Auf dem Bildschirm erschien
jedoch ein Kind mit blonden Haaren, sehr hellen, nordischen Augen
und ernstem Gesicht, es hatte viele Sommersprossen und eine
Stupsnase, auf der sich die Haut schälte. Kein Zweifel, das war
Toivo Glumow junior. Er sah mich an und erklärte, die Mama sei
nicht zu Hause. Sie hätte längst da sein wollen, dann aber
angerufen und gesagt, dass sie erst morgen früh, nach der Arbeit
käme. Ob er ihr etwas ausrichten solle? Ich sagte, das sei nicht
nötig, und verabschiedete mich.
Ich musste also bis zum Morgen warten. Und am
Morgen würde sie lange versuchen sich zu erinnern, wer dieser Lew
Abalkin war, und wenn es ihr dann schließlich einfiele, würde sie
kurz seufzen und sagen, sie habe nun schon seit fünfundzwanzig
Jahren nichts mehr von ihm gehört.
Nun gut. Von den wichtigsten Namen auf meiner Liste
war noch einer übrig, und in den setzte ich keine besonderen
Hoffnungen. Normalerweise treffen sich Menschen nach fünfundzwanzig
Jahren Abwesenheit gern mit ihren Eltern, sehr oft mit ihrem
Lehrer, nicht selten auch mit Schulfreunden. Aber in den wenigsten
Fällen wird sie das Gedächtnis zu ihrem ehemaligen Schularzt
führen. Vor allem, wenn sich dieser auf der anderen Seite des
Planeten auf einer Expedition durch die Wildnis befindet; und wenn
man bedenkt, dass die Null-Verbindung laut Auskunft schon den
zweiten Tag nicht zuverlässig funktioniert wegen Fluktuationen des
Neutrinofeldes.
Aber was blieb mir anderes übrig? In Manáus war es
jetzt Tag, und wenn ich überhaupt anrufen wollte, dann sollte ich
es jetzt sofort tun.
Ich hatte Glück: Jadwiga Michailowna Lekanowa hielt
sich gerade in der Funkzentrale auf, und ich konnte direkt mit ihr
sprechen. Sie hatte ein rundes, glänzendes und sonnengebräuntes
Gesicht, einen dunkelroten Schimmer auf den Wangen, kokette
Grübchen, strahlend blaue Augen und einen üppigen, silbern
glänzenden Haarschopf. Sie sprach mit tiefer, samtiger Stimme und
hatte einen nicht näher bestimmbaren,
aber sehr sympathischen Sprachfehler. Während sie redete, kam mir
in den Sinn, dass sie vor nicht allzu langer Zeit sicher noch jedem
Mann den Kopf verdreht hatte.
Ich bat um Verzeihung, stellte mich kurz vor und
erzählte ihr meine Legende. Während sie sich zu erinnern versuchte,
zog sie ihre dichten, seidigen Augenbrauen zusammen und
blinzelte.
»Lew Abalkin? … Ljowa Abalkin … Verzeihung, wie
heißen Sie?«
»Maxim Kammerer.«
»Verzeihung, Maxim, ich habe Sie nicht ganz
verstanden. Vertreten Sie sich selbst oder eine
Organisation?«
»Wie soll ich das am besten erklären … Ich habe mit
einem Verlag gesprochen, er war interessiert.«
»Aber sind Sie selbst nur Journalist oder doch
irgendwo beschäftigt? Das ist schließlich kein Beruf - Journalist
…«
Ich stimmte ihr kichernd zu und überlegte dabei
fieberhaft, was ich antworten sollte.
»Sehen Sie, Jadwiga Michailowna, das ist schwer in
Worte zu fassen. Von Beruf bin ich … na ja, vielleicht Progressor,
obwohl ja es diesen Beruf, als ich mit der Arbeit anfing, noch gar
nicht gab. Bis vor kurzem war ich Mitarbeiter der KomKon, und in
gewissem Sinne stehe ich auch jetzt noch mit ihr in
Verbindung.«
»Sie haben sich selbstständig gemacht?« Jadwiga
Michailowna lächelte nach wie vor, aber jetzt fehlte etwas in ihrem
Lächeln - etwas sehr Wichtiges … Natürliches …
»Wissen Sie, Maxim«, sagte sie, »ich werde mich
gern mit Ihnen über Lew Abalkin unterhalten, aber wenn es Ihnen
recht ist, etwas später. Sagen wir, ich rufe Sie an, in einer
Stunde oder anderthalb.«
Sie lächelte noch immer, und plötzlich wurde mir
klar, was es war, das in ihrem Lächeln fehlte: Wohlwollen, das ganz
natürliche Wohlwollen.
»Gewiss doch«, sagte ich. »Wann es für Sie am
besten passt.«
»Entschuldigen Sie bitte.«
»Nicht doch, ich muss mich entschuldigen.«
Sie notierte sich die Nummer meines Kanals, und wir
verabschiedeten uns. Seltsam, dieses Gespräch. Als hätte sie von
irgendwoher erfahren, dass ich log. Ich kratzte mich am Ohr … meine
Ohren glühten! Verfluchter Beruf … »Und es begann die spannendste
aller Jagden - die Jagd auf den Menschen …« O tempora, o mores! Wie
oft sie sich doch geirrt haben, die Klassiker! Gut, warten wir. Es
wird sich, denke ich, nicht vermeiden lassen, nach Manáus zu
fliegen. Ich fragte die Nachrichten ab. Die Null-Verbindung war
immer noch instabil; deshalb bestellte ich einen Stratoplan. Dann
schlug ich die Mappe auf und begann Lew Abalkins Bericht über die
Operation »Tote Welt« zu lesen.
Ich schaffte fünf Seiten, dann klopfte es an der
Tür, und über die Schwelle trat Seine Exzellenz. Ich stand
auf.
Selten sieht man Seine Exzellenz anderswo als
hinter seinem Schreibtisch. Daher vergisst man ständig, wie riesig
und dürr er ist. Der makellos weiße Leinenanzug hing an ihm
herunter wie von einem Kleiderbügel. Und überhaupt hatte er etwas
von einem Stelzenläufer im Zirkus an sich, wobei seine Bewegungen
jedoch geschmeidig waren.
»Nimm Platz«, sagte er, knickte in der Mitte ein
und setzte sich in den Sessel, der vor mir stand.
Schnell setzte auch ich mich.
»Berichte«, befahl er.
Ich gehorchte seinem Befehl und berichtete.
»Ist das alles?«, fragte er mit einem unangenehmem
Ausdruck.
»Bis jetzt, ja.«
»Das ist schlecht«, sagte er.
»Ja, Exzellenz, es ist schlecht«, sagte ich.
»Schlecht! Der Ausbilder ist tot. Und die
Schulfreunde? Wie ich sehe, hast du sie nicht mal in Betracht
gezogen! Und seine Freunde in der Progressoren-Schule?«
»Leider hatte er keine Freunde, Exzellenz.
Jedenfalls nicht im Internat, und was die Progressoren-Schule
angeht …«
»Erspare mir deine Überlegungen. Überprüfe einfach
alles. Und lass dich nicht ablenken. Was zum Beispiel hat diese
Kinderärztin mit der Sache zu tun?«
»Ich bemühe mich, alles zu überprüfen«, sagte ich
und wurde allmählich ärgerlich.
»Du hast keine Zeit, im Stratoplan herumzufliegen.
Befass dich lieber mit den Archiven statt mit Flugreisen.«
»Mit den Archiven befasse ich mich auch noch. Ich
gedenke mich sogar mit diesem Kopfler zu befassen, Wepl. Aber ich
hatte eine bestimmte Reihenfolge vorgesehen und halte die
Kinderärztin keineswegs für völlige Zeitverschwendung.«
»Schweig«, sagte er, »und gib mir deine
Liste.«
Er nahm die Liste und sah sie lange und sehr genau
an. Ich war mir aber sicher, dass er den Blick auf eine bestimmte
Zeile geheftet hatte und diese unablässig ansah.
Dann gab er mir das Blatt zurück und sagte: »Wepl -
o. k. Deine Legende gefällt mir. Doch alles Weitere ist schlecht.
Du hast dir weismachen lassen, dass Abalkin keine Freunde hatte.
Das stimmt aber nicht. Tristan ist sein Freund gewesen, obwohl du
in der Akte nichts darüber findest. Such. Und diese Glumowa … auch
gut. Wenn es zwischen den beiden eine Liebesverbindung gab, ist das
eine Chance. Aber die Lekanowa lass sein. Das bringt nichts.«
»Aber sie wird ohnehin anrufen!«
»Wird sie nicht«, sagte er.
Ich sah ihn an. Seine grünen Augen schauten ruhig,
ohne zu zwinkern, und ich begriff, dass er Recht hatte: Die
Lekanowa würde nicht anrufen.
»Verzeihen Sie, Exzellenz«, sagte ich, »meinen Sie
nicht, ich könnte dreimal so gut arbeiten, wenn ich wüsste, worum
es geht?«
Ich war ganz sicher, er würde antworten: Nein,
meine ich nicht. Meine Frage war also rein rhetorisch. Ich wollte
ihm nur zeigen, dass mir die Heimlichtuerei um Lew Abalkin nicht
entgangen war und dass sie mich störte.
Aber er sagte etwas anderes.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es würde nichts
nützen. Vorläufig kann ich dir sowieso nichts sagen. Und ich will
es auch nicht.«
»Ein Persönlichkeitsgeheimnis?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er. »Ein
Persönlichkeitsgeheimnis.«
Aus dem Bericht Lew Abalkins
Gegen zehn Uhr hat sich die Marschordnung nun
endgültig herausgebildet. Wir gehen in der Mitte der Straße: Voran,
auf der Mittellinie, geht Wepl, links hinter ihm, ich.
Normalerweise gehen wir dicht an den Häuserwänden entlang. Aber das
mussten wir aufgeben, weil wir die Fußwege nicht benutzen können.
Sie sind begraben unter herabgefallenem Putz, zerschlagenen
Ziegeln, Scherben von Fensterglas und durchgerostetem Dachblech.
Schon zweimal sind ohne ersichtlichen Grund Brocken aus Simsen
herausgebrochen und uns beinahe auf den Kopf gefallen.
Das Wetter ändert sich nicht. Der Himmel ist nach
wie vor wolkenverhangen. Feuchter warmer Wind weht in Böen heran,
treibt undefinierbaren Müll über die geborstene Straßendecke und
kräuselt das stinkende Wasser in den schwarzen stehenden Pfützen.
Mückenschwärme fallen uns an, zerstieben
und fallen uns wieder an. Sturmwellen von Mücken. Ganze Wolken von
Mücken. Sehr viele Ratten. Sie rascheln in den Müllhaufen, rennen
in kleinen, schmutzig rötlichen Scharen von Eingang zu Eingang und
türmen sich in den leeren Fensteröffnungen. Rätselhaft, wovon sie
sich in dieser Steinwüste ernähren. Von den Schlangen vielleicht?
Schlangen gibt es auch sehr viele, besonders in der Nähe der
Gullis, wo sie sich sammeln und zu verschlungenen, sich bewegenden
Knäueln werden. Wovon die Schlangen sich hier ernähren, ist auch
rätselhaft. Vielleicht von den Ratten? Die Schlangen sind übrigens
träge, gar nicht aggressiv, aber auch nicht ängstlich. Sie kümmern
sich um ihre eigene Sache, und sonst um nichts und niemand.
Die Stadt ist gewiss schon seit langem verlassen.
Der Mann, dem wir am Stadtrand begegnet sind, war ein Verrückter
und nur zufällig hierhergeraten.
Eine Mitteilung der Gruppe Rem Sheltuchins: Er ist
bisher noch niemandem begegnet, aber völlig begeistert von der
Müllhalde. Er schwört, den Index der hiesigen Zivilisation bald bis
auf die zweite Stelle genau bestimmen zu können. Ich versuche mir
diese Müllhalde vorzustellen - gigantisch, ohne Anfang und Ende,
die halbe Welt unter sich begrabend. Ich bekomme schlechte Laune
und höre jetzt auf, darüber nachzudenken.
Der Mimikry-Anzug funktioniert nicht. Die
Tarnfarbe, die ständig an die Umgebung angepasst sein soll, nimmt
er erst mit fünf Minuten Verspätung an, manchmal gar nicht.
Stattdessen erscheinen darauf leuchtende Flecken in den schönsten
Spektralfarben. Wahrscheinlich gibt es etwas hier in der
Atmosphäre, das den exakt regulierten Chemismus dieses Materials
irritiert. Die Experten der Kommission für Tarntechnik sehen keine
Möglichkeit, die Funktion des Mimikry-Anzugs über Fernsteuerung
wiederherzustellen. Sie gaben mir Hinweise, wie ich die Regulierung
an Ort und Stelle
durchführen sollte. Ich bin diesen Hinweisen gefolgt mit dem
Ergebnis, dass mein Anzug jetzt endgültig falsch eingestellt
ist.
Eine Mitteilung der Gruppe Espadas. Sie sind bei
der Landung im Nebel offenbar ein paar Kilometer vom Ziel
abgekommen: Weder die bestellten Felder noch die Siedlungen, die
vom Orbit her ausgemacht wurden, sind zu sehen. In Sicht ist
stattdessen der Ozean. Und das Ufer, das von einem kilometerbreiten
Streifen schwarzen Schorfs bedeckt ist, der offenbar aus erstarrtem
Schweröl besteht. Ich bekomme wieder schlechte Laune.
Die Experten protestieren vehement gegen Espadas
Entschluss, die Tarnung ganz abzuschalten. Ein kleiner Skandal im
Äther. Klein, aber laut.
Wepl bemerkt mürrisch: »Die berühmte menschliche
Technik! Lächerlich …«
Wepl trägt keinen Anzug und auch nicht den schweren
Helm mit den Umsetzern, obwohl all das speziell für ihn vorbereitet
wurde. Er hat es abgelehnt, wie üblich ohne Angabe von
Gründen.
Er läuft die halb verwischte Mittellinie der
Hauptstraße entlang, wobei er leicht schaukelt und mit den
Hinterbeinen ein wenig nach außen schlenkert, wie man es mitunter
auch bei unseren Hunden sieht. Wepl ist kräftig und schwer, hat ein
zottiges Fell und einen sehr großen runden Kopf, der wie immer nach
links gedreht ist, so dass er mit dem rechten Auge geradeaus sieht
und mit dem linken quasi zu mir schielt. Die Schlangen beachtet er
nicht, ebenso wenig die Mücken. Die Ratten hingegen interessieren
ihn - freilich nur als Marschverpflegung. Im Moment ist er
allerdings satt.
Mir scheint, Wepl hat sich seine Meinung über diese
Stadt schon gebildet, vielleicht auch schon über den ganzen
Planeten. Gleichgültig hat er darauf verzichtet, eine wie durch ein
Wunder erhalten gebliebene Villa im siebten Viertel zu besichtigen.
Sie war sauber, elegant - und schien völlig fehl am Platz zwischen
all den von der Zeit zerfressenen und von wilden Ranken
überwucherten Gebäuden. Nur kurz und voller Abscheu schnupperte er
an den riesigen Rädern eines gepanzerten Militärwagens, der noch
immer stark nach Benzin stank und in den Trümmern einer
umgestürzten Wand halb begraben war. Und ohne jede Neugier sah Wepl
dem verrückten Tanz eines Eingeborenen zu, der in wehenden bunten
Stofffetzen auf uns zusprang, mit seinen Schellen klingelte und
Grimassen schnitt. All die sonderbaren Dinge, die uns bisher
begegnet waren, schienen Wepl nicht zu interessieren. Er hat nicht
versucht, sie aus dem Gesamtbild der Katastrophe herauszulösen,
obwohl er anfangs, auf den ersten Kilometern unseres Wegs, erregt
schien, nach etwas suchte, jeden Augenblick die Marschordnung
durchbrach, Witterung aufnahm, schnaufte, spuckte und dabei etwas
Unverständliches in seiner Sprache murmelte.
»Hier ist etwas Neues«, sagte ich.
Aber was könnte es sein? Es sieht aus wie die
Kabine einer Ionendusche: ein etwa zwei Meter hoher Zylinder aus
durchscheinendem, bernsteinartigem Material, und etwa einem Meter
Durchmesser. Die ovale Tür, so hoch wie der ganze Zylinder, steht
offen. Ursprünglich hatte die Kabine wohl senkrecht gestanden, bis
man seitlich darunter eine Ladung Sprengstoff anbrachte … Dadurch
wurde ein Teil der Unterseite zusammen mit der daran haftenden
Schicht Asphalt und lehmiger Erde angehoben, so dass die Kabine
jetzt ziemlich schräg steht. Ansonsten hat sie nicht gelitten. Es
war allerdings auch nichts darin, was hätte Schaden nehmen können -
sie ist so leer wie ein leeres Glas.
»Ein Glas«, sagt Vanderhoeze. »Ein Glas mit einer
Tür.«
»Eine Ionendusche«, sage ich, »aber ohne Apparatur.
Oder zum Beispiel die Kabine eines Verkehrspostens. Ganz ähnliche
habe ich auf dem Saraksch gesehen, nur dass sie dort aus
Blech und Glas sind - in der Umgangssprache heißen sie dort
übrigens tatsächlich ›Glas‹.«
»Und der Posten bewacht den Verkehr?«, erkundigt
sich Vanderhoeze interessiert.
»Er regelt ihn auf einer Kreuzung.«
»Bis zur Kreuzung ist es aber weit, meinst du
nicht?«, sagt Vanderhoeze.
»Dann ist es eine Ionendusche.«
Ich diktiere ihm eine Meldung. Er nimmt sie
entgegen und erkundigt sich: »Gibt es noch Fragen?«
»Zwei Fragen liegen nahe: Wozu hat man dieses Ding
hier aufgestellt, und wen hat es gestört? Achtet darauf: Es gibt
keinerlei Kabel oder Leitungen. Wepl, hast du Fragen?«
Wepl scheint die Kabine mehr als gleichgültig zu
sein: Er hat ihr den Hintern zugedreht und kratzt sich.
»Mein Volk kennt solche Gegenstände nicht«, sagt er
überheblich, »und es interessiert sich auch nicht dafür.« Dann
fängt er wieder an, sich demonstrativ zu kratzen.
»Ich habe weiter nichts«, sage ich zu
Vanderhoeze.
Wepl steht auf und macht sich auf den Weg.
Sein Volk, bitte sehr, interessiert sich nicht
dafür, denke ich, während ich links hinter ihm hergehe. Ich möchte
gern lächeln, darf es aber auf keinen Fall tun. Denn Wepl kann so
ein Lächeln nicht ausstehen. Es ist erstaunlich, wie genau er sogar
feinste Nuancen der menschlichen Mimik erkennt und versteht. Woher
mögen die Kopfler solch eine Einfühlungsgabe haben? Schließlich
fehlt ihren Physiognomien (oder Schnauzen?) die Mimik fast völlig -
zumindest für das menschliche Auge. Jeder gewöhnliche Hofhund hat
eine viel reichere Mimik. Aber mit dem menschlichen Lächeln kennt
sich Wepl bestens aus. Überhaupt verstehen sich die Kopfler auf die
Menschen hundertmal besser als die Menschen auf die Kopfler. Und
ich weiß auch, warum: Wir haben Hemmungen. Kopfler sind
vernunftbegabt, und es ist uns peinlich, sie zu
untersuchen. Sie hingegen empfinden so eine Peinlichkeit nicht.
Als wir bei ihnen in der Festung wohnten, sie uns Schutz, ein
Zuhause, zu essen und zu trinken gaben, wie oft habe ich da
plötzlich entdeckt, dass ich wieder einmal Gegenstand eines
Experiments geworden war! Auch Martha beklagte sich bei Komow
darüber, ebenso Rowlingson. Nur Komow klagte nie - ich glaube, weil
er dafür einfach zu stolz war. Und der Tarasconer ist am Ende
schlicht davongelaufen; lebt jetzt glücklich auf der Pandora und
befasst sich mit seinen monströsen Tachorgen. Warum hat Wepl sich
derart für die Pandora interessiert? Mit allen nur erdenklichen
Mitteln hat er versucht, den Abflug von dort hinauszuzögern. Ich
muss bald einmal überprüfen, ob es stimmt, dass eine Gruppe von
Kopflern um ein Transportmittel für die Übersiedlung auf die
Pandora gebeten hat.
»Wepl«, sage ich, »würdest du gern auf der Pandora
leben?«
»Nein. Ich muss bei dir sein.«
Er muss. Das ganze Unglück ist, dass Wepls Sprache
nur einen Modus kennt. Es gibt nicht den geringsten Unterschied
zwischen »sollen«, »müssen«, »wollen« und »können«. Und wenn Wepl
in meiner Sprache spricht, benutzt er diese Begriffe mehr oder
weniger aufs Geratewohl. Man weiß nie genau, was er meint.
Vielleicht hat er gerade sagen wollen, dass er mich liebt, dass es
ihm nur mit mir gutgeht und er immer mit mir zusammen sein möchte.
Vielleicht aber auch, dass es seine Pflicht ist, bei mir zu sein,
dass er den Auftrag dazu hat und seine Pflicht ehrlich zu tun
gedenkt. Dabei aber täte er nichts lieber, als durch den
orangefarbenen Dschungel zu pirschen, jedes Geräusch einzufangen
und jeden Geruch zu genießen, wovon es auf der Pandora mehr als
genug gibt.
Vorne rechts löst sich von einem schmutzig weißen
Balkon im zweiten Stock eine Schicht Putz und stürzt krachend auf
das Trottoir. Die Ratten fiepen aufgeregt. Eine Wolke von
Mücken schießt aus einem Müllhaufen empor und schwirrt in der
Luft.
Wie ein gemustertes Metallband gleitet eine riesige
Schlange über die Straße, rollt sich vor Wepl zusammen wie eine
Spirale und hebt drohend den rhombischen Kopf. Wepl aber bleibt
nicht einmal stehen. Er schlägt nur einmal kurz, ja, beiläufig mit
der Vorderpfote zu - und der rhombische Kopf fliegt im hohen Bogen
auf den Gehsteig. Wepl jedoch trottet schon weiter und schenkt dem
sich windenden, kopflosen Körper hinter sich keine Bedeutung
mehr.
Und meine Kollegen hatten Angst, mich allein mit
Wepl loszuschicken … einem erstklassigen Kämpfer, klug, mit einem
unglaublichen Gespür für Gefahr und absolut furchtlos. Kein Mensch
könnte furchtloser sein … Aber. Es geht natürlich nicht ohne ein
gewisses Aber. Wenn nötig, werde ich für Wepl wie für einen
Erdenmenschen kämpfen, wie für mich selbst. Und Wepl? Ich weiß
nicht … Sicher, auf dem Saraksch haben sie für mich gekämpft,
getötet und sind gestorben, um mich zu schützen. Aber aus
irgendeinem Grund kam es mir damals so vor, dass sie nicht für
mich, ihren Freund, kämpften, sondern für ein abstraktes und ihnen
sehr wichtiges Prinzip. Ich bin schon seit fünf Jahren mit Wepl
befreundet; er hatte noch nicht einmal die Haut zwischen den Zehen
verloren, als wir uns kennenlernten. Ich habe ihm die Sprache
beigebracht und gezeigt, wie man die Versorgungslinie benutzt. Ich
habe keinen Schritt von ihm getan, als er an diesen sonderbaren
Krankheiten litt, von denen unsere Ärzte bis heute nichts
begreifen. Ich habe seine schlechten Manieren erduldet, mich mit
seinen unverblümten Äußerungen abgefunden und ihm Dinge verziehen,
die ich sonst niemandem auf der Welt verzeihe. Aber ich weiß immer
noch nicht, was ich ihm bedeute.
Ein Anruf vom Schiff. Vanderhoeze teilt mit, dass
Rem Sheltuchin auf seiner Müllhalde ein Gewehr gefunden hat.
Eine ziemlich belanglose Information. Vanderhoeze mag es einfach
nicht, wenn ich schweige, und macht sich Sorgen, wenn er lange
nichts von mir hört. Wir reden eine Weile über Belangloses.
Währenddessen verschwindet Wepl im nächsten
Hauseingang. Man hört Rumoren, Fiepen, Knirschen, Kauen. Dann
taucht Wepl in der Tür auf, kaut noch ein paarmal kräftig und
spuckt Rattenschwänze aus.
Jedes Mal, wenn ich auf Empfang bin und mit anderen
spreche, führt sich Wepl auf wie ein Hund: Entweder er frisst,
kratzt sich, oder er sucht nach Flöhen. Er weiß genau, dass ich das
nicht leiden kann - und macht es doch so auffällig, als wolle er
sich dafür rächen, dass ich mich mit etwas anderem beschäftige als
mit ihm. Jetzt entschuldigt er sich bei mir und sagt, es schmecke
so gut, und er habe sich nicht beherrschen können. Ich bleibe eine
Weile reserviert.
Es fällt leichter Nieselregen; vor uns verschwindet
die Straße im grauen Nebel. Wir passieren das siebzehnte Viertel
(die Querstraße ist mit Steinen gepflastert), gehen vorbei an einem
durchgerosteten Lkw mit platten Reifen und einem gut erhaltenen,
mit Granit verkleideten Gebäude, dessen Fenstergitter im
Erdgeschoss mit Figuren verziert sind. Links von uns beginnt ein
Park, der von der Straße durch eine niedrige Steinmauer abgetrennt
ist.
Als wir gerade an einem schiefen Torbogen
vorbeigehen, springt aus dem feuchten, dichten Gebüsch ein großer,
kunterbunt angezogener und sehr skurriler Mensch hervor; mit einem
Satz, geräuschvoll und mit Schellenklang, landet er auf der
Mauer.
Er ist dürr wie ein Gerippe, hat ein gelbes Gesicht
mit eingefallenen Wangen und einen gläsernen Blick. Feuchte,
rötliche Haarsträhnen stehen nach allen Seiten ab. Die Arme sind
wie bei einem Hampelmann in ständiger Bewegung; sie wirken, als
seien sie aus Gummi oder mit zu vielen Gelenken
versehen. Die Füße sind riesig. Die knochigen Beine zappeln
unentwegt und tanzen auf der Stelle, so dass welkes Laub und
durchnässte Mörtelbrocken nach allen Seiten fliegen.
Der Mann steckt von Kopf bis Fuß in einer Art
buntkariertem Trikot: rot, gelb, blau und grün. Unablässig klingeln
die Schellen, die überall auf Ärmeln und Hosenbeinen aufgenäht
sind. In einem komplizierten Rhythmus schnippt er schnell und laut
mit den knotigen Fingern. Ein Hanswurst. Ein Clown. Seine Faxen
könnten durchaus komisch sein, wenn sie nicht so unheimlich wirkten
in dieser toten Stadt, diesem grauen Nieselregen, vor einem
verwilderten Park, der schon längst zu Wald geworden ist. Das ist
ein Verrückter. Noch ein Verrückter.
Im ersten Moment scheint mir, es sei derselbe Mann
wie der, den wir am Stadtrand trafen. Aber der trug bunte Bänder
und eine Narrenkappe mit einem Glöckchen; er war auch erheblich
kleiner und nicht so abgemagert. Sie sind bloß beide bunt gescheckt
und beide verrückt. Wirklich merkwürdig, fast unglaublich, dass die
ersten beiden Eingeborenen, die wir auf diesem Planeten treffen,
verrückte Clowns sind.
»Das ist nicht gefährlich«, sagt Wepl.
»Wir müssen ihm helfen«, antworte ich.
»Wie du willst. Er wird uns hinderlich sein.«
Ich weiß selbst, dass er uns hinderlich sein wird,
aber ich kann es nicht ändern. Ich nähere mich langsam dem
tänzelnden Hanswurst, während ich im Handschuh das Saugutensil mit
dem Beruhigungsmittel vorbereite.
»Gefahr von hinten!«, sagt Wepl plötzlich.
Ich drehe mich blitzschnell um, entdecke auf der
anderen Straßenseite aber nichts Besonderes: ein einstöckiges Haus
mit Resten eines giftig lila Anstrichs, davor falsche Säulen, ohne
eine einzige heile Glasscheibe, dafür aber eine übergroße
Türöffnung voller Finsternis. Ein Haus wie jedes andere, scheint
mir. Wepl jedoch betrachtet es in der Pose allerhöchster
Aufmerksamkeit: Er hat sich auf die Pfoten gesetzt, den Kopf tief
geneigt und die kleinen dreieckigen Ohren gespitzt. Mir läuft es
kalt den Rücken hinunter: Seit wir losmarschiert sind, hat Wepl
diese Haltung kein einziges Mal eingenommen. Hinter uns klingeln
verzweifelt die Glöckchen, doch plötzlich wird es still. Nur der
Regen ist noch zu hören.
»In welchem Fenster?«, frage ich.
»Weiß ich nicht.« Wepl wendet den schweren Kopf
langsam von rechts nach links. »In keinem Fenster. Wenn du willst,
schauen wir nach? Aber es ist schon schwächer.« Der schwere Kopf
hebt sich langsam. »Vorbei. Wie immer.«
»Was?«
»Wie zu Anfang.«
»Gibt es Gefahr?«
»Gefahr gab es von Anfang an. Aber gering. Gerade
war sie groß. Jetzt ist es wieder wie am Anfang.«
»Menschen? Ein Tier?«
»Eine große, furchtbare Bosheit.
Unbegreiflich.«
Ich blicke mich nach dem Park um. Der verrückte
Hanswurst ist verschwunden, und im dichten nassen Grün kann man
nichts erkennen.
Vanderhoeze ist sehr beunruhigt. Ich diktiere eine
Meldung. Er befürchtet, dass es sich um einen Hinterhalt gehandelt
hat und der Hanswurst mich ablenken sollte. Er versteht nicht,
dass, wäre es ein Hinterhalt gewesen, dieser sicher geglückt wäre.
Denn der Hanswurst hatte mich tatsächlich so abgelenkt, dass ich
außer ihm nichts mehr sah und hörte; und doch hatte uns niemand
angegriffen. Vanderhoeze schlägt vor, uns Verstärkung zu schicken,
aber ich lehne ab. Unser Auftrag ist unbedeutend, und
höchstwahrscheinlich werden wir selbst bald von der Route genommen
und jemand anderem zur Verstärkung geschickt, Espada zum
Beispiel.
Eine Mitteilung von der Gruppe Espadas: Man hat auf
ihn geschossen, mit Leuchtspurmunition. Anscheinend Warnschüsse.
Espada rückt weiter vor. Wir auch. Vanderhoeze ist aufs Äußerste
beunruhigt, seine Stimme klingt kläglich.
Mit dem Kapitän hatten wir also diesmal kein Glück.
Espadas Kapitän ist Progressor; bei Sheltuchin ist der Kapitän
Progressor. Und wir? Haben Vanderhoeze. Alles hat seine
Berechtigung, gewiss: Espada ist die Kontaktgruppe, Rem der
Hauptlieferant für Informationen, während Wepl und ich ein
ungefährliches Gebiet zu Fuß auskundschaften. Eine Hilfstruppe.
Wenn aber etwas passiert - und irgendetwas passiert immer -, dann
sind wir uns selbst überlassen. Denn letzten Endes ist der gute
alte Vanderhoeze bloß ein Sternenflieger, sehr erfahren zwar, aber
die Instruktion 06/3 ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen:
»Werden auf einem Planeten Anzeichen für intelligentes Leben
festgestellt, ist nach Beseitigung aller Spuren des Aufenthaltes
unverzüglich zu starten …« Und hier nun - Warnschüsse, eine
ganz offensichtliche Ablehnung der Kontaktaufnahme. Aber niemand
denkt daran, unverzüglich zu starten, im Gegenteil: Man rückt
weiter vor und tut auch sonst, was man will …
Der Regen hört auf. Über den nassen Asphalt
springen Frösche. Jetzt also ist mir klar, wovon sich die Schlangen
ernähren. Aber wovon ernähren sich die Frösche? Von den
Mücken.
Die Häuser werden immer höher, luxuriöser; aber es
ist ein verkommener, verschimmelter Luxus. Dann eine sehr lange
Kolonne von Lastwagen unterschiedlichen Typs, am linken Straßenrand
geparkt. Es hat hier offenbar Linksverkehr gegeben. Viele LKW sind
offen; auf den Ladeflächen türmt sich Hausrat. Sieht aus, als hätte
es hier eine Massenevakuierung gegeben, unklar nur, warum sie
Richtung Stadtzentrum gefahren sind. Vielleicht zum Hafen?
Wepl bleibt plötzlich stehen. Aus dem dichten Fell
auf seinem Kopf richten sich die dreieckigen Ohren auf. Wir stehen
kurz vor einer Kreuzung. Die Kreuzung ist leer, die Straße dahinter
auch, soweit man das durch den grauen Dunstschleier sehen
kann.
»Es stinkt«, sagt Wepl. Und nach einer kurzen
Pause: »Tiere.« Und nach einer erneuten Pause: »Viele. Sie kommen
hierher. Von links.«
Jetzt rieche ich auch etwas, aber es ist nur der
nasse Rost der Lastwagen. Und plötzlich: tausendfüßiges Trappeln
und Trommeln, Winseln, Heulen, Schnaufen und Keuchen. Tausende
Füße. Tausende Kehlen. Ein Rudel. Ich sehe mich nach einem
Hauseingang um, wo wir warten könnten, bis es vorübergezogen
ist.
»Mist«, sagt Wepl, »Hunde.«
Im selben Augenblick kommen sie aus der linken
Seitengasse herausgeschossen. Hunderte, Tausende von Hunden. Ein
dichter, grau-gelb-schwarzgemusterter Strom, trappelnd, keuchend
und nach nassem Hundefell stinkend. Die Spitze ist schon in der
rechten Seitengasse verschwunden, und der Strom fließt und fließt,
als sich ein paar Hunde aus dem Rudel lösen und direkt auf uns zu
kommen - große, dürre Tiere, denen das verrottete Fell in Fetzen
herabhängt. Sie haben kleine, trübe und unruhige Augen, ihre Zähne
sind gelb und geifernd. Mit dünnem, klagendem Gekläff traben sie
heran, die höckrigen Leiber gekrümmt, die zuckenden Schwänze
eingezogen. Aber sie kommen nicht auf geradem Weg heran, sondern in
einem seltsamen, schlingernden Bogen.
»Ins Haus!«, schreit Vanderhoeze. »Was steht ihr da
noch herum? Ins Haus!«
Ich bitte ihn, nicht so einen Lärm zu machen, und
greife in meinem Anzug nach dem Scorcher.
Wepl sagt: »Nicht nötig. Ich mache das
selbst.«
Langsam, in seinem typischen schaukelnden Gang,
geht er auf die Hunde zu. Er nimmt keine Kampfhaltung ein. Er geht
einfach.
»Wepl«, sage ich. »Wir sollten uns besser von ihnen
fernhalten.«
»Lass mich«, antwortet Wepl und geht weiter.
Ich weiß nicht, was er vorhat, gehe langsam die
Wagenkolonne entlang in derselben Richtung wie er und halte den
Scorcher dabei mit dem Lauf nach unten in der gesenkten Hand. Ich
muss das Schussfeld vergrößern für den Fall, dass der schmutzig
gelbe Strom als Ganzes zu uns umschwenkt. Wepl geht immer weiter,
die Hunde indes sind stehen geblieben. Sie weichen zurück, wenden
Wepl ihre Flanken zu, krümmen den Rücken noch mehr und klemmen den
Schwanz nun vollends zwischen die Beine. Als Wepl sich bis auf zehn
Schritte genähert hat, stürzen sie plötzlich mit einem panischem
Winseln davon und verschmelzen augenblicklich mit dem Rudel.
Wepl aber geht immer weiter. Mitten auf der Straße,
langsam, schaukelnd, als wäre die Kreuzung vor ihm vollkommen leer.
Ich aber presse jetzt die Zähne zusammen, hebe den Scorcher höher
und wechsle auf die Straßenmitte. Gehe hinter Wepl her. Der
schmutzig gelbe Strom ist schon ganz nahe.
Von dem unerträglichen Gestank (oder vor Angst?)
ist mir ganz übel. Ich versuche geradeaus zu sehen und denke: zwei
Schüsse nach links und sofort einer nach rechts, zwei links und
sofort rechts …
Da ertönt über der Kreuzung ein verzweifeltes
Jaulen. Das Rudel reißt auseinander, die Hunde drängeln, beißen
sich, treten, steigen übereinander, heulen, kläffen und treiben
fort von der Kreuzung und machen die Straße frei.
Sekunden später ist in der rechten Seitenstraße
kein Hund mehr zu sehen; stattdessen drängt sich in der Sackgasse
links eine gigantische Masse an behaarten Leibern, Pfoten und
gebleckten Zähnen. Über dieser Masse steigt weißlicher, stinkender
Dunst auf, und ein tausendstimmiges Heulen vor Verzweiflung
und tödlichem Entsetzen legt sich wie eine Glocke über meine
Ohren; darinnen jault, tost und kreischt es.
Wir überqueren die Kreuzung, die übersät ist mit
Fetzen schmutzigen Fells, und die heulende Meute bleibt hinter uns
zurück. Jetzt zwinge ich mich stehen zu bleiben und
zurückzublicken. Die Mitte der Kreuzung ist noch immer leer. Das
Rudel hat die Richtung geändert und strömt jetzt zu beiden Seiten
der Wagenkolonne die Hauptstraße entlang auf den Stadtrand zu. Das
Winseln und Jaulen verebbt allmählich, noch eine Minute, und alles
ist wie zuvor: Man hört nur noch das geschäftige, tausendfüßige
Trappeln, das Trommeln, Schnaufen und Keuchen. Ich atme auf und
stecke den Scorcher zurück ins Holster. Ich hatte wirklich
Angst.
Vanderhoeze ist empört über unser waghalsiges,
kindisches Manöver und erteilt uns eine Rüge. Beiden. Wepl ist
normalerweise überaus empfindlich gegen Vorwürfe aller Art, aber
diesmal protestiert er aus irgendeinem Grund nicht. Er brummt nur:
»Sag ihm, dass es dabei keinerlei Risiko gab.« Und dann: »Fast
keins …« Ich diktiere Vanderhoeze die Meldung über den
Zwischenfall. Ich habe nicht verstanden, was auf der Kreuzung vor
sich ging, und Vanderhoeze versteht es erst recht nicht. Ich weiche
seinen Fragen aus und betone, dass sich das Rudel jetzt auf das
Schiff zubewegt.
»Wenn sie bis zu euch vordringen, schreckt sie mit
Feuer ab«, schließe ich.
Vanderhoeze betont noch einmal, wie unzufrieden er
mit uns ist, und erlaubt uns dann weiterzugehen. Ich sehe ihn dabei
direkt vor mir - wie immer wird er sich mit den Fingern durch die
linke Seite seines Backenbartes fahren und dann die rechte Seite
zurechtstreichen; anschließend lehnt er sich im Sessel zurück und
verfolgt dann aufs Neue die Rundumbildschirme, sehr wachsam - und
gefasst auf die nächste Unannehmlichkeit.
Wir erreichen das Ende des zweiundzwanzigsten
Viertels, und mir fällt auf, dass jegliches Leben von der Straße
verschwunden ist - nicht eine Ratte, nicht eine Schlange, ja nicht
einmal Frösche sind zu sehen. Vielleicht haben sie sich wegen der
Hunde versteckt, denke ich. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt:
Es liegt an Wepl.
Im vierten Jahr unserer Bekanntschaft stellte sich
plötzlich heraus, dass Wepl recht gut Englisch spricht. Ungefähr
zur selben Zeit fand ich heraus, dass er Musik komponiert - zwar
keine Symphonien, aber kleine Lieder und Melodien, die für das
menschliche Ohr durchaus hübsch klingen. Und nun noch etwas …
Er schielt mit einem gelben Auge zu mir herüber.
»Wie hast du das mit dem Feuer erraten?«, erkundigt er sich.
Ich horche auf. Ich habe also etwas mit dem Feuer
erraten? Wann war das wohl?
»Kommt darauf an, was für ein Feuer«, sage ich aufs
Geratewohl.
»Verstehst du nicht, wovon ich spreche? Oder willst
du nicht darüber sprechen?«
Feuer, Feuer, überlege ich hastig. Ich habe das
Gefühl, vielleicht gleich etwas ganz Wichtiges zu erfahren. Wenn
ich nichts übereile. Wenn ich die richtigen Antworten gebe. Wann
habe ich denn etwas von Feuer gesagt? Ja! Genau, »schreckt sie mit
Feuer ab.«
»Jedes Kind weiß, dass Tiere sich vor Feuer
fürchten«, sage ich. »Deshalb bin ich auch darauf gekommen. War es
denn in diesem Fall so schwer, das zu erraten?«
»Ich finde schon«, brummt Wepl. »Früher bist du
jedenfalls nicht darauf gekommen.«
Er schweigt und hört auf zu schielen. Ende des
Gesprächs. Wie klug er doch ist. Ihm ist klar, dass ich entweder
nicht verstehe, worum es geht, oder aber nicht darüber sprechen
möchte, wenn uns andere hören. In beiden Fällen aber ist es
besser, das Gespräch zu beenden. So, so, er meint also, ich hätte
das mit dem Feuer erraten. In Wahrheit habe ich gar nichts erraten,
sondern bloß zu Vanderhoeze gesagt: »Schreckt sie mit Feuer ab.«
Wepl aber hat daraus gefolgert, ich hätte etwas erraten … Feuer,
Feuer … Wepl hatte natürlich kein Feuer bei sich … Oder doch? Ja,
doch! Nur ich habe es nicht gesehen! Aber die Hunde sahen es. So
war das also! Oh, dieser Wepl …
»Und du … Du hast die Hunde angesengt, nicht?«,
frage ich ein wenig einschmeichelnd.
»Das Feuer sengt«, erwidert Wepl trocken.
»Und das kann jeder Kopfler?«
»Kopfler nennen uns nur die Erdenmenschen. Bei den
Missgeburten des Südens heißen wir Vampire. Und an der Mündung der
Blauen Schlange nennen sie uns Blender. Und auf dem Archipel -
›zsehu‹. Im Russischen gibt es dazu keine Entsprechung. Es
bedeutet, ›der unter der Erde wohnt und mit der Kraft seines
Geistes zu unterwerfen und zu töten vermag‹.«
»Verstehe«, sage ich.
Nur fünf Jahre habe ich also gebraucht, um
herauszufinden, dass mein engster Freund, vor dem ich nie etwas
verborgen habe, die Fähigkeit besitzt, mit der Kraft seines Geistes
zu unterwerfen und zu töten. Hoffentlich nur Hunde, denke ich, aber
- wer weiß. Fünf Jahre Freundschaft! Zum Teufel, warum kränkt mich
das eigentlich so?
Wepl bemerkt den bitteren Unterton in meiner Stimme
sofort, deutet ihn aber auf seine Weise: »Sei nicht neidisch«, sagt
er. »Ihr besitzt dafür sehr vieles, was wir nicht haben und auch
niemals haben werden. Eure Maschinen und eure Wissenschaft zum
Beispiel.«
Wir kommen zu einem Platz und bleiben sofort
stehen, als wir dort, links hinter der Ecke, eine Kanone entdecken:
tief, wie zu Boden geduckt; ein langer Lauf mit dem schweren
Aufsatz einer Mündungsbremse; ein niedriger, breiter Schild, mit
Tarnstreifen im Zickzack bemalt; gespreizte Rohrholme; dicke Räder
mit Gummireifen. Aus dieser Stellung ist so mancher Schuss
abgefeuert worden … vor langer, sehr langer Zeit. Die ringsum
verstreuten leeren Hülsen sind von grünem und rotem Rost völlig
zerfressen, die Sporen der Holme haben den Asphalt bis zum Erdboden
aufgerissen und versinken jetzt in dichtem Gras; am linken ist
sogar ein kleines Bäumchen gewachsen. Der durchgerostete Verschluss
ist zur Seite geschwenkt, das Visier fehlt völlig, und hinter der
Stellung sind angefaulte, halb zerfallene, leere Munitionskisten zu
sehen - allesamt leer. Hier ist bis zur letzten Granate geschossen
worden.
Ich schaue über den Schild und sehe, wohin
geschossen wurde. Genauer gesagt, entdecke ich zuerst große, vom
Efeu überwucherte Einschüsse an der Hauswand gegenüber. Erst danach
fällt mir am Fuß dieses Hauses ein kleiner, schmutzig gelber
Pavillon mit flachem Dach auf, der hier völlig deplatziert wirkt.
Jetzt wird mir klar, dass nicht das Haus, sondern der Pavillon
beschossen wurde - aus nur fünfzig Meter Abstand, fast auf
Tuchfühlung. Die klaffenden Löcher in der Hauswand dahinter sind
bloß Fehlschüsse, obwohl es fast unmöglich scheint, aus so geringer
Distanz das Ziel zu verfehlen. Die Fehlschüsse sind allerdings
nicht allzu zahlreich, und man kann nur über die Standfestigkeit
dieser Anlage staunen, die so viele Treffer erhalten und sich
trotzdem nicht in einen Schutthaufen verwandelt hat.
Anfangs schien mir, als sei der Pavillon durch die
schweren Einschläge der Geschosse verrückt und nach hinten
geschoben worden, denn er steht halb auf dem Trottoir und mit einer
Ecke fast in die Hauswand gedrückt. Aber so ist es nicht.
Die Geschosse haben runde Löcher mit versengten,
rußigen Rändern in die gelbe Fassade geschlagen und sind dann
drinnen explodiert. Dadurch wurden die breiten Türflügel des
Eingangs nach außen gedrückt und scheinen jetzt an unsichtbaren
letzten Fädchen zu hängen. Im Pavillon war Feuer ausgebrochen, und
alles, was sich dort befand, verbrannte. Flammenzungen haben über
dem Eingang und über den Einschusslöchern schwarze Spuren
hinterlassen.
Aber der Pavillon steht natürlich genau dort, wo
ihn die Bauherren - aus welchem Grund auch immer - von Anfang an
errichtet hatten: wo er den Fußweg versperrt und einen Teil der
Fahrbahn blockiert, was den Verkehr zweifellos behindert haben
muss.
Alles, was hier geschah, liegt viele Jahre zurück;
längst sind die Gerüche von Brand und Schüssen verschwunden.
Geblieben jedoch - und noch immer bedrückend - ist die Atmosphäre
des Hasses, der Wut und der Raserei, die den Artilleristen damals
die Hand führten.
Ich mache mich ans Diktieren der nächsten Meldung.
Wepl sitzt ein wenig entfernt von mir, schielt zu mir herüber,
verzieht verächtlich seine Mundwinkel und knurrt demonstrativ laut:
»Menschen - wie sollte es da einen Zweifel geben. Natürlich waren
es Menschen. Eisen und Feuer, Trümmer und Ruinen, es ist immer
dasselbe.« Anscheinend spürt auch er die bedrückende Atmosphäre,
und sicher noch viel intensiver als ich. Gewiss wird er sich an
seine Heimat erinnern: Wälder voll mit tödlichem Kriegsgerät, zu
Asche verbrannte Flächen, in denen nur noch verkohlte radioaktive
Baumstämme stehen, wo sogar die Erde von Hass, Angst und Tod
getränkt ist.
Hier auf diesem Platz gibt es für uns nichts mehr
zu tun. Wir würden nur immer neue Hypothesen entwickeln oder in
unserer Phantasie Bilder zeichnen - eines schrecklicher als das
andere. Wir gehen weiter, und mir kommt ein Gedanke: Gerät eine
Zivilisation in die globale Katastrophe, werden alle
Scheußlichkeiten an die Oberfläche gespült - all der Bodensatz, der
sich über Jahrhunderte in den Genen des Soziums
angesammelt hat. Die Gräuel und Abscheulichkeiten können
unterschiedlichste Formen annehmen, anhand derer man beurteilen
kann, wie unglücklich die gegebene Zivilisation vor dem Kataklysmus
war. Aber man wird kaum etwas über den Kataklysmus selbst sagen
können; denn ganz gleich, ob es sich um eine globale Seuche, einen
Weltkrieg oder eine geologische Katastrophe handelt - alle
Kataklysmen fördern das Böse zutage: Hass, animalischen Egoismus
und Grausamkeit, die gerechtfertigt scheinen, aber nicht im
Geringsten gerechtfertigt sind …
Eine Mitteilung von Espada: Er hat Kontakt
aufgenommen. Befehl von Komow: Alle Gruppen sollen ihre
Translatoren zur Aufnahme linguistischer Informationen
bereithalten. Ich taste hinter meinem Rücken nach dem tragbaren
Übersetzungsgerät und schalte es ein.