2. JUNI’78
Maja Glumowa, die Freundin Lew
Abalkins
Ich meldete Maja Toivowna meinen Besuch nicht an,
sondern ging um neun Uhr morgens direkt zum Platz der Sterne.
Es hatte ein wenig geregnet, und der große
Museumswürfel aus unpoliertem Marmor glänzte feucht in der Sonne.
Schon von weitem sah ich vor dem Haupteingang eine kleine,
buntgemischte Menschenmenge, und als ich näher kam, hörte ich
unzufriedene und enttäuschte Ausrufe. Das Museum war seit gestern
für die Besucher geschlossen, weil eine neue Ausstellung
vorbereitet wurde. Die Menschenmenge bestand hauptsächlich aus
Touristen; besonders verärgert aber waren ein paar Wissenschaftler,
die gerade an diesem Morgen mit den Exponaten hatten arbeiten
wollen. Die neue Ausstellung
war ihnen gleichgültig; sie waren der Meinung, man hätte sie
rechtzeitig über die Änderung informieren müssen. Jetzt würde der
Tag unnütz verstreichen … Verschlimmert wurde das Durcheinander
durch die Reinigungskyber, die man anscheinend noch nicht
umprogrammiert hatte: Nun irrten sie ziellos durch die Menge,
gerieten den Leuten zwischen die Beine, wichen hektisch wütenden
Fußtritten aus und gaben jede Minute Anlass zu schadenfrohem
Gelächter, wenn sie wieder unsinnigerweise versuchten, durch die
geschlossenen Türen zu gehen.
Jetzt wusste ich, was vorgefallen war, und wollte
mich nicht weiter damit aufhalten. Da ich schon des Öfteren im
Museum zu tun gehabt hatte, wusste ich, wo der Diensteingang lag.
Ich ging also um das Gebäude herum und folgte einer kleinen,
schattigen Allee, bis ich zur Pforte kam; sie lag ganz versteckt
hinter einer dichten Wand von Rankenpflanzen. Die Tür war breit und
niedrig und bestand aus Kunststoff mit Eichenmaserung. Sie war
ebenfalls verschlossen. An der Schwelle lief ein Reinigungskyber
hin und her und schien hoffnungslos niedergeschlagen: Über Nacht
hatte sich der Ärmste fast völlig entladen und jetzt kaum eine
Chance, sich im Schatten wieder mit Energie aufzuladen.
Ich schob ihn mit dem Fuß beiseite und klopfte
ärgerlich an die Tür. Von innen ließ sich eine Grabesstimme
vernehmen: »Das Museum für Außerirdische Kulturen ist zwecks der
Umgestaltung der zentralen Räume für eine neue Ausstellung
geschlossen. Haben Sie bitte Verständnis und kommen Sie in einer
Woche wieder.«
»Massaraksch!«, sagte ich laut und blickte mich ein
wenig ratlos um.
Es war niemand zu sehen, nur der Kyber piepste
bekümmert zu meinen Füßen. Offensichtlich interessierte er sich für
meine Schuhe.
Ich schob ihn beiseite und klopfte jetzt mit der
Faust gegen die Tür.
»Das Museum für Außerirdische Kulturen …«, setzte
die Grabesstimme an, verstummte dann aber plötzlich.
Die Tür öffnete sich.
»Na also«, sagte ich und trat ein.
Der Kyber blieb auf der Schwelle.
»Was ist?«, sagte ich zu ihm, »komm rein.«
Aber er wich zurück, als könnte er sich nicht
entscheiden, und in dem Moment schlug die Tür wieder zu.
In den Gängen hing kein besonders starker, dafür
aber sehr eigenartiger Geruch. Schon vor längerer Zeit hatte ich
festgestellt, dass jedes Museum anders roch. Besonders intensiv war
er in den zoologischen Museen, aber auch hier roch es streng. Nach
außerirdischen Kulturen vermutlich …
Ich schaute in einen der Räume hinein und entdeckte
dort zwei noch sehr junge Mädchen, die Molekularlötkolben in ihren
Händen hielten. Sie hantierten damit im Innern einer Konstruktion,
die an eine gigantische Rolle Stacheldraht erinnerte. Ich
erkundigte mich, wo ich Maja Toivowna finden könne, bekam
detaillierte Hinweise und machte mich auf die Suche. Sie führte
durch die vielen Gänge und Säle der Spezialabteilung »Objekte der
materiellen Kultur mit ungeklärter Bestimmung«, wo mir niemand
begegnete. Anscheinend hielten sich die meisten Mitarbeiter in den
zentralen Räumen auf und befassten sich dort mit der neuen
Ausstellung. Hier dagegen war nichts und niemand - außer Objekten,
deren Funktion bislang nicht geklärt werden konnte. Von solchen
Objekten allerdings bekam ich mehr als genug zu sehen, und am Ende
war ich überzeugt, dass ihre Bestimmung wohl auch in Zukunft und
bis in alle Ewigkeit, Amen, ungeklärt bleiben würde.
Maja Toivowna fand ich in ihrem Arbeitszimmer. Als
ich eintrat, blickte sie zu mir auf - eine bildhübsche und,
wie mir schien, liebenswerte Frau mit schönem, kastanienbraunem
Haar, großen grauen Augen und der Andeutung einer Stupsnase; über
der rechten Braue hatte sie ein kleines schwarzes Muttermal. Sie
trug eine ärmellose blaue Bluse mit schwarz-weißen Streifen und
hatte kräftige Arme und Hände mit langen, schlanken Fingern. Eine
bezaubernde Frau.
Ein wenig zerstreut blickte sie mich an - nicht
einmal mich, sondern durch mich hindurch schaute sie und schwieg.
Der Tisch war leer, nur ihre Hände lagen darauf, als hätte sie sie
vor sich hingelegt und dann vergessen.
»Verzeihen Sie bitte«, sagte ich. »Ich heiße Maxim
Kammerer.«
»Ja. Ich höre.«
Ihre Stimme klang ebenfalls zerstreut. Zudem sagte
sie nicht die Wahrheit: Sie hatte weder ein Ohr für mich, noch sah
sie mich überhaupt. Ich kam ihr an diesem Tag offensichtlich
ungelegen. Jeder halbwegs höfliche Mensch hätte sich an meiner
Stelle entschuldigt und wäre unauffällig wieder gegangen. Aber ich
konnte es mir nicht erlauben, höflich zu sein. Ich war Mitarbeiter
der KomKon 2 im Dienst. Daher machte ich keine Anstalten, mich zu
entschuldigen oder gar zu gehen, sondern setzte mich in einen der
Sessel, nahm einen einfältigen, arglos-freundlichen
Gesichtsausdruck an und fragte: »Was ist denn heute hier los?
Niemanden lassen sie ins Museum …«
Sie schien ein wenig überrascht. »So? Sie lassen
niemanden ins Museum?«
»Ja, das sage ich doch! Mit Mühe und Not bin ich
durch den Diensteingang hereingekommen.«
»Ach so … Verzeihung. Wer sind Sie? Kann ich Ihnen
weiterhelfen?«
Ich wiederholte, ich sei Maxim Kammerer, und
erzählte ihr meine Legende.
Und da geschah etwas ganz Erstaunliches: Kaum hatte
ich den Namen Lew Abalkin ausgesprochen, wich die Zerstreutheit von
ihrem Gesicht. Sie war auf einmal hellwach und hing förmlich an
meinen Lippen. Sie sagte jedoch kein Wort und hörte mich bis zu
Ende an. Dann hob sie langsam ihre Hände vom Tisch, verschränkte
die schlanken Finger und legte ihr Kinn darauf.
»Haben Sie ihn selbst gekannt?«, fragte sie.
Ich erzählte ihr von der Expedition ins
Mündungsgebiet der Blauen Schlange.
»Und über all das werden Sie schreiben?«
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Aber es wird
nicht reichen.«
»Nicht reichen - wofür?«, fragte sie.
Ihr Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck
angenommen - so, als könnte sie nur mit großer Mühe ihr Lachen
zurückhalten. Sogar ihre Augen hatten zu funkeln begonnen.
»Verstehen Sie«, begann ich noch einmal, »ich
möchte zeigen, wie sich Abalkin zu einer Kapazität auf seinem
Gebiet entwickelt hat. Im Grenzbereich von Tierpsychologie und
Soziopsychologie hat er etwas in der Art …«
»Aber er ist doch gar keine Kapazität auf seinem
Gebiet geworden«, sagte sie. »Die haben einen Progressor aus ihm
gemacht. Die haben ihn doch … Die …«
Nein, Maja Glumowa hatte nicht ihr Lachen
zurückhalten wollen, sondern ihre Tränen. Und jetzt hielt sie sie
nicht mehr zurück. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann
zu weinen. Oh Gott, wenn eine Frau weint, ist das schrecklich
genug, aber hier verstand ich nicht einmal, warum. Sie weinte
heftig, selbstvergessen, wie ein Kind, und zitterte dabei am ganzen
Körper. Und ich saß da wie ein Trottel und wusste nicht, was ich
tun sollte. In solchen Fällen bringt man meist ein Glas Wasser,
aber in diesem Zimmer gab es weder ein Glas noch Wasser noch etwas
anderes, was ich ihr stattdessen
hätte geben können - nur Regale voller Objekte ungeklärter
Funktion …
Sie aber weinte und weinte; die Tränen flossen in
Rinnsalen zwischen ihren Fingern hindurch und fielen auf den Tisch.
Sie verbarg noch immer ihr Gesicht in den Händen und schluchzte
heftig, fing dann aber plötzlich an zu sprechen - konfus und
stockend, als würde sie laut denken, und unterbrach sich dabei
immer wieder selbst.
… Er hatte sie geschlagen - und wie! Sie brauchte
nur aufzumucken, und schon setzte es was. Ihm war egal, dass sie
ein Mädchen und drei Jahre jünger war als er - sie gehörte ihm,
basta. Sie war ihm wie ein Ding, das er besaß; sie war sein
persönliches Eigentum. Und das wurde sie sofort, fast noch am
selben Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Da war sie
fünf, er acht. Er lief im Kreise herum und schrie seinen eigenen
Abzählreim: »Ein Mann stand am Tor, die Tiere davor, er nahm sein
Gewehr, und sie lebten nicht mehr!« Zehnmal, zwanzigmal
hintereinander. Sie musste lachen, und dann verprügelte er sie zum
ersten Mal …
… Es war schön - sein Eigentum zu sein, denn er
liebte sie. Er liebte nie jemand anderen. Nur sie. Alle Übrigen
waren ihm gleichgültig. Sie begriffen nichts und konnten nichts
begreifen. Er jedoch trat auf der Bühne auf, sang Lieder und trug
Gedichte vor - für sie. So sagte er es auch: »Das war für dich, hat
es dir gefallen?« Er machte beim Hochsprung mit - für sie. Er
tauchte zweiunddreißig Meter tief - für sie. Und nachts schrieb er
Gedichte - für sie. Er wusste diese Sache, die ihm gehörte, sehr zu
schätzen, und er war immer bemüht, ihrer würdig zu sein. Niemand
wusste etwas davon. Er konnte es immer so einrichten, dass es
keiner mitbekam. Bis zum letzten Jahr, als sein Lehrer es erfuhr
…
… Ihm gehörten noch viele andere Dinge. Der ganze
Wald rings um das Internat war eine sehr große Sache, die ihm
gehörte. Jeder Vogel in diesem Wald, jedes Eichhörnchen,
jeder Frosch. Er befahl über die Schlangen, er begann und beendete
Kriege zwischen den Ameisenhaufen, er konnte Hirsche heilen, und
sie alle gehörten ihm, außer einem alten Elch namens Rex, den er
als ebenbürtig anerkannte, doch später bekam er Streit mit ihm und
vertrieb ihn aus dem Wald …
… Wie dumm sie gewesen war! Alles war so gut
gewesen, aber dann, als sie herangewachsen war, setzte sie sich in
den Kopf, sich von ihm zu befreien. Sagte ihm ins Gesicht, dass sie
keine Lust mehr hatte, sein Eigentum zu sein. Er verprügelte sie,
aber sie blieb stur, bestand auf ihrem Willen, so dumm, so verdammt
dumm war sie damals. Da verprügelte er sie wieder, brutal,
gnadenlos, ebenso wie er seine Wölfe prügelte, wenn sie versuchten,
ihm den Gehorsam zu verweigern. Aber sie war kein Wolf; sie war
unnachgiebiger, sturer als alle seine Wölfe zusammen. Und da zog er
sein Messer aus dem Gürtel; er selbst hatte es aus einem Knochen
gefertigt, den er im Wald gefunden hatte, und mit dem Lächeln eines
Wahnsinnigen schlitzte er sich langsam den Arm auf, von der Hand
bis zum Ellenbogen. Er stand vor ihr, mit diesem wie irren Lächeln,
das Blut sprudelte aus seinem Arm wie Wasser aus dem Hahn, und er
fragte: »Und jetzt?« Und noch ehe er zusammenbrach, wusste sie,
dass er Recht hatte. Dass er immer Recht gehabt hatte, von Anfang
an. Aber sie in ihrer unfassbaren Dummheit hatte es nicht einsehen
wollen …
… Nachdem sie aus den Ferien zurückgekommen war, in
seinem letzten Jahr im Internat, war es aus zwischen ihnen.
Irgendetwas war geschehen. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon im
Griff. Oder sie hatten alles erfahren und furchtbare Angst
bekommen, diese Idioten. Verdammte, intelligente Kretins. Er wandte
sich von ihr ab und blickte durch sie hindurch. Und schaute sie nie
wieder an. Sie existierte nicht mehr für ihn, wie all die anderen.
Er hatte die Sache, die ihm gehörte, verloren und sich mit diesem
Verlust abgefunden.
Und als er sich ihrer wieder erinnerte, war alles anders. Das
Leben hatte für immer aufgehört, der geheimnisvolle Wald zu sein,
wo er Herr und Gebieter war - und sie das Wertvollste, das er
besaß. Sie hatten damit angefangen, ihn umzuformen; er war schon
fast Progressor, schon auf halbem Wege in eine andere Welt, eine
Welt, in der einer den anderen quält und verrät. Er hatte sich für
diesen Weg entschieden, ging ihn festen Schrittes und erwies sich
als guter Schüler, war fleißig und begabt. Er schrieb ihr, sie
antwortete nicht. Er rief sie an, sie nahm nicht ab. Dabei hätte er
weder schreiben noch anrufen sollen, sondern selber kommen, sie
verprügeln, wie damals, und dann wäre vielleicht alles wieder
geworden wie früher. Aber er war schon kein Gebieter mehr. Er war
jetzt nur noch ein Mann wie all die vielen ringsumher, und er
schrieb ihr auch nicht länger …
… Sein letzter Brief, wie immer von Hand
geschrieben - denn er akzeptierte nur handgeschriebene Briefe,
weder Kristall- noch Magnetaufzeichnungen -, war just von dort
gekommen: aus dem Gebiet jenseits der Blauen Schlange. »Ein Mann
stand am Tor, die Tiere davor«, schrieb er, »er nahm sein Gewehr,
und sie lebten nicht mehr.« Weiter stand nichts in seinem letzten
Brief …
Sie sprach wie im Fieber, schluchzte und schnäuzte
sich die Nase in zerknüllte Labortücher, und plötzlich begriff ich
- und eine Sekunde später sagte sie es selbst: Sie hatte sich am
gestrigen Tag mit ihm getroffen. Zur selben Zeit, als ich sie
angerufen und mit Toivo gesprochen hatte, während ich mit Jadwiga
telefonierte, und während ich mich mit Seiner Exzellenz unterhielt,
während ich mich zu Hause in den Bericht über die Operation »Tote
Welt« vertiefte - diese ganze Zeit war sie mit ihm zusammen
gewesen, hatte ihn angeschaut, ihm zugehört. Aber irgendetwas
schien zwischen ihnen vorgefallen zu sein, weswegen sie sich jetzt
bei einem Unbekannten ausweinte.