2. JUNI’78
In der Hütte Nummer sechs
Mir war klar, dass sich Lew Abalkin wohl nie
wieder in »Ossinuschka« blicken lassen und ich im Haus Nummer sechs
daher nichts finden würde, was mir von Nutzen sein könnte. Zwei
Dinge aber waren mir noch immer unklar: Wie war Lew Abalkin nach
»Ossinuschka« gekommen und wozu? Von seinem Standpunkt aus
betrachtet - wenn er sich wirklich versteckt hielt -, wäre es
weitaus logischer und gefahrloser gewesen, sich an einen Arzt in
einer Großstadt zu wenden. Etwa in Moskau, wohin es von hier aus
zehn Minuten Flug waren, oder in Waldai, ganze zwei Flugminuten
entfernt.
Höchstwahrscheinlich aber war er einfach zufällig hierhergeraten:
Entweder er hatte die Warnung vor dem Neutrinosturm nicht beachtet,
oder es war ihm gleichgültig gewesen, wo er ankam. Er hatte einen
Arzt gebraucht, dringend. Wozu?
Und noch etwas war seltsam. Konnte es sein, dass
sich ein erfahrener, hundertjähriger Arzt derart irrte, dass er
einen gestandenen Progressor als ungeeignet für diesen Beruf
betrachtete? Wohl kaum. Zumal die Frage nach der beruflichen
Orientierung Abalkins nicht zum ersten Mal auftauchte. Der Fall
schien mir beispiellos zu sein: Einen Menschen entgegen seiner
beruflichen Neigungen zum Progressor zu machen, ist eine Sache.
Etwas ganz anderes aber ist es, jemanden zum Progressor zu machen,
dessen nervliche Konstitution dafür vollkommen ungeeignet ist.
Dafür müsste man den Verantwortlichen seines Amtes entheben, und
das nicht nur zeitweilig, sondern für immer. Denn hier ging es
nicht mehr um die Verschwendung menschlicher Energie, sondern
darum, dass Menschen starben, um Tote. Tristan war bereits
umgekommen. Und ich dachte, dass ich später, wenn ich Lew Abalkin
gefunden hatte, unbedingt die Leute ausfindig machen musste, die
die Schuld daran trugen.
Wie erwartet, war die Tür zu Lew Abalkins
zeitweiligem Domizil nicht verschlossen. Der kleine Vorraum war
leer, nur auf einem niedrigen runden Tischchen, das unter einer
Gaslampe stand, befand sich ein Pandabärchen aus Plüsch, nickte
wichtig mit dem Kopf und ließ seine rubinroten Äuglein
funkeln.
Ich warf einen Blick nach rechts ins Schlafzimmer.
Hier war offenbar seit mehreren Jahren niemand mehr gewesen - nicht
einmal die Lichtautomatik war eingeschaltet. In der Ecke über dem
flüchtig zugedeckten Bett hingen vertrocknete Spinnen inmitten
eines dunklen Geflechts von unzähligen Spinnweben.
Ich ging am Tischchen vorbei in die Küche; sie war
benutzt worden. Auf einem Klapptisch fanden sich schmutzige Teller;
das Fenster der Versorgungslinie stand offen, und in der
Empfangsnische lag ein nicht abgeholtes Bündel Bananen. Bei sich im
Stab Z hatte sich Lew Abalkin anscheinend an die Dienste eines
Burschen gewöhnt; oder aber, auch das war möglich, er wusste nicht,
wie der Reinigungskyber in Gang gesetzt wird.
Die Küche hatte mich ein wenig auf das vorbereitet,
was mich im Wohnzimmer erwartete - wenn auch in bescheidenem Maße,
denn der ganze Fußboden war mit Fetzen zerrissenen Papiers übersät,
die breite Liege verwüstet. Die bunten Kissen lagen kreuz und quer,
eins sogar auf dem Boden in der entferntesten Zimmerecke. Der
Sessel war umgekippt, auf dem Tisch standen Schüsseln mit
angetrockneten Speisen, schmutzige Teller und eine angebrochene
Flasche Wein. Eine weitere Flasche war an die Wand gerollt und
hatte eine klebrige Spur auf dem Teppich hinterlassen. Ich konnte
allerdings nur ein Glas mit einem Rest Wein entdecken; weil aber
der Vorhang herabgerissen war und nur noch an ein paar Fäden hing,
nahm ich an, das zweite Glas müsse durch das offen stehende Fenster
nach draußen geflogen sein.
Nicht nur auf dem Boden lagen Papierfetzen oder
zerknülltes Papier: Die Schnipsel waren auch in die Schüsseln mit
dem Essen geraten, wobei Schüsseln und Teller ein wenig beiseite
geschoben waren. Und auf dem freien Platz lag ein ganzer Stapel
weißes, glänzendes Papier; ein paar Bögen davon fanden sich zudem
auf der Liege.
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte und trat
sogleich auf etwas Spitzes, das sich in meine Fußsohle bohrte. Es
war ein Stück Bernstein, das aussah wie ein Backenzahn mit zwei
Wurzeln. In der Mitte war er durchbohrt. Ich ging in die Hocke,
schaute mich um und entdeckte noch ein paar weitere
Stücke und schließlich, unter dem Tisch, direkt neben der Liege,
eine zerrissene Bernsteinkette.
Immer noch auf dem Boden hockend, hob ich einen
Papierfetzen auf und strich ihn auf dem Teppich glatt. Es war die
Hälfte von einem Blatt gewöhnlichen Schreibpapiers; darauf hatte
jemand mit Kugelschreiber ein Gesicht gezeichnet, das Gesicht eines
Kindes. Ein pausbäckiger Junge von vielleicht zwölf Jahren, meinem
Empfinden nach ein Petzer. Die Zeichnung war mit ein paar sicheren,
exakten Strichen ausgeführt. Eine sehr, sehr gute Zeichnung. Und
plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich mich vielleicht irrte, dass
es gar nicht Lew Abalkin, sondern tatsächlich ein professioneller
Künstler in einer Schaffenskrise gewesen war, der dieses ganze
Chaos hinterlassen hatte.
Ich sammelte die verstreuten Papierfetzen ein, hob
den Sessel auf und setzte mich.
Ich sah mir die Blätter an. Wieder erschien mir das
alles sehr merkwürdig. Jemand hatte schnell und mit sicherer Hand
Gesichter auf die Blätter gezeichnet, vorwiegend von Kindern. Aber
auch Tiere, anscheinend irdische, sowie Bauwerke, Landschaften und,
wie mir schien, sogar Wolken. Es gab zudem ein paar schematische
Darstellungen und eine Art Geländeskizze, die durchaus von einem
professionellen Topografen hätte stammen können: Gehölze, Bäche,
Sümpfe, Wegkreuzungen, und, inmitten der einfachen topografischen
Zeichen - winzige menschliche Figuren, sitzend, liegend und
laufend, sowie winzige Abbildungen von Hirschen, Elchen, Wölfen und
Hunden. Manche dieser Figuren waren, wer weiß warum,
durchgestrichen.
Das alles war sehr mysteriös und passte so gar
nicht zu dem Chaos im Zimmer oder zu dem Bild eines Stabsoffiziers
des Inselimperiums, der die Rekonditionierung noch nicht
durchlaufen hatte. Auf einem der Blätter entdeckte ich ein
hervorragend gezeichnetes Porträt Maja Glumowas. Was mich daran
besonders erstaunte, war der sehr gekonnt eingefangene
Ausdruck von Verwirrung, beziehungsweise Befremden in dem
lächelnden und fröhlichen Gesicht. Es war auch eine Karikatur des
Lehrers Sergej Pawlowitsch Fedossejew dabei - eine meisterhafte
Karikatur: Sicher war Sergej Pawlowitsch vor fünfundzwanzig Jahren
genau so gewesen. Als ich die Karikatur ansah, wurde mir auch klar,
welche Gebäude auf den vorherigen Zeichnungen abgebildet gewesen
waren; so hatte vor fünfundzwanzig Jahren die typische Architektur
der eurasischen Internatsschulen ausgesehen. Und all das war
schnell, sicher und exakt gezeichnet und anschließend sofort
zerrissen, zusammengeknüllt und weggeworfen worden.
Ich legte die Papiere beiseite und sah mich noch
einmal im Wohnzimmer um. Ich entdeckte einen blauen Lappen, der
unter dem Tisch lag, und hob ihn auf. Es war das zusammengeknüllte,
zerfetzte Taschentuch einer Frau. Mir fiel sofort die Erzählung von
Akutagawa ein, und ich stellte mir vor, wie Maja Toivowna dort auf
dem Sessel vor Lew Abalkin saß, ihn ansah und ihm zuhörte. Und auf
ihrem Gesicht lag ein Lächeln, hinter dem der Ausdruck von
Verwirrung oder Befremden nur als schwacher Schatten
durchschimmerte, während ihre Hände unter dem Tisch erbarmungslos
am Taschentuch zerrten und rissen.
Ich sah Maja Glumowa deutlich vor mir, konnte mir
aber einfach nicht vorstellen, was sie da gesehen und gehört hatte.
Es hing mit diesen Zeichnungen zusammen. Wären sie nicht gewesen,
hätte ich mir auf dieser übel zugerichteten Liege ohne Mühe einen
gewöhnlichen Offizier des Imperiums vorstellen können: frisch aus
der Kaserne, wie er seinen verdienten Urlaub genießt. Aber die
Zeichnungen waren da, und dahinter verbarg sich irgendetwas sehr
Wichtiges, sehr Kompliziertes und sehr Düsteres.
Hier aber blieb mir nichts mehr zu tun. Ich
streckte die Hand nach dem Videofon aus und wählte die Nummer
Seiner Exzellenz.