Dokument 8
KomKon 2
Ural/Norden
Bericht Nr. 016/99
Datum: 8. Mai’99
Autor: T. Glumow, Inspektor
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Aufenthalt Hexenmeisters (Saraksch) in der
Charkower Filiale des Instituts für Metaphysische Forschungen
(Institut der Sonderlinge)
Gemäß Ihrer Anordnung von gestern Morgen habe ich
mich in die Charkower Filiale des Instituts der Sonderlinge
begeben. Der stellvertretende Direktor Logowenko hatte sich
bereiterklärt, mich um 10 Uhr zu empfangen.
Allerdings wurde ich nicht gleich zu ihm
vorgelassen, sondern einer Untersuchung in der Gleitfrequenzkammer
WFK 8 unterzogen, die auch »Sonderlingsfang« heißt. Wie sich
zeigte, wird mit jedem neuen Besucher der Filiale so verfahren. Das
Ziel: Bei den auf diese Weise zufällig ausgesuchten Menschen
»latente metaphysische Fähigkeiten« zu entdecken, beziehungsweise
eine »verdeckte Sonderlichkeit«.
Um 10:25 Uhr wurde ich dem stellvertretenden
Direktor für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen
vorgestellt.
Notiz zur Person:
Logowenko, Daniil Alexandrowitsch, Doktor der
Psychologie, korrespondierendes Mitglied der AdMW Europas. Geboren
am 17. 09.’30 in Borispol. Ausbildung: Institut für Psychologie,
Kiew; Fakultät für Verwaltung der Kiewer Universität; Fachkurse in
höherer und anomaler Ethologie in Split. Arbeitsschwerpunkt:
Metapsychologie; hat den sog. »Logowenko-Impuls« entdeckt (auch
»Mentogrammspitze T« genannt). Einer der Begründer der Charkower
Filiale des Instituts für Metapsychische Forschungen.
D. Logowenko erzählte mir, er selbst habe
Hexenmeister am Morgen des 25. März dieses Jahres auf dem Kosmodrom
Mirza-Charle empfangen und ihn auf direktem Weg zur Filiale
gebracht. Dabei waren anwesend: der Abteilungsleiter der Filiale,
Bohdan Haidai, und Hexenmeisters Begleiter von der KomKon 1, der
uns bekannte Borja Laptew.
Nach seiner Ankunft in der Filiale verzichtete
Hexenmeister auf das traditionelle Einführungsgespräch mit
Bewirtung und äußerte den Wunsch, die Tätigkeit der Mitarbeiter und
ihre Probanden so schnell wie möglich kennenzulernen. Daraufhin
übergab ihn D. Logowenko der Obhut von B. Haidai. Weiteren Kontakt
hatte es nicht gegeben.
ICH: Welches Ziel verfolgte Hexenmeister Ihrer
Meinung nach im Institut?
LOGOWENKO: Darüber hat er mit mir nicht
gesprochen. Die KomKon hat uns informiert, Hexenmeister habe den
Wunsch geäußert, unsere Arbeit kennenzulernen, und wir haben ihm
gerne die Möglichkeit dazu gegeben. Nicht völlig uneigennützig
übrigens: Wir rechneten damit, ihn selbst untersuchen zu können.
Noch nie war ein Psychokrat von ähnlicher Kraft zu uns gekommen -
noch dazu ein Außerirdischer.
ICH: Was hat die Untersuchung ergeben?
LOGOWENKO: Es hat keine Untersuchung
stattgefunden. Hexenmeister brach seinen Besuch völlig unerwartet
für uns alle ab.
ICH: Was halten Sie für den Grund?
LOGOWENKO: Wir können nur Mutmaßungen anstellen.
Ich persönlich neige zu folgender: Man stellte ihm Michel Desmonde
vor, einen Polymentalen. Womöglich hat Hexenmeister bei ihm etwas
wahrgenommen, was uns entgangen ist und was ihn entweder erschreckt
oder gekränkt, jedenfalls aber schockiert hat, so dass er nichts
mehr mit uns zu tun haben wollte. Vergessen Sie nicht, er ist zwar
ein Psychokrat, ein Intellektueller, aber seiner Herkunft, d. h.
seiner Erziehung und seiner Weltanschauung nach, ist er, wenn Sie
so wollen, ein typischer Wilder.
ICH: Ich verstehe nicht ganz. Was ist ein
Polymentaler?
LOGOWENKO: Polymentalismus ist eine sehr seltene
metapsychische Erscheinung und bedeutet, dass zwei oder mehr
unabhängige Bewusstseinseinheiten in demselben menschlichen
Organismus koexistieren. Nicht zu verwechseln mit Schizophrenie,
denn es handelt sich nicht um etwas Pathologisches. Michel
Desmonde, zum Beispiel. Ein vollkommen gesunder, sehr angenehmer
junger Mann, bei dem keinerlei Abweichungen von der Norm vorliegen.
Aber vor
ungefähr zehn Jahren wurde zufällig entdeckt, dass er zwei
Mentogramme hat. Ein gewöhnliches, menschliches, das eindeutig mit
seiner Vergangenheit und Gegenwart verbunden ist. Und ein anderes,
das nur bei einer bestimmten, genau vorgegebenen Tiefe der
Mentoskopie zum Vorschein kommt. Es ist das Mentogramm eines
Wesens, das nichts mit Michel gemein hat und in einer Welt lebt,
die wir trotz aller Bemühungen noch nicht identifizieren konnten.
Offensichtlich handelt es sich um eine Welt, in der ungewöhnlich
hohe Drücke und Temperaturen herrschen … Doch das ist nicht
wichtig. Wichtig ist, dass Michel weder von dieser anderen Welt
noch von diesem anderen Bewusstsein etwas weiß und jenes Wesen
weder von Michel noch von unserer Welt etwas ahnt. Ich glaube, wir
haben bei Michel ein Nachbarbewusstsein entdecken können. Aber
vielleicht koexistieren in ihm noch weitere, die sich unseren
Untersuchungsmethoden entziehen. Und diese haben Hexenmeister
womöglich so schockiert.
ICH: Für Sie ist die zweite Welt von Michel
Desmonde nicht schockierend?
LOGOWENKO: Nein. Definitiv nicht. Erwähnen muss
ich allerdings, dass der Mentoskopist, der als Erster einen Blick
in diese Welt geworfen und sie erkannt hat, schwer erschüttert war.
Vor allem, weil er dachte, Michel sei ein getarnter Agent
irgendwelcher Wanderer - ein Progressor aus einer fremden
Welt.
ICH: Wie hat man festgestellt, dass das nicht der
Fall ist?
LOGOWENKO: Da können Sie beruhigt sein. Zwischen
dem Verhalten Michels und den Aktivitäten des zweiten Bewusstseins
besteht keine Korrelation. Die benachbarten Bewusstseinseinheiten
des Polymentalen stehen in keinerlei Wechselwirkung. Sie können
grundsätzlich nicht interagieren, da sie in verschiedenen Räumen
aktiv sind. Eine grobe Analogie: Stellen Sie sich ein Schattenspiel
vor. Die
auf die Leinwand projizierten Schatten können nicht interagieren.
Blieben da noch allerlei phantastische Erwägungen, aber die sind
und bleiben eben phantastisch.
Damit endete mein Gespräch mit D. Logowenko und
ich wurde B. A. Haidai vorgestellt.
Notiz zur Person:
Haidai, Bohdan Archypowytsch, Magister der
Psychologie. Geboren am 10. 06.’55 in Seredina-Buda. Ausbildung:
Institut für Psychologie, Kiew; Fachkurse in höherer und anomaler
Ethologie in Split. Arbeitsschwerpunkt: Metapsychologie. Seit’89
Mitarbeiter der Abteilung Psychoprognostik, seit’93 Leiter des
Labors für Apparatetechnik, seit’94 Leiter der Abteilung
Intrapsychische Technik.
Ein Auszug aus unserer Unterhaltung:
ICH: Wofür hat sich Hexenmeister Ihrer Meinung
nach im Institut am meisten interessiert?
HAIDAI: Wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass
dieser Hexenmeister einfach falsch informiert war. Das ist auch
kein Wunder, denn sogar auf der Erde haben viele eine völlig
falsche Vorstellung von unserer Arbeit. Was soll man da von den
Progressoren auf dem Saraksch erwarten, mit denen Hexenmeister zu
tun hatte? Ich weiß noch, dass ich mich gleich gewundert habe,
warum Hexenmeister, ein Außerirdischer, auf der ganzen Erde einzig
und allein unser Institut sehen wollte. Ich glaube, es verhält sich
so: Bei sich auf dem Saraksch ist Hexenmeister quasi der König der
Mutanten, und das bereitet ihm sicher eine Menge Probleme. Sie
degenerieren, sind krank, brauchen Behandlung, Unterstützung.
Unsere »Sonderlinge« sind vielleicht - auf ihre Art - auch
Mutanten, und da dachte sich Hexenmeister,
er könnte im Institut an nützliche Informationen kommen. Gewiss
hat er geglaubt, das sei hier so etwas wie eine Klinik.
ICH: Und als er seinen Irrtum erkannte, hat er
sich umgedreht und ist abgereist?
HAIDAI: Genau. Er hat sich zwar ein bisschen
abrupt umgedreht und ist ein wenig übereilt gegangen, aber es kann
ja durchaus sein, dass das den dortigen Umgangsformen
entspricht.
ICH: Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?
HAIDAI: Über nichts. Ich habe seine Stimme nur ein
einziges Mal gehört. Ich fragte ihn, was er bei uns besichtigen
wolle, und er antwortete: »Alles, was Sie mir zeigen.« Seine Stimme
war übrigens ziemlich widerlich, wie die einer zänkischen
Hexe.
ICH: Apropos, in welcher Sprache haben Sie mit ihm
gesprochen?
HAIDAI: Stellen Sie sich vor - auf
ukrainisch!
Gemäß Haidais Aussage traf sich Hexenmeister im
Institut nur mit drei Probanden. Mit zwei von ihnen konnte ich
bisher sprechen.
Rawitsch, Marina Sergejewna, 27 Jahre alt,
ausgebildete Tierärztin; zurzeit Beraterin des Leningrader Werks
für Embryosysteme, der Lausanner Werkstatt zur Realisation der
P-Abstraktionen, des Belgrader Instituts für Laminarpositronik und
des Hauptarchitekten der Jakutsker Region. Eine bescheidene, sehr
schüchterne und traurig wirkende Frau. Sie besitzt eine
einzigartige und bis dato unerklärte Fähigkeit (für die es nicht
einmal eine wissenschaftliche Bezeichnung gibt): Stellt man sie vor
ein exakt formuliertes, nachvollziehbares Problem, macht sie sich
mit großem Eifer und Enthusiasmus an seine Lösung. Im Ergebnis,
aber und ohne es zu wollen, erhält sie die Lösung zu einem ganz
anderen Problem
- einem, das mit der gestellten Aufgabe gar nichts zu tun hat und
in der Regel auch außerhalb ihrer beruflichen Sphäre liegt. Die
Aufgabe wirkt in ihrem Bewusstsein wie ein Katalysator zur Lösung
eines Problems, von dem sie vielleicht einmal flüchtig in einer
populärwissenschaftlichen Zeitschrift gelesen oder zufällig in
einer Unterhaltung von Fachleuten gehört hat. Im Voraus zu
bestimmen, welches Problem sie im konkreten Fall lösen wird, ist
anscheinend ausgeschlossen, da so etwas wie eine klassische
Unschärferelation vorliegt.
Hexenmeister erschien in ihrem Zimmer, als sie
gerade arbeitete. Sie erinnert sich dunkel an eine hässliche,
großköpfige Gestalt in grüner Kleidung, aber weiter hat
Hexenmeister keine Eindrücke bei ihr hinterlassen. Nein, gesagt
habe er nichts. Die üblichen Gemeinplätze über ihre »Gabe« habe
Bohdan von sich gegeben, anderer Stimmen entsinnt sie sich nicht.
Nach Haidais Worten hat sich Hexenmeister ganze zwei Minuten bei
ihr aufgehalten und, wie es scheint, ebenso wenig Interesse für sie
aufgebracht wie sie für ihn.
Michel Desmonde, 41 Jahre alt, ausgebildeter
Granulationsingenieur, Berufssportler, Europameister des Jahres’88
im Tunnelhockey. Ein fröhlicher Mann, sehr zufrieden mit sich und
der Welt. Seinem Polymentalismus begegnet er gleichmütig und mit
Humor. Er wollte gerade zum Stadion aufbrechen, als man
Hexenmeister zu ihm brachte. Michel zufolge sah Hexenmeister elend
aus und schwieg die ganze Zeit. Scherze nahm er gar nicht wahr. Er
verstand wohl nicht ganz, wo er sich befand und worüber man mit ihm
sprach. Allerdings gab es einen Moment - und ihn würde Michel sein
Leben lang nicht vergessen -, als Hexenmeister plötzlich seine
großen bleichen Lider hob und Michel geradewegs in die Seele
schaute. Vielleicht sogar noch tiefer, ins Innerste jener Welt, in
der das Geschöpf lebt, mit dem Michel seinen mentalen Raum teilen
muss. Der Moment war unangenehm, aber auch beeindruckend. Kurz
darauf verschwand Hexenmeister,
ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Und ohne sich zu
verabschieden.
Susumu Hirota alias »Senrigan« - was so viel
bedeutet wie »Der, der tausend Meilen weit sieht« -, 83 Jahre alt,
Religionshistoriker, Professor am Lehrstuhl für Religionsgeschichte
an der Universität Bangkok. Ein Gespräch mit ihm fand nicht statt,
weil er erst morgen oder übermorgen wieder im Institut sein wird.
Nach Haidais Meinung hat dieser Hellseher Hexenmeister auf das
Äußerste missfallen. Es trifft aber zu, dass er während dieses
Treffens abrupt aufbrach.
Nach den Worten aller Augenzeugen ereignete sich
Folgendes: Gerade noch hatte Hexenmeister inmitten des
mentoskopischen Kabinetts gestanden und dem Vortrag Haidais
zugehört, der über die ungewöhnlichen Fähigkeiten »Senrigans«
sprach. »Senrigan« unterbrach den Vortragenden von Zeit zu Zeit, um
einmal mehr neue Einzelheiten aus dessen Privatleben preiszugeben.
Und dann, plötzlich, wandte sich Hexenmeister ohne jede Vorwarnung
und ohne ein Wort der Erklärung um, stieß dabei Borja Laptew mit
dem Ellenbogen an und ging schnellen Schritts, ohne auch nur eine
Sekunde lang innezuhalten, durch die Korridore zum Ausgang der
Filiale. Ende.
Es gibt noch weitere Personen, die Hexenmeister in
der Filiale gesehen haben: wissenschaftliche Mitarbeiter,
Laboranten, Verwaltungspersonal. Von ihnen wusste niemand, wen er
vor sich hatte. Nur zwei Neue im Institut schenkten Hexenmeister
größere Aufmerksamkeit, weil sein Äußeres sie beeindruckte; etwas
Wesentliches war von ihnen aber nicht zu erfahren.
Des Weiteren habe ich mich mit Boris Laptew
getroffen. Hier der wichtigste Teil unseres Gesprächs:
ICH: Du bist der einzige Mensch, der die ganze
Zeit über mit Hexenmeister zusammen gewesen ist, vom Abflug bis zur
Rückkehr auf den Saraksch. Ist dir nicht irgendetwas Merkwürdiges
an ihm aufgefallen?
BORIS: Was für eine Frage! Das ist wie in der
Geschichte, wo sie das Kamel fragen, warum es einen krummen Hals
hat, und es antwortet: »Ja, ist denn irgendetwas an mir
gerade?«
ICH: Versuch trotzdem, dir sein Verhalten in
dieser Zeit genau in Erinnerung zu rufen. Irgendetwas muss doch
passiert sein, dass er derart außer Fassung geriet!
BORIS: Hör zu, ich kenne Hexenmeister nun seit
zwei Jahren. Er ist unergründlich. Ich habe längst aufgegeben und
versuche es auch nicht mehr, ihn zu verstehen. Was also soll ich
dir antworten? Er hatte an dem Tag einen Anfall von Depression, wie
ich es nenne. Das überfällt ihn von Zeit zu Zeit ohne erkennbare
Ursache. Dann wird er schweigsam, und wenn er den Mund aufmacht,
dann nur, um irgendeine Gemeinheit, irgendetwas Boshaftes zu sagen.
So war es auch an dem Tag. Während des Flugs stand noch alles zum
Besten, er ließ Aphorismen hören, machte Witze über mich, sang
sogar ein bisschen. Doch schon in Mirza-Charle wurde er finster;
mit Logowenko hat er kaum gesprochen. Als wir mit Haidai durchs
Institut gingen, wurde er noch finsterer. Ich fürchtete schon,
gleich täte er jemandem etwas zu leide. Aber da spürte er wohl
selbst, dass es so nicht weiterging und verschwand
sicherheitshalber, bevor etwas passierte. Während des ganzen Flugs
zum Saraksch schwieg er; nur in Mirza-Charle hatte er sich wie zum
Abschied einmal umgedreht und mit einem fiesen dünnen Stimmchen
gezischt: »Sieht die Berge und den Wald, sieht bis in den Himmel
bald, nur die Mücke sieht er nicht, die ihn in die Nase
sticht.«
ICH: Was bedeutet das?
BORIS: Kinderverse. Von früher.
ICH: Und wie hast du ihn verstanden?
BORIS: Gar nicht. Ich habe nur verstanden, dass er
der ganzen Welt gram war. Es fehlte nicht viel, und er hätte
gebissen. Ich habe verstanden, dass ich besser den Mund halte. Und
so haben wir beide bis zum Saraksch geschwiegen.
ICH: Und das war alles?
BORIS: Ja, das war alles. Kurz vor der Landung hat
er noch einmal so etwas Zusammenhangloses vor sich hin gemurmelt:
Wir würden warten, bis die Blinden den Sehenden erblickten.
Als wir zur Blauen Schlange kamen, winkte er nur
kurz und verschwand augenblicklich im Dschungel. Wohlgemerkt, er
hat sich weder bedankt noch zu sich eingeladen.
ICH: Weiter kannst du nichts sagen?
BORIS: Was soll ich dir sagen? Ja, irgendetwas hat
ihm auf der Erde ganz und gar missfallen. Aber was es war, hatte er
mitzuteilen nicht die Güte. Ich sage dir doch: Er ist ein
unerklärliches, unberechenbares Wesen. Vielleicht hat die Erde auch
gar nichts damit zu tun. Vielleicht bekam er an dem Tag zufällig
Bauchschmerzen - im weitesten Sinne des Wortes natürlich. Im
allerweitesten, im kosmischen Sinne.
ICH: Hältst du das für einen Zufall - in den
Kinderversen sieht jemand etwas auf der eigenen Nase nicht, und
dann das über die Blinden und Sehenden?
BORIS: Weißt du, über die Blinden und Sehenden -
da gibt es auf dem Saraksch, in Pandea, eine Redensart: »Wenn der
Blinde den Sehenden erblickt.« Das bedeutet so viel wie: Es ist
ganz und gar unwahrscheinlich, ja, unmöglich. Offenbar wollte
Hexenmeister ausdrücken, dass etwas Bestimmtes niemals eintreffen
wird. Die Verse aber hat er sicher nur so aufgesagt, aus reiner
Bosheit - und mit offensichtlichem Spott dazu. Ich weiß nur nicht,
wem dieser Spott galt? Aber gut möglich, dass er diesen
anstrengenden japanischen Angeber gemeint hat.
Vorläufige Schlussfolgerungen:
1. Es ist mir nicht gelungen, an Daten und
Informationen zu kommen, die der Suche nach Hexenmeister auf dem
Saraksch dienlich sein könnten.
2. Ich kann keine Empfehlungen zum weiteren
Fortgang der Suche machen.
T. Glumow

Am Abend des 6. Mai empfing mich Athos-Sidorow,
unser Präsident. Ich hatte die wichtigsten Unterlagen zwar
mitgenommen, trug ihm aber das Wesentliche wie auch meine
Vorschläge mündlich vor. Athos-Sidorow war bereits furchtbar krank;
sein Gesicht war fahl, und er litt unter Atemnot. Ich hatte zu
lange mit meinem Besuch gewartet: Er brachte nicht einmal mehr die
Kraft auf, sich richtig zu wundern. Er sagte, er wolle sich die
Unterlagen ansehen, nachdenken und sich am nächsten Tag mit mir in
Verbindung setzen.
Am 7. Mai saß ich den ganzen Tag in meinem
Arbeitszimmer und wartete auf seinen Anruf, doch er kam nicht.
Abends wurde mir mitgeteilt, dass Athos-Sidorow einen schweren
Anfall gehabt hatte und man ihn gerade noch rechtzeitig hatte
versorgen können. Jetzt lag er im Krankenhaus. Und so lastete
wieder alles auf mir, allein auf meinen Schultern - und schwer auf
meiner Seele.
Am 8. Mai erhielt ich - neben vielem anderen - auch
Toivos Bericht über seinen Besuch im Institut der Sonderlinge. Ich
hakte seinen Namen auf der Liste ab, gab seinen Bericht in den
Registrator ein und dachte mir dann einen Auftrag für Petja Silezki
aus. Er und Soja Morosowa waren bis zu dem Tag nämlich die einzigen
von meinen Leuten, die ich noch nicht zum Institut geschickt
hatte.
Etwa zur selben Zeit unterhielt sich Toivo Glumow
in seinem Arbeitszimmer mit Grischa Serossowin. Ich rekonstruiere
ihr Gespräch weiter unten, vor allem deshalb, um die Stimmung
nachzuzeichnen, die damals unter meinen Mitarbeitern herrschte. Nur
qualitativ. Denn das quantitative Verhältnis war unverändert: auf
der einen Seite Toivo, auf der anderen alle Übrigen.
Abteilung BV, Arbeitszimmer D. 8. Mai ’99.
Abends
Grischa Serossowin kam wie gewohnt ohne Anklopfen
herein, blieb dann auf der Schwelle stehen und fragte: »Darf
ich?«
Toivo legte die »Bewegung auf der Vertikalen« (das
Werk C. Oxoviews) beiseite, neigte den Kopf und musterte Grischa.
»Du darfst. Aber ich gehe bald nach Hause.«
»Ist Sandro wieder nicht da?«
Toivo schaute zu Sandros Tisch. Er war leer und
makellos sauber. »Nein, schon seit drei Tagen.«
Grischa setzte sich an Sandros Tisch und schlug die
Beine übereinander. »Und wo hast du dich gestern herumgetrieben?«,
fragte er.
»In Charkow.«
»Ach, du bist auch in Charkow gewesen?«
»Wer noch?«
»Fast alle. Im letzten Monat war fast die ganze
Abteilung in Charkow. Hör mal, Toivo, weswegen ich gekommen bin. Du
hast dich doch mit den ›plötzlichen Genies‹ befasst?«
»Ja. Aber es ist lange her - das war vorletztes
Jahr.«
»Erinnerst du dich an Soddy?«
»Ja. Bartholomew Soddy. Der Mathematiker, der dann
Beichtvater wurde.«
»Genau der«, sagte Grischa. »Im Bericht gibt es da
einen Satz, ich zitiere: ›Den uns vorliegenden Informationen
zufolge hat B. Soddy kurz vor seiner Metamorphose eine private
Tragödie erlebt.‹ Wenn du den Bericht erstellt hast, dann habe ich
zwei Fragen. Was war das für eine Tragödie, und woher hattest du
die Informationen?«
Toivo streckte die Hand aus und rief das Programm
auf. Als das Einlesen der Daten beendet war, begann das Programm zu
rechnen. Ohne Eile machte sich Toivo nun daran, seinen Tisch
aufzuräumen. Grischa wartete geduldig. Er kannte das schon.
»Wenn dort steht: ›Den vorliegenden Informationen
zufolge‹«, sagte Toivo, »dann heißt das, dass ich diese
Informationen von Big Bug erhalten habe.«
Er verstummte. Grischa wartete eine Weile, schlug
seine Beine andersherum übereinander und erwiderte: »Mit solchen
Kleinigkeiten möchte ich nicht zu Big Bug gehen. Na gut, dann muss
ich es so versuchen. Hör mal, Toivo, findest du nicht, dass unser
Big Bug in letzter Zeit irgendwie nervös ist?«
Toivo zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht«,
sagte er. »Dem Präsidenten geht es sehr schlecht. Es heißt,
Gorbowski liege im Sterben. Und Big Bug kennt sie ja alle, und das
sehr gut.«
Grischa meinte nachdenklich: Ȇbrigens, ich kenne
Gorbowski auch persönlich, stell dir vor. Du erinnerst dich -
obwohl, nein, damals warst du noch nicht hier. Kamillo hatte
Selbstmord begangen - er war der Letzte aus dem Teufelsdutzend.
Aber der Fall der Teufelsbrüder ist für dich sicher auch nur, na
ja, leerer Schall. Ich zum Beispiel hatte davon gar nichts
mitbekommen. Der Selbstmord, oder genauer gesagt, die
Selbstzerstörung des armen Kamillo wurde als Tatsache nie in
Zweifel gezogen. Unverständlich aber war: warum? Das heißt, man
wusste schon, dass das Leben für ihn kein
Spaß war und dass er die letzten einhundert Jahre vollkommen
allein zugebracht hatte. Du und ich können uns eine solche
Einsamkeit gar nicht vorstellen. Aber das nur am Rande. Big Bug
schickte mich damals zu Gorbowski. Denn der hatte, wie sich
herausstellte, diesem Kamillo seinerzeit nahegestanden und sogar
versucht, sein Freund zu werden. Hörst du mir überhaupt zu?«
Toivo nickte mehrmals mit dem Kopf. »Ja«, sagte
er.
»Weißt du, wie du wirkst?«
»Ja«, sagte Toivo. »Wie einer, der sehr intensiv
seinen eigenen Gedanken nachhängt. Das hast du mir schon gesagt,
mehrere Male. Ein Klischee, einverstanden?«
Anstatt zu antworten, nahm Grischa einen Stift aus
seiner Brusttasche und warf damit nach Toivos Kopf - wie mit einem
Speer, quer durchs ganze Zimmer. Ein paar Zentimeter vor seinem
Gesicht griff sich Toivo mit zwei Fingern den Stift aus der Luft
und sagte: »Schlapp.«
Dann schrieb er mit dem Stift »Schlapp« auf den
Zettel, der vor ihm lag.
»Mein Herr - Sie schonen mich!«, ließ er sich
vernehmen. »Aber ich brauche keine Schonung. Sie bekommt mir
nämlich nicht.«
»Verstehst du, Toivo«, sagte Grischa eindringlich,
»ich weiß, dass du eine gute Reaktion hast. Zwar keine glänzende,
aber doch die gute, solide Reaktion eines Profis. Du machst aber
den Eindruck … Bitte versteh, als dein Subaks-Trainer halte ich es
einfach für meine Pflicht, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob du
noch in der Lage bist, auf deine Umgebung zu reagieren oder ob du
dich schon im Zustand der Katalepsie befindest …«
»Ich bin heute also doch müde geworden«, sagte
Toivo. »Gleich ist das Programm durchgelaufen, dann gehe ich nach
Hause.«
»Und was hast du da, in deinem Programm?«, fragte
Grischa.
»Ich habe da«, schrieb Toivo auf den Zettel und
sagte: »Ich habe da Wale. Ich habe da Vögel. Ich habe da Lemminge,
Ratten und Wühlmäuse. Ich habe da dieser Kleinen viele.«
»Und was machen sie bei dir?«
»Bei mir kommen sie um. Oder laufen weg. Sie
sterben, weil sie sich auf den Strand werfen, sich ertränken oder
von den Orten wegfliegen, wo sie seit Jahrhunderten gelebt
haben.«
»Warum?«
»Das weiß niemand. Vor zwei-, dreihundert Jahren
trat dieses Phänomen regelmäßig auf, obwohl man auch damals nicht
wusste, warum. Dann kam es lange Zeit nicht vor. Und jetzt ist es
wieder da.«
»Verzeih«, wandte Grischa ein, »das ist natürlich
alles sehr interessant, aber was hat es mit uns zu tun?«
Toivo schwieg. Und ohne seine Antwort abzuwarten,
fragte Grischa: »Du meinst, es könnte etwas mit den
Wanderern zu tun haben?«
Toivo indes betrachtete den Stift von allen Seiten,
drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her, fasste ihn dann an
der Spitze und sah ihn - warum auch immer - gegen das Licht an.
»Alles, was wir zu erklären nicht in der Lage sind, kann mit den
Wanderern zu tun haben …«
»Geschliffene Formulierung«, meinte Grischa
anerkennend.
»… oder auch nichts mit ihnen zu tun haben«, fügte
Toivo hinzu. »Sag, wo bekommst du so schöne Sachen her? Sieht aus
wie ein Stift - was könnte banaler sein? Aber dein Stift ist schön
anzusehen, sehr schön. Weißt du was«, sagte er, »schenk ihn mir.
Und ich schenke ihn Assja. Ich möchte ihr eine Freude machen, wenn
auch nur mit einer Kleinigkeit.«
»Dann mache ich dir, wenigstens mit einer
Kleinigkeit, eine Freude«, sagte Grischa.
»Ja, und du machst mir, wenigstens mit einer
Kleinigkeit, eine Freude.«
»Da, nimm«, meinte Grischa. »Behalt ihn. Verschenk
ihn. Präsentier ihn. Schwindel irgendwas vor, du hättest ihn extra
für deine Liebste entworfen, nächtelang daran gearbeitet.«
»Danke«, erwiderte Toivo und steckte den Stift in
die Tasche.
»Aber vergiss nicht!«, Grischa hob den Finger,
»hier um die Ecke, in der Rotahornstraße, steht ein Automat, der
zur Werkstatt eines gewissen F. Moran gehört. Und dieser Automat
fabriziert genau solche Stifte, und zwar auf Knopfdruck.«
Toivo nahm den Stift wieder heraus und begann ihn
zu mustern. »Ist egal«, sagte er traurig. »Du hast den Automaten in
der Rotahornstraße zwar bemerkt, aber mir wäre er nie
aufgefallen.«
»Dafür hast du die Unordnung in der Welt der Wale
bemerkt!«
»Der Wale«, schrieb Toivo auf den Zettel. »Ach ja,
apropos«, sagte er langsam. »Du bist jemand, der frisch und
unvoreingenommen ist - was meinst du? Was muss passiert sein, damit
eine Herde Wale, zahm, mit Liebe gehegt und gepflegt, sich
plötzlich ins flache Küstenwasser wirft, um zu sterben? So, wie
Jahrhunderte zuvor, in der bösen alten Zeit. Sie sterben
schweigend, ohne auch nur um Hilfe zu rufen, zusammen mit ihren
Jungen. Kannst du dir irgendeinen Grund für diese Selbstmorde
vorstellen?«
»Und warum haben sie sich früher auf den Strand
geworfen?«
»Warum sie es früher getan haben, ist auch
unbekannt. Aber damals hatte man zumindest Vermutungen: Die Wale
litten unter Parasiten, wurden von Schwertwalen oder Kalmaren
angegriffen, auch von Menschen. Man vermutete sogar,
sie brächten sich aus Protest um, beziehungsweise um ein Zeichen
des Protests zu setzen. Aber heute!«
»Und was sagen die Fachleute?«
»Die Fachleute haben eine Anfrage an die KomKon 2
geschickt: Stellt die Ursache für die neuerlichen Selbstmorde der
Walartigen fest.«
»Hm … verstehe. Und was sagen die Walhirten?«
»Mit denen hat alles angefangen. Sie behaupten,
dass es der blanke Horror ist, der die Wale in den Tod treibt. Und
die Hirten können nicht verstehen, sich nicht vorstellen, wovor
sich die heutigen Wale fürchten könnten.«
»Tja«, meinte Grischa. »Es sieht so aus, als kämen
wir hier ohne die Wanderer tatsächlich nicht weiter.«
»Nicht weiter«, schrieb Toivo auf, zog einen Rahmen
um die Worte, dann noch einen und begann, den Raum zwischen den
Linien auszumalen.
»Obwohl«, fuhr Grischa fort, »alles das gab es
schon einmal, wieder und wieder gab es das. Erst verlieren wir uns
in Mutmaßungen, schieben alles auf die Wanderer, zermartern
uns die Gehirne, und dann schauen wir hin - hoppla, und wer zeigt
sich da am Ereignishorizont? Wer ist da so elegant, mit dem
selbstgefälligen Lächeln des Herrgotts am Abend des sechsten
Schöpfungstages? Wessen wohlbekannter schneeweißer Spitzbart ist
das? Mister Fleming, Sir! Wie kommen Sie hierher, Sir? Wollen Sie
die Güte haben, vor die Schranken zu treten? Im Weltrat, vors
Außerordentliche Tribunal!«
»Gib zu, das wäre nicht die schlimmste Variante«,
bemerkte Toivo.
»Sicher, sicher! Obwohl ich manchmal den Eindruck
habe, dass ich lieber mit einem Dutzend Wanderern zu tun
hätte, als mit einem Fleming. Aber das mag daran liegen, dass die
Wanderer nahezu hypothetische Wesen sind, während Fleming
mit seinem Spitzbart ein ziemlich reales Ungeheuer ist.
Deprimierend real mit seinem schneeweißen Spitzbart, seinem
Nishnaja Pescha, seinen Banditen der Wissenschaft und seinem
hundertmal verfluchten Weltruhm!«
»Ich sehe, sein Spitzbart macht dir besonders zu
schaffen?«
»Sein Spitzbart macht mir eben gerade nicht zu
schaffen«, entgegnete Grischa spitz. »Genau an seinem Spitzbart
kriegen wir ihn nämlich zu packen. Woran aber packen wir die
Wanderer, wenn sich herausstellen sollte, dass doch sie
dahinterstecken?«
Toivo schob den Stift akkurat in seine Tasche,
stand auf und trat ans Fenster. Aus den Augenwinkeln heraus konnte
er sehen, dass Grischa ihn aufmerksam beobachtete, dass er das
übergeschlagene Bein auf den Boden gestellt und sich sogar ein
wenig vorgebeugt hatte. Es war still, nur das Terminal piepte leise
im Takt der einander abwechselnden Zwischentabellen auf dem
Bildschirm.
»Oder hoffst du, dass sie es doch nicht sind?«,
fragte Grischa.
Eine Zeit lang gab Toivo keine Antwort, sagte aber
dann plötzlich, ohne sich umzudrehen: »Jetzt hoffe ich das schon
nicht mehr.«
»Das heißt?«
»Sie sind es.«
Grischa kniff die Augen zusammen. »Das
heißt?«
»Ich bin überzeugt, dass die Wanderer auf
der Erde sind, und dass sie aktiv sind.«
(Grischa erzählte später, dass er diesen Moment als
Schock erlebte. Er hatte auf einmal das Gefühl, als sei das, was
vor sich ging, ganz und gar unwirklich. Und das lag einzig und
allein an der Person Toivo Glumows: Seine Worte waren sehr schwer
mit seiner Persönlichkeit in Einklang zu bringen. Seine Worte
konnten kein Scherz sein, denn Toivo machte nie Scherze über die
Wanderer. Seine Worte konnten auch kein
vorschneller Schluss sein, denn Toivo äußerte nie vorschnelle
Schlüsse. Aber wahr konnten seine Worte auf gar keinen Fall sein -
weil sie auf gar keinen Fall wahr sein konnten. Im Übrigen konnte
sich Toivo doch irren.)
Grischa fragte angespannt: »Weiß Big Bug
Bescheid?«
»Ich habe ihm alle Fakten vorgetragen.«
»Und?«
»Vorläufig, wie du siehst, nichts«, sagte
Toivo.
Grischa entspannte sich und lehnte sich wieder in
den Sessel zurück. »Du hast dich einfach geirrt«, sagte er
erleichtert.
Toivo schwieg.
»Hol dich der Teufel!«, rief Grischa plötzlich. »Du
mit deinen finsteren Phantasien! Das war eben wie eine eiskalte
Dusche für mich!«
Toivo schwieg. Er hatte sich wieder zum Fenster
gewandt. Grischa begann zu krächzen, fasste sich an die
Nasenspitze, zog das Gesicht in Runzeln zusammen und wackelte an
seiner Nase. »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht so sein wie du, das
ist es. Ich kann nicht. Es ist zu ernst. Alles in mir wird davon
abgestoßen. Das ist schließlich keine Privatangelegenheit: Ich für
mich glaube es, und ihr anderen - wie es euch beliebt. Wenn ich so
weit gekommen bin, daran zu glauben, dann muss ich alles andere
hinwerfen, alles opfern, was ich habe, auf alles Übrige verzichten
- wie einer, der ins Kloster geht, verdammt nochmal! Aber unser
Leben bietet ja doch mehrere Varianten! Wie soll man es da in eine
einzige Form hineinpressen? Klar, manchmal schäme ich mich auch,
oder fürchte mich, und dann schaue ich ganz fasziniert, ja
bewundernd auf dich. Aber manchmal - wie zum Beispiel jetzt -
könnte ich aus der Haut fahren, wenn ich dich sehe - bei deiner
Selbstkasteiung, deiner Besessenheit bis zur Selbstaufgabe. Und
dann möchte ich ironisch sein, mich über dich lustig machen, alles
mit einem Scherz beiseiteschieben, was du da vor uns
auftürmst.«
»Grischa«, sagte Toivo, »was willst du von
mir?«
Grischa verstummte. »In der Tat«, antwortete er
nachdenklich. »Was will ich eigentlich von dir? Ich weiß es
nicht.«
»Aber ich weiß es. Du willst, dass alles gut ist
und mit jedem Tag besser wird.«
»Oh!« Grischa hob den Finger.
Er hatte noch etwas sagen wollen, etwas Leichtes,
Beschwingtes, um das Gefühl der peinlichen Intimität zu verwischen,
das in den letzten Minuten zwischen ihnen aufgekommen war. Aber da
ertönte das Signal - das Programm war durchgelaufen, und das
Papierband mit den Ergebnissen schob sich in kurzen Stößen auf den
Tisch.
Toivo sah es ganz durch, Zeile für Zeile, legte es
an den Faltstellen akkurat zusammen und steckte es in den Schlitz
des Kollektors.
»Nichts von Interesse?«, erkundigte sich
Grischa.
»Wie soll ich sagen …«, murmelte Toivo. Jetzt
dachte er wirklich angestrengt über etwas anderes nach. »Wieder das
Frühjahr’81.«
»Was - wieder?«
Toivo ließ seine Fingerspitzen über die
Terminalsensoren gleiten und startete den nächsten
Programmdurchlauf.
»Im März’81«, sagte er, »wurde zum ersten Mal nach
zweihundert Jahren Pause wieder ein Fall registriert, wo Grauwale
Massenselbstmord begingen.«
»Ja«, sagte Grischa ungeduldig. »Aber in welchem
Sinne ›wieder‹?«
Toivo stand auf. »Das ist eine lange Geschichte«,
erklärte er. »Du kannst später die Zusammenfassung lesen. Lass uns
jetzt nach Hause gehen.«
Toivo Glumow zu Hause. 8. Mai ’99. Am späten
Abend
Sie aßen zu Abend. Das Zimmer war purpurn vom
Sonnenuntergang.
Assja plagte schlechte Laune. Das
Delikatesskombinat hatte direkt von der Pandora eine Lieferung des
wertvollen Paschkowski-Gärungsmittels erhalten, transportiert per
Biocontainer, frisch abgepackt zu je sechs Kilogramm in Säcken, die
mit bräunlichem Raufrost bedeckt waren und aus denen die
Hornhäkchen der Verdampfer wie kleine Stacheln herausragten. Und
dieses Gärungsmittel spielte wieder einmal verrückt: Sein
Geschmacksaroma war spontan in die Klasse Sigma abgefallen, und
seine Bitterkeit hatte den letzten, gerade noch zulässigen Grad
erreicht. Die Experten vertraten völlig unterschiedliche Meinungen:
Der Meister verlangte, die Produktion der »Alapaitschiki«, die auf
dem ganzen Planeten berühmt waren, einzustellen, bis die Sache
geklärt sei. Bruno aber - ein ziemlich frecher Junge mit einer
großen Klappe - widersprach: Warum das? Er, der es noch nie gewagt
hatte, sich gegen den Meister zu stellen, führte heute plötzlich
das Wort. Die normalen Kunden würden eine so feine Veränderung im
Geschmack gar nicht bemerken. Und was die Kenner angehe, so sei er
sicher, nein, ließe sich den Kopf abschlagen, wenn nicht mindestens
jeder fünfte von dieser Geschmacksvariation begeistert wäre. Fragt
sich zwar, wer seinen abgeschlagenen Kopf gebrauchen konnte, aber
seine Meinung fand Zustimmung. Und jetzt war unklar, was werden
sollte.
Assja machte das Fenster weit auf und setzte sich
aufs Fensterbrett. Sie blickte hinab in den zwei Kilometer tiefen
blaugrünen Abgrund.
»Ich fürchte, ich werde auf die Pandora fliegen
müssen«, sagte sie.
»Für lange?«, fragte Toivo.
»Ich weiß nicht. Aber ja, vielleicht für
lange.«
»Und wozu?«, erkundigte sich Toivo
vorsichtig.
»Verstehst du, die Sache ist die … Der Meister
meint, wir hätten hier auf der Erde schon alles, was infrage kommt,
überprüft. Das heißt aber, dass etwas auf der Plantage nicht in
Ordnung ist. Vielleicht hat sich dort ein neuer Stamm von
Fermentkulturen entwickelt, oder beim Transport passiert etwas. Wir
wissen es nicht.«
»Du bist schon einmal auf die Pandora geflogen«,
meinte Toivo missmutig. »Bist für eine Woche geflogen und drei
Monate geblieben.«
»Was soll ich denn tun?«
Toivo kratzte sich an der Wange und räusperte sich.
»Ich weiß nicht, was du tun sollst. Ich weiß nur, dass drei Monate
ohne dich schrecklich sind.«
»Und die zwei Jahre ohne mich? Als du dort auf
diesem Planeten, wie heißt er doch gleich … gesessen hast.«
»Das musste ja kommen! Wie lange das her ist! Ich
war jung und noch ein Dummkopf. Ich war damals Progressor! Ein Mann
wie aus Eisen - Muskeln, Maske, Kinn! Hör mal, warum lässt du nicht
deine Sonja fliegen. Sie ist jung, hübsch, vielleicht heiratet sie
dort?«
»Sonja fliegt natürlich auch. Hast du sonst noch
Vorschläge?«
»Habe ich. Soll doch der Meister fliegen. Er hat
euch diese Suppe eingebrockt, dann soll er nun auch fliegen.«
Assja blickte ihn nur an.
»Ich nehme das zurück«, sagte Toivo rasch. »Ein
Irrtum. Denkfehler.«
»Er darf nicht einmal Swerdlowsk verlassen! Er hat
doch eine Allergie der Geschmacksnerven! Seit 25 Jahren ist er
nicht mehr aus seinem Viertel herausgekommen!«
»Ich werde es mir merken«, versprach Toivo. »Für
immer. Kommt nicht wieder vor. Habe dummes Zeug geredet. Blödsinn
von mir gegeben. Soll Bruno fliegen.«
Assja sah ihn ein paar Sekunden lang voller
Empörung an, wandte sich dann ab und schaute wieder aus dem
Fenster. »Bruno wird nicht fliegen«, sagte sie ärgerlich. »Bruno
wird sich jetzt mit diesem neuen Aroma beschäftigen. Er will es
fixieren, standardisieren, aber das werden wir erst noch sehen …«
Sie schielte zu Toivo hinüber und begann zu lachen. »Aha! Die
Trübsal hat dich! ›Drei Monate … ohne dich …‹«
Toivo stand auf und ging durchs Zimmer. Dann setzte
er sich zu Assjas Füßen auf den Boden und lehnte seinen Kopf an
ihre Knie.
»Du brauchst sowieso Urlaub«, sagte Assja. »Du
könntest dort auf die Jagd gehen, ist schließlich die Pandora! Du
könntest in die Dünen fahren, dir unsere Plantage ansehen. Du
kannst dir gar nicht vorstellen, was das ist - die
Paschkowski-Plantage!«
Toivo schwieg und drückte seine Wange noch stärker
an ihre Knie. Da wurde auch sie still. Eine Zeit lang sprach
niemand. Dann fragte Assja: »Ist bei dir etwas im Gange?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weiß nicht. Ich seh’s.«
Toivo seufzte, stand vom Boden auf und setzte sich
neben Assja auf das Fensterbrett.
»Du siehst richtig«, erklärte er mürrisch. »Es ist
was im Gange. Bei mir.«
»Was denn?«
Toivo kniff die Augen zusammen und betrachtete die
schwarzen Wolkenbänder, die das kupferfarbene und purpurne Abendrot
durchzogen. Die üppigen Wälder, die sich schwarzblau am Horizont
abzeichneten. Die schmalen schwarzen Vertikalen der
tausendgeschossigen Wolkenkratzer, die sich zu Trauben ballenden
Wohnblocks. Die kupfern schimmernde riesige Kuppel des »Forums« zur
Linken und die unwahrscheinlich glatte Oberfläche des runden
»Meeres« zur Rechten. Sah
die schwarzen Mauerschwalben, wie sie kreischend und wie Speere
aus dem hängenden Garten des oberen Wohnblocks herabschossen, um im
Laub des hängenden Gartens einen Wohnblock darunter wieder zu
verschwinden.
»Was ist im Gange?«, fragte Assja.
»Du bist so schön«, sagte Toivo. »Du hast
Zobelbrauen. Auch wenn ich nicht genau weiß, was das bedeutet: Ich
meine damit etwas sehr Schönes. Dich. Du bist nicht nur schön, du
bist wunderschön. Zauberhaft. Und deine Sorgen sind lieb. Und deine
Welt ist lieb. Sogar dein Bruno ist lieb, wenn man es recht
betrachtet. Und überhaupt ist die Welt schön, weißt du. ›Die Welt
ist wie ein Blümlein fein, denn wir sind versorgt vom Glück, mit
Herzen fünf und Lebern drei’n, und von Nieren gar neun Stück.‹ Ich
weiß nicht, was das für Verse sind. Sie sind mir plötzlich in den
Sinn gekommen, und ich hatte Lust, sie aufzusagen. Und eins will
ich dir noch verraten, vergiss es nicht! Es kann durchaus
passieren, dass ich sehr bald zu dir auf die Pandora fliege. Weil
nicht viel fehlt, und er schickt mich in Urlaub. Oder überhaupt zum
Teufel. Das sehe ich in seinen Augen. Deutlich wie auf einem
Display. Aber jetzt lass uns Tee trinken.«
Assja blickte ihn durchdringend an. »Klappt es
nicht?«, fragte sie.
Toivo wich ihrem Blick aus und zog die Schultern
hoch.
»Weil du von Anfang an falsch an die Sache
herangegangen bist«, sagte Assja entschieden. »Und weil die Aufgabe
von Anfang an falsch gestellt war! Man darf eine Aufgabe nicht so
stellen, dass man mit keinem Ergebnis zufrieden sein wird. Schon
deine Hypothese war falsch - weißt du noch, was ich dir gesagt
habe? Wenn jetzt die Wanderer tatsächlich zum Vorschein
kämen, wärst du dann etwa froh? Aber nun beginnst du zu begreifen,
dass sie nicht da sind, und wieder passt es dir nicht - du hast
dich geirrt, hast eine falsche Hypothese geäußert, und jetzt sieht
es so aus, als hättest du eine
Niederlage erlitten, obwohl du in Wirklichkeit gar nichts verloren
hast.«
»Ich habe noch nie mit dir gestritten«, erwiderte
Toivo ergeben. »Die Schuld liegt allein bei mir, das ist nun mal
mein Schicksal …«
»Schau, auch er ist jetzt ernüchtert, weil aus
eurer Idee nichts geworden ist. Aber er wird dich natürlich nicht
hinauswerfen, was redest du für einen Unsinn. Er mag dich und
schätzt dich, das wissen doch alle. Aber im Ernst: Man kann doch
nicht Jahre verschwenden - und wofür eigentlich? Im Grunde habt ihr
ja nichts als eine bloße Idee. Niemand bestreitet, dass diese Idee
sehr interessant ist, ein Nervenkitzel für jeden von uns, aber doch
nicht mehr! Im Grunde ist es ja nur eine Inversion der längst
bekannten menschlichen Praxis, der Progressorentätigkeit, eben nur
umgekehrt, sonst nichts. Wenn wir versuchen, die Geschichte von
anderen geradezubiegen, warum sollten das andere nicht auch mit
unserer tun? Warte, hör zu! Erstens vergesst ihr, dass nicht jede
Inversion eine Entsprechung in der Realität hat. Die Grammatik ist
eins, die Realität etwas anderes. Deshalb war eure Idee anfangs
auch interessant, aber jetzt ist es nur noch, na ja, es gehört sich
eben nicht. Weißt du, was mir gestern ein Kollege sagte? Er hat
gesagt: ›Sehen Sie, wir sind nicht bei der KomKon, aber die kann
man wirklich nur beneiden. Wenn die mal auf ein echtes Rätsel
stoßen, schreiben sie es einfach den Wanderern zu und
fertig!‹«
»Und wer hat das gesagt?«, fragte Toivo
finster.
»Was macht das für einen Unterschied? Nimm an: Bei
uns spielt das Gärungsmittel verrückt und wir sagten einfach: ›Wozu
nach den Ursachen suchen? Es waren die Wanderer!‹ Die
blutige Hand der Superzivilisation! Sei nicht böse, bitte. Sei
nicht böse! Dir gefallen solche Witze nicht, aber du bekommst sie
ja auch fast nie zu hören. Ich dagegen höre sie andauernd. Was mich
allein das ›Sikorsky-Syndrom‹ kostet.
Und das ist schon kein Witz mehr. Das ist eine Verurteilung, mein
Lieber! Das ist eine Diagnose!«
Toivo hatte sich schon wieder im Griff. »Und«,
sagte er, »das mit dem Gärungsmittel ist eine gute Idee. Das ist
ein BV! Ein BV! Warum habt ihr das nicht gemeldet?«, fragte er
streng. »Kennt ihr keine Ordnung? Da werden wir euren Meister
gleich - vor die Schranken!«
»Für dich ist das alles Spaß«, sagte Assja
ärgerlich. »Wohin man blickt - lauter Spaßvögel!«
»Gut so!«, fiel Toivo ein. »Jetzt muss man sich
freuen! Denn wenn es richtig losgeht - du wirst sehen, dann ist
keinem mehr nach Scherzen zumute.«
Assja schlug sich aufgebracht mit der geballten
Hand aufs Knie. »Meine Güte, Toivo! Warum verstellst du dich denn
vor mir? Du magst ja keine Witze reißen, dir ist nicht danach - und
das kann einen an euch besonders aufbringen! Ihr habt um euch herum
eine verbiesterte düstere Welt aufgebaut, eine Welt der
Bedrohungen, eine Welt der Angst und Verdächtigungen. Warum? Woher?
Woher nehmt ihr diese kosmische Misanthropie?«
Toivo schwieg.
»Vielleicht, weil all eure ungeklärten BVs
Tragödien sind? Aber ein BV ist nun mal eine Tragödie! Rätselhaft
oder verständlich - aber ebendarum ein BV! Stimmt’s?«
»Nein«, sagte Toivo.
»Wie - gibt es andere BVs, glückliche?«
»Mitunter.«
»Zum Beispiel?«, fragte Assja spitz.
»Lass uns lieber Tee trinken«, schlug Toivo
vor.
»Nein, bitte nenn mir ein Beispiel für ein
glückliches, freudiges, lebensbejahendes Besonderes
Vorkommnis.«
»Gut«, versprach Toivo. »Aber danach trinken wir
Tee. Abgemacht?«
»Ach du«, sagte Assja.
Sie schwiegen.
Durch das dichte Laub der Gärten, durch die
graublaue Dämmerung hindurch sah man unten verschiedenfarbige
Feuerchen aufleuchten. Und die Funken, die sie versprühten, tanzten
vor den schwarzen Säulen der Tausendgeschosser.
»Ist dir der Name Goujon bekannt?«, fragte
Toivo.
»Ja, sicher.«
»Und Soddy?«
»Natürlich!«
»Was meinst du: Was zeichnet diese Leute
aus?«
»Was ich meine! Nicht ich meine, sondern jeder
weiß, dass Goujon ein hervorragender Komponist und Soddy ein großer
Beichtvater ist. Und was denkst du?«
»Ich denke, dass an ihnen etwas ganz anderes
bemerkenswert ist«, sagte Toivo. »Albert Goujon war bis zu seinem
fünfzigsten Lebensjahr ein passabler Agrophysiker, aber auch nicht
mehr. Er hatte keinerlei musikalisches Talent. Und Bartholomew
Soddy befasste sich vierzig Jahre lang mit Schattenfunktionen und
war ein trockener, pedantischer und menschenscheuer Mann. Das ist
es, was diese Leute so bemerkenswert macht, meiner Meinung
nach.«
»Was willst du damit sagen? Was findest du daran
bemerkenswert? Es sind Menschen mit verborgenen Talenten, die lange
und hartnäckig daran gearbeitet haben - und dann wurde aus
Quantität Qualität.«
»Da war keine Quantität, Assja, das ist es ja eben.
Nur die Qualität änderte sich plötzlich. Radikal. Binnen einer
Stunde. Explosionsartig.«
Assja schwieg eine Weile, wobei sich ihre Lippen
bewegten. Dann fragte sie etwas unsicher, aber nicht ohne Ironie:
»Soll das etwa heißen, die Wanderer haben sie inspiriert,
ja?«
»Das habe ich nicht gesagt. Du wolltest Beispiele
hören für glückliche, lebensbejahende BVs. Bitte sehr. Ich kann
noch ein Dutzend Namen nennen, wenn auch weniger bekannte.«
»Gut. Und warum befasst ihr euch damit? Was geht
euch das eigentlich an?«
»Wir befassen uns mit allen Besonderen
Vorkommnissen.«
»Deswegen frage ich ja: Was ist an diesen
Vorkommnissen Besonderes?«
»Im Rahmen der bestehenden Vorstellungswelt sind
sie unerklärlich.«
»Was ist auf der Welt nicht alles unerklärlich!«,
rief Assja. »Das Readertum ist auch unerklärlich, wir haben uns nur
daran gewöhnt.«
»Das, woran wir uns gewöhnt haben, halten wir ja
auch nicht für unerklärlich. Wir befassen uns nicht mit
Erscheinungen, Assja. Wir befassen uns mit Vorkommnissen,
Ereignissen. Etwas ist nie dagewesen, tausend Jahre lang nicht, und
dann geschieht es plötzlich. Warum ist es geschehen?
Unverständlich. Wie ist es zu erklären? Die Fachleute wissen es
nicht. Da horchen wir auf. Verstehst du, Assja, du gruppierst die
BVs falsch. Wir unterteilen sie nicht in glückliche und tragische,
sondern in geklärte und ungeklärte.«
»Glaubst du vielleicht, jedes ungeklärte BV berge
eine Gefahr in sich?«
»Ja. Auch die glücklichen.«
»Was kann denn bedrohlich sein an der ungeklärten
Verwandlung eines durchschnittlichen Agrophysikers in einen
genialen Musiker?«
»Ich habe mich nicht exakt ausgedrückt. Nicht das
BV ist bedrohlich. Selbst die geheimnisvollen BVs sind in der Regel
völlig harmlos. Manchmal sogar komisch. Bedrohlich aber kann die
Ursache des BV sein. Der Mechanismus, der dieses BV auslöste. Man
kann die Frage auch so stellen: Warum hatte jemand ein Interesse
daran, einen Agrophysiker in einen Musiker zu verwandeln?«
»Vielleicht ist es aber einfach eine statistische
Fluktuation!«
»Vielleicht. Das ist es ja gerade - dass wir es
nicht wissen. Aber schau, wohin es dich verschlagen hat. Und jetzt
sag mir doch bitte: was ist an deiner Erklärung besser als an
unserer? Eine statistische Fluktuation, per definitionem
unvorhersagbar und unlenkbar. Oder die Wanderer, die
natürlich auch nicht ohne sind, bei denen man aber - zumindest im
Prinzip - hoffen kann, dass man sie einmal zu fassen bekommt. Ich
verstehe, ›statistische Fluktuation‹ klingt weitaus seriöser,
wissenschaftlicher, neutraler - nicht wie diese gemeinen, jedem
schon zum Halse heraushängenden, billig-romantischen und
banal-legendären …«
»Warte, mach dich nicht lustig, bitte«, sagte
Assja. »Niemand leugnet deine Wanderer. Davon rede ich doch
gar nicht. Du hast mich ganz aus dem Konzept gebracht. Das machst
du immer! Mich genauso wie deinen Maxim, und dann läufst du
geknickt herum und willst, dass man dich tröstet. Was ich sagen
wollte: Gut, mögen sich also die Wanderer in unser Leben
einmischen. Aber darum geht es nicht. Wieso aber ist das schlecht?
Das ist es, was ich dich frage! Warum macht ihr aus ihnen
Schreckgespenster? Das ist, was ich nicht verstehen kann! Niemand
versteht das. Warum es zum Beispiel positiv ist, wenn du die
Geschichte anderer Welten begradigst; wenn aber andere sich
anschicken deine Geschichte zu begradigen … Schließlich weiß
heute jedes Kind, dass eine Superintelligenz prinzipiell gut
ist!«
»Die Superintelligenz ist supergut«, sagte
Toivo.
»Und? Dann erst recht!«
»Nein«, sagte Toivo. »Kein ›dann erst recht‹. Wir
wissen, was ›gut‹ ist, obwohl auch das nicht ganz sicher ist. Was
aber supergut ist …«
Assja schlug sich wieder aufs Knie. »Ich verstehe
es nicht! Unbegreiflich! Woher nimmst du die Annahme einer
Bedrohung? Erklär es mir, bring es mir bei!«
»Ihr alle versteht unseren Standpunkt völlig
falsch«, sagte Toivo schon recht ärgerlich. »Niemand glaubt, dass
die Wanderer uns Menschen Böses wollen. Das ist in der Tat
sehr unwahrscheinlich. Wir fürchten etwas anderes, etwas ganz
anderes! Wir fürchten, dass sie hier Gutes tun werden - und zwar,
wie sie es verstehen!«
»Das Gute ist immer gut!«, erklärte Assja
nachdrücklich.
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Oder weißt
du es etwa wirklich nicht? Aber ich habe es dir doch erklärt. Ich
war ganze drei Jahre Progressor, ich habe Gutes getan, nur Gutes,
nichts als Gutes. Aber bei Gott, wie haben sie mich gehasst, diese
Leute! Und auf ihre Weise hatten sie Recht. Denn da waren Götter
gekommen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Niemand hatte sie gerufen,
aber sie haben sich hereingedrängt und angefangen, Gutes zu tun.
Eben jenes Gute, das immer gut ist. Und sie haben es heimlich
getan, weil sie von vorneherein wussten, dass die Sterblichen ihre
Ziele nicht begreifen würden. Und wenn sie sie begriffen, würden
sie sie nicht akzeptieren. Das sind die ethischen und moralischen
Gegebenheiten in dieser verfluchten Situation! Der hörige
Feudalbauer in Arkanar versteht nicht, was Kommunismus ist. Der
kluge Bourgeois dreihundert Jahre später versteht es und schreckt
entsetzt davor zurück. Das sind Binsenweisheiten, aber wir sind
nicht imstande, sie auf uns selbst anzuwenden. Warum? Weil wir
keine Vorstellung davon haben, was uns die Wanderer anbieten
werden. Die Analogie funktioniert nicht! Doch zwei Dinge weiß ich.
Erstens: Sie kamen ungebeten. Zweitens: Sie kamen heimlich. Und das
heißt, sie gehen zum einen davon aus, dass sie besser wissen als
wir, was gut für uns ist. Und zum anderen sind sie von vorneherein
davon überzeugt, dass wir ihre Ziele entweder nicht begreifen oder
nicht akzeptieren werden. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber
ich will das nicht. Ich will-es-nicht! Und basta!«, sagte er
entschieden.
»Genug davon. Ich bin ein müder, unfreundlicher, besorgter Mensch,
der sich die Last großer Verantwortung aufgeladen hat. Ich habe das
Sikorsky-Syndrom, bin ein Psychopath und verdächtige alles und
jeden. Ich liebe niemanden, bin geplagt, unnormal, ein Monomane,
man muss mich schonen, Mitleid mit mir haben, auf Zehenspitzen um
mich herumgehen, mich auf die Schulter küssen, mit Scherzen
erfreuen. Und mit Tee. Mein Gott, bekomme ich denn heute wirklich
keinen Tee?«
Ohne ein Wort zu sagen, sprang Assja vom
Fensterbrett und ging Tee kochen. Toivo legte sich aufs Sofa. Durch
das Fenster drang sehr leise das Summen eines exotischen
Musikinstruments. Ein riesiger Schmetterling kam auf einmal
hereingeflogen, beschrieb einen Kreis über dem Tisch, setzte sich
auf den Bildschirm des Visors und entfaltete seine flauschigen
schwarz-gemusterten Flügel. Toivo streckte ohne aufzustehen die
Hand zum Servicepult aus, bekam es jedoch nicht zu fassen und ließ
den Arm sinken.
Assja kam mit einem Tablett herein, füllte die
Gläser mit Tee und setzte sich neben ihn.
»Schau«, flüsterte Toivo und wies mit den Augen auf
den Schmetterling.
»Ist der schön«, erwiderte Assja ebenfalls
flüsternd.
»Ob er vielleicht eine Weile bei uns wohnen
will?«
»Nein, das wird er nicht wollen«, sagte
Assja.
»Aber wieso! Weißt du noch, die Kasarjanows hatten
eine Libelle …«
»Die hat aber nicht bei ihnen gewohnt. Sie war nur
zu Besuch.«
»Dann kann der Schmetterling ja auch hier zu Besuch
bleiben. Wir werden ihn Bummler nennen.«
»Warum Bummler?«
»Wie sonst?«
»Onyx«, sagte Assja.
»Nein«, entschied Toivo. »Was denn für ein Onyx?
Bummler soll er heißen - der Bummler, der einkehrt. Und der
Bildschirm wird ab sofort die Einkehr.«
Ich will natürlich nicht behaupten, dass das
Gespräch zwischen Toivo und Assja am späten Abend des 8. Mai
wörtlich so verlief. Doch ich weiß, dass sie im Allgemeinen viel
über diese Themen sprachen, sich stritten und verschiedener Meinung
waren. Und dass keiner von ihnen je den anderen zu überzeugen
vermochte, das weiß ich ebenso.
Assja war es nicht möglich, ihrem Mann den ihr
eigenen, grenzenlosen Optimismus zu vermitteln. Ihr Optimismus
speiste sich aus der Atmosphäre um sie herum, aus den Menschen, mit
denen sie zusammenarbeitete, aus ihrer Arbeit selbst, die viel mit
Geschmack und Güte zu tun hatte. Toivo indes befand sich jenseits
dieser optimistischen Welt, in einer Sphäre ständiger Sorge und
Wachsamkeit. Hier ließ sich Optimismus nur schwer von einem
Menschen auf den anderen übertragen, höchstens unter günstigen
Umständen und nicht für lange.
Doch auch Toivo schaffte es nicht, aus seiner Frau
eine Gleichgesinnte zu machen, sie mit seinem Gefühl einer sich
nähernden Gefahr anzustecken. Seinen Überlegungen fehlte es an
Konkretheit. Sie waren abstrakt, konstruiert, eine Weltanschauung,
für die Assja keinerlei Bestätigung fand; sie waren eine Art
Berufskrankheit. Toivo konnte sie weder mit seiner Angst, noch mit
seinem Abscheu, seinem Zorn oder seinem Hass anstecken.
Deshalb wurden sie vom Sturm so unvorbereitet
getroffen, wie zwei isolierte Wesen, als hätte es diese
Diskussionen, die Streitgespräche und erbitterten Versuche,
einander zu überzeugen, nie gegeben.
Am Morgen des 9. Mai begab sich Toivo noch einmal
nach Charkow, um sich mit dem Hellseher Hirota zu treffen und
die Akte »Besuch des Hexenmeisters« endgültig schließen zu
können.