2. JUNI’78
Lew Abalkin von Angesicht zu Angesicht
Gegen 18 Uhr überfielen mich Andrej und Sandro ohne Voranmeldung. Ich ließ die Mappe im Schreibtisch verschwinden und erklärte ihnen streng, dass ich keinerlei dienstliche Gespräche dulden könne, da sie ab jetzt nicht mehr mir, sondern Claudius unterstellt seien. Außerdem sei ich beschäftigt.
Sie fingen an zu jammern und zu bitten - sie seien gar nicht in dienstlicher Angelegenheit gekommen, würden mich sehr vermissen, und so gehe es einfach nicht … Alles, was recht ist, aber jammern können sie, und ich ließ mich erweichen. Die Bar wurde geöffnet, und wir unterhielten uns eine Zeit lang angeregt über meine Kakteen. Dann aber fiel mir plötzlich und ganz zufällig auf, dass wir schon nicht mehr von den Kakteen sprachen, sondern von Claudius, was sogar eine gewisse Berechtigung hatte. Denn Claudius erinnerte mit seinen Pickeln und seiner Kratzbürstigkeit sogar mich an einen Kaktus. Aber ehe ich mich versah, hatten die zwei Spitzel einen außerordentlich geschickten und zwanglosen Übergang zu dem Fall mit den Bioreaktoren und »Kapitän Nemo« gefunden.
Ich ließ mir nichts anmerken, sondern die beiden in Fahrt kommen, und dann, auf dem Höhepunkt, als sie schon glaubten, sie hätten ihren Chef so weit, bat ich sie zu gehen. Ich hätte sie sogar hinausgeworfen, denn ich war ziemlich wütend, sowohl auf sie als auch auf mich selbst. Aber in dem Moment kam, wiederum ohne Voranmeldung, Aljonna. Das ist Schicksal, dachte ich, und ging in die Küche. Es war ohnehin Zeit für das Abendessen, und selbst den jungen Spitzeln ist bekannt, dass in Gegenwart Dritter über unsere Angelegenheiten nicht gesprochen wird.
Das Abendessen wurde sehr nett. Die Spitzel vergaßen alles um sich herum und plusterten sich auf, um Aljonna zu imponieren. Nachdem Aljonna sie abblitzen ließ, plusterte ich mich auf - um die Sache in Gang zu halten. Am Ende der Hahnenparade gab es nun die große Diskussion, was man jetzt noch unternehmen könne. Sandro forderte, wir sollten zu den »Oktopoden« aufbrechen, und zwar sofort, weil die besten Stücke dort gleich zu Anfang kämen. Andrej dagegen ereiferte sich wie ein echter Musikkritiker gegen die »Oktopoden«; seine Theorie über die moderne Musik war frisch und originell und lief schließlich darauf hinaus, dass heute Nacht die beste Gelegenheit sei, seine neue Jacht (»Weislieb«) unter Segeln auszuprobieren. Ich für meinen Teil war für Rätselraten oder, im äußersten Notfall, für Pfänderspiele. Aljonna hingegen, die mitbekommen hatte, dass ich an diesem Abend nirgendwo mehr hinginge und zudem beschäftigt war, bekam schlechte Laune und fing an zu schimpfen und zu randalieren: »Zum Teufel mit den ›Oktopoden‹!«, rief sie. »Über den Jordan damit! Bim-Bom-Bramseljam! Wir wollen Krach machen!« Und so weiter.
Als die Diskussion in vollem Gange war, läutete das Videofon. Es war 19:33 Uhr. Andrej, der dem Apparat am nächsten saß, drückte mit dem Finger auf eine Taste. Der Bildschirm wurde hell, zeigte aber kein Bild. Zu hören war auch nichts, weil Sandro gerade aus Leibeskräften brüllte: »Eilande, Eilande, Eilande!«, und mit grotesken Verrenkungen versuchte, den unnachahmlichen B. Tuareg nachzumachen, und Aljonna konterte mit dem »Lied ohne Worte« von Glière (oder vielleicht auch nicht von Glière).
»Psst!«, zischte ich, als ich mich zum Videofon durchkämpfte.
Es wurde etwas leiser, doch der Apparat blieb stumm; nur der leere Bildschirm leuchtete. Das war wohl kaum Seine Exzellenz, und ich beruhigte mich.
»Warten Sie, ich nehme den Apparat mit ins andere Zimmer«, sagte ich in das bläuliche Licht hinein.
Im Arbeitszimmer stellte ich das Videofon auf den Tisch, ließ mich in den Sessel fallen und sagte: »Also, hier ist es nicht so laut. Ich möchte Sie übrigens darauf hinweisen, dass ich Sie nicht sehen kann.«
»Verzeihung, ich habe vergessen …«, sagte eine tiefe Männerstimme; dann erschien auf dem Bildschirm ein Gesicht - schmal, bleich, mit tiefen Falten von den Nasenflügeln bis zum Kinn, niedrige breite Stirn, tiefliegende große Augen, schwarzes glattes und schulterlanges Haar.
Merkwürdig, ich erkannte ihn sofort, begriff aber dennoch nicht gleich, wer er war.
»Guten Tag, Mak«, sagte er. »Erkennen Sie mich?«
Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu mir zu kommen. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen.
»Verzeihen Sie«, sagte ich gedehnt und überlegte fieberhaft, wie ich mich verhalten sollte.
»Lew Abalkin«, half er mir auf die Sprünge. »Erinnern Sie sich? Saraksch. Die Blaue Schlange …«
»Mein Gott!«, schrie der Journalist Kammerer, vormals Mak Sim. »Ljowa! Und mir hat man gesagt, dass Sie momentan nicht auf der Erde sind und niemand weiß, wann Sie wiederkommen. Oder sind Sie noch dort?«
Er lächelte. »Nein, ich bin schon hier. Aber anscheinend störe ich?«
»Nein, Sie können mich gar nicht stören!«, sagte der Journalist Kammerer eindringlich. Nicht der Journalist Kammerer, der Maja Glumowa besucht hatte, sondern eher der, der bei dem Lehrer gewesen war. »Ich brauche Sie! Ich schreibe doch ein Buch über die Kopfler!«
»Ja, ich weiß«, unterbrach er mich. »Deshalb rufe ich Sie auch an. Aber, Mak, ich habe doch schon lange nichts mehr mit den Kopflern zu tun.«
»Das ist gar nicht wichtig«, widersprach der Journalist Kammerer. »Wichtig ist, dass Sie der Erste waren, der mit ihnen zu tun hatte.«
»Der Erste waren ja wohl Sie.«
»Nein. Ich habe sie nur entdeckt; das war alles. Außerdem habe ich den Teil über mich selbst schon geschrieben. Auch über die neuesten Arbeiten Komows habe ich das Material beisammen. Sie sehen, Prolog und Epilog sind da, fehlt nur noch eine Kleinigkeit - der Hauptteil … Hören Sie, Ljowa, wir müssen uns unbedingt treffen. Bleiben Sie lange auf der Erde?«
»Nicht sehr lange«, sagte er. »Aber wir sollten uns wirklich unbedingt treffen. Heute wäre mir allerdings nicht so recht.«
»Heute würde es mir auch nicht passen«, beeilte sich der Journalist Kammerer zu sagen. »Aber wie wäre es morgen?«
Eine Zeit lang musterte er mich schweigend. Mir fiel plötzlich auf, dass es mir partout nicht gelingen wollte, die Farbe seiner Augen zu erkennen - sie lagen gar zu tief.
»Erstaunlich«, ließ er sich schließlich vernehmen. »Sie haben sich gar nicht verändert. Und ich?«
»Ehrlich?«, vergewisserte sich der Journalist Kammerer, um überhaupt etwas zu sagen.
Lew Abalkin lächelte erneut.
»Ja«, sagte er. »Zwanzig Jahre ist es her. Und wissen Sie, Mak, ich erinnere mich dieser Zeit als der glücklichsten in meinem Leben. Alles lag noch vor mir, alles fing gerade erst an. Und wissen Sie, mir fällt diese Zeit gerade jetzt wieder ein, und ich denke: Was hatte ich für ein Glück, dass ich unter der Leitung solcher Leute wie Komow und Ihnen begonnen habe, Mak …«
»Na, Lew, übertreiben Sie nicht«, sagte der Journalist Kammerer. »Warum denn ich?«
»Was heißt - warum ich? Komow war der Leiter, Rowlingson und ich standen auf Abruf bereit, aber die ganze Koordination haben doch Sie erledigt!«
Der Journalist Kammerer riss die Augen auf. Ich auch, aber ich wurde darüber hinaus auch noch misstrauisch.
»Lew, mein Lieber«, sagte der Journalist Kammerer. »Sie haben, unerfahren wie Sie waren, die damaligen Unterstellungsverhältnisse anscheinend überhaupt nicht durchschaut. Das Einzige, was ich seinerzeit für euch getan habe, war die Gewährleistung von Sicherheit, Transportmitteln und Proviant … und auch das nur …«
»Und Sie haben Ideen geliefert!«, warf Lew Abalkin ein.
»Was für Ideen?«
»Die Idee, eine Expedition über die Blaue Schlange zu schicken. Die kam doch von Ihnen?«
»Nur insofern, als ich die Mitteil…«
»Richtig! Das wäre das Erste. Und die Idee, dass Progressoren mit den Kopflern arbeiten sollten und keine Tierpsychologen - war das Zweite!«
»Langsam, Lew! Das war Komows Idee! Und überhaupt wart ihr mir damals alle egal, weil ich zu dieser Zeit einen Aufstand in Pandea hatte! Die erste großangelegte Landeoperation des Inselimperiums! Gerade Ihnen muss doch klar sein, was … Nein, ehrlich gesagt, ich habe euch damals keinen Gedanken widmen können. Sef hat sich um euch gekümmert, Sef, nicht ich! Erinnern Sie sich an den rothaarigen Eingeborenen?«
Lew Abalkin lachte, und man sah seine gleichmäßigen weißen Zähne aufblitzen.
»Da gibt es nichts zu lachen!«, sagte der Journalist Kammerer verärgert. »Sie bringen mich in eine ganz blöde Lage! So ein dummes Zeug! Nein, nein, Freunde, ich habe mich, wie es scheint, gerade zur rechten Zeit an dieses Buch gemacht. Was für idiotische Legenden sich aber auch um diese Sache ranken!«
»Schon gut, ich lasse es«, sagte Abalkin. »Wir setzen die Diskussion fort, wenn wir uns treffen.«
»Genau«, antwortete der Journalist Kammerer. »Nur wird es da keine Diskussion geben. Da ist nichts zu diskutieren. Sagen wir …« Der Journalist Kammerer trommelte kurz auf den Tasten seines Tischkalenders herum. »… morgen Punkt zehn bei mir. Oder passt es Ihnen vielleicht besser …«
»Lieber bei mir«, schlug Lew Abalkin vor.
»Dann diktieren Sie die Adresse«, kommandierte der Journalist Kammerer. Er war noch immer in Fahrt.
»Kurort ›Ossinuschka‹«, sagte Lew Abalkin. »Bungalow Nummer sechs.«
Gesammelte Werke 1
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