3. JUNI’78
Etliches über die Eindrücke Seiner
Exzellenz
Vom Abhang her war zu sehen, dass sich Doktor
Goannek aus Mangel an Patienten dem Fischfang widmete. Das traf
sich gut, denn zu seiner Blockhütte mit dem Null-T-Abort war es
näher als zum Klubhaus. Allerdings stellte sich heraus, dass der
Weg dorthin an einer Imkerei vorbeiführte, die ich bei meinem
ersten Besuch in der Eile übersehen hatte. Ich versuchte also, mich
so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, sprang über
allerlei dekorative Flechtzäune und stieß dabei irdene, nicht
minder dekorative Töpfe in den verschiedensten Formen um. Alles
verlief glimpflich. Ich lief die Außentreppe mit dem geschnitzten
Geländer hinauf, betrat die bekannte gute Stube und rief, ohne mich
zu setzen, Seine Exzellenz an.
Ich hatte geglaubt, mit einem kurzen Rapport
davonzukommen, aber das Gespräch dauerte ziemlich lange, so dass
ich das Videofon auf die Treppe hinaustrug, damit mich der
gesprächige und leicht zu kränkende Doktor Goannek nicht
überraschte.
»Warum sitzt sie wohl dort?«, fragte Seine
Exzellenz nachdenklich.
»Sie wartet.«
»Hat er sich mit ihr verabredet?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Die Ärmste«, murmelte Seine Exzellenz. Dann fragte
er: »Kommst du zurück?«
»Nein«, sagte ich. »Ich muss noch zu diesem Jašmaa
und zur Residenz der Kopfler.«
»Wozu?«
»In der Residenz«, antwortete ich, »hält sich
gegenwärtig ein Kopfler namens Wepl-Itrtsch auf, derselbe, der
gemeinsam mit Abalkin an der Operation ›Tote Welt‹ teilgenommen
hat.«
»Und?«
»Soweit ich dem Bericht Abalkins entnehmen konnte,
ist zwischen den beiden eine ungewöhnliche Beziehung
entstanden.«
»In welchem Sinne - ungewöhnlich?«
Ich geriet ein wenig in Verlegenheit und suchte
nach Worten. »Ich würde fast wagen, es eine Freundschaft zu nennen.
Exzellenz … Erinnern Sie sich an diesen Bericht?«
»Ich erinnere mich. Ich verstehe, was du sagen
willst. Aber beantworte mir die eine Frage: Wie hast du
herausgefunden, dass sich der Kopfler Wepl auf der Erde
befindet?«
»Nun … Das war ziemlich schwierig …«
Ich war nicht sofort daraufgekommen, doch nach
einer gewissen Zeit, immerhin. Aber in der Tat … Mir, dem
Mitarbeiter der KomKon 2, war es bei all meiner Versiertheit im
Umgang mit dem GGI ziemlich schwergefallen, Wepl ausfindig
zu machen. Wie aber sollte das einem einfachen Progressor wie
Abalkin gelingen, der zudem zwanzig Jahre im Tiefen Raum zugebracht
hatte und vom GGI nicht mehr Ahnung hatte als ein zwanzigjähriger
Student!
»Ja«, sagte ich. »Sie haben Recht. Und trotzdem
müssen Sie zugeben, dass die Aufgabe, Wepl zu finden, für Abalkin
durchaus zu lösen ist. Wenn er nur will.«
»Ich stimme dir zu. Aber es geht nicht nur darum.
Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, dass er uns Steine ins
Gebüsch werfen könnte?«
»Nein«, gestand ich aufrichtig.
Übersetzt man es aus unserem Idiom, bedeutet
»Steine ins Gebüsch werfen«: jemanden auf eine falsche Spur lenken,
gefälschte Indizien unterschieben, kurzum, die Leute in die Irre
führen. Theoretisch war es natürlich schon möglich, dass Lew
Abalkin ein ganz bestimmtes, uns unbekanntes Ziel verfolgte und all
seine Eskapaden mit Maja Glumowa, dem Lehrer und mir nichts weiter
waren als meisterhaft produziertes, falsches Material, über dessen
Sinn wir uns endlos den Kopf zerbrachen, unsere Zeit darauf
verschwendeten und von der Hauptsache hoffnungslos abgelenkt
waren.
»Sieht nicht danach aus«, sagte ich
entschieden.
»Aber ich habe den Eindruck, dass es danach
aussieht«, sagte Seine Exzellenz.
»Sie haben natürlich den besseren Überblick«,
erwiderte ich trocken.
»Zweifellos«, bestätigte er. »Aber leider ist das
nur ein Eindruck. Fakten habe ich nicht. Sollte ich mich jedoch
nicht irren, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass
sich Abalkin in seiner Situation an Wepl erinnert, endlose Mühe
darauf verwendet, ihn ausfindig zu machen, anschließend um die
halbe Erde reist, dort eine Komödie abzieht - und das alles nur, um
noch einen Stein ins Gebüsch zu werfen. Meinst du nicht
auch?«
»Sehen Sie, Exzellenz. Ich kenne seine Situation
nicht, und sicher ist genau das der Grund, warum ich Ihren Eindruck
nicht teile.«
»Und was ist dein Eindruck?«, erkundigte er sich
mit unerwartetem Interesse.
Ich versuchte, meinen Eindruck in Worte zu fassen:
»Dass er keine Steine ins Gebüsch wirft. Seine Schritte folgen
einer bestimmten Logik. Sie stehen miteinander im Zusammenhang.
Mehr noch, er geht immer in derselben Weise vor, und er
verschwendet weder Zeit noch Mühe, sich eine neue Vorgehensweise zu
überlegen. Er schockiert sein Gegenüber mit einer Behauptung und
hört sich dann an, was der Schockierte daraufhin zusammenstottert.
Er will irgendetwas herausfinden, etwas über sein Leben, um genauer
zu sein - über sein Schicksal. Etwas, was man vor ihm geheim hält.«
Ich schwieg einen Moment und sagte dann: »Exzellenz, er hat
irgendwie erfahren, dass er von einem Persönlichkeitsgeheimnis
betroffen ist.«
Jetzt schwiegen wir beide. Auf dem Bildschirm
schwankte die Glatze mit den Sommersprossen hin und her. Ich
spürte, dass ich einen historischen Augenblick erlebte. Es war
einer der überaus seltenen Fälle, in dem meine Argumente (nicht die
von mir beschafften Fakten, sondern tatsächlich Argumente, logische
Schlüsse) Seine Exzellenz veranlassten, seine eigene Auffassung zu
überprüfen.
Er hob den Kopf und sagte: »Gut. Besuch Wepl. Aber
behalte im Auge, dass du hier am meisten gebraucht wirst, bei
mir.«
»Zu Befehl«, sagte ich und fragte: »Und was ist mit
Jašmaa?«
»Er ist nicht auf der Erde.«
»Wieso?«, sagte ich. »Er ist auf der Erde. In ›Jans
Lager‹, in der Gegend von Antonow.«
»Er befindet sich schon seit drei Tagen auf der
Giganda.«
»Klar«, sagte ich und gab mir Mühe, ironisch zu
sein: »So ein Zufall aber auch! Ist am selben Tage wie Abalkin
geboren, auch ein postumes Kind, auch mit einer Nummer versehen
…«
»Gut, gut«, murmelte Seine Exzellenz. »Lass dich
nicht ablenken.«
Der Bildschirm erlosch. Ich trug das Videofon an
seinen Platz zurück und ging in den Hof hinunter. Dort schlug ich
mich vorsichtig durch das hohe Ebereschengebüsch. Dann trat ich,
direkt aus dem hölzernen Abort Doktor Goanneks, hinaus in den
nächtlichen Regen am Ufer des Flusses Thelon.