1. JUNI’78
Einiges über Lew Abalkin,
Progressor
Andrej und Sandro hatten auf mich gewartet. Als
ich ihnen mitteilte, sie seien ab sofort Claudius unterstellt,
waren sie entsetzt. Sie wollten sogar bockig werden. Ich aber war
noch immer getrieben von Unruhe und fuhr die beiden so an, dass sie
schließlich zutiefst beleidigt abzogen. Beim Hinausgehen sahen sie
die Mappe mit misstrauischen, fast alarmierten Blicken an, was in
mir sogleich die nächste Sorge weckte: Wo sollte ich dieses
monströse »Behältnis für Dokumente« aufbewahren?
Ich setzte mich an den Schreibtisch, legte die
Mappe vor mich hin und sah automatisch auf den Registrator: Sieben
Mitteilungen in den fünfzehn Minuten, die ich bei Seiner Exzellenz
gewesen war. Sofort stellte ich sämtliche Dienstverbindungen auf
Claudius um - was ich, wie ich zugeben muss, nicht sonderlich
bedauerte. Dann befasste ich mich mit der Mappe.
Wie erwartet, enthielt sie nichts weiter als
Papiere. Zweihundertdreiundsiebzig durchnummerierte Blätter von
unterschiedlicher Farbe, unterschiedlicher Beschaffenheit,
unterschiedlichem Format und unterschiedlichem Erhaltungsgrad. Seit
fast zwanzig Jahren hatte ich nicht mehr mit Papier zu tun gehabt,
und mein erster Impuls war, den ganzen Stapel in den Translator zu
stecken; aber ich hielt rechtzeitig inne. Papier, hm … gut, dann
eben Papier.
Die Blätter wurden von einer Metallvorrichtung mit
Magnetverschluss fest zusammengehalten, daher bemerkte ich nicht
sofort die Funkkarte, die unter der oberen Klemme steckte; es war
ein Funkspruch darauf, den Seine Exzellenz heute Mittag erhalten
hatte - sechzehn Minuten bevor er mich zu sich beordert hatte. Der
Text lautete:
01. 06. - 13:01 turm an wanderer.
auf ihre anfrage vom 01. 06. - 07: 11 betreffend
tristan teile ich mit: am 31. 05. - 19:34 traf hier eine
information vom kommandanten der basis saraksch 2 ein. zitat:
ausfall von huron (abalkin, chiffrierer im stab der flottengruppe z
des inselimperiums). am 28. 05. flog tristan (loffenfeld, arzt der
basis im außendienst) zur reihenuntersuchung hurons. heute am 29.
05. - 17:13 erschien mit tristans flugboot huron in der basis. nach
seinen worten wurde tristan unter unbekannten umständen von der
spionageabwehr des stabes z gefasst und getötet. beim versuch,
tristans körper zu retten und zur basis zu bringen, enttarnte sich
huron. tristans körper konnte er nicht retten. beim gewaltsamen
durchbruch wurde huron nicht verletzt, befindet sich jedoch am
rande eines psychischen zusammenbruchs. auf seine nachdrückliche
bitte hin wird er mit linientransfer 611 zur erde geschickt. ende
des zitats.
auskunft: 611 kam am 30. 05. - 22:32 auf der erde
an. abalkin hat keine verbindung mit der komkon aufgenommen, auf
der erde ist er bis heute 12:53 nicht registriert, auf den
zwischenstationen der linie 611 (pandora, kurort) ist er bis zum
selben zeitpunkt ebenfalls nicht registriert. turm.
Die Progressoren … Also, ehrlich gesagt: Ich mag
Progressoren nicht - obwohl ich ja selbst einer der ersten gewesen
bin. Und das zu einer Zeit, als der Begriff noch ausschließlich in
theoretischen Abhandlungen verwendet wurde. Meine Einstellung den
Progressoren gegenüber ist aber nichts Ungewöhnliches, denn die
überwiegende Mehrheit der Erdbewohner kann nicht verstehen, dass es
in manchen Situationen keine Kompromisse geben kann: er oder ich -
und keine Zeit herauszufinden, wer im Recht ist. Für einen normalen
Erdenmenschen klingt das barbarisch, und ich kann ihn verstehen.
Ich war ja selbst ein solcher, bevor ich auf den Saraksch geriet.
Ich erinnere mich noch genau an dieses Weltbild, dem zufolge jedes
vernunftbegabte Wesen a priori als dem Menschen ethisch
gleichwertig angesehen wird. Dadurch ist die Fragestellung, ob das
Wesen besser oder schlechter ist als man selbst, von vorneherein
obsolet, selbst wenn seine Ethik und Moral sich von der unseren
unterscheidet …
Eine theoretische Vorbereitung oder auch die
Konditionierung am Modell sind hier nicht ausreichend - man muss
die Schattenzone der Moral selbst durchschreiten und die Dinge mit
eigenen Augen sehen, sich gehörig die Finger verbrennen und eine
Menge abscheulicher Erinnerungen ansammeln, bis man es endlich
begreift. Das heißt, nicht nur begreift, sondern bis man den
eigentlich sehr trivialen Gedanken in seinem Weltbild verankert,
dass es im Universum auch intelligente Wesen gibt, die wesentlich
und weitaus schlechter sind als man selbst - wer immer man auch
sein mag. Und erst dann wird man in der Lage sein, Freund und Feind
zu unterscheiden und in kritischen Situationen augenblicklich
Entscheidungen zu treffen. Man wird den Mut haben, sofort zu
handeln und erst später darüber nachzudenken.
Und das ist, meiner Meinung nach, was einen
Progressor ausmacht: Es ist die Fähigkeit, entschlossen zwischen
Freund und Feind zu unterscheiden. Weil er das kann, begegnet man
ihm auf der Erde mit ängstlicher Bewunderung, mit bewundernder
Angst, und auf Schritt und Tritt mit abfälligem Argwohn. Das kann
man nicht ändern; man muss es hinnehmen - wir ebenso gut wie sie.
Denn entweder gibt es Progressoren, oder die Erde muss aufhören, in
außerirdischen Angelegenheiten mitzumischen. Aber zum Glück haben
wir in der KomKon 2 recht selten mit Progressoren zu tun.
Aufmerksam las ich den Funkspruch ein zweites Mal
durch. Seltsam. Seine Exzellenz interessierte sich also
hauptsächlich für diesen Tristan alias Loffenfeld. Und um etwas
über ihn in
Erfahrung zu bringen, war er heute in aller Frühe aufgestanden und
hatte sich nicht gescheut, unseren »Turm« aus dem Bett zu
scheuchen, der, wie wir alle wissen, immer erst schlafen geht, wenn
die Hähne krähen.
Und noch etwas Sonderbares: Man könnte meinen,
Seine Exzellenz hätte im Voraus gewusst, was »Turm« antworten
würde. Denn um die Suche nach Abalkin zu beschließen und die Mappe
mit seinen Papieren für mich vorzubereiten, hatte er nur fünfzehn
Minuten gebraucht. Es sah fast so aus, als hätte die Mappe schon
vorher bei ihm bereitgelegen …
Und das Seltsamste: Abalkin war sicher der letzte
Mensch gewesen, der Tristan oder zumindest seine Leiche gesehen
hatte. Wenn aber Seine Exzellenz Abalkin suchen ließ, weil er ihn
als Zeugen im Fall Tristan brauchte, wozu dann dieses mysteriöse
Gleichnis vom Wanderer und dem Milchbart?
Selbstverständlich hatte ich dazu schon die
verschiedensten Versionen - zwanzig, wenn nicht mehr -, von denen
folgende besonders hervorstach: Huron-Abalkin war von der
Spionageabwehr des Inselimperiums angeworben und »umgedreht«
worden; dann brachte er Tristan-Loffenfeld um. Seitdem hält er sich
auf der Erde versteckt und plant, den Weltrat zu
unterwandern.
Ich las den Funkspruch noch einmal und legte ihn
dann beiseite. Also gut. Blatt Nr. 1. Abalkin, Lew
Wjatscheslawowitsch. Codenummer soundso. Genetischer Code soundso.
Geboren am 6. Oktober’38. Erziehung in der Internatsschule 241,
Syktywkar. Lehrer: Fedossejew, Sergej Pawlowitsch. Ausbildung an
der Progressoren-Schule Nr. 3 (Europa). Ausbilder: Horn, Ernst
Julius. Berufliche Neigungen: Tierpsychologie, Theater,
Ethnolinguistik. Berufliche Indikationen: Tierpsychologie,
theoretische Xenologie. Arbeit: Februar’58 bis September’58,
Diplompraktikum, Planet Saraksch, Kontaktversuch mit der Rasse der
Kopfler in ihrer natürlichen Umwelt.
Ich stutzte. Na, so was! Womöglich kannte ich
diesen Abalkin sogar … Richtig, ich erinnerte mich: Es war’58, eine
ganze Truppe war auf dem Saraksch angekommen - Komow, Rowlingson,
Martha … und dieser etwas mürrische Bursche: der Praktikant. Seine
Exzellenz (damals »der Wanderer«) hatte mir befohlen, alles stehen-
und liegenzulassen und die Gruppe über die Blaue Schlange in die
Festung zu bringen, getarnt als Expedition des
Wissenschaftsdepartements. Abalkin war dürr, sehr blass und hatte
lange schwarze Haare wie ein Indianer. Ja, genau! Und alle, außer
natürlich Komow, hatten ihn »den Heuler« genannt. Nicht etwa, weil
er immer geheult hätte, sondern weil er eine Stimme hatte, die
heulte wie ein Tachorg. Wie klein die Welt doch ist! Gut, schauen
wir nach, was dann aus ihm geworden ist.
März’60 bis Juli’62, Planet Saraksch: Leitung und
Ausführung der Operation »Mensch und Kopfler«. Juli’62 bis Juni’63,
Planet Pandora: Leitung und Ausführung der Operation »Kopfler im
Weltraum«. Juni’63 bis September’63, Planet Esperanza: Teilnahme an
der Operation »Tote Welt« (gemeinsam mit dem Kopfler Wepl).
September’63 bis August’64, Planet Pandora: Umschulungskursus.
August’64 bis November’66, Planet Giganda: erster selbstständiger
Infiltrationsversuch, zunächst als Unterbuchhalter einer
Jagdhundezucht, dann als Hundeführer des Marschalls Nagon-Gigh,
schließlich Jägermeister des Herzogs von Alay (siehe Blatt Nr.
66).
Ich sah mir Blatt Nr. 66 an - nicht mehr als ein
Fetzen Papier, irgendwo hastig herausgerissen und zerknittert vom
Zusammenknüllen. Darauf stand in flüchtiger, schwungvoller Schrift:
»Rudi! Damit du dir keine Sorgen machst: Auf der Giganda hat das
Schicksal zwei von unseren Mehrlingen zusammengeführt. Ich
versichere dir, dass es reiner Zufall war und ohne Folgen bleibt.
Wenn du’s nicht glaubst, schau in 07 und 11. Maßnahmen wurden
bereits ergriffen.« Dann eine
unleserliche, verschnörkelte Unterschrift. Das Wort »reiner« war
dreimal unterstrichen. Auf der Rückseite des Papiers stand ein
gedruckter Text in arabischer Schrift.
Was war davon zu halten? Ich wusste es nicht;
nachdenklich kehrte ich zu Blatt Nr. 1 zurück.
November’66 bis September’67, Planet Pandora:
Umschulungskursus. September’67 bis Dezember’70, Planet Saraksch:
Infiltration in die Republik Honti als Untergrundkämpfer der Union,
Kontaktaufnahme mit dem Geheimdienst des Inselimperiums (erste
Etappe der Operation »Stab«). Dezember’70, Planet Saraksch,
Inselimperium: Häftling im Konzentrationslager (bis März’71 ohne
Kontakt), Übersetzer in der Lagerkommandantur, Soldat bei den
Pioniertruppen, Obersoldat der Küstenwache, Übersetzer im Stab
einer Abteilung der Küstenwache, Übersetzer und Chiffrierer beim
Flaggschiff der 2. Unterseeflotte der Gruppe Z, Chiffrierer im Stab
der Flottengruppe Z. Beobachtende Ärzte:’38 bis’53 - Lekanowa,
Jadwiga Michailowna;’53 bis’60 - Grăsescu Romuald; seit’60 -
Loffenfeld, Kurt.
Ende. Mehr stand nicht auf dem Blatt Nr. 1. Das
heißt, auf der Rückseite hatte jemand über das ganze Blatt
verwischte braune Streifen gezogen, wie mit Gouache; sie ähnelten
einem stilisierten kyrillischen »she«.1
Nun denn, Lew Abalkin, genannt »der Heuler« -
jetzt weiß ich schon ein wenig mehr über dich und kann mit der
Suche beginnen. Ich weiß, wer dein Lehrer ist. Ich weiß, wer dich
an der Progressoren-Schule betreut hat. Ich kenne deine
beobachtenden Ärzte. Aber was ich nicht weiß: Wer braucht
eigentlich
dieses Blatt Nr. 1, und wozu? Wenn jemand wissen wollte, wer Lew
Abalkin ist, könnte er das Informatorium anrufen (ich rief das GGI
an), den Namen oder die Codenummer eingeben (ich gab die Codenummer
ein) und nach … eins und zwei und drei und … vier Sekunden alles
erfahren, was ihm an Informationen über eine fremde Person
rechtmäßig zusteht.
Bitte sehr: Abalkin, Lew, und so weiter,
Codenummer, genetischer Code, geboren am Soundsovielten, Eltern
(übrigens, warum waren auf Blatt Nr. 1 die Eltern nicht
angegeben?): Abalkina, Stella Wladimirowna, und Zjurupa,
Wjatscheslaw Borissowitsch, die Internatsschule in Syktywkar, der
Lehrer, die Progressoren-Schule, der Ausbilder … Stimmt alles.
Weiter. Progressor, Arbeit seit’60: Planet Saraksch. Hm. Nicht
viel. Nur die offiziellen Daten. Es scheint, als habe sich Abalkin
nicht mehr die Mühe machen wollen, seine Angaben weiterhin an den
GGI-Dienst zu melden. Und was steht da? »Adresse auf der Erde:
nicht registriert.«
Ich tippte eine neue Anfrage ein: »Unter welchen
Adressen ist Codenummer soundso auf der Erde registriert gewesen?«
Nach zwei Sekunden kam die Antwort: »Die letzte Adresse Abalkins
auf der Erde ist die Progressoren-Schule Nr. 3 (Europa).« Auch ein
interessanter Hinweis. Denn entweder ist Abalkin seit achtzehn
Jahren kein einziges Mal auf der Erde gewesen, oder er ist äußerst
menschenscheu, lässt sich nie auf der Erde registrieren und mag
keine Angaben über sich machen. Beides ist natürlich denkbar,
scheint mir aber doch ziemlich ungewöhnlich.
Das GGI speichert bekanntlich nur die Daten, die
eine Person über sich mitteilen möchte. Was aber enthält das Blatt
Nr. 1? Ich kann darauf nichts finden, was sich für Abalkin zu
verheimlichen lohnte. Sicher, alles ist sehr detailliert
aufgeführt, aber es fiele doch niemandem ein, sich wegen solcher
Einzelheiten ans GGI zu wenden. Frage bei der KomKon 1
nach, schon erhältst du alle Informationen. Und was sie bei der
KomKon nicht wissen, erfährt man, wenn man sich unter die
Progressoren mischt - auf der Pandora zum Beispiel, wo sie
rekonditioniert werden oder sich am Diamantenen Strand erholen, am
Fuß der großartigsten Sanddünen im bewohnten Universum.
Egal, ist nicht so wichtig. Was ich allerdings noch
immer nicht verstehe, ist, wozu man das Blatt Nr. 1 überhaupt
braucht, noch dazu so ausführlich? Und wenn es schon so ausführlich
ist, warum steht dann kein Wort über die Eltern darin? Stopp.
Wahrscheinlich geht mich das wieder nichts an.
Warum aber hat sich Abalkin nach der Rückkehr auf
die Erde nicht bei der KomKon gemeldet? Der psychische
Zusammenbruch vielleicht? Ekel vor der eigenen Arbeit? Also: Ein
Progressor am Rande eines psychischen Zusammenbruchs kehrt auf den
Heimatplaneten zurück, den er seit mindestens achtzehn Jahren nicht
mehr betreten hat. Wohin wendet er sich? Sicher nicht an seine
Mutter, meine ich, das wäre in seinem Zustand unangebracht. Zudem
sieht mir Abalkin nicht wie ein Waschlappen aus. Der Lehrer? Oder
der Ausbilder? Möglich. Sogar wahrscheinlich. Sich ausweinen. Das
kenne ich aus eigener Erfahrung. Wobei der Lehrer eher infrage
kommt als der Ausbilder. Denn der Ausbilder ist ja doch in gewisser
Weise ein Kollege; wir indes ekeln uns vor unserer Arbeit. Stopp.
Stopp! Was ist denn mit mir los? Ich schaute auf die Uhr. Für zwei
Dokumente hatte ich vierunddreißig Minuten gebraucht. Dabei hatte
ich sie nicht einmal durchgearbeitet, sondern nur angesehen. Ich
zwang mich zur Konzentration; aber dann wurde mir bewusst, dass ich
gar keine Lust hatte darüber nachzudenken, wie ich Abalkin
finden sollte. Es interessierte mich viel mehr, warum er so
dringend gefunden werden musste. Ich ärgerte mich also maßlos über
Seine Exzellenz, obwohl er mir sicher sämtliche Erklärungen gegeben
hätte, wenn sie mir bei der Suche von Nutzen
gewesen wären. Hatte er mir also nicht erklärt, warum
Abalkin gefunden werden musste, dann stand das Warum
offensichtlich in keinerlei Beziehung zum Wie.
Und dann wurde mir noch etwas klar. Das heißt, ich
hatte so ein Gefühl, einen Verdacht: dass nämlich diese ganze
Mappe, all das viele Papier, das ganze vergilbte Geschreibsel mir
nichts weiter bringen würde, außer vielleicht ein paar Namen - und
eine Unmenge neuer Fragen, die aber alle nicht das Geringste damit
zu tun hätten, wie ich Abalkin finden sollte.