ZWEITER TEIL
Gardist

5

Rittmeister Tschatschu beendete seine Unterweisung und befahl: »Korporal Gaal, Sie bleiben. Die Übrigen können gehn.«
Nachdem die Kommandanten im Gänsemarsch und dicht auf Vordermann den Raum verlassen hatten, sah der Rittmeister Gai eine Zeit lang an. Dabei wippte er mit seinem Stuhl und pfiff das alte Soldatenlied »Gib Ruhe, Alte«. Rittmeister Tschatschu war ganz anders als Rittmeister Toot: untersetzt, kahlköpfig, mit sehr dunklem Teint und wesentlich älter als Toot. In jüngerer Vergangenheit hatte er als Kriegsoffizier an acht Seekonflikten teilgenommen; er trug das Flammende Kreuz und drei Medaillen »Für Kampfeseifer«. Geradezu legendär wurde sein Zweikampf mit einem weißen Submarine: Sein Panzer hatte einen Volltreffer erhalten und war in Brand geraten; Tschatschu aber hatte weitergeschossen, bis er wegen seiner furchtbaren Verbrennungen das Bewusstsein verlor. Man erzählte sich, an seinem Körper gebe es keine heile Stelle mehr - überall fremde, verpflanzte Haut, und an der linken Hand fehlten ihm drei Finger. Er war bis zur Grobheit aufrichtig, eben ein richtiger Kämpfer. Im Gegensatz zu dem reservierten Rittmeister Toot erachtete er es auch nie für nötig, seine Stimmung zu verbergen - weder vor Untergebenen noch vor seinen Vorgesetzten. War er fröhlich, wusste das die ganze Brigade, hatte er aber schlechte Laune und pfiff »Gib Ruhe, Alte«, dann …
Gai blickte Rittmeister Tschatschu vorschriftsmäßig in die Augen. Bei dem Gedanken, dass er diesen vortrefflichen Menschen verärgert haben sollte, verzweifelte er fast. Hastig besann er sich auf seine Verfehlungen und die seiner Gardisten. Doch er konnte sich an nichts erinnern, das nicht längst erledigt gewesen wäre - weggewischt mit einer Geste der verstümmelten Hand und Tschatschus heiserem, griesgrämigem »Na schön, was soll’s, ist eben die Garde …«.
Der Rittmeister hörte auf zu pfeifen, wippte auch nicht mehr mit dem Stuhl.
»Ich mag weder Geschwätz noch Geschreibsel, Korporal«, sagte er. »Entweder du empfiehlst den Anwärter Sim, oder du empfiehlst ihn nicht. Was denn nun?«
»Jawohl, Herr Rittmeister. Ich empfehle ihn«, antwortete Gai eilfertig. »Aber …«
»Ohne ›aber‹, Korporal! Empfiehlst du ihn oder nicht?«
»Jawohl. Ich empfehle ihn.«
»Wie soll ich dann diese beiden Schreiben verstehen?« Der Rittmeister zog rasch zwei zusammengelegte Blätter aus seiner Brusttasche, hielt sie mit der versehrten Hand fest und faltete sie mit der unversehrten auf dem Tisch auseinander. »Hier steht: ›Ich empfehle genannten Mak Sim als ergeben und fähig …‹, das ist klar, ›zur Bestätigung im hohen Rang eines Anwärters der Kämpfenden Garde.‹ Und jetzt dein zweiter Schrieb, Korporal: ›In Verbindung mit Obengesagtem betrachte ich es als meine Pflicht, die Aufmerksamkeit der Truppenführung auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen Überprüfung des genannten Anwärters der Kämpfenden Garde, M. Sim, zu lenken.‹ Massaraksch! Was willst du eigentlich, Korporal?«
»Herr Rittmeister«, antwortete Gai erregt, »ich bin in einer sehr schwierigen Situation! Ich kenne den Anwärter Sim als befähigten und den Aufgaben der Garde ergebenen Bürger. Und ich bin sicher, er wird uns großen Nutzen bringen. Aber ich weiß gar nichts über seine Vergangenheit! Er kennt sie ja nicht einmal selbst. Wenn man bedenkt, dass in der Garde nur Platz ist für kristallklare …«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Tschatschu ungeduldig. »Kristallklar, ohne Wenn und Aber ergeben, bis zum letzten Tropfen, mit ganzer Seele … Machen wir’s kurz, Korporal: Du nimmst jetzt eins dieser Blätter und zerreißt es. Du musst schließlich eine Meinung haben! Und ich kann nicht mit beiden zum Brigadegeneral gehen. Entweder ja oder nein. Wir sind in der Garde, nicht an der Philosophischen Fakultät, Korporal! Zwei Minuten Bedenkzeit.«
Der Herr Rittmeister holte einen dicken Aktenordner aus dem Regal und warf ihn angewidert vor sich auf den Tisch. Gai blickte bedrückt auf die Uhr; es fiel ihm sehr schwer, seine Wahl zu treffen. Vor der Truppenführung zu verheimlichen, dass man einen Anwärter nur ungenügend kannte, war unehrenhaft und eines Gardisten unwürdig, selbst im Falle Maxims. Andererseits war es aber ebenso unehrenhaft und eines Gardisten unwürdig, sich vor der Verantwortung zu drücken und die Entscheidung auf den Herrn Rittmeister abzuwälzen, der den Anwärter nur zweimal gesehen hatte, und auch das nur im Glied … Also gut, noch einmal. Was sprach für Maxim: Er hat sich die Aufgaben der Garde mit großem Eifer zu Herzen genommen, welche da sind: die Kriegsfolgen zu beseitigen und die Agenten eines potenziellen Aggressors zu vernichten. Er hat nicht nur die Musterung im Departement für soziale Gesundheit einwandfrei durchlaufen, sondern auch die Überprüfung bestanden, zu der ihn Rittmeister Toot und Stabsarzt Sogu in irgendeine geheime Institution geschickt hatten. (Allerdings konnte man sich da bloß auf Maxims eigene Aussage verlassen; die entsprechenden Papiere hatte er verloren. Doch ließe man ihn sonst frei herumlaufen?) Er war mutig und ein geborener Kämpfer und ganz allein mit Rattenfängers Bande fertiggeworden. Er war sympathisch, im Umgang schlicht, gutmütig, absolut uneigennützig, und überhaupt: ein Mensch mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Was sprach gegen ihn? Keiner wusste, wer er war und woher er kam. Entweder hatte er seine Vergangenheit vergessen, oder er wollte sie nicht preisgeben. Und er besaß keinerlei Dokumente. Aber machte ihn das so verdächtig? Die Regierung kontrollierte lediglich die Grenzen und das zentrale Gebiet; zwei Drittel des Landes aber steckten bis zum heutigen Tag in Anarchie. Dort herrschten Hunger und Seuchen; die Menschen flohen - und alle ohne Papiere, ja, die jungen Menschen wussten nicht einmal, was das ist. Wie viele von ihnen waren krank, ohne Gedächtnis, sogar degeneriert … Hauptsache, Maxim war kein Entarteter.
»Nun, Korporal?«, ließ sich der Rittmeister vernehmen.
»Jawohl, Herr Rittmeister!«, erwiderte Gai. In seiner Stimme klang Resignation. »Gestatten …«
Er nahm den Bericht mit der Bitte, Maxim zu überprüfen, und zerriss ihn langsam.
»R-richtig entschieden«, schnarrte der Herr Rittmeister. »So macht man das bei der Garde! Papiere, Tinte, Überprüfungen - unsere Prüfung ist der Kampf. Wenn wir in unsere Maschinen steigen und in die Zone der Atomfallen hineinrollen, sehen wir sofort, wer zu uns gehört und wer nicht.«
»Jawohl«, stimmte Gai zu, allerdings ohne rechte Überzeugung. Er verstand den alten Haudegen, wusste aber auch, dass der Kriegsveteran und Held von acht Seekonflikten hier irrte: Natürlich, Kampf war Kampf - aber auch die Reinheit zählte. Bei Maxim jedoch war das ohne Bedeutung, denn gerade er war ja rein.
»Massaraksch!«, rief der Herr Rittmeister. »Das Gesundheitsdepartement hat ihn durchgelassen; alles Übrige ist unsere Sache.« Nach diesem rätselhaften Satz blickte er Gai böse an und fügte hinzu: »Ein Gardist vertraut seinem Freund restlos. Vertraut er ihm aber nicht, dann ist es kein Freund, und er sollte ihn zum Teufel jagen. Ich habe mich über dich gewundert, Korporal. Na, genug davon. Abmarsch in deine Gruppe, es bleibt wenig Zeit … Während der Operation besehe ich mir deinen Anwärter selbst.«
Gai schlug die Hacken zusammen und ging hinaus. Hinter der Tür erlaubte er sich ein Lächeln: Nun hatte der alte Haudegen die Verantwortung doch noch auf sich genommen. Gutes war eben immer gut! Jetzt konnte er Maxim reinen Gewissens als seinen Freund betrachten. Mak Sim. Sein richtiger Familienname war unaussprechlich. Entweder hatte er ihn im Fieber erfunden, oder er entstammte wirklich diesem Bergvolk. Wie hieß gleich dessen alter Herrscher? Saremtschitschakbeschmussaraji … Gai betrat den Platz und hielt Ausschau nach seiner Gruppe. Der unermüdliche Pandi hetzte die Jungs gerade durch das oberste Fenster einer zweistöckigen Hausattrappe. Sie waren schweißnass, und das war schlecht, denn bis zum Beginn der Operation hatten sie nur noch eine Stunde.
»Einstellen!«, schrie Gai noch von fern.
»Einstellen!«, brüllte auch Pandi. »Antreten!«
Die Gruppe formierte sich schnell. Pandi befahl: »Stillgestanden!« Im Exerzierschritt marschierte er zu Gai und meldete: »Herr Korporal, Truppe befasst mit dem Überwinden der Sturmbahn.«
»Treten Sie ins Glied!«, sagte Gai und versuchte, einen Ausdruck von Missbilligung in seine Intonation zu legen, wie das Korporal Serembesch hervorragend konnte. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, ging er vor der Truppe auf und ab und musterte die bekannten Gesichter.
Ihre Augen waren grau, hell- oder dunkelblau und leicht aufgerissen; darin spiegelte sich die Bereitschaft, jedweden Befehl auszuführen. Die Truppe achtete auf jede seiner Bewegungen und Gai dachte, wie nah und lieb sie ihm waren, diese zwölf baumstarken Jungs: rechts die sechs Soldaten der Garde, links die sechs Anwärter - alle in gut sitzenden schwarzen Overalls, die Knöpfe poliert, dazu glänzende Stiefel mit kurzem Schaft. Alle hatten ihr Barett forsch auf die rechte Braue gezogen … Nein, nicht alle. Mitten in der Linie, auf der Seite der Anwärter, ragte wie ein Turm der Anwärter Mak Sim heraus, ein sehr fähiger Bursche, sein Liebling - so traurig es für einen Kommandanten auch war, jemanden vorzuziehen. Allerdings … hmm … dass er seine seltsamen braunen Augen nicht aufsperrte, schön, er würde es noch lernen … jedoch … hmm …
Gai trat zu Maxim und schloss den obersten Knopf seines Overalls. Dann stellte er sich auf Zehenspitzen und richtete ihm das Barett. Gut. Aber nun zog Mak, obwohl im Glied, schon wieder die Mundwinkel bis zu den Ohren! Na meinetwegen, dachte Gai. Wird er sich noch abgewöhnen. Er ist ja erst Anwärter, dazu der Neueste in der Gruppe …
Um den Anschein von Gerechtigkeit zu wahren, richtete Gai, obwohl unnötig, die Gürtelschnalle bei Maxims Nachbarn. Dann ging er drei Schritte zurück und kommandierte: »Rührt euch!« Die Männer stellten das rechte Bein ein wenig vor und legten die Arme auf den Rücken.
»Gardisten«, begann Gai, »wir rücken heute im Kompanieverband zu einer regulären Operation aus, um ein Agentennest des potenziellen Gegners auszuheben. Die Operation verläuft nach Plan dreiunddreißig. Die Herren Soldaten werden sich zweifelsohne ihrer in diesem Plan festgelegten Aufgaben erinnern. Den Herren Anwärtern aber, die vergessen, ihre Knöpfe zu schließen, rufe ich das Wesentliche noch einmal ins Gedächtnis: Die Gruppe bekommt einen Hauseingang zugewiesen. Sie teilt sich in vier Trupps: in drei Dreiertrupps und die äußere Reserve. Die Dreiertrupps, bestehend aus je zwei Soldaten und einem Anwärter, kontrollieren der Reihe nach und möglichst unauffällig die Wohnungen. Haben sie eine Wohnung betreten, handeln sie folgendermaßen: Der Kandidat bewacht den Eingang, der zweite Soldat besetzt, ohne sich durch das Geringste ablenken zu lassen, die Hintertür, der Truppführer durchsucht die Räume. Die Reserve - drei Anwärter und der Gruppenführer, im gegebenen Fall also ich - bleibt unten im Treppenhaus, um erstens niemanden während der Operation herauszulassen und um zweitens sofort den Trupp zu unterstützen, der Hilfe braucht. Die konkrete Zusammensetzung der Trupps und der Reserve ist Ihnen bekannt … Achtung!« Er trat noch einen Schritt zurück. »In Dreiertrupps und Reserve - antreten!«
Alle Männer nahmen ihren Platz ein. Niemand irrte sich dabei, niemand verhedderte seine Maschinenpistole, rutschte aus oder verlor das Barett, wie das bei früheren Übungen passiert war. Rechts außen ragte Maxim aus der Reserve hervor und grinste wieder breit. Jäh kam Gai der Gedanke: Womöglich betrachtete Mak alles nur als unterhaltsames Spiel? Doch nein, so war es natürlich nicht - weil es so nicht sein konnte. Schuld an diesem Eindruck war bloß das idiotische Lächeln.
»Nicht übel«, brummte Gai, Korporal Serembesch nachahmend, und blickte wohlwollend Pandi an: ein Mordskerl, der Alte, hatte die Jungs gedrillt. »Achtung!«, rief er. »Gruppe - antreten!«
Wieder kurze Bewegung, herrlich exakt und makellos, und die Gruppe stand in Linie. Gai war erstaunt, mehr noch, er war begeistert. Einfach hervorragend! Er legte die Hände wieder auf den Rücken und schritt auf und ab.
»Gardisten!«, sagte er. »Wir sind die Stütze und die einzige Hoffnung des Staates in dieser schweren Zeit. Nur auf uns können sich die Unbekannten Väter bei ihrem großen Werk verlassen - bedenkenlos verlassen!« Das war die Wahrheit, die reine Wahrheit, und in ihr lagen Zauber und Hingabe. »Das Chaos, das der verbrecherische Krieg hervorgebracht hat, ist kaum vorüber, seine Folgen sind noch immer zu spüren. Gardisten, Brüder! Wir haben nur eine Aufgabe: alles mit der Wurzel auszurotten, was uns ins Chaos zurückzieht. Der Feind an unseren Grenzen schläft nicht, er hat wiederholt und erfolglos versucht, uns in einen neuen Krieg zu Lande und zur See hineinzuziehen, und nur dank der Tapferkeit und Standhaftigkeit der Soldaten, der Armee, kann unser Land in Frieden und Ruhe leben. Doch auch die größten Anstrengungen der Armee werden nicht zum Ziel führen, wenn wir den Feind im Inneren nicht besiegen. Diesen zu vernichten, ist unsere und allein unsere Aufgabe, Gardisten. Dafür bringen wir viele Opfer. Wir stören die Ruhe unserer Mütter, Brüder und Kinder, bringen den rechtschaffenen Arbeiter, Beamten, Händler und Industriellen um seine verdiente Erholung. Sie wissen, was uns zwingt, in ihre Wohnungen einzudringen, und sie empfangen uns als ihre Freunde, als ihre Beschützer. Macht euch das klar und lasst euch bei der Erfüllung eurer Aufgabe nicht vom edlen Eifer hinreißen. Freund ist Freund, und Feind ist Feind … Noch Fragen?«
»Nein!«, schrie es aus zwölf Kehlen.
»Stillgestanden! Dreißig Minuten Pause und Überprüfen der Ausrüstung! Wegtreten!«
Die Gruppe zerstreute sich; zu zweit und zu dritt gingen die Gardisten zur Kaserne. Gai folgte ihnen langsam. Er verspürte eine angenehme innere Leere. In einiger Entfernung wartete Maxim und lächelte schon im Voraus.
»Los, spielen wir ›Wörter‹«, schlug er vor.
Gai stöhnte innerlich auf. Zurechtweisen sollte er Mak, zurechtweisen! Wo gab es denn so etwas: ein Anwärter, ein unerfahrener Milchbart, der eine halbe Stunde vor Operationsbeginn seinen Korporal mit Vertraulichkeiten belästigte!
»Dazu ist jetzt nicht die Zeit«, sagte er so kühl wie möglich.
»Bist du aufgeregt?«, fragte Maxim mitfühlend.
Gai blieb stehen und verdrehte die Augen. Was sollte er nur tun! Es war einfach unmöglich, diesem gutmütigen, naiven Riesenkerl böse zu sein, ihn zurechtzuweisen, zumal er der Retter seiner Schwester war und - wozu es verheimlichen - ihn beim Exerzieren in jeder Hinsicht weit übertraf … Gai sah sich um und sagte: »Hör zu, Mak, du bringst mich in eine unangenehme Situation. Hier in der Kaserne bin ich dein Vorgesetzter. Ich befehle, du hast dich unterzuordnen. Ich hab dir hundertmal …«
»Aber ich will mich ja unterordnen, befiehl doch!«, unterbrach ihn Maxim. »Ich weiß, was Disziplin heißt. Befiehl!«
»Das tat ich bereits. Befass dich mit deiner Ausrüstung.«
»Entschuldige, Gai, so hast du es vorhin nicht ausgedrückt. Du hast Pause und Herrichten der Ausrüstung befohlen. Schon vergessen? Meine Ausrüstung ist fertig, und jetzt mache ich Pause. Komm, spielen wir, ich weiß ein tolles Wort.«
»Mak, versteh doch: Ein Untergebener darf sich erstens nur in der vorgeschriebenen Form an seinen Vorgesetzten wenden und zweitens ausschließlich in dienstlicher Angelegenheit.«
»Ja, ich weiß, Paragraf neun. Aber jetzt ist kein Dienst. Wir machen Pause.«
»Wie kommst du darauf, dass ich Pause mache?«, fragte Gai. Sie standen hinter der Attrappe eines Bretterzauns mit Stacheldraht, und Gott sei Dank sah sie hier niemand. Keiner würde bemerken, dass sich dieser Riese mit der Schulter gegen den Zaun fläzte und drauf und dran war, seinen Korporal am Knopf zu fassen. »Ich erhole mich einzig und allein zu Hause, aber selbst dort gestatte ich keinem Untergebenen … Hör zu, lass meinen Knopf los und mach deinen zu …«
Maxim kam der Aufforderung nach und sagte: »Im Dienst ist es so, zu Hause anders. Warum?«
»Komm, reden wir nicht davon. Ich habe es satt, dir immer wieder dasselbe zu erklären. Übrigens, wann lässt du endlich dieses Lächeln im Glied?«
»Laut Vorschrift ist es nicht verboten«, entgegnete Maxim prompt. »Und was ›immer wieder dasselbe erklären‹ betrifft, so Folgendes: Sei nicht böse, Gai, ich weiß, du bist kein Sager … kein Sprecher …«
»Kein was?«
»Du bist kein Mensch, der gut reden kann.«
»Kein Redner?«
»Redner … Ja, kein Redner. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Du hast heute zu uns gesprochen, und deine Worte waren gut und richtig. Aber: Als du mir zu Hause von den Aufgaben der Garde und der Situation im Land erzählt hast, war das viel interessanter, es war ganz deins, deine Worte. Hier sagst du zum siebten Mal dasselbe, und nie mit eigenen Worten. Es klingt sehr richtig, sehr gleichmäßig, aber auch sehr langweilig … Was meinst du? Bist du mir böse?«
Gai war nicht böse. Das heißt, eine kleine Nadel piekte schon in seine Eigenliebe: Bis zu diesem Moment hatte er geglaubt, ebenso gut und überzeugend zu reden wie Korporal Serembesch oder gar der Herr Rittmeister Toot. Genau genommen hatten sich die beiden im Laufe der drei Jahre auch ständig wiederholt. Doch war das nicht verwunderlich und erst recht keine Schande, denn in den drei Jahren hatte sich nichts entscheidend verändert - weder bei der inneren noch bei der äußeren Lage.
»Und wo steht in der Vorschrift«, fragte Gai ironisch lächelnd, »dass ein Untergebener seinen Vorgesetzten kritisieren soll?«
»Dort steht das Gegenteil«, bekannte Maxim seufzend. »Meiner Meinung nach ist das falsch. Wenn du dich mit Ballistik befasst, befolgst du doch auch meinen Rat, und irrst du dich in den Berechnungen, akzeptierst du meine Bemerkungen.«
»Ja, zu Hause«, sagte Gai eindringlich. »Da darf man alles.«
»Und wenn du uns beim Schießen falsche Zieleinstellungen vorgibst? Die Windkorrektur verkehrt berechnest? Was dann?«
»Dann darfst du es trotzdem auf keinen Fall«, entgegnete Gai bestimmt.
»Wir sollen falsch schießen?«, wunderte sich Maxim.
»Man schießt wie befohlen.« Gais Stimme klang streng. »Was du in diesen zehn Minuten gesagt hast, Mak, reicht für fünfzig Tage Bau. Verstehst du?«
»Nein … Und im Kampf?«
»Was - ›im Kampf‹?«
»Wenn du da eine falsche Zieleinstellung vorgibst. Was dann?«
»Hm«, brummte Gai, der noch nie im Ernstfall kommandiert hatte. Ihm fiel plötzlich wieder ein, wie sich Korporal Bachtu bei einer kriegerischen Aufklärung in der Karte geirrt und die ganze Truppe ins konzentrierte Feuer der Nachbarkompanie gejagt hatte. Bachtu selbst und die Hälfte der Jungs waren dabei ums Leben gekommen; dabei hatten sie alle gewusst, dass er einen Fehler machte, aber keiner hatte daran gedacht, ihn zu berichtigen.
Mein Gott, das wäre uns nie in den Sinn gekommen, begriff Gai auf einmal. Maxim dagegen versteht das nicht. Nicht nur, dass er es nicht versteht - denn da gibt es nichts zu verstehen -, er akzeptiert es einfach nicht! Wie oft schon hat er Dinge, die an sich völlig selbstverständlich sind, abgelehnt, und man konnte ihn in keiner Weise überzeugen. Im Gegenteil, man begann selbst zu zweifeln, der Kopf drehte sich wie ein Kreisel, war ganz wirr … Nein, er ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist besonders und ohne Beispiel. In einem Monat hat er die Sprache gelernt, Lesen und Schreiben in zwei Tagen. An zwei weiteren Tagen hat er all meine Bücher gelesen. Die Mathematik und Mechanik kennt er besser als die Herren Lehrer; dabei werden wir von richtigen Spezialisten unterrichtet. Oder nehmen wir Onkelchen Kaan …
In letzter Zeit richtete der Alte seine Monologe am Tisch ausschließlich an Maxim. Mehr noch: Einige Male ließ er sogar durchblicken, Maxim sei in diesen Zeiten wohl der einzige Mensch, der echtes Interesse und die rechten Fähigkeiten für fossile Tiere mitbringe. Onkelchen Kaan zeichnete ein paar scheußliche Tiere auf ein Blatt Papier, Maxim zeichnete noch scheußlichere hinzu, und dann stritten sie, welches davon älter sei, welches von welchem abstamme und warum es sich so und nicht anders verhalte, Fachbücher aus Onkelchens Bibliothek wurden gewälzt … Es kam vor, dass Maxim den Alten nicht mehr zu Wort kommen ließ, auch, dass Onkel Kaan sich heiser schrie, die Zeichnungen in Fetzen riss und mit den Füßen darauf trampelte, oder er schimpfte Maxim einen Ignoranten, schlimmer noch als der Dummkopf Schapschu. Dann aber fuhr er sich plötzlich mit beiden Händen durch den spärlichen grauen Haarkranz und murmelte mit erstauntem Lächeln: »Kühn, Massaraksch, sehr kühn. Sie haben Phantasie, junger Mann!« Bei alldem verstanden Gai und Rada keine Silbe von dem, worum es ging. Besonders haftete Gai ein Abend im Gedächtnis, an dem Maxim behauptete, einige der vorzeitlichen Geschöpfe seien auf den Hinterbeinen gegangen. Der Alte war sprachlos: Maxims These löste auf sehr einleuchtende und natürliche Weise eine alte, noch aus der Vorkriegszeit stammende, wissenschaftliche Streitfrage.
In Mathematik kennt er sich aus, ebenso in Mechanik, die Militärchemie beherrscht er ausgezeichnet, die Paläontologie - wer weiß heutzutage davon überhaupt noch etwas? - ist ihm gleichermaßen vertraut. Er malt wie ein Maler, singt wie ein Sänger. Und gutherzig ist er, übernatürlich gutherzig. Er allein gegen acht Banditen, und er hat sie geschlagen, mit bloßen Händen. Ein anderer an seiner Stelle würde einherstolzieren wie ein Gockel und auf alle anderen pfeifen. Er aber quälte sich, lag nächtelang wach. Lob und Dank bekümmerten ihn, und einmal brach er gar in Zorn aus, wurde blass und schrie, es sei unehrenhaft, für Mord zu loben. Gott, und was für ein Problem es war, ihn in die Garde zu kriegen! Alles versteht er, ist mit allem einverstanden, er will ja hinein - aber, sagt er, dort muss man schießen. Auf Menschen. Ich erkläre ihm: auf Entartete, nicht auf Menschen, auf den Abschaum, schlimmer noch als Banditen … Gott sei Dank, wir konnten uns darauf einigen, dass er zunächst einmal nur den Gegner entwaffnet, bis er sich ans Schießen gewöhnt hat. Lachhaft ist das, aber auch irgendwie beängstigend. Nein, nicht ohne Grund sagt er immerzu, er käme aus einer anderen Welt. Und ich kenne sie - Onkelchen hat sogar ein Buch darüber: »Das Nebelland Sartak«. In den Alabasterbergen, heißt es da, liegt das Tal Sartak, in dem glückliche Menschen wohnen. Der Beschreibung nach sind alle wie Maxim. Und das Erstaunliche: Verlässt einer von ihnen sein Tal, vergisst er sofort, woher er stammt und was früher mit ihm war. Er weiß nur noch, er kommt aus einer anderen Welt. Onkelchen meint ja, so ein Tal gäbe es überhaupt nicht, das sei alles Erfindung, es existiere nur ein Gebirgsrücken Sartak, und im Krieg, sagt er, habe man diesen Bergrücken dermaßen mit Superbomben zerhackt, dass die ortsansässigen Gebirgler nie mehr eine Erinnerung haben werden …
»Warum bist du so still?«, fragte Maxim. »Machst du dir meinetwegen Gedanken?«
Gai wandte den Blick ab. »Folgendes«, sagte er. »Ich bitte dich um eins: Lass dir im Interesse der Disziplin niemals anmerken, dass du mehr weißt als ich. Achte auf die anderen, und benimm dich wie sie.«
»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete Maxim bedrückt. Er dachte ein wenig nach und fügte hinzu: »Schwer, sich daran zu gewöhnen. Bei uns ist alles anders.«
»Was macht deine Verletzung?«, fragte Gai, um das Thema zu wechseln.
»Meine Wunden heilen schnell«, murmelte Maxim zerstreut. »Hör mal, Gai, lass uns nach der Operation gleich nach Hause fahren! Was schaust du denn so? Ich habe große Sehnsucht nach Rada. Du nicht? Wir bringen die Jungs zur Kaserne und brausen dann mit dem Lastwagen hin. Und dem Chauffeur geben wir frei.«
Gai holte tief Luft, aber da schallte aus dem silbrigen Lautsprecherkasten fast direkt über ihren Köpfen die Stimme des diensthabenden Brigadeoffiziers: »Sechste Kompanie, auf dem Platz antreten! Achtung, sechste Kompanie …«
Gai raunzte nur: »Anwärter Sim! Gespräch beenden! Marsch zum Antreten!«
Maxim stürmte los, Gai aber hielt ihn noch am Lauf seiner Maschinenpistole zurück. »Ich bitte dich«, sagte er. »Wie alle! Benimm dich wie alle! Heute beobachtet dich der Herr Rittmeister persönlich.«
Drei Minuten später stand die Kompanie. Es wurde schon dunkel, und über dem Platz flammten die Strahler auf. Hinter den Männern brummten monoton die Lastwagenmotoren, und wie stets vor einer Operation schritt der Herr Brigadegeneral in Begleitung des Herrn Rittmeisters Tschatschu schweigend die Reihen ab und musterte jeden einzelnen Gardisten. Er schritt ruhig, hatte die Augen zusammengekniffen und die Mundwinkel freundlich nach oben gezogen. Ohne ein Wort zu sagen, nickte er dann dem Herrn Rittmeister zu und entfernte sich. Rittmeister Tschatschu hinkte, die verkrüppelte Hand schwenkend, vor die Truppe und wandte den Männern sein dunkles, nahezu schwarzes Gesicht zu.
»Gardisten!«, krächzte er mit einer Stimme, die Gai eine Gänsehaut verursachte. »Vor uns liegt eine wichtige Transaktion. Wir werden sie zuverlässig ausführen. Achtung … Kompanie! Aufsitzen! Korporal Gaal, zu mir!«
Nachdem Gai herbeigelaufen war und Haltung angenommen hatte, sagte der Rittmeister leise: »Ihre Gruppe hat einen Spezialauftrag. Am Ankunftsort den Wagen nicht verlassen! Das Kommando übernehme ich.«

6

Die Stoßdämpfer des Lastwagens waren erbärmlich, was man auf dem holprigen Kopfsteinpflaster umso mehr zu spüren bekam. Die Maschinenpistole zwischen den Knien, hielt Anwärter Maxim Korporal Gaal vorsorglich am Gurtkoppel fest: Einem so um seine Autorität besorgten Korporal stünde es schließlich schlecht zu Gesicht, über die Bänke zu segeln wie etwa der Anwärter Soisa. Gai hatte nichts gegen die Fürsorge seines Untergebenen, vielleicht aber hatte er sie auch gar nicht bemerkt. Seit dem Gespräch mit dem Rittmeister schien er sehr besorgt zu sein, und Maxim war froh, dass sie laut Einsatzplan zusammenblieben und er - falls nötig - würde helfen können.
Die Lastwagen passierten das Zentraltheater und fuhren dann einige Zeit am Ufer des stinkenden Kanals »Neues Leben« entlang, bogen in die lange, zu dieser Stunde leere Fabrikstraße und bewegten sich kreuz und quer durch die gewundenen Gässchen einer Arbeitervorstadt, in der Maxim noch nie gewesen war. Dabei hatte es ihn schon in viele Ecken der Stadt verschlagen, und er kannte sich dort mittlerweile gut aus. Überhaupt hatte er in diesen etwas mehr als vierzig Tagen eine Menge gelernt und konnte endlich seine Lage einschätzen: Sie war weit weniger tröstlich und sehr viel merkwürdiger, als er bislang geglaubt hatte.
Er hockte noch über der Lesefibel, als Gai unbedingt von ihm wissen wollte, woher er, Maxim, käme. Zeichnungen halfen nicht; die besah sich Gai nur mit eigenartigem Lächeln und wiederholte: »Woher kommst du?« Da deutete Maxim gereizt zur Decke und sagte: »Vom Himmel.« Zu seiner Verwunderung fand Gai diese Erklärung völlig normal und überschüttete ihn mit Fragen. Viele seiner Worte deutete Maxim als Planetennamen des hiesigen Systems, doch dann zeigte ihm Gai eine Weltkarte in Merkatorprojektion und es stellte sich heraus, dass er keine Planeten, sondern Staaten auf der gegenüberliegenden Seite der Welt meinte. Maxim zuckte mit den Schultern, verwendete jede ihm bekannte Verneinung und machte sich daran, die Karte zu studieren, so dass das Gespräch fürs Erste abbrach.
Am übernächsten Abend sahen Maxim und Rada fern. Gezeigt wurde etwas Seltsames: eine Art Film ohne Anfang und Ende, ohne fassbares Sujet, aber mit einer Unmenge von Mitwirkenden - ziemlich abstoßenden Personen, die, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, brutal handelten. Rada schaute interessiert zu, schrie manchmal auf, brach sogar zweimal in Tränen aus und packte Maxim am Ärmel. Ihm jedoch wurde das Spektakel schnell langweilig, und er wollte bei den Klängen der tragisch-düstren Musik schon einnicken, als plötzlich etwas Vertrautes über den Bildschirm flimmerte. Er rieb sich die Augen. Tatsächlich, es war die Pandora; ein finsterer Tachorg wälzte sich durch den Dschungel, knickte die Bäume um, und auf einmal stand Oleg da, eine Lockpfeife in der Hand, ernst und konzentriert; langsam wich er zurück, stolperte über ein Knorrholz und flog rückwärts in den Sumpf. Verwundert begriff Maxim, dass er da sein eigenes Mentogramm sah, dann noch eins und ein weiteres, ohne Kommentar, stets von ein und derselben Musik untermalt. Dann verschwand die Pandora und überließ die Szene einem mageren Blinden, der an einer dicht mit Spinnweben bedeckten Zimmerdecke entlangkroch. »Was ist das?«, fragte Maxim und wies auf den Bildschirm. »Eine Sendung«, antwortete Rada ungeduldig. »Interessant. Sieh hin!« Er aber fand darin noch immer keinen Sinn und dachte sich, dass hier womöglich die Erinnerungen verschiedener Interplanetarier an ihre Heimat gezeigt wurden. Doch bald verwarf er den Gedanken, denn die Bilder waren zu scheußlich, zu monoton: isolierte stickige Kämmerchen, endlose Korridore voller Möbel, die sich plötzlich in gigantische Dornen verwandelten, Wendeltreppen im undurchdringlichen Dunkel enger Schächte, vergitterte Keller; darin wimmelte es von stumpfsinnig hantierenden Körpern, zwischen denen, wie bei Hieronymus Bosch, starre, groteske Gesichter hervorblickten - es ähnelte eher einem Fieberwahn als der wirklichen Welt. Verglichen mit diesen Visionen, waren Maxims Mentogramme geradezu realistisch, wenn auch sein Temperament dieses Reale bisweilen zu romantischem Naturalismus verklärte. Derartige Sendungen wiederholten sich nahezu jeden Tag, sie hießen »Wunderreise«, und Maxim begriff nie ganz ihren Sinn. Fragte er danach, zuckten Gai und Rada die Schultern und antworteten: »Eine Sendung. Damit es interessant ist. Eine Wunderreise. Ein Märchen. Sieh nur hin, sieh hin. Mal kann man lachen, mal macht es Angst.« Und in Maxim regten sich ernsthafte Zweifel, ob Professor Nilpferds Untersuchungen wirklich der Kontaktaufnahme dienten, ja, ob es sich dabei überhaupt um Untersuchungen handelte.
Zehn Tage später sah sich Maxim indirekt in seinem Zweifel bestätigt: Gai standen die Aufnahmeprüfungen für das Fernstudium zum ersten Offiziersrang bevor, und er war dabei, Mathematik und Mechanik zu lernen. Die Schemata und Formeln des Grundkurses in Ballistik befremdeten Maxim. Als er nachfragte, verstand ihn Gai zunächst nicht, erläuterte ihm aber dann, nachsichtig lächelnd, die Kosmografie seiner Welt. Wie sich herausstellte, war die bewohnte Insel weder Kugel noch Geoid: Sie war überhaupt kein Planet.
Die bewohnte Insel war die Welt schlechthin - und zwar die einzige im Universum. Unter den Füßen ihrer Bewohner lag eine feste Oberfläche und über ihren Köpfen dehnte sich eine riesenhafte, wenn auch endliche Gasblase aus. Diese war von unbekannter Zusammensetzung und ihre physikalischen Eigenschaften noch nicht völlig geklärt. Der Theorie zufolge nahm die Dichte des Gases zum Mittelpunkt der Blase hin rapide zu, so dass dort geheimnisvolle Prozesse stattfanden, die ihrerseits die regelmäßigen Helligkeitsschwankungen des sogenannten Weltlichts bedingten, insbesondere den Tag-Nacht-Rhythmus. Außer diesen schnell aufeinanderfolgenden Zustandswandlungen erlebte das Weltlicht auch längerfristige, die den Wechsel der Jahreszeiten und entsprechende Temperaturschwankungen nach sich zogen. Die Schwerkraft wirkte vom Mittelpunkt der Weltsphäre, das heißt der Blase, senkrecht auf ihre Oberfläche. Kurzum: Die bewohnte Insel lag auf der inneren Oberfläche einer gewaltigen Blase und diese wiederum befand sich in einer endlosen festen Substanz, die den Rest des Universums ausfüllte.
Überrascht und verwirrt, wollte Maxim zu streiten beginnen, merkte aber bald, dass Gai und er einander noch weniger verstanden als ein überzeugter Kopernikaner und ein leidenschaftlicher Anhänger des Ptolemäus. Nein, das Wesentliche waren die erstaunlichen atmosphärischen Eigenschaften dieses Planeten. Erstens hob die ungewöhnlich starke Lichtbrechung den Horizont an und suggerierte damit den hiesigen Menschen, ihr Planet sei weder flach noch rund, sondern hohl. »Stellen Sie sich ans Meeresufer«, empfahlen die Schulbücher, »und verfolgen Sie die Bewegung eines Schiffs, das den Hafen verlässt. Zuerst wird es wie auf einer Ebene schwimmen, aber je weiter es sich entfernt, desto höher steigt es empor, bis es in der dunstigen Atmosphäre verschwindet, die den übrigen Teil der Welt verhüllt.« Diese Atmosphäre war unwahrscheinlich dicht und phosphoreszierte Tag und Nacht, so dass niemand je den Sternenhimmel sah. Die Tage, an denen man die Sonne gesehen hatte, waren in den Chroniken verzeichnet und bildeten die Grundlage zahlloser Versuche, eine Theorie des Weltlichts zu entwickeln.
Maxim saß also in einer riesigen Falle. Um als Fremdplanetarier wirklichen Kontakt herstellen zu können, musste er die in Jahrtausenden gewachsenen, nun selbstverständlichen Vorstellungen buchstäblich umkrempeln. Dem verbreiteten Fluch »Massaraksch« nach zu urteilen, war das bereits versucht worden, denn er bedeutete wörtlich: »die Welt mit der Innenseite nach außen«. Außerdem hatte Gai eine weitere, rein mathematische Theorie erwähnt, die die Welt anders betrachtete: Sie war in alter Zeit entstanden und wurde anfangs von der offiziellen Religion verfolgt, hatte auch ihre Märtyrer. Durch die Arbeiten genialer Wissenschaftler erhielt sie im vergangenen Jahrhundert ihre mathematische Begründung, blieb aber weiterhin abstrakt - bis sie, wie die meisten Theorien, doch noch praktische Anwendung fand - in jüngster Vergangenheit, bei der Entwicklung der ballistischen Raketen.
Mit diesen neuen Erkenntnissen überdachte Maxim noch einmal seine Lage und begriff, dass er all die Zeit als verrückt gegolten hatte und seine Mentogramme nicht ohne Grund in die schizoide »Wunderreise« aufgenommen worden waren. Wollte er nicht zu Nilpferd zurück, musste er von seiner außerplanetarischen Herkunft einstweilen schweigen. Das aber bedeutete, dass ihm die bewohnte Insel nicht würde helfen können und er nur auf sich selbst vertrauen durfte; den Nullsender musste er auf unbestimmte Zeit vertagen. Er würde hier für lange - Massaraksch! -, womöglich für immer festsitzen. Diese Hoffnungslosigkeit machte ihn schier verrückt. Aber dann riss er sich doch wieder zusammen und zwang sich, logisch zu denken. Mutter machte gewiss eine schwere Zeit durch; es musste schrecklich für sie sein - und allein das nahm ihm jede Freude an der Logik. Verflucht sollte sie sein, diese zurückgebliebene, abgekapselte Welt! Überhaupt gab es nur zwei Wege: Erstens, dem Unmöglichen nachzutrauern und sich ohnmächtig zu grämen oder, zweitens, sich zusammenzureißen und zu leben. Wirklich zu leben, wie er es immer wollte: Freunde haben, Ziele anstreben, sich raufen, siegen, verlieren, Nackenschläge einstecken, sich revanchieren - einerlei, was, nur nicht in Verzweiflung die Hände ringen. Er hörte auf, über das Weltall zu sprechen und fragte Gai nach der Geschichte und der sozialen Struktur seiner bewohnten Insel.
Aber Gai wusste wenig darüber. Er kannte die Geschichte seines Landes nur bruchstückhaft und besaß keinerlei Fachliteratur. Und auch in der Stadtbibliothek war nichts zu finden. Man konnte aber davon auszugehen, dass das Land, in dem sich Maxim befand, vor dem letzten, verheerenden Krieg bedeutend größer gewesen war. Anscheinend war es von einer kleinen Gruppe unfähiger Finanzleute und degenerierter Aristokraten regiert worden, die das Volk in die Armut getrieben hatten. Der Staatsapparat war durch Korruption zersetzt worden, und am Ende hatten sich die Machthaber auf einen großen, von den Nachbarn provozierten Kolonialkrieg eingelassen. Der Krieg erfasste den ganzen Planeten. Millionen und Abermillionen kamen ums Leben, Tausende von Städten wurden zerstört, kleinere Staaten hinweggefegt. Nicht nur im Land, sondern auf dem ganzen Planeten brach das Chaos aus. Es begannen Zeiten von bitterem Hunger und Epidemien. Es kam zu Volksaufständen, die die Unterdrücker mit Atomwaffen beantworteten. Das Land und die Welt näherten sich dem Untergang. Gerettet wurde die Situation von den Unbekannten Vätern - dem Anschein nach eine anonyme Gruppe von jungen Generalstabsoffizieren. Mit nur zwei Divisionen von Soldaten, die nicht im atomaren Fleischwolf landen wollten, hatten sie geputscht und die Macht übernommen. Das war vor vierundzwanzig Jahren, und seitdem hatte sich die Lage stabilisiert. Es wurde kein Frieden geschlossen, aber der Krieg endete allmählich von selbst. Die anonymen Machthaber handelten entschlossen und stellten die Ordnung wieder halbwegs her, brachten mit harten Maßnahmen die Wirtschaft in Gang - zumindest in den zentralen Regionen - und machten das Land zu dem, was es jetzt war. Der Lebensstandard wuchs, der Alltag verlief friedlich, die gesellschaftliche Moral wurde hoch geachtet wie nie zuvor. Alles schien wieder in Ordnung. Maxim war klar, dass die politischen Verhältnisse im Land weit entfernt waren vom Idealen und es sich im Grunde um eine Militärdiktatur handelte. Dennoch erfreuten sich die Unbekannten Väter offensichtlich großer Popularität - in allen Schichten der Gesellschaft. Was aber die Wirtschaft anbetraf, so entbehrte dieses Ansehen jeglicher Grundlage: Immerhin lag das halbe Land noch in Trümmern, die Militärausgaben waren gigantisch, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte mehr als bescheiden. Das Ansehen gründete sich anscheinend darauf, dass die Militärjunta die Gier der Industriellen zügelte, was ihr die Sympathien der Arbeiter einbrachte. Andererseits hielt sie die Arbeiter nieder, was ihr die Wertschätzung der Industriellen sicherte. Freilich reimte sich Maxim das nur zusammen; Gai empfand schon die Fragestellung als seltsam. Ein Begriff wie »Klasse« existierte für ihn nicht, und Widersprüche zwischen einzelnen sozialen Gruppen schienen ihm undenkbar.
Die außenpolitische Lage des Landes war weiterhin äußerst prekär. Im Norden grenzte es an zwei große Staaten - Honti und Pandea, ehemalige Provinzen oder Kolonien. Über die Staaten selbst war nichts bekannt, doch jeder wusste, dass sie die aggressivsten Absichten hatten, unaufhörlich Diversanten und Spione entsandten, Grenzzwischenfälle provozierten und den Krieg vorbereiteten. Dessen Ziel war Gai unklar; er hatte sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Im Norden waren Feinde, und gegen ihre Agenten kämpfte er auf Leben und Tod - das reichte.
Hinter den Grenzwäldern im Süden lag, ausgebrannt von Kernexplosionen, eine Wüste. Sie erstreckte sich über die Fläche einer ganzen Reihe ehemaliger Staaten, die im Krieg eine zentrale Rolle gespielt hatten. Was auf diesen Millionen von Quadratkilometern vor sich ging, war unbekannt, und es interessierte auch niemanden. Denn man hatte ununterbrochen und alle Hände voll mit den Angriffen großer Horden halbwilder Missgeburten zu tun, von denen es in den Wäldern hinter dem Fluss Blaue Schlange nur so wimmelte. Insofern hielt man die Südgrenze für die problematischste. Das Leben dort war hart, und genau dort setzte man die Elite der Kämpfenden Garde ein. Gai hatte drei Jahre im Süden gedient und erzählte haarsträubende Geschichten darüber.
Es war möglich, dass sich südlich der radioaktiv verseuchten Wüste - sozusagen am anderen Ende des einzigen Kontinents des Saraksch - weitere Staaten erhalten hatten, aber sie ließen nichts von sich hören. Dafür brachte sich das sogenannte Inselimperium immer wieder unangenehm in Erinnerung. Es erstreckte sich auf zwei große Archipele in der Antarktiszone, und der Weltozean gehörte ihm. Seine mächtige Flotte von Unterwasserschiffen kreuzte im radioaktiven Meer des Planeten - schneeweiß gestrichen und ausgerüstet mit modernster Vernichtungstechnik. An Bord waren Banden speziell abgerichteter Kopfjäger. Diese weißen Submarines, unheimlich wie Phantome, hielten die Uferbezirke in Atem. Sie schossen ohne jeden Anlass und setzten Landetrupps von Piraten ab. Auch dieser weißen Bedrohung bot die Garde kühn die Stirn.
Das Bild von Chaos und Zerstörung erschütterte Maxim: Der Planet war ein Grab, in dem normales, sinnvolles Leben kaum noch möglich war und jeden Moment ganz versiegen konnte.
Er hörte Radas grauenvolle und dennoch ruhig vorgetragene Schilderungen, zum Beispiel, wie ihre Mutter vom Tod des Vaters erfahren hatte: Als Arzt und Epidemiologe hatte er sich geweigert, ein von der Pest heimgesuchtes Gebiet zu verlassen. Der Staat aber verfügte damals weder über die Zeit noch über die Möglichkeiten, die Pest ordnungsgemäß zu bekämpfen, und so hatte man einfach eine Bombe auf den verseuchten Bezirk geworfen. Rada erzählte, wie vor etwa zehn Jahren Aufständische auf die Hauptstadt vorgerückt waren. Während der Evakuierung wurde ihre Großmutter väterlicherseits beim Ansturm auf einen Zug von der Menge totgetrampelt. Zehn Tage später starb ihr kleiner Bruder an der Ruhr. Um den kleinen Gai und den völlig hilflosen Onkel Kaan zu ernähren, hatte sie, Rada, nach dem Tod der Mutter achtzehn Stunden täglich als Geschirrwäscherin in einer Versandstation, später als Putzfrau in einem Luxuslokal für Spekulanten gearbeitet. Später nahm sie an »Frauenrennen mit Wettmöglichkeit« teil, saß kurze Zeit im Gefängnis, verlor ihre Arbeit und musste ein paar Monate betteln.
Von Onkelchen Kaan, einem seinerzeit bedeutenden Wissenschaftler, hörte Maxim, wie man im ersten Kriegsjahr die Akademie der Wissenschaften aufgelöst und ein Bataillon der Akademie Seiner Kaiserlichen Majestät zusammengestellt hatte. Wie in den Hungerzeiten der Begründer der Evolutionstheorie den Verstand verloren und sich erhängt hatte; wie sie aus dem von Tapeten abgekratzten Leim Suppe kochten; wie eine ausgehungerte Menschenmenge im Zoologischen Museum alles kurz und klein geschlagen und die in Spiritus aufbewahrten Präparate verschlungen hatte …
Und er hörte Gais unbedarfte Erzählungen über den Bau der Raketenabwehrtürme an der südlichen Grenze: darüber, wie des Nachts die Menschenfresser zu den Bauplätzen schleichen und Zöglingen ebenso wie wachhabende Gardisten entführen; wie im Dunkeln, lautlos wie Gespenster, Vampire angreifen, erbarmungslos und brutal, teils Mensch, teils Bär, teils Hund. Er hörte, wie sehr Gai das Raketenabwehrsystem lobte, das unter unglaublichen Entbehrungen in den letzten Kriegsjahren errichtet worden war. Im Grunde genommen, sagte Gai, hätte damals das RAS die Kampfhandlungen beendet, indem es nämlich auch den Luftraum über dem Land geschützt hatte. Auch heute noch sei das RAS die einzige Garantie gegen die Aggressionen aus dem Norden. Und dann kämen diese Mistkerle, diese Verbrecher und organisierten Angriffe auf die Abwehrtürme - korrupte Subjekte, vom schmutzigen Geld Hontis und Pandeas bestochen, Frauenund Kindermörder, Entartete, ja, Entartete, Dreckskerle, schlimmer noch als Rattenfänger. Gais erhitztes Gesicht war jetzt von Hass verzerrt. »Das ist die Hauptsache«, rief er und hieb mit der Faust auf den Tisch, »darum bin ich zur Garde gegangen. Nicht in eine Fabrik, nicht aufs Feld, nicht ins Büro - zur Kämpfenden Garde, von der alles abhängt!«
Maxim hörte gebannt zu - wie bei einem schrecklichen, unwirklichen Märchen, das umso schrecklicher war, weil es der Realität entsprang, vieles immer noch existierte und sich dies Schreckliche, Unwirkliche jederzeit wiederholen konnte. Lächerlich, nahezu beschämend schienen ihm seine eigenen Misshelligkeiten, winzig wurden auf einmal seine Probleme - der Kontakt, der Nullsender, das Händeringen, was hatte das schon zu bedeuten …
Der Lastwagen bog scharf in eine schmale Straße mit hohen Wohnblöcken ein, und Pandi sagte: »Da wären wir.« Die Passanten auf dem Gehweg wichen hastig zurück und schützten ihr Gesicht vor dem Scheinwerferlicht. Der LKW bremste. Über dem Fahrerhaus schob sich nun eine lange Teleskopantenne heraus.
»Ab-sitz-en!«, brüllten die Führer der zweiten und dritten Gruppe gleichzeitig, und die Gardisten sprangen über die Bordwände.
»Erste Gruppe sitzen bleiben!«, kommandierte Gai.
Pandi und Maxim, die schon aufgesprungen waren, setzten sich wieder.
»In Dreiertrupps antreten!«, schrien die Kommandanten auf dem Gehweg. »Zweite Gruppe, vorwärts!« - »Dritte Gruppe, mir nach!«
Beschlagene Stiefel polterten über den Asphalt. Eine Frau kreischte begeistert: »Seht hierher! Die Kämpfende Garde!«
»Es lebe die Kämpfende Garde!«
»Hurra!«, brüllten die bleichen Menschen und pressten sich an die Gemäuer, um nicht zu stören. Es schien, als hätten sie auf die Gardisten gewartet und freuten sich nun über sie wie über ihre besten Freunde.
Rechts von Maxim saß Anwärter Soisa, lang wie eine Bohnenstange, mit weißblondem Flaum auf den Wangen - fast noch ein Kind. Er drückte Maxim seinen spitzen Ellenbogen in die Seite und zwinkerte ihm fröhlich zu. Maxim lächelte zurück. Die Gruppen waren schon in den Hauseingängen verschwunden, nun standen nur noch die Kommandanten davor: bestimmt, zuverlässig, mit unbewegten Gesichtern unter den schief aufs Ohr gezogenen Baretten. Die Tür der Fahrerkabine schlug zu, und Rittmeister Tschatschus Stimme schnarrte: »Erste Gruppe, absitzen! Antreten!«
Maxim schwang sich über die Bordwand. Als die Gruppe stand, wollte Gai Meldung erstatten, aber der Rittmeister hielt ihn mit einer Handbewegung zurück, trat dicht vor die Reihe und befahl: »Helme auf!«
Die Soldaten schienen nur auf dieses Kommando gewartet zu haben; die Anwärter dagegen waren noch nicht fertig. Der Rittmeister wartete, klopfte ungeduldig mit dem Absatz, bis auch Soisa seinen Kinnriemen gerichtet hatte. Dann kommandierte er: »Rechtsum! Im Laufschritt vorwärts!« Er selbst lief, trotz seiner Unbeholfenheit, gewandt voran und schwenkte seine verkrüppelte Hand. Er führte die Männer durch den dunklen Torbogen in einen Hof, der finster und eng war wie ein Brunnen, bog dann in einen anderen, ebenfalls finsteren, und dazu übelriechenden Torweg und blieb unter einem trüben Lämpchen vor einer Tür mit abblätternder Farbe stehen.
»Achtung!«, krächzte er. »Trupp eins und Anwärter Sim folgen mir. Die Übrigen warten. Korporal Gaal, auf Pfiff schicken Sie einen Dreiertrupp nach oben, vierte Etage! Keinen herauslassen, lebend ergreifen, schießen nur im äußersten Fall! Trupp eins und Anwärter Sim, mir nach!«
Er öffnete die Tür und verschwand. Maxim stürzte ihm nach, an Pandi vorbei. Hinter der Tür begann eine steile Steintreppe mit klebrigem Eisengeländer, schmal und schmutzig; das Treppenhaus war von schwächlichem, fahlem Licht erhellt. Drei Stufen auf einmal nehmend, rannte der Rittmeister hinauf. Als Maxim ihn einholte, sah er in seiner Hand die Pistole. Da nahm auch er, in vollem Lauf, seine Maschinenpistole vom Hals. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, jetzt womöglich auf Menschen schießen zu müssen, doch er verdrängte ihn schnell - es waren ja keine Menschen, sondern Tiere, schlimmer als der schnurrbärtige Rattenfänger oder die gefleckten Affen. Der eklige Schmutz unter den Füßen, das matte Licht und die bespuckten Wände stützten und verstärkten diese Ansicht noch.
Erster Stock. Küchengeruch, im Spalt einer halboffenen Tür das erschrockene Gesicht einer alten Frau. Mauzend bringt sich eine aufgescheuchte Katze in Sicherheit. Zweiter Stock. Irgendein Tölpel hat einen Eimer voll Spülwasser auf das Treppenpodest gestellt. Der Rittmeister stößt ihn um, das Spülwasser schwappt die Treppe hinunter. »Massaraksch!«, flucht Pandi von unten. Ein Junge und ein Mädchen drücken sich, eng umschlungen, in eine dunkle Ecke, ihre Gesichter spiegeln Freude und Erschrecken wider. »Weg mit euch, runter!«, schnarrt der Rittmeister ohne anzuhalten. Dritter Stock. Eine hässliche braune Tür, deren Ölfarbe abbröckelt, daran ein zerkratztes Blechschild: »Gobbi. Zahnarzt. Sprechzeit durchgehend.« Von drinnen ein langgezogener Schrei. Der Rittmeister steht und röchelt: »Das Schloss!« Über sein schwarzes Gesicht rinnt Schweiß. Maxim begreift nicht. Pandi, inzwischen keuchend zu ihnen gestoßen, schiebt ihn beiseite, setzt die Mündung der Maschinenpistole unter den Türgriff und feuert. Funken sprühen, Holzsplitter fliegen. Als Antwort knallen Schüsse hinter der Tür, gedämpft durch einen Schrei. Wieder prasseln Späne. Etwas Hartes, Heißes surrt widerlich pfeifend über Maxims Kopf hinweg. Der Rittmeister reißt die Tür auf. Dunkelheit, gelbfeurige Blitze hinter Rauchschwaden. »Mir nach!«, schreit der Rittmeister heiser und wirft sich, den Kopf vorgereckt, den Blitzen entgegen. Maxim und Pandi wollen ihm nach, doch die Tür ist schmal, Pandi wird eingequetscht und schreit kurz auf. Im Flur ist es drückend schwül, überall Pulverrauch. Gefahr von links. Maxims Arm schnellt vor, packt einen heißen Lauf, drückt die Waffe nach oben. Leise, aber sehr klar knacken ausgerenkte Gelenke, ein großer weicher Körper fällt willenlos zu Boden. Vor ihnen, im Qualm, die Stimme des Rittmeisters: »Nicht schießen! Lebend fassen!« Maxim wirft die Maschinenpistole fort und stürmt in ein großes, hell erleuchtetes Zimmer. Viele Bücher und Bilder; keiner, auf den man schießen müsste. Auf dem Fußboden krümmen sich zwei Männer. Einer, schon ganz heiser, schreit unentwegt. In einem Sessel liegt, den Kopf zurückgeworfen, eine ohnmächtige Frau - das Gesicht weiß, geradezu durchsichtig. Der Raum scheint angefüllt mit Schmerzen. Der Rittmeister steht über dem Schreienden und blickt sich um. Er steckt die Pistole ein. Maxim erhält einen heftigen Stoß: Es ist Pandi, der an ihm vorbeistürzt, und hinter ihm her schleifen Gardisten den schweren Körper dessen, der geschossen hat. Anwärter Soisa, schweißnass vor Aufregung, reicht Maxim die weggeworfene Maschinenpistole. Der Rittmeister wendet ihm sein schreckliches, schwarzes Gesicht zu. »Wo ist der andere?«, krächzt er. Im selben Moment löst sich der blaue Vorhang, und ein hagerer Mann tritt hervor, in weißem Kittel, voll mit Flecken. Er geht langsam, wie blind, auf den Rittmeister zu, hebt wie in Zeitlupe zwei riesige Pistolen auf die Höhe seiner vor Schmerz glasigen Augen. »He!«, schreit Soisa …
Maxim blieb keine Zeit, sich umzudrehen. Mit voller Kraft sprang er von der Seite her auf den Mann zu, doch der schaffte es trotzdem, einmal abzudrücken. Maxim sengte es das Gesicht, Pulvergeruch drang ihm in den Mund; dann aber krallten sich seine Finger um die fremden Handgelenke, und die Pistolen polterten zu Boden. Der Mann sank in die Knie, ließ den Kopf herabhängen und fiel, als Maxim seine Hände losließ, weich auf das Gesicht.
»Na, na, na«, murmelte Tschatschu mit einem seltsamen Ausdruck in der Stimme. »Legt ihn hierher!«, sagte er zu Pandi. »Und du« - das galt dem bleichen, schweißnassen Soisa - »lauf runter und teil den Gruppenführern mit, wo ich bin. Sie sollen melden, wie es bei ihnen steht.« Soisa schlug die Hacken zusammen und rannte zur Tür. »Ja. Schick mir Gaal«, fuhr der Rittmeister fort. »Brüll nicht, Mistkerl!«, schrie er den stöhnenden Mann an und stieß ihn mit der Stiefelspitze ein wenig in die Seite. »Ach, zwecklos. Plärrender Dreck … Abschaum. Durchsuchen!«, befahl er Pandi. »Legt sie alle in eine Reihe. Gleich hier, auf dem Fußboden. Das Weibsstück auch, fläzt im einzigen Sessel …«
Maxim ging zu der Frau, hob sie vorsichtig hoch und trug sie auf das Bett. Er war verwirrt. So etwas hatte er hier nicht erwartet. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es nicht mehr - etwa gelbe, vor Hass gefletschte Zähne, ein bösartiges Gejaule, ein Kampf auf Leben und Tod? Er konnte seine Empfindungen mit nichts vergleichen, erinnerte sich dann aber, wie er einmal einen Tachorg erschossen hatte: Da lag dieses riesige, angsteinflößende und, wie es hieß, erbarmungslose Tier mit zerschmettertem Rückgrat in einer tiefen Grube und weinte kläglich, gab etwas von sich in seiner Todespein, was sich beinahe anhörte wie einzelne Worte …
»Anwärter Sim!«, schrie der Rittmeister. »Ich habe befohlen: auf den Fußboden!«
Tschatschus unheimliche, durchsichtige Augen musterten Maxim. In seinen verkrampften Lippen zuckte es, und Maxim begriff, dass nicht er hier über Recht und Unrecht entscheiden konnte; er war noch ein Fremder, kannte weder ihren Hass noch ihre Liebe. Er nahm die Frau wieder auf und legte sie neben den massigen Mann, der beim Hereinkommen im Flur geschossen hatte. Pandi und ein zweiter Gardist kontrollierten indessen sehr sorgfältig die Taschen der Festgenommenen. Alle fünf Personen waren ohne Bewusstsein.
Der Rittmeister setzte sich in den Sessel, warf sein Barett auf den Tisch, steckte sich ein Stäbchen an und winkte Maxim mit dem Finger zu sich. Der trat näher, nahm Haltung an.
»Warum hast du die MP weggeworfen?«, fragte Tschatschu leise.
»Sie hatten befohlen, nicht zu schießen.«
»Herr Rittmeister.«
»Jawohl. Sie hatten befohlen, nicht zu schießen, Herr Rittmeister.«
Tschatschu kniff die Augen zusammen und blies den Rauch zur Decke hoch.
»Das heißt, wenn ich befohlen hätte, nicht zu sprechen, hättest du dir die Zunge abgebissen?«
Maxim schwieg. Das Gespräch gefiel ihm nicht, doch er entsann sich noch gut an Gais Instruktionen.
»Was ist dein Vater?«, fragte der Rittmeister weiter.
»Kernphysiker, Herr Rittmeister.«
»Lebt er noch?«
»Jawohl, Herr Rittmeister.«
Tschatschu nahm das Stäbchen aus dem Mund und starrte Maxim an.
»Wo ist er?«
Maxim wurde klar, dass er sich verplappert hatte. Er musste das wieder geradebiegen.
»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Genauer gesagt, ich erinnere mich nicht.«
»Aber daran, dass er Kernphysiker ist, erinnerst du dich … Woran noch?«
»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Ich erinnere mich an vieles, doch Korporal Gaal meint, es sei nur Einbildung.«
Im Flur hallten eilige Schritte. Gai kam herein und stand vor dem Rittmeister stramm.
»Kümmere dich um diese Halbtoten, Korporal«, sagte Tschatschu. »Reichen die Handschellen?«
Gai blickte über die Schulter zu den Verhafteten.
»Wenn Sie gestatten, Herr Rittmeister, holen wir noch ein Paar von der zweiten Gruppe.«
»Ausführung.«
Gai lief hinaus. Durch den Flur stampften wieder Stiefel; die Gruppenführer erschienen und meldeten, die Operation verlaufe erfolgreich, zwei Verdächtige seien bereits festgenommen und die Einwohner leisteten, wie immer, aktive Hilfe. Der Rittmeister ordnete an, schnellstmöglich zum Ende zu kommen und das Losungswort »Prellstein« an den Stab zu geben. Nachdem die Gruppenführer gegangen waren, rauchte er ein neues Stäbchen und sah schweigend zu, wie die Gardisten die Bücher aus den Regalen nahmen, sie durchblätterten und auf das Bett warfen.
»Pandi«, murmelte er dann, »kümmere dich um die Bilder. Mit dem da sei vorsichtig, beschädige es nicht, das behalte ich.« Er drehte sich wieder zu Maxim. »Wie findest du es?«, fragte er.
Maxim blickte genauer hin: Dämmerung, erhabene, horizontlose Meeresweite, das Ufer und eine Frau, die aus dem Wasser steigt. Wind. Kühle. Die Frau friert.
»Ein gutes Bild, Herr Rittmeister«, sagte er.
»Erkennst du die Gegend?«
»Nein. Dieses Meer habe ich nie gesehen.«
»Und welches hast du gesehen?«
»Ein ganz anderes, Herr Rittmeister. Doch es war Einbildung.«
»Unsinn. Dieses war es. Nur hattest du nicht den Blick vom Ufer, sondern von der Kommandobrücke, unter dir war ein weißes Deck zu sehen und hinten, am Heck, noch eine Brücke, aber niedriger. Und am Ufer stand nicht dieses Weib, sondern ein Panzer, und du hast unter seinen Turm gezielt. Weißt du Grünschnabel, was es bedeutet, wenn eine Granate unter den Turm trifft? Massaraksch«, zischte er und zerdrückte den Stummel auf dem Tisch.
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Maxim kalt. »Nie im Leben habe ich auf etwas gezielt.«
»Wie kannst du das wissen? Du erinnerst dich doch nicht, Anwärter Sim.«
»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben.«
»Herr Rittmeister.«
»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben, Herr Rittmeister. Und ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Gai kam zurück, in Begleitung zweier Anwärter. Sie legten den Verhafteten die schweren Handschellen an.
»Sind doch auch Menschen«, krächzte plötzlich der Rittmeister. »Haben Frauen und Kinder. Haben jemanden geliebt, jemand hat sie geliebt.«
Augenscheinlich wollte er Maxim verhöhnen, der aber erwiderte offen: »Ja, Herr Rittmeister. Wie sich zeigt, sind es auch Menschen.«
»Hast du das nicht erwartet?«
»Nein, Herr Rittmeister.« Aus den Augenwinkeln sah er, dass Gai ihn erschrocken anschaute. Doch ihm war schon ganz schlecht vom Lügen, und er fuhr fort: »Ich dachte, es sind tatsächlich Missgeburten. Etwas wie nackte gefleckte … Tiere.«
»Nackter gefleckter Dummkopf!«, schnauzte der Rittmeister in wichtigem Ton. »Hinterwäldler! Bist hier nicht im Busch. Hier sind sie wie Menschen. Liebe, gute Menschen, denen bei starker Erregung fürchterlich das Köpfchen schmerzt … Tut dir der Kopf weh, wenn du aufgeregt bist?«, fragte er unvermittelt.
»Mir tut nie etwas weh, Herr Rittmeister«, antwortete Maxim. »Und Ihnen?«
»Waas?«
»Sie wirken so gereizt«, sagte Maxim, »dass ich dachte …«
»Herr Rittmeister«, rief Gai mit schriller Stimme. »Gestatten zu melden. Die Gefangenen sind bei Bewusstsein.«
Der Rittmeister warf ihm einen Blick zu und grinste. »Reg dich nicht auf, Korporal. Dein Freund hat sich heute als Gardist bewährt. Wäre er nicht, hätte Rittmeister Tschatschu jetzt eine Kugel in der Rübe.« Er griff sich ein drittes Stäbchen, hob die Augen zur Decke und stieß eine dicke Rauchfahne aus. »Hast einen guten Riecher, Korporal. Auf der Stelle könnte ich diesen Burschen zum Soldaten ernennen! Massaraksch, zum Offizier würde ich ihn befördern. Er hat Brigadegeneralsallüren, stellt Offizieren gern Fragen. Ich verstehe dich gut, Korporal; dein Bericht war begründet. So dass wir … mit der Beförderung zum Offizier warten.« Tschatschu stand auf, ging mit schweren Schritten um den Tisch herum und baute sich vor Maxim auf. »Nicht mal Soldat wird er vorerst. Er ist ein guter Kämpfer, doch ein Grünschnabel, ein Hinterwäldler. Erst mal erziehen wir ihn … Achtung!«, brüllte er plötzlich. »Korporal Gaal, die Verhafteten abführen! Soldat Pandi und Anwärter Sim nehmen mein Bild und alles Papierne und bringen es zu mir in den Wagen!«
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Gai warf Maxim vorwurfsvolle Blicke zu, sagte aber nichts. Mit Fußtritten und Faustschlägen brachten die Gardisten die Festgenommenen auf die Beine und führten sie ab. Sie leisteten keinen Widerstand, schienen aus Watte; sie taumelten und ihre Knie knickten ein. Der massige Mann, der im Flur geschossen hatte, stöhnte laut und fluchte dann flüsternd. Die Frau bewegte still die Lippen. In ihren Augen lag ein seltsames Glitzern.
»He, Mak«, sagte Pandi, »hol die Decke da vom Bett und wickle die Bücher rein. Sollte sie nicht reichen, nimmst du noch das Laken. Wenn alles zusammengepackt ist, bringst du es runter, ich trage das Bild. Und vergiss deine MP nicht, du Hohlkopf. Wunderst dich wohl, weshalb der Herr Rittmeister geknurrt hat? Hattest die MP hingeworfen! Man darf seine Waffe nicht aus der Hand geben. Noch dazu im Kampf. Ach je, du Dörfler …«
»Lass das Gefasel, Pandi«, unterbrach Gai ihn ärgerlich. »Schnapp dir das Bild und geh!«
In der Tür drehte sich Gai noch einmal zu Maxim um und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Dann verschwand er. Einige Zeit hörte man noch, wie Pandi beim Hinuntersteigen lauthals »Gib Ruhe, Alte« sang. Maxim seufzte, legte die Maschinenpistole auf den Tisch und ging zu den Bücherhaufen, die sich auf Bett und Fußboden türmten. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er noch nirgendwo so viele Bücher gesehen hatte wie hier, höchstens in der Bibliothek. In den Buchhandlungen standen auch sehr viele, aber immer die gleichen - laufende Meter derselben Bände.
Hier aber waren alle Titel verschieden. Es gab alte Bücher mit vergilbten Seiten; einige waren angesengt, andere, zu Maxims Verwunderung, spürbar radioaktiv. Doch er hatte keine Zeit, sie gründlich durchzusehen und las nur die Titel. Ja, hier standen weder Bücher wie »Kolizu Felsch oder Der tollkühne Brigadegeneral und seine Heldentaten« noch Romane wie »Liebe und Hingabe des Zauberers« oder voluminöse Poeme wie »Flammendes Frauenherz«, auch keine Aufklärungsbroschüren wie »Grundlagen der Sozialhygiene«. Maxim entdeckte viele ernsthafte Werke: »Evolutionstheorie«, »Probleme der Arbeiterbewegung«, »Finanzpolitik und wirtschaftliche Gesundheit des Staates«, »Hunger - Stimulus oder Hemmnis«, dazu »Kritiken«, »Lehrgänge«, »Grundlagen« und weitere Termini, die er nicht kannte. Hier gab es Sammlungen mittelalterlicher hontischer Dichtung, Märchen und Balladen von Völkern, die Maxim nicht kannte, die vierbändigen Gesammelten Werke eines gewissen T. Kuur und viel Belletristik: »Sturm und Gras«, »Der Mann, der das Weltlicht war«, »Inseln ohne Blau« und viele Bücher in unbekannten Sprachen, weitere Bücher über Mathematik, Physik, Biologie, dann wieder Belletristik …
Er packte die beiden Bündel und verharrte ein paar Sekunden. Sein Blick wanderte durch das Zimmer: leere, umgestürzte Regale, dunkle Flecken, wo früher Bilder hingen, die Bilder aus den Rahmen gerissen, zertreten, aber keinerlei Anzeichen zahnärztlicher Technik. Er nahm die Bücher und ging zur Tür, entsann sich dann aber seiner Maschinenpistole und kehrte noch einmal um. Auf dem Tisch lagen unter Glas zwei Fotografien. Eine zeigte die durchsichtige Frau, sie hielt einen etwa vierjährigen Jungen mit staunend aufgerissenem Mund auf den Knien und war jung, zufrieden, stolz. Das andere war eine eindrucksvolle Gebirgsaufnahme, mit dunklen Baumgruppen, einem alten, halb zerfallenen Turm. Maxim hing sich seine Waffe um und ging zurück zu den Bündeln.

7

Morgens nach dem Frühstück trat die Brigade auf dem Exerzierplatz an, zwecks Befehlsausgabe und Ausrücken zu den Übungen. Für Maxim war das die qualvollste Prozedur des Tages, wenn man von den Abendappellen einmal absah. Die Befehlsausgabe endete jedes Mal mit geradezu paroxystischer Ekstase: blind, sinnlos und unnatürlich, ohne jeden Grund und für jeden Außenstehenden ganz und gar unangenehm. Maxim unterdrückte seinen unwillkürlichen Abscheu gegen diesen Irrsinn, der die gesamte Brigade vom Kommandeur bis zum Anwärter erfasste. Er sagte sich, er sei wohl einfach nicht imstande, die Begeisterung nachzufühlen, die die Gardisten für die Tätigkeit der Brigadekanzlei aufbrachten. Er schalt sich für seinen Skeptizismus, den er als Fremder an den Tag legte, versuchte, selbst Begeisterung zu empfinden und redete sich ein, unter den schweren Bedingungen, die im Land herrschten, zeugten solche Ausbrüche von Massenenthusiasmus von der Geschlossenheit der Leute, von ihrer Einmütigkeit und Bereitschaft, sich ganz der gemeinsamen Sache zu widmen. Und dennoch: Es fiel ihm schwer.
Von klein auf war Maxim zu Zurückhaltung und Selbstironie erzogen worden, zum Abscheu vor großen Worten im Allgemeinen und vor feierlichen Chorgesängen im Besonderen. Und so war er fast böse auf seine Kameraden - eigentlich liebe, aufrechte und großartige Jungs -, wenn sie, nachdem man den Befehl verlesen hatte, Anwärter A werde wegen eines Streits mit dem Soldaten B mit drei Tagen Arrest bestraft, plötzlich ihre Gutmütigkeit und ihren Humor vergaßen, die Mäuler aufrissen und begeistert »Hurra« schrien, um dann mit Tränen in den Augen den »Marsch der Kämpfenden Garde« zu singen, zweimal, dreimal, mitunter auch viermal. Sogar die Köche aus der Brigadeküche stürzten dann herbei und grölten enthusiastisch mit, ungestüm Messer und Schöpfkellen schwenkend, zum Glück außerhalb des Glieds. Da Maxim in dieser Welt wie alle sein sollte, sang auch er und versuchte, seinen Humor zu vergessen. Es gelang ihm auch, war aber widerwärtig, denn statt Begeisterung fühlte er nur Verlegenheit.
Diesmal brach die Euphorie nach dem Befehl Nummer 127 aus - der Beförderung des Soldaten Dimba zum Korporal, nach dem Befehl 128 - einem Dank an den Anwärter Sim für seine Tapferkeit während der Operation, und nach Befehl Nummer 129, der die Renovierung der Kaserne der vierten Kompanie ankündigte. Der Brigadeadjutant hatte kaum die entsprechenden Unterlagen in seiner Ledermappe verstaut, da riss sich der General das Barett vom Kopf, sog die Lungen voll Luft und kreischte in heiserem Falsett: »Gardisten … Voran! Alle Feinde …« Und es ging los! Heute war es besonders peinlich. Tränen kullerten über Rittmeister Tschatschus dunkle Wangen, die Gardisten brüllten wie Stiere und schlugen mit den Gewehrkolben auf den massiven Koppelschlössern den Takt. Um nichts zu sehen und zu hören, schloss Maxim fest die Augen; er schrie mit, wie ein angestochener Tachorg, und seine Stimme übertönte alle anderen, zumindest schien es ihm so. »Voran, ohne Furcht«, sang er. Was für ein idiotischer Text! Bestimmt von irgendeinem Korporal verfasst. Man musste seine Sache sehr lieben, um mit solchen Phrasen in den Kampf zu ziehen. Maxim öffnete die Augen. Ein dichter Schwarm schwarzer Vögel schoss lautlos über den Platz. »Dein diamantner Panzer schützt dich nicht, o Feind …«
Dann endete alles so plötzlich, wie es begonnen hatte. Der Brigadegeneral blickte aus glanzlosen Augen auf die Reihen, erinnerte sich wieder, wo er war, und kommandierte mit noch weinerlicher, brüchiger Stimme: »Die Herren Offiziere führen die Kompanien zu den Übungen.« Die Jungs schüttelten sich ein wenig und sahen einander verdutzt an. Anscheinend begriffen sie nichts, und Rittmeister Tschatschu musste zweimal »Richt’ euch!« rufen, ehe die Reihen standen. Dann marschierte die Kompanie zur Kaserne, und der Rittmeister befahl: »Erste Gruppe Eskorte! Die anderen Übungen nach Dienstplan! Wegtreten!«
Die Kompanie ging auseinander. Gai formierte seine Gruppe und gab die Positionen bekannt. Anwärter Maxim hatte sich mit Soldat Pandi ins Vernehmungszimmer zu begeben. In aller Eile erklärte Gai ihm, was er zu tun habe: sich rechts, beziehungsweise hinter dem Verhafteten zu postieren und selbst den kleinsten Versuch, sich vom Fleck zu rühren, mit Gewalt zu verhindern. Sie würden unmittelbar dem Brigadekommandeur unterstellt sein, verantwortlich sei Soldat Pandi. Kurz: Achte auf Pandis Beispiel.
»Ich hätte dich niemals dazu eingeteilt. Es kommt dir als Anwärter gar nicht zu. Aber der Herr Rittmeister hat es befohlen. Halt die Ohren steif, Mak! Ganz versteh ich den Herrn Rittmeister nicht. Vielleicht will er dich möglichst schnell befördern - du hast ihm während der Aktion sehr gefallen. Gestern bei der Auswertung mit den Gruppenführern hat er mehrfach von dir gesprochen und dich durch diesen Befehl ausgezeichnet. Oder aber er prüft dich. Warum - weiß ich nicht. Vielleicht ist mein Bericht schuld, vielleicht aber auch dein dummes Gerede.« Besorgt musterte er Maxim. »Putz nochmal die Stiefel, schnall das Koppel straff und zieh die Paradehandschuhe an. Ach, du hast ja keine, für Anwärter sind sie nicht vorgesehen. Gut, dann lauf zur Kleiderkammer. Und mach schnell, in dreißig Minuten rücken wir aus.«
In der Kleiderkammer traf Maxim auf Pandi, der seine beschädigte Kokarde umtauschte.
»Da, Korporal!«, sagte Pandi zum Verwalter der Kleiderkammer und klopfte Maxim auf die Schulter. »Schau ihn dir an! Den neunten Tag ist er in der Garde - und schon ein Dank. Ins Vernehmungszimmer soll er, zusammen mit mir. Kommst doch bestimmt wegen weißer Handschuhe? Gib ihm möglichst gute, Korporal, er hat sie verdient. Der Bursche ist ein Ass!«
Der Korporal brummte unzufrieden, kroch zwischen die Regale, die vollgestopft waren mit Kleidung und Ausrüstungsgegenständen, warf mehrere Paare weißer Zwirnhandschuhe vor Maxim auf den Tisch und knurrte geringschätzig: »Ein Ass! Ja, bei den Verrückten hier, da seid ihr Asse. Wenn einem vor Schmerzen die Eingeweide zerreißen, steckt man ihn leicht in den Sack. Da wäre sogar mein Großvater ein Ass, ohne Arme und Beine.«
Pandi war beleidigt.
»Dein Großvater hätte sich flugs davongemacht, ohne Arme und Beine«, entgegnete er, »wenn er plötzlich in zwei Pistolenläufe geschaut hätte. Ich dachte schon, jetzt ist es aus mit dem Herrn Rittmeister.«
»Aus«, äffte der Korporal ihn nach. »Rollt ihr erst mal zur Südgrenze. Und dann, in einem halben Jahr, werden wir sehen, wer sich flugs davongemacht hat.«
Sie verließen die Kleiderkammer. Dann fragte Maxim so ehrerbietig er konnte (denn der alte Pandi mochte es, wenn man ihm Respekt zollte): »Herr Pandi, warum haben die Entarteten solche Schmerzen? Und alle gleichzeitig! Wie kommt das?«
»Vor Angst«, antwortete Pandi und senkte wichtigtuerisch die Stimme. »Sind eben entartet, verstehst du? Musst mehr lesen, Mak! Es gibt eine Broschüre: ›Die Entarteten. Ihr Wesen und ihre Herkunft‹. Lies sie durch und merke es dir gut, sonst bist und bleibst du ein Dummkopf. Tapferkeit alleine reicht nicht weit.« Er schwieg eine Weile. »Wenn wir erregt, wütend oder erschrocken sind, so ist das nicht weiter tragisch. Denn uns bricht schlimmstenfalls der Schweiß aus, oder die Knie schlottern. Aber der Organismus der Entarteten ist unnormal, eben entartet. Hat so einer Angst oder ist wütend auf jemanden, bekommt er furchtbare Schmerzen, im Kopf, aber auch im ganzen Körper. Bis zur Ohnmacht. Verstanden? Daran erkennen wir sie und können sie ergreifen. Nehmen sie hopp. Deine Handschuhe sind schön, würden mir genau passen. Was meinst du?«
»Mir sind sie etwas eng, Herr Pandi«, klagte Maxim. »Tauschen wir: Sie bekommen diese und geben mir Ihre abgetragenen.«
Pandi war sehr zufrieden. Maxim ebenso. Plötzlich kam ihm Fank in den Sinn, wie er sich im Auto krümmte, in Krämpfen wälzte. Und wie ihn die Gardepatrouille verhaftete. Nur - worüber konnte Fank so erschrocken gewesen sein? Oder auf wen wütend? Er hatte sich doch gar nicht aufgeregt, ruhig seinen Wagen gelenkt, vor sich hin gepfiffen. Irgendetwas wollte er gern. Wahrscheinlich rauchen. Er hatte sich noch umgedreht und die Streife entdeckt. Oder war das hinterher? Ja, er hatte es sehr eilig gehabt, aber der Möbelwagen hatte ihm den Weg versperrt. Vielleicht war er deshalb verärgert? Unsinn, was reime ich mir hier zusammen. Es gibt schließlich alle möglichen Arten von Anfällen. Und festgenommen wurde er wegen des Unfalls. Trotzdem wüsste ich gern, wohin er mich bringen wollte und wer er ist. Wenn ich ihn nur finden könnte.
Maxim putzte und polierte seine Stiefel, brachte vor einem großen Spiegel seine Uniform in Ordnung, hängte sich die Maschinenpistole um, blickte noch einmal in den Spiegel - und da befahl Gai anzutreten.
Pedantisch musterte er alle, prüfte noch einmal, ob sie ihre Pflichten kannten, und lief dann in die Schreibstube der Kompanie. Die Gardisten spielten inzwischen »Seife«: Es wurden drei Geschichten erzählt, die Maxim nicht verstand, weil er einige Wendungen nicht kannte, und dann rückten ihm die Jungs auf die Pelle. Er solle beichten, woher er seine Kraft habe - in ihrer Gruppe ein schon gewohnter Scherz. Dann baten sie ihn, ein paar Münzen zwischen den Fingern zu Tütchen zu drehen, zum Andenken … Nun aber kam, von Gai begleitet, Rittmeister Tschatschu aus der Schreibstube. Er besah sich die Männer ebenfalls sehr genau, trat dann beiseite und sagte zu Gai: »Übernimm die Gruppe, Korporal«. Und sie marschierten los.
Beim Hauptquartier angekommen, forderte der Rittmeister den Soldaten Pandi und den Anwärter Sim auf, ihm zu folgen. Gai und die anderen gingen weiter. In Begleitung des Rittmeisters und Pandis betrat Maxim einen verrauchten, nicht allzu großen Raum mit dicht verhängten Fenstern. Es roch nach Tabak und Kölnischwasser. In der hinteren Hälfte stand ein riesiger leerer Tisch und um ihn herum gepolsterte Stühle. An der Wand hing ein altes, nachgedunkeltes Schlachtengemälde: Pferde, enge Uniformen, blanke Säbel, viele Schwaden weißen Rauchs. Rechts neben der Tür, zehn Schritt vom Tisch entfernt, sah Maxim einen eisernen Hocker, dessen einziger Fuß mit mächtigen Schrauben fest im Boden verankert war.
»Plätze einnehmen!«, kommandierte Tschatschu, ging zum Tisch und setzte sich.
Pandi dirigierte Maxim sorgfältig rechts hinter den Hocker, bezog selbst links davon Posten und flüsterte: »Stillgestanden.« Beide erstarrten. Der Rittmeister hatte die Beine übereinandergeschlagen, rauchte und blickte sie gleichgültig an. Sehr gleichgültig, geradezu desinteressiert. Maxim spürte aber deutlich, dass ihn der Rittmeister aufmerksam beobachtete - nur ihn.
Die Tür hinter Pandi öffnete sich, und im selben Moment tat dieser zwei Schritte vorwärts, einen Schritt nach rechts und machte eine Linkswendung. Maxim zog es auch schon herum, doch dann besann er sich, denn er stand ja gar nicht im Weg. So riss er nur die Augen etwas weiter auf. Dieses Spiel der Erwachsenen steckte doch tatsächlich an - obwohl es primitiv war und, bedachte man die Notlage der bewohnten Insel, vollkommen fehl am Platz.
Der Rittmeister erhob sich, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und begrüßte mit leichtem Zusammenschlagen der Hacken den Brigadegeneral, einen Unbekannten in Zivil und den Brigadeadjutanten, der eine dicke Mappe unter dem Arm trug. Alle drei gingen nun zum Tisch. Der Brigadegeneral nahm in der Mitte Platz. Er schaute mürrisch und unzufrieden drein, schob einen Finger hinter den steifen Kragen und drehte einige Male den Kopf hin und her, um den Kragen zu lockern. Der Zivilist, ein unscheinbares Männlein mit einem gelblichen, schlaffen und schlecht rasierten Gesicht, ließ sich lautlos neben ihm nieder. Der Adjutant blieb stehen, öffnete seine Mappe und blätterte in den Papieren. Einige reichte er dem General.
Pandi hatte kurze Zeit wie unentschlossen verharrt; nun kehrte er mit ebenso exakten Bewegungen an seinen Platz zurück. Am Tisch unterhielt man sich leise. »Kommst du heute zur Versammlung, Tschatschu?«, fragte der Brigadegeneral. »Ich habe zu tun!«, entgegnete der Rittmeister und zündete sich noch eine Zigarette an. »Wirst es bereuen. Es gibt eine Diskussion.« - »Das haben sie sich zu spät überlegt. Ich hab meine Meinung bereits dargelegt.« - »Nicht auf die beste Weise«, mischte sich der Zivilist behutsam ein. »Außerdem: Ändern sich die Umstände, ändern sich auch die Meinungen.« - »Nicht bei uns in der Garde«, sagte der Rittmeister schroff. »In der Tat, meine Herren«, näselte der Brigadegeneral, »wir sollten uns heute aber trotzdem bei der Versammlung treffen.« - »Ich habe gehört, sie hätten frische Seepilze besorgt«, murmelte der Adjutant, während er weiter in seinen Papieren wühlte. »Zum Bier - wäre das nichts, Rittmeister?«, fiel der Zivilist ein. Doch Tschatschu lehnte ab: »Nein, Herrschaften. Ich habe nur eine Meinung, und die kennen Sie. Was aber das Bier betrifft …« Das Übrige verstand Maxim nicht. Auf einmal lachten alle los, und der Rittmeister lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Dann hörte der Adjutant auf zu blättern, beugte sich zum Brigadegeneral und flüsterte ihm etwas zu. Dieser nickte. Der Adjutant setzte sich und sagte wie zu dem Eisenschemel: »Nole Renadu.«
Pandi stieß die Tür auf, lehnte sich hinaus und wiederholte laut: »Nole Renadu.«
Eine Bewegung im Gang, und ein älterer, gut gekleideter, doch etwas zerknitterter und zerzauster Mann trat mit unsicherem Schritt ins Zimmer. Pandi nahm ihn am Ellenbogen und drückte ihn auf den Hocker. Die Tür fiel ins Schloss. Der Mann hustete laut, stützte die Arme auf die Knie und hob stolz den Kopf.
»So …«, begann der Brigadegeneral, während er die Akten studierte. Dann, plötzlich, überstürzten sich seine Worte: »Nole Renadu, sechsundfünfzig, Hausbesitzer, Angehöriger der Stadtverwaltung, Klubmitglied im ›Veteran‹, Mitgliedsnummer soundso …« (Der Zivilist hielt die Hand vor den Mund und gähnte, zog eine bunte Zeitschrift aus der Tasche, legte sie sich auf die Knie und begann darin zu blättern.) »… Festgenommen dann und dann, dort und dort … bei der Durchsuchung wurden konfisziert … So … Was haben Sie in der Trompeterstraße acht gemacht?«
»Ich bin der Besitzer des Hauses«, antwortete Renadu würdevoll. »Ich hatte eine Unterredung mit meinem Verwalter.«
»Seine Papiere sind überprüft?«, wandte sich der Brigadegeneral an den Adjutanten.
»Jawohl. Alles in Ordnung.«
»So …«, fuhr der General fort. »Sagen Sie, Herr Renadu, ist Ihnen jemand von den Verhafteten bekannt?«
»Nein.« Renadu schüttelte energisch den Kopf. »Wieso? Übrigens, der Familienname von dem einen, Ketschef. Ich glaube, in meinem Haus wohnt ein gewisser Ketschef. Aber genau weiß ich es nicht. Vielleicht irre ich mich, vielleicht wohnt er nicht in diesem Haus. Ich hab nämlich noch zwei, eins davon …«
»Verzeihung«, unterbrach ihn der Zivilist, ohne die Augen von der Zeitschrift zu heben. »Haben Sie vielleicht darauf geachtet, worüber sich die anderen Zelleninsassen unterhielten?«
»Äh«, sagte Renadu langsam. »Ich muss gestehen. Sie haben dort … äh … Insekten, so dass wir hauptsächlich über sie … In einer Ecke wurde zwar geflüstert, aber ich habe nicht zugehört. Und außerdem, diese Leute sind mir äußerst unangenehm. Ich bin Veteran. Lieber hätte ich mit Insekten zu tun, hähä …«
»Natürlich«, stimmte der Brigadegeneral zu. »Gut. Um Entschuldigung bitten wir Sie nicht, Herr Renadu. Hier sind Ihre Papiere, Sie sind frei. Den Eskortenführer!«, sagte er lauter.
Pandi öffnete die Tür. »Eskortenführer, zum Brigadegeneral!«
»Von Entschuldigung ist keine Rede«, tat sich Renadu wichtig. »Schuld bin nur ich, ich allein. Nicht einmal ich, sondern das verfluchte Erbgut. Erlauben Sie?«, fragte er Maxim und zeigte auf den Tisch, wo seine Dokumente lagen.
»Sitzen bleiben!«, sagte Pandi halblaut.
Gai kam herein. Der Brigadegeneral übergab ihm die Papiere und befahl, Herrn Renadu das beschlagnahmte Eigentum auszuhändigen. Dann war der Hausbesitzer entlassen.
»In der Privont Aiju«, sagte der Zivilist nachdenklich, »ist es üblich, von jedem Entarteten - ich meine die legalen - bei der Verhaftung eine Gebühr einzuziehen, als freiwillige Spende zugunsten der Garde.«
»Bei uns ist das nicht üblich«, erwiderte der General kalt. »Ich glaube, das ist ungesetzlich. Den Nächsten«, befahl er.
»Rasche Mussai«, sagte der Adjutant zu dem eisernen Schemel.
»Rasche Mussai«, echote Pandi durch die offene Tür.
Rasche Mussai war ein dürrer, verhärmter Mann in abgetragenem Hausmantel und mit nur einem Pantoffel. Kaum hatte er sich gesetzt, lief der Brigadegeneral rot an und brüllte: »Versteckst du dich, Dreckskerl?!«, worauf Rasche Mussai ebenso wortreich wie verworren erklärte, dass er sich ganz und gar nicht verstecke, aber eine kranke Frau habe und drei Kinder und seine Miete nicht zahlen könne, dass man ihn schon zweimal festgenommen und dann wieder laufen gelassen habe, dass er als Möbeltischler in einer Fabrik arbeite und unschuldig sei. Maxim dachte, der Angeklagte würde freigesprochen. Aber da erhob sich der Brigadegeneral und verkündete, Rasche Mussai, zweiundvierzig Jahre alt, verheiratet und das dritte Mal festgenommen, werde wegen Verstoßes gegen den Ausweisungsbeschluss nach dem Gesetz über die Vorbeugehaft zu sieben Jahren Zwangsarbeit mit anschließendem Aufenthaltsverbot in den zentralen Bezirken verurteilt. Etwa eine Minute brauchte der Gefangene, um das Gehörte zu begreifen, dann folgte eine furchtbare Szene. Der erschütterte Möbeltischler weinte, flehte zusammenhanglos um Vergebung, versuchte auf die Knie zu fallen, schrie und wimmerte weiter, während Pandi ihn in den Flur schleppte. Und wieder spürte Maxim Rittmeister Tschatschus Blick auf sich ruhen.
»Kiwi Popschu«, verlangte der Adjutant.
Man stieß einen breitschultrigen jungen Mann herein, dessen Gesicht von einer Hautkrankheit entstellt war. Der Bursche erwies sich als Wohnungsdieb - ein auf frischer Tat ertappter Wiederholungstäter. Er verhielt sich frech und unterwürfig zugleich. Mal beschwor er die Herren Vorgesetzten, ihn nicht eines grausamen Todes sterben zu lassen, kicherte dann wieder hysterisch, machte spitze Bemerkungen und erzählte Geschichten aus seinem Leben, die alle begannen: »Da gehe ich in ein Haus …« Niemanden ließ er zu Wort kommen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihm eine Frage zu stellen, lehnte sich der Brigadegeneral zurück und blickte die Herren zur Rechten und zur Linken entrüstet an. Rittmeister Tschatschu sagte lässig: »Anwärter Sim, stopf dem Kerl das Maul.«
Maxim hatte keine Ahnung, wie man ein Maul stopft, also packte er Kiwi Popschu einfach an der Schulter und rüttelte ihn. Kiefer klappten aufeinander, der Bursche biss sich auf die Zunge und verstummte. Der Zivilist, der den Verhafteten interessiert beobachtet hatte, meinte: »Den nehme ich, der kann uns nützen.«
»Sehr gut«, stimmte der Brigadegeneral zu und ließ Kiwi Popschu zurück in die Zelle bringen.
Als der Gefangene fort war, sagte der Adjutant: »Das war das Pack. Jetzt kommt die Gruppe.«
»Beginnen Sie mit dem Anführer«, riet der Zivilist. »Wie hieß er gleich - Ketschef?«
Der Adjutant warf einen Blick in seine Akten und sagte zu dem Eisenhocker: »Gel Ketschef.«
Man führte einen Bekannten herein: den Mann im weißen Kittel. Er trug Handschellen und hielt deshalb die Fäuste vorgestreckt. Seine Augen waren gerötet, das Gesicht aufgequollen. Er setzte sich und starrte auf das Bild über dem Brigadegeneral.
»Sie heißen Gel Ketschef?«, fragte dieser.
»Ja.«
»Zahnarzt?«
»War ich.«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Zahnarzt Gobbi?«
»Ich habe seine Praxis gekauft.«
»Warum praktizieren Sie nicht?«
»Weil ich mein Sprechzimmer verkauft habe.«
»Warum?«
»Ein Engpass«, antwortete Ketschef.
»Was für eine Beziehung haben Sie zu Ordi Tader?«
»Sie ist meine Frau.«
»Kinder?«
»Hatten wir. Einen Sohn.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß nicht.«
»Was taten Sie während des Krieges?«
»Ich habe gekämpft.«
»Wo? Welche Funktion?«
»Im Südwesten. Anfangs als Leiter des Feldlazaretts, später als Kommandeur einer Infanteriekompanie.«
»Verwundungen? Orden?«
»Beides.«
»Weshalb haben Sie sich zu staatsfeindlicher Tätigkeit entschlossen?«
»Weil die Weltgeschichte nie zuvor einen abscheulicheren Staat hervorgebracht hat«, sagte Ketschef. »Weil ich meine Frau und mein Kind geliebt habe. Weil ihr meine Freunde ermordet und mein Volk geschändet habt. Weil ich euch immer gehasst habe. Reicht das?«
»Es reicht«, erwiderte der Brigadegeneral ruhig. »Es ist mehr als genug. Verraten Sie uns lieber, wie viel Ihnen Honti zahlt - oder bezahlt Sie Pandea?«
Der Mann im weißen Kittel lachte auf. Es klang unheimlich: So könnte ein Toter lachen.
»Lassen Sie die Komödie, Brigadegeneral. Was soll das …«
»Sie sind der Leiter der Gruppe?«
»Ja. War ich.«
»Welche Mitglieder Ihrer Organisation können Sie nennen?«
»Keins.«
»Sind Sie sicher?«, fragte plötzlich der Zivilist.
»Ja.«
»Sehen Sie, Ketschef«, fuhr der Zivilist sanft fort. »Sie befinden sich in einer äußerst schwierigen Situation. Über Ihre Gruppe wissen wir alles. Sogar einiges über deren Verbindungen. Diese Informationen hat uns jemand zugespielt, und jetzt hängt es ganz allein von uns ab, welchen Namen dieser Jemand bekommt - Ketschef oder einen anderen …«
Ketschef hatte den Kopf gesenkt und schwieg.
»Sie!«, krächzte Rittmeister Tschatschu. »Sie, ein ehemaliger Offizier! Verstehen Sie, was wir Ihnen anbieten? Nicht das Leben, Massaraksch: die Ehre!«
Ketschef lachte wieder, hüstelte, gab aber kein Wort von sich. Maxim spürte: Dieser Mann fürchtete nichts. Weder den Tod noch die Schande. Denn beides lag hinter ihm. Er war bereits tot und entehrt. Der Brigadegeneral zuckte mit den Schultern. Dann erhob er sich und verkündete, Gel Ketschef, fünfzig Jahre alt, verheiratet, Zahnarzt, werde entsprechend dem Gesetz über sozialen Gesundheitsschutz zur Liquidation verurteilt. Die Vollstreckung erfolge binnen achtundvierzig Stunden, Begnadigung sei möglich, falls der Verurteilte sich einverstanden erkläre auszusagen.
Nachdem man Ketschef abgeführt hatte, wandte sich der Brigadegeneral unzufrieden an den Zivilen: »Ich verstehe dich nicht. Er hat doch bereitwillig geredet. Ein typischer Schwätzer, wie es bei euch so schön heißt. Ich versteh’s nicht …« Der Zivilist grinste. »Deshalb befehligst du ja auch eine Brigade, mein Bester, ich hingegen … eben bei uns.« - »Trotzdem«, nuschelte der Brigadegeneral gekränkt. »Ein Anführer einer Gruppe, der philosophiert, ich versteh’s nicht.« - »Aber mein Bester«, begann der Zivilist noch einmal, »hast du je einen philosophierenden Toten gesehen?« - »Unsinn …« - »Nein, im Ernst.« - »Du etwa?«, fragte der Brigadegeneral. »Ja, gerade erst«, sagte der Zivile gewichtig. »Und nicht zum ersten Mal … ›Ich lebe, er ist tot - worüber sollen wir reden?‹ So steht’s, glaube ich, bei Werbliban?« In diesem Moment sprang Rittmeister Tschatschu auf, trat dicht an Maxim heran und fauchte von unten herauf: »Wie stehst du denn da, Anwärter! Wohin guckst du? Stillgestanden! Augen geradeaus! Den Blick fest!« Schwer atmend musterte er Maxim einige Sekunden, und seine Pupillen weiteten und verengten sich vor Wut. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und griff nach einer Zigarette.
»So«, ließ sich der Adjutant vernehmen. »Bleiben Ordi Tader, Memo Gramenu und noch zwei, die sich geweigert haben, ihre Namen zu nennen.«
»Beginnen wir mit denen«, schlug der Zivilist vor. »Ruft sie herein.«
»Nummer dreiundsiebzig-dreizehn«, sagte der Adjutant.
Nummer dreiundsiebzig-dreizehn kam herein und setzte sich auf den Eisenhocker. Trotz einer Armprothese trug auch dieser Mann Handschellen. Er war hager, sehnig und hatte unnormal dicke, zerbissene und angeschwollene Lippen.
»Ihr Name?«, fragte der Brigadegeneral.
»Welcher?«, erwiderte der Einarmige munter.
Maxim zuckte zusammen; er war sicher gewesen, der Häftling würde schweigen.
»Sie haben mehrere? Dann nennen Sie den jetzigen.«
»Mein jetziger Name ist dreiundsiebzig-dreizehn.«
»Aha … Was haben Sie in Ketschefs Wohnung gemacht?«
»Bin in Ohnmacht gefallen. Zu Ihrer Information: Ich kann das sehr gut. Soll ich’s zeigen?«
»Bemühen Sie sich nicht«, mischte sich der Zivile ein. Er war wütend. »Sie werden Ihr Talent noch brauchen.«
Der Einarmige brach in Gelächter aus, laut, schallend, wie ein Junge. Maxim wurde mit Entsetzen klar, dass das Lachen echt war. Die Männer am Tisch saßen da wie versteinert.
»Massaraksch!«, rief der Gefangene schließlich und wischte sich mit der Schulter die Tränen weg. »Das ist ja eine Drohung! Freilich, sie sind noch ein junger Mann. Nach dem Umsturz habt ihr alle Archive verbrannt und jetzt wisst ihr nicht einmal, wie kleinkariert ihr geworden seid. Es war ein schwerer Fehler, die alten Kader zu liquidieren: Sie hätten euch beigebracht, eure Arbeit gelassen auszuüben. Sie haben zu viele Emotionen. Sie hassen zu sehr. Aber seine Arbeit sollte man möglichst nüchtern erledigen, nach Vorschrift - für Geld. Das beeindruckt Untersuchungsgefangene ungeheuer. Es ist furchtbar, wenn man nicht vom Feind, sondern von einem Beamten gefoltert wird. Sehen Sie sich meinen linken Arm an. Den hat mir der gute alte Geheimdienst noch in der Vorkriegszeit gekappt, in drei Etappen - und jede mit umfangreichem Schriftwechsel. Die Folterknechte hatten eine schwere, undankbare Aufgabe. Sie haben gelangweilt an meinem Arm herumgesägt und dabei über ihre miserablen Gehälter geflucht. Und da bekam ich Angst und habe nur mit großer Willensanstrengung nicht geredet. Aber jetzt … Ich sehe ja, wie Sie mich hassen. Sie mich, und ich Sie. Das ist gut. Aber Sie hassen mich noch nicht mal zwanzig Jahre, ich Sie hingegen schon mehr als dreißig. Ich hab Sie schon gehasst, da sind Sie noch unterm Tisch herumgelaufen und haben die Katzen gequält, junger Mann.«
»Klar«, sagte der Zivilist. »Ein alter Hase. Ein Freund der Arbeiter. Ich dachte, euch hätten sie schon alle erledigt.«
»Darauf brauchen Sie nicht zu hoffen«, entgegnete der Einarmige. »Sie sollten die Welt kennen, in der Sie leben. Sonst bilden Sie sich noch allesamt ein, die alte Geschichte sei vorbei und eine neue begonnen worden. Was für ein Unwissen! Es gibt wirklich nichts, worüber man mit Ihnen reden könnte.«
»Ich glaube, es reicht«, wandte sich der Brigadegeneral an den Zivilen.
Der schrieb schnell etwas auf seine Zeitschrift und gab es dem Brigadegeneral zu lesen. Der wunderte sich, trommelte mit den Fingern gegen sein Kinn und blickte den Zivilisten zweifelnd an. Dieser lächelte. Da zuckte der Brigadegeneral mit den Schultern, dachte kurz nach und fragte den Rittmeister: »Zeuge Tschatschu, wie verhielt sich der Angeklagte bei der Verhaftung?«
»Er wälzte sich auf dem Fußboden«, antwortete der Rittmeister finster.
»Das heißt, Widerstand leistete er nicht … Soso …« Der Brigadegeneral überlegte noch eine Weile, stand dann auf und gab das Urteil bekannt: »Der Angeklagte dreiundsiebzig-dreizehn wird zum Tode verurteilt, ohne konkreten Vollstreckungstermin. Bis zur Hinrichtung verbleibt er in einem Erziehungslager.«
In Rittmeister Tschatschus Gesicht spiegelten sich Verachtung, Unverständnis. Und der Einarmige lachte leise, als man ihn hinausbrachte, und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Nein, so was!«
Nun kam Nummer dreiundsiebzig-vierzehn. Es war der Mann, der sich schreiend auf dem Fußboden gewälzt hatte. Er trat zwar herausfordernd auf, hatte aber große Angst. Schon von der Schwelle aus verkündete er, dass er nicht zu antworten gedenke und keinerlei Nachsicht wünsche. Er schwieg tatsächlich und reagierte auf keine einzige Frage, nicht einmal auf die des Zivilisten, ob er schlecht behandelt worden sei. Das Verhör endete damit, dass der Brigadegeneral den Zivilisten ansah und etwas fragte. Der Zivilist nickte. »Ja, zu mir.« Er wirkte sehr zufrieden.
Danach blätterte der Brigadegeneral die verbliebenen Akten durch und sagte: »Kommen Sie, meine Herren, gehen wir essen. Es ist unmöglich …«
Das Gericht entfernte sich. Maxim und Pandi erhielten die Erlaubnis, bequem zu stehen. Als auch der Rittmeister gegangen war, schimpfte Pandi: »Hast du diese Monster gesehen? Schlimmer noch als Schlangen, bei Gott. Und die Hauptsache: Hätten sie keine Kopfschmerzen - wie sollte man sie als Entartete erkennen? Man mag gar nicht dran denken.«
Maxim schwieg. Er wollte nicht reden. Sein Weltbild, gestern noch logisch und klar, verschwamm allmählich und verlor die Konturen. Übrigens brauchte Pandi keine Antwort. Er streifte seine Handschuhe ab, um sie nicht zu beschmutzen, zog eine Tüte Fruchtbonbons aus der Tasche, bot auch Maxim welche an und erklärte ihm, warum er gerade diesen Dienst nicht ausstehen könne. Denn erstens fürchte er, sich bei den Entarteten anzustecken, und zweitens seien einige von ihnen, etwa dieser Einarm, dermaßen frech, dass er sich enorm beherrschen müsse, damit er ihm keine überbrate. Einmal habe er sich lange zusammengerissen, dann aber losgedroschen - fast hätte man ihn zum Anwärter degradiert. Der Rittmeister habe sich vor ihn gestellt und ihn nur für zwanzig Tage eingebuchtet, danach noch vierzig Tage Ausgangssperre.
Maxim kaute seine Fruchtbonbons, hörte mit halbem Ohr zu und sagte nichts. Hass, dachte er. Diese hassen jene, jene hassen diese. Warum? Der abscheulichste Staat. Warum? Wie kommt er darauf? Das Volk geschändet. Aber inwiefern? Was kann das bedeuten? Und dieser Zivilist. Unmöglich, dass er mit Folter droht. Die gab es früher, im Mittelalter. Obwohl, wenn man an den Faschismus denkt. Vielleicht ist das ein faschistischer Staat? Massaraksch, aber was ist denn Faschismus? Aggression, Rassentheorie … Hilter, oder wie hieß der … nein … Hilmer … Ja, und die Theorie von der Überlegenheit einer Rasse, Massenmord, Streben nach Weltherrschaft. Lüge, zum Prinzip der Politik erhoben, staatliche Lüge - das habe ich mir gemerkt, das hat mich am meisten entsetzt. Aber hier, glaube ich, gibt es so etwas nicht. Gai ein Faschist? Und Rada? Nein, das ist etwas anderes - Kriegsfolgen, eine Verrohung der Sitten infolge der schlimmen Lage im Land. Die Mehrheit ist bestrebt, den Widerstand der Minderheit zu unterdrücken. Todesstrafe, Zwangsarbeit. Mir ist das zuwider, aber was sollen sie tun? Und worin besteht eigentlich der Widerstand? Ja, sie hassen die bestehende Ordnung. Doch was tun sie konkret? Darüber ist kein Wort gefallen. Seltsam … Als ob sich die Richter vorher mit den Angeklagten abgesprochen hätten und diese einverstanden wären. Ja, sieht ganz danach aus. Die Angeklagten versuchen, das Raketenabwehrsystem zu zerstören; den Richtern ist das wohlbekannt, und die Angeklagten wissen, dass es den Richtern bekannt ist. Alle bleiben bei ihren Überzeugungen, es gibt nichts zu bereden; die bereits bestehenden Verhältnisse werden nur noch offiziell bestätigt. Der eine wird liquidiert, der andere zur »Erziehung« geschickt, der dritte … den dritten nimmt sich, warum auch immer, der Zivilist. Man müsste den Zusammenhang kennen zwischen den Kopfschmerzen und der Neigung zum Widerstand. Warum wollen nur die Entarteten das Raketenabwehrsystem zerstören? Und nicht einmal alle von ihnen?
»Herr Pandi«, fragte er, »wissen Sie, ob die Hontianer alle entartet sind?«
Pandi grübelte. »Wie soll ich sagen, hm … Du musst verstehen«, begann er schließlich, »unsere Ausbildung befasst sich vor allem mit den städtischen Entarteten und den Wilden, die im Süden hausen. Was in Honti los ist oder sonst wo, lernt man wahrscheinlich bei der Armee. Vor allem musst du dir merken, dass Honti der schlimmste äußere Feind unseres Staates ist. Vor dem Krieg war es uns untertan, und jetzt rächt es sich grausam. Und die Entarteten sind der innere Feind. Das wär’s. Klar?«
»Mehr oder weniger«, erwiderte Maxim. Sofort wurde er von Pandi gerügt: Das sei in der Garde keine Antwort, in der Garde heiße es »jawohl« oder »nein«; »mehr oder weniger« sei zivil. Der Schwester des Korporals könne Maxim so antworten, hier aber sei er im Dienst, hier sei es nicht gestattet.
Vermutlich hätte er noch lange weiter geredet, das Thema war ergiebig und lag ihm am Herzen, und der Zuhörer gab sich aufmerksam und respektvoll - aber da kehrten die Herren Offiziere zurück. Pandi verstummte mitten im Wort, flüsterte: »Stillgestanden!«, und nahm ordnungsgemäß zwischen Tisch und eisernem Hocker Haltung an. Auch Maxim erstarrte.
Die Offiziere waren bester Laune. Rittmeister Tschatschu erzählte laut und mit leicht verächtlichem Gesicht, wie sie im Jahre vierundachtzig rohen Teig direkt auf der glühend heißen Panzerung backten und sich danach die Finger leckten. Der Brigadegeneral und der Zivilist wandten ein, Kampfgeist sei zwar gut und schön, aber auch die Küche der Garde müsse Niveau haben, und je weniger Konserven sie verwende, desto besser. Die Augen halb geschlossen, fing der Adjutant auf einmal an, auswendig aus irgendeinem Kochbuch zu zitieren; die anderen lauschten ihm lange und fast ergriffen. Endlich blieb der Adjutant stecken, räusperte sich.
Der Brigadegeneral seufzte. »Ja, meine Herren … Bringen wir’s zu Ende.«
Hüstelnd öffnete der Adjutant seine Mappe, kramte in den Akten und sagte gepresst: »Ordi Tader.«
Die Frau war auch heute nahezu durchsichtig weiß, so als sei sie noch immer bewusstlos. Kaum aber streckte Pandi den Arm aus, um sie am Ellenbogen zu fassen und auf ihren Platz zu drücken, wich sie so heftig zurück wie vor einer Natter. Man konnte meinen, sie würde ihn jeden Augenblick schlagen. Doch ihre Hände waren gefesselt, und so fauchte sie nur: »Rühr mich nicht an, du Schwein!«, ging um Pandi herum und setzte sich.
Der Brigadegeneral stellte die üblichen Fragen. Sie antwortete nicht. Der Zivilist erinnerte sie an ihr Kind, an ihren Mann - sie schwieg. Sie hielt sich kerzengerade. Ihr Gesicht konnte Maxim nicht sehen, nur ihren angespannten, mageren Hals, die wirren hellen Haare. Und plötzlich sagte sie mit ruhiger tiefer Stimme: »Ihr alle seid verdummte Idioten. Mörder. Ihr werdet alle sterben. Du, Brigadegeneral - ich kenne dich nicht, sehe dich zum ersten und letzten Mal. Du wirst einen furchtbaren Tod haben. Nicht von meiner Hand, leider, aber er wird furchtbar sein. Und du, Bluthund vom Geheimdienst. Zwei von deiner Sorte habe ich selbst erledigt. Ich würde auch dich töten und würde dich kriegen, wenn nicht diese Dreckskerle hinter mir stünden.« Sie holte tief Luft. »Und du, Schwarzvisage, Kanonenfutter, fällst uns auch noch in die Hände. Doch du stirbst einfach. Gel hat daneben geschossen, aber ich kenne Leute, die treffen. Ihr alle hier werdet verrecken, lange bevor wir eure verfluchten Türme plattmachen. Und das ist gut so. Ich bete zu Gott, dass ihr eure Türme nicht überlebt, denn dann kämt ihr ja zur Vernunft und würdet denen, die nach uns kommen, leidtun, womöglich ließen sie euch laufen.«
Sie unterbrachen sie nicht, hörten aufmerksam zu. Sie schienen bereit, ihr stundenlang zuzuhören, doch da stand sie auf und machte einen Schritt zum Tisch hin. Pandi packte sie an der Schulter und schleuderte sie auf den Schemel zurück. Dann spuckte sie so kräftig aus, wie sie konnte, verfehlte aber die Offiziere, fiel in sich zusammen und brach in Tränen aus. Einige Zeit beobachteten die Männer, wie sie weinte. Dann erhob sich der Brigadegeneral und verurteilte sie zum Tod binnen achtundvierzig Stunden. Pandi griff sie am Ellenbogen und stieß sie hinaus, und der Zivilist rieb sich die Hände und grinste: »Das war ein Fang! Ausgezeichnete V-Leute.« Und der Brigadegeneral erwiderte: »Bedank dich beim Rittmeister.« Und Tschatschu krächzte nur: »Singvögel«, und alle verstummten.
Dann ließ der Adjutant Memo Gramenu bringen. Mit ihm wurde nicht lange gefackelt: Er war derjenige gewesen, der im Flur geschossen hatte. Bewaffneter Widerstand bei der Festnahme - da war alles klar; man stellte ihm nicht einmal Fragen. Massig und krumm hockte er da, und während der Brigadegeneral das Todesurteil verlas, blickte er gleichgültig zur Decke. Er streichelte mit der linken Hand seine rechte, deren ausgerenkte Finger mit einem Lappen umwickelt waren. Maxim glaubte ihm eine widernatürliche Ruhe anzumerken, nüchterne Selbstsicherheit und Gleichgültigkeit dem gegenüber, was hier geschah, aber er war sich nicht ganz sicher.
Sie hatten Gramenu noch nicht abgeführt, da verstaute der Adjutant schon erleichtert die Akten in seiner Mappe, unterhielt sich der Brigadegeneral mit dem Zivilisten über die Beförderungsordnung, und Rittmeister Tschatschu kam zu Pandi und Maxim und befahl ihnen wegzutreten. In seinen farblosen Augen konnte Maxim eindeutig Spott und Drohung erkennen, aber das war ihm im Moment egal. Voller Mitgefühl und ihn selbst befremdender Neugier dachte er an denjenigen, dem es bevorstand, die Frau zu töten. Denn das war etwas ganz Ungeheuerliches, Furchtbares. Doch irgendwen würde es in den nächsten achtundvierzig Stunden treffen.

8

Gai zog seinen Pyjama an, hängte die Uniform in den Schrank und drehte sich zu Maxim um. Einen Stiefel in der Hand, den anderen noch am Fuß, saß Anwärter Sim auf der Liege, die Rada ihm in einer freien Ecke aufgestellt hatte; seine Augen starrten zur Wand, der Mund stand halb offen. Gai schlich sich von der Seite an und wollte dem Freund gegen die Nase schnipsen. Aber wie immer traf er nicht, denn im letzten Moment wandte Mak den Kopf.
»Woran denkst du?«, versuchte Gai ihn zu necken. »Leidest wohl, weil Rada nicht da ist? Hast eben Pech, Bruderherz, heute hat sie Tagschicht.«
Mak lächelte schwach und befasste sich mit seinem zweiten Stiefel. »Wieso - nicht da?«, murmelte er zerstreut. »Erzähl keine Märchen …« Er hielt wieder inne. »Gai«, fuhr er fort, »du hast immer gesagt, sie arbeiten für Geld …«
»Wer? Die Entarteten?«
»Ja. Du hast es oft gesagt - mir und auch den Jungs. Hast sie ›bezahlte Agenten der Hontianer‹ genannt. Auch der Rittmeister behauptet das, jeden Tag, immer wieder.«
»Was denn sonst?«, entgegnete Gai. Er vermutete, dass Mak abermals über die Monotonie ihrer Argumente klagte. »Du bist komisch, Mak. Wie können wir es mit anderen Worten erzählen, wenn alles beim Alten bleibt? Die Entarteten sind nach wie vor entartet. Früher erhielten sie Geld vom Feind, und jetzt ist es ebenso. Im vergangenen Jahr beispielsweise, hat man eine Gruppe im Randgebiet geschnappt - der ganze Keller lag voller Geld. Wie sollten ehrliche Menschen zu solchem Reichtum kommen? Sind weder Industrielle noch Bankiers … Und jetzt hat nicht einmal ein Bankier so viel Geld, wenn er ein echter Patriot ist.«
Mak stellte die Stiefel ordentlich an die Wand, stand auf und öffnete seinen Overall. »Gai«, begann er wieder, »hast du mal erlebt, dass man etwas über jemand erzählt und du diesen Menschen anschaust und fühlst: Es kann nicht stimmen. Es ist ein Fehler, ein Missverständnis?«
»Das kommt vor.« Gais Gesicht verfinsterte sich. »Wenn du allerdings die Entarteten …«
»Ja. Die meine ich. Ich habe sie mir heute angesehen: normale Menschen! Verschieden natürlich - manche besser, andere schlechter, einige mutig, andere feige -, keineswegs aber Tiere, wie ich dachte und wie ihr alle denkt. Warte, unterbrich mich nicht. Ich weiß nicht, ob sie euch wirklich schaden, das heißt, anscheinend tun sie es. Aber ich glaube nicht, dass sie gekauft sind.«
Gais Miene wurde noch düsterer. »Was heißt, du glaubst es nicht? Schön, mich nimmst du vielleicht nicht ernst, ich bin nur ein kleines Licht. Aber den Herrn Rittmeister? Und den Brigadegeneral? Das Radio? Wie kann man den Unbekannten Vätern nicht glauben? Sie lügen nie.«
Maxim streifte den Overall ab, trat ans Fenster und blickte hinaus, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt und beide Hände am Rahmen. »Wieso denn unbedingt lügen?«, sagte er halblaut. »Und wenn sie irren?«
»Irren?«, wiederholte Gai befremdet und starrte auf Maks nackten Rücken. »Wer irrt? Die Väter? Du hast Ideen … Die Väter irren sich nie!«
»Möglich«, sagte Mak und drehte sich um. »Aber wir reden jetzt nicht von ihnen. Es geht um die Entarteten. Du, zum Beispiel, würdest doch für deine Sache sterben, wenn es sein muss?«
»Natürlich«, antwortete Gai. »Du doch auch.«
»Ja. Würden wir. Für die Sache. Aber nicht für die Gardistenverpflegung oder für Geld. Eine Milliarde eurer Scheinchen könntet ihr mir hinblättern - ich würde dafür nicht in den Tod gehen! Du etwa?«
»Natürlich nicht.« Gai seufzte. Dieser Mak ist seltsam, dachte er. Immer denkt er sich was Neues aus.
»Und?«
»Was - und?«
»Versteh doch!« Mak wurde ungeduldig. »Du bist nicht bereit, für Geld zu sterben. Ich bin nicht bereit, für Geld zu sterben. Aber die Entarteten sollen es sein? So ein Blödsinn!«
»Das sind doch Entartete!«, sagte Gai eindringlich. »Deshalb sind sie ja entartet! Für sie ist Geld das Höchste. Nichts ist ihnen heilig. Sie erdrosseln sogar Kinder - das hat es schon gegeben. Was kann einer, der das Raketenabwehrsystem vernichten will, für ein Mensch sein! Kaltblütige Mörder sind das!«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, erwiderte Mak. »Sie sind heute verhört worden. Hätten sie ihre Komplizen verraten, wären sie mit dem Leben davongekommen, hätten nur Zwangsarbeit gekriegt. Aber sie haben keine Namen genannt. Folglich sind sie ihnen mehr wert als Geld? Mehr als das Leben?«
»Das müsste sich erst herausstellen«, murmelte Gai. »Laut Gesetz sind sie alle zum Tode verurteilt. Ohne jede Verhandlung. Du hast ja gesehen, wie das vor sich geht.«
Er blickte den Freund an. Mak schien unschlüssig, verwirrt. Er hat ein gutes Herz, dachte Gai, aber nicht die leiseste Ahnung, und er begreift nicht, dass Härte gegen den Feind nottut. Ihn anschnauzen sollte man, mit der Faust auf den Tisch schlagen, damit er den Mund hält, nicht zu viel redet und auf Ältere hört, solange er sich damit nicht auskennt. Er ist schließlich kein ungebildeter Tölpel; wenn man es ihm vernünftig erklärt, wird er es verstehen.
»Nein«, beharrte Mak eigensinnig. »Gegen Bezahlung hasst man nicht. Sie aber hassen, hassen uns so sehr, ich wusste gar nicht, dass Menschen so hassen können. Du hasst sie weniger als sie dich. Und ich wüsste gern: warum?«
»Hör zu«, sagte Gai, »ich erkläre es dir noch einmal. Erstens sind sie Entartete. Sie hassen überhaupt alle normalen Menschen. Sind von Natur aus bösartig wie Ratten. Und zweitens: Wir stören sie. Sie würden gern ihren Geschäften nachgehen, Geld einstecken, herrlich und in Freuden leben. Wir aber rufen: ›Stopp! Hände hinter den Kopf!‹ Sollen sie uns dafür lieben?«
»Wenn sie alle böse wie Ratten sind, wieso ist es dann dieser Hausbesitzer nicht? Warum hat man ihn laufen lassen, wenn sie doch alle gekauft sind?«
Gai lachte. »Der Hausbesitzer ist ein Feigling. Davon gibt es auch genügend. Sie hassen uns, aber sie haben Angst. Für solche Leute ist es vorteilhafter, sich mit uns gutzustellen; es sind nützliche, sozusagen legale Entartete. Zudem ist er Hausbesitzer, ein reicher Mann, den kauft man nicht so leicht. Das ist etwas anderes als dieser Zahnarzt. Du bist putzig wie ein Kind, Mak. Die Menschen sind nicht alle gleich, und die Entarteten auch nicht …«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Mak ungeduldig. »Was aber den Zahnarzt betrifft: Ich wette meinen Kopf, dass dieser Mann nicht bestechlich ist! Beweisen kann ich’s dir nicht, aber das fühle ich. Er ist ein sehr tapferer, guter Mensch …«
»Ein Entarteter!«
»Einverstanden. Er ist ein tapferer, guter Entarteter. Ich habe seine Bibliothek gesehen. Er ist sehr belesen. Weiß tausendmal mehr als du oder der Rittmeister. Warum ist er gegen uns? Wenn alles so ist, wie du behauptest - wie kann es dann sein, dass dieser gebildete, kulturvolle Mensch es nicht weiß? Weshalb schreit er uns an der Schwelle zum Grab ins Gesicht, er sei für das Volk und gegen uns?«
»Ein gebildeter Entarteter ist ein Entarteter hoch zwei«, dozierte Gai. »Seiner Natur entsprechend hasst er uns, und die Bildung hilft ihm, diesen Hass zu begründen und zu verbreiten. Bildung, mein Freund, ist nicht immer ein Segen. Wie bei der Maschinenpistole kommt es drauf an, in wessen Händen sie liegt.«
»Bildung ist immer ein Segen«, entgegnete Mak überzeugt.
»Da irrst du. Mir wäre es lieber, die Hontianer wären alle ungebildet. Dann könnten wir wenigstens wie Menschen leben und müssten nicht ständig mit einem atomaren Angriff rechnen. Im Handumdrehen hätten wir sie befriedet.«
»Ja«, sagte Mak mit einer merkwürdigen Betonung. »Befrieden - das können wir. Brutalität ist uns nicht abzusprechen.«
»Wieder redest du wie ein Kind. Nicht wir sind brutal - die Zeit ist brutal. Wir kämen gern mit freundlichen Worten und ohne Blutvergießen aus. Es wäre auch billiger. Aber was sollen wir tun? Wenn man sie auf keine andere Weise umstimmen kann.«
»Also haben die Entarteten eine Überzeugung?«, parierte Mak. »Eine echte Überzeugung? Ist aber ein kluger Mensch von seinem Recht überzeugt, was soll ihm dann das Geld der Hontianer?«
Nun reichte es Gai. Er wollte gerade, als letztes Mittel, den Kodex der Väter anführen und diesen dummen, endlosen Streit damit beenden, da unterbrach sich Mak selbst, winkte ab und rief: »Rada! Genug geschlafen! Die Gardisten haben Hunger und sehnen sich nach weiblicher Gesellschaft!«
Zu Gais großer Verwunderung erklang hinter dem Wandschirm Radas Stimme: »Ich bin längst wach. Ihr habt herumgeschrien, meine Herren Gardisten, als wärt ihr auf eurem Übungsplatz.«
»Warum bist du zu Hause!«, fuhr Gai sie an.
Rada trat hinter dem Schirm hervor, schloss im Gehen die Knöpfe ihres Hauskleids.
»Ich bin entlassen«, erklärte sie. »Mutter Täj hat eine Erbschaft gemacht, ihr Etablissement geschlossen und zieht jetzt aufs Land. Aber sie hat mich schon weiterempfohlen für eine gute Stelle. Mak, warum hast du deine Sachen überall verstreut? Räum sie in den Schrank! Ich hatte euch doch gebeten, nicht mit Stiefeln ins Zimmer zu kommen! Wo sind denn deine Stiefel, Gai? Deckt den Tisch, wir essen gleich. Mak, du hast abgenommen. Was machen sie dort mit dir?«
»Los, los«, rief Gai. »Rede nicht so viel, bring lieber das Essen.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus und verließ das Zimmer. Gai blickte zu Mak hinüber. Der sah dem Mädchen nach, wie immer mit viel Zuneigung.
»Na, ist sie hübsch?«, frotzelte Gai - und erschrak: Maks Miene war auf einmal wie versteinert. »Was hast du?«
»Hör zu«, sagte Mak. »Alles darf man. Wahrscheinlich sogar foltern - das wisst ihr besser als ich. Aber Frauen erschießen, sie quälen …« Er nahm seine Stiefel und ging hinaus.
Gai hüstelte, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und begann, den Tisch zu decken. Das Gespräch wirkte unangenehm in ihm nach. Sehr zwiespältig. Sicher, Mak war noch jung und nicht von dieser Welt. Aber er hatte wieder ganz erstaunliche Dinge gesagt. Er war Logiker, das war’s, ein hervorragender Logiker. Gerade hatte er zum Beispiel blanken Unsinn geredet - aber wie folgerichtig der aufgebaut war! Ohne Maks Geschwätz wäre er, Gai, gar nicht auf diesen eigentlich sehr einfachen Gedanken gekommen: Entscheidend an den Entarteten ist - sie sind entartet! Nimm ihnen diese Eigenschaft, und alle übrigen Anschuldigungen gegen sie - Verrat, Menschenfresserei und so weiter - werden plötzlich nichtig. Ja, der springende Punkt ist ihre Entartung, und dass sie alles Normale hassen. Das genügt, das ›Gold der Hontianer‹ ist gar nicht so wichtig. Aber was sind die Hontianer - auch Entartete? Das wurde uns nicht gesagt. Wären sie jedoch keine, müssten unsere Entarteten sie hassen, ebenso wie uns. Massaraksch! Diese verfluchte Logik …
Als Mak zurückkam, fiel Gai über ihn her: »Woher wusstest du, dass Rada zu Hause ist?«
»Wie - woher? Das war doch klar …«
»Wenn es dir klar war, warum hast du mich nicht darauf hingewiesen? Und warum, Massaraksch, hältst du dein Mundwerk nicht, wenn Fremde dabei sind? Dreiunddreißigmal Massaraksch.«
Mak wurde jetzt auch böse.
»Wer ist hier fremd, Massaraksch? Rada? Sie steht mir näher als ihr alle mit eurem Rittmeister!«
»Massaraksch! Was besagt die Vorschrift zum Dienstgeheimnis?«
»Massaraksch und Massaraksch! Was willst du von mir? Ich wusste doch nicht, dass du nicht wusstest, dass sie hier ist. Ich dachte, du erlaubst dir einen Scherz mit mir. Außerdem, was für Geheimnisse haben wir schon ausgeplaudert …«
»Alles, was den Dienst betrifft.«
»Zum Teufel mit diesem Dienst, den ihr vor der eigenen Schwester geheim halten müsst! Und überhaupt vor allen, Massaraksch! In jedem Winkel steckt ein Geheimnis, man darf sich nicht mehr drehen, den Mund nicht aufmachen!«
»Nun schreist du mich auch noch an! Ich bring dir was bei, du Esel, und du schreist mich an!«
Aber Mak hatte sich schon wieder beruhigt. Plötzlich stand er neben Gai, der nicht einmal Zeit hatte, sich zu regen: Schon packten ihn starke Hände an den Hüften, das Zimmer drehte sich vor seinen Augen, und die Decke rückte näher. Gai stöhnte gepresst auf, als Mak ihn auf gestreckten Armen zum Fenster trug. »Na, wohin jetzt mit dir und deinen Geheimnissen?«, fragte er. »Da raus?«
»Lass diese dummen Späße, Massaraksch!«, schrie Gai und ruderte krampfhaft mit den Armen, um Halt zu finden.
»Durch das Fenster willst du nicht? Gut, dann bleib …«
Gai wurde zum Wandschirm getragen und auf Radas Bett geworfen. Er setzte sich auf, zupfte seinen Pyjama zurecht und knurrte: »Kraftprotz.« Auch er war nicht mehr böse. Auf wen hätte er auch böse sein sollen - doch höchstens auf die Entarteten.
Sie deckten den Tisch. Dann kam Rada mit einem Topf Suppe, gefolgt von Onkelchen Kaan und seinem Heiligtum: seinem Flachmann, der, wie er beteuerte, das einzig wirksame Mittel gegen Erkältungen und Alterswehwehchen darstellte. Sie setzten sich zum Essen. Der Onkel trank ein Gläschen, schniefte laut und fing an, über seinen Widersacher herzuziehen, den Kollegen Schapschu. Der hatte wieder einmal einen Artikel über die Funktion eines bestimmten Knochens bei einer bestimmten Ureidechse geschrieben, und dabei beruhte der gesamte Artikel auf Unsinn, nichts als Unsinn und war nur etwas für Ignoranten.
Für Onkel Kaan gab es eigentlich nur Ignoranten. Die Kollegen von der Fakultät: Stümper - einige eifrig, andere faul. Die Assistenten: seit ihrer Geburt Strohköpfe, sollten lieber Vieh hüten in den Bergen - ob sie aber damit zurechtkämen, das sei ebenfalls mehr als ungewiss. Und was die Studenten anging, so schien die heutige Jugend ohnehin wie ausgewechselt: Es studierten nur die allergrößten Idioten, die kein Unternehmer an seine Drehbank ließe und kein Kommandeur je als Soldaten aufnähme. Das Schicksal der Wissenschaft von den fossilen Tieren war also besiegelt. Gai allerdings bedauerte es nicht allzu sehr. Gott mit ihnen, diesen Fossilien - danach stand einem jetzt wahrhaftig nicht der Sinn; überhaupt war ungewiss, wozu und wem dieses Fach je nützen würde. Rada aber, die den Onkel sehr gern hatte, entrüstete sich jedes Mal genauso wie er über die Dummheit seines Kollegen Schapschu und war bekümmert, dass die Universitätsleitung die für Expeditionen nötigen Mittel verweigerte.
Doch heute sprach man von etwas anderem. Rada hatte, Massaraksch!, hinter ihrem Schirm alles gehört und fragte nun den Onkel, worin sich die Entarteten von normalen Menschen unterschieden. Gai warf Mak einen drohenden Blick zu und bat die Schwester, ihren Lieben nicht den Appetit zu verderben, und stattdessen die entsprechende Literatur zu lesen. Onkelchen Kaan jedoch verkündete, diese Literatur sei für die dümmsten Dummköpfe geschrieben, denn die Herrschaften aus der Abteilung Volksbildung hielten alle anderen für ebensolche Analphabeten, wie sie es selbst waren. Die Frage der Entarteten sei aber ganz und gar nicht so einfach und belanglos, wie sie immer dargestellt werde - und das nur, um eine bestimmte öffentliche Meinung zu erzeugen. Sie alle hätten nun die Wahl, sich entweder wie kultivierte Menschen zu benehmen oder wie die tapferen, doch leider ziemlich ungebildeten Offiziere in den Kasernen. Mak schlug vor, der Abwechslung halber einmal kultiviert zu sein. Der Onkel trank noch ein Gläschen und erläuterte dann eine zurzeit in wissenschaftlichen Kreisen verbreitete Theorie, nach der die Entarteten nichts anderes seien als eine neue, durch radioaktive Strahlung entstandene biologische Gattung.
»Die Entarteten sind ohne jeden Zweifel gefährlich«, der Onkel hob den Zeigefinger, »und zwar noch viel gefährlicher, als das in deinen billigen Broschüren dargestellt wird, Gai. Die Entarteten sind aber nicht in sozialer oder politischer Hinsicht gefährlich; denn sie kämpfen nicht gegen ein bestimmtes Volk. Sie kämpfen gegen alle Völker, gegen alle Nationalitäten und Rassen gleichzeitig. Sie kämpfen um ihren Platz in der Welt, um die Existenz ihrer Spezies. Dieser Kampf ist unabhängig von den sozialen Gegebenheiten, und enden wird er erst, wenn entweder der letzte Mensch oder der letzte Mutant den Schauplatz der biologischen Geschichte verlässt. ›Gold der Hontianer‹ - so ein Quatsch!«, schrie der Professor aufgebracht. »›Diversionen gegen das Raketenabwehrsystem‹ - alles Blödsinn! Schaut nach Süden, meine Herren! Nach Süden! Hinter die Blaue Schlange! Dort droht die wirkliche Gefahr. Von da werden, sich immer weiter vermehrend, Kolonnen menschenähnlicher Ungeheuer über uns hereinbrechen, um uns zu zertreten und auszulöschen. Du bist ein Blinder, Gai. Auch deine Kommandeure sind blind. Es gilt, die Zivilisation zu retten. Nicht irgendein Volk, nicht unsere Mütter und Kinder - die gesamte Menschheit!«
Gai hielt ihm zornig entgegen, das Schicksal der Menschheit interessiere ihn wenig. Er glaube nicht an solche Hirngespinste, und fände sich eine Möglichkeit, die wilden Entarteten auf Honti zu hetzen, damit sie seine Heimat verschonten, so würde er dem sein ganzes Leben widmen. Der Professor nannte Gai nun, abermals aufbrausend, einen verblendeten Blinden. Die Unbekannten Väter seien wirklich Helden über alle Maßen: Sie müssten einen sehr ungleichen Kampf führen, wenn die gesamte Exekutive so erbärmlich sei und dermaßen mit Blindheit geschlagen, wie Gai … Gai widersprach lieber nicht. Seiner Meinung nach hatte Onkelchen Kaan keine Ahnung von Politik und wurde seinen Fossilen immer ähnlicher. Nun fiel Mak ins Gespräch ein und wollte von dem Entarteten erzählen, der schon vor dem Krieg gegen die Obrigkeit gekämpft hatte. Aber Gai schnitt ihm das Wort ab, damit er kein Dienstgeheimnis ausplauderte. Dann bat er Rada, das Hauptgericht zu bringen, und Mak, den Fernseher einzuschalten. »Heute wurde schon zu viel geredet«, sagte er. »Gönnt einem Soldaten beim Ausgang ein wenig Entspannung.«
Aber Gais Phantasie war geweckt; im Fernsehen lief Unsinn, und so begann er, von den wilden Entarteten zu erzählen. Er wusste ja manches über sie - schließlich hatte er, Gott sei Dank!, drei Jahre gegen sie gekämpft und nicht im Hinterland gehockt wie gewisse Philosophen … Rada war wegen des Onkels gekränkt und schimpfte Gai einen Angeber. Der Onkel und Mak hingegen ergriffen, wer weiß, warum, für ihn Partei und baten ihn weiterzureden. Gai aber stellte sich stur: Kein Wort würde er mehr sagen. Zum einen war er tatsächlich ein wenig beleidigt, zum anderen konnte er sich trotz aller Mühe an nichts erinnern, womit er die dummen Ideen des alten Säufers hätte widerlegen können. Die Entarteten des Südens waren in der Tat grausame, absolut gnadenlose Wesen und würden ohne Zweifel bei der ersten Gelegenheit die ganze Menschheit ausrotten; vielleicht hätten sie sogar Spaß dabei. Dann aber kam Gai die Idee, dem Onkel eine These aufzutischen, die er einmal von Sef, dem Ältesten der 134. Todeskandidaten-Gruppe, gehört hatte. Nach Auffassung der Rotvisage rührten die zunehmenden Aktivitäten der Missgeburten daher, dass auch ihnen die radioaktive Wüste zu schaffen machte und sie nicht mehr wussten, wo sie bleiben sollten. Der einzige Ausweg für sie schien der gewaltsame Vorstoß nach Norden zu sein, in die nichtradioaktiven Gebiete des Landes.
»Wer hat das behauptet?«, fragte der Onkel verächtlich. »Von welchem Vollidioten stammt dieser vollkommen primitive Gedanke?«
Gai sah ihn schadenfroh an und antwortete gewichtig: »Das ist die Meinung eines gewissen Allu Sef, Träger des Kaiserlichen Forschungspreises, eines der bedeutendsten Psychiater unseres Landes.«
»Und wo hast du ihn getroffen?«, erkundigte sich von oben herab der Onkel. »In der Kompanieküche?«
Gai wollte schon herausplatzen, woher er Sef kannte, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Er setzte eine bedeutende Miene auf, schaute zum Fernseher und lauschte dann sehr aufmerksam dem Wetterbericht.
In dem Moment aber, Massaraksch!, mischte sich schon wieder Mak ein. »Ich kann«, sagte er, »die Missgeburten im Süden als neue menschliche Rasse akzeptieren. Aber wo ist die Verbindung zwischen ihnen und dem Hausbesitzer Renadu, zum Beispiel? Renadu zählt auch als Entarteter, gehört aber sicher nicht zur neuen, sondern zur uralten Art von Menschen.« Darüber hatte Gai nie nachgedacht, und er war froh, dass jetzt der Onkel in die Bresche sprang: Onkelchen Kaan erklärte, dass die städtischen, »getarnten« Entarteten nichts anderes seien als zufällig heil davongekommene Exemplare dieser neuen Gattung, die ansonsten in den zentralen Gebieten fast völlig vernichtet wurde. Er entsinne sich noch an diese Gräuel. Man hatte die missgebildeten Säuglinge gleich nach ihrer Geburt getötet, manchmal auch die Mütter. Und nur diejenigen hätten überlebt, deren neue Artmerkmale äußerlich nicht erkennbar gewesen seien. Onkel Kaan trank sein fünftes Glas leer, kam in Fahrt und entwickelte einen genauen Plan für die umfassende, totale medizinische Überprüfung der Bevölkerung. Diese müsse früher oder später unweigerlich durchgeführt werden - lieber früher als später. Und keine legalen Entarteten! Keine Nachsicht! Das Unkraut müsse schonungslos ausgerottet werden.
Damit beendeten sie ihr Essen. Rada spülte das Geschirr. Der Onkel, der keine Einwände erwartete, sah sich siegesgewiss um, verschloss den Flachmann, steckte ihn ein und murmelte, er gehe jetzt, um diesem Nichtskönner Schapschu eine Antwort zu schreiben. Aus irgendeinem Grund nahm er sein Glas mit. Gai sah ihm hinterher - die abgewetzte Jacke, die alten, geflickten Hosen, die gestopften Socken und abgetragenen Pantoffeln, und der Alte tat ihm leid. Verfluchter Krieg! Früher gehörte dem Onkel eine große Wohnung, er hatte eine Frau, einen Sohn, ein Dienstmädchen, besaß kostbares Geschirr, Geld, sogar einen Landsitz - und jetzt? Ein verstaubtes Arbeitszimmer voller Bücher, in dem er auch schlief und wohnte, schäbige Kleider. Er war einsam, vergessen … Gai schob sich den Sessel näher zum Fernseher, räkelte sich und blickte schläfrig auf den Bildschirm. Mak saß noch einige Zeit neben ihm, war dann aber plötzlich verschwunden - vollkommen lautlos, wie nur er es konnte. Schon befand er sich in der anderen Ecke des Zimmers und stöberte in Gais kleiner Bibliothek. Er griff sich ein Lehrbuch heraus und blätterte darin, im Stehen, die Schulter gegen den Kleiderschrank gelehnt. Jetzt setzte sich Rada zu ihrem Bruder, begann zu stricken und verfolgte mit halbem Auge das Fernsehprogramm. Im Haus wurde es ruhig und friedlich. Gai nickte ein.
Er träumte unsinniges Zeug: In einem eisernen Tunnel fing er zwei Entartete, verhörte sie und merkte plötzlich, dass einer von ihnen Mak war. Der andere sagte, mild und gutherzig lächelnd: »Du hast die ganze Zeit geirrt, Gai. Du gehörst zu uns. Der Rittmeister ist ein professioneller Mörder, ohne Patriotismus, ohne wahre Treue. Er tötet gern, so wie du gern Garnelensuppe isst.« Und Gai drückten Zweifel, er fühlte, gleich würde er alles verstehen. Noch eine Sekunde, und keine einzige Frage wäre mehr offen. Diese ungewohnte Empfindung quälte ihn so sehr, dass sein Herzschlag aussetzte und er erwachte.
Rada und Mak plauderten leise über Nichtigkeiten - das Baden im Meer, den Sand, die Muscheln. Gai aber hörte nicht zu. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, er könne tatsächlich zu Zweifeln fähig sein, zum Schwanken, zur Unsicherheit. Im Traum hatte er gezweifelt. Bedeutete das nun, dass er auch in Wirklichkeit unter diesen Umständen unsicher wäre? Einige Zeit versuchte er, sich des Traumes in allen Einzelheiten zu erinnern, aber er entglitt ihm, wie Seife aus nassen Händen. Am Ende erschien er ihm ganz und gar unwahrscheinlich, und Gai dachte erleichtert, es seien wohl doch nur Hirngespinste gewesen. Als Rada sah, dass er nicht schlief, fragte sie ihn, was er für besser halte, Meer oder Fluss, und Gai antwortete militärisch knapp, im Stil des alten Doga: »Am besten ist ein gutes Schwitzbad.«
Im Fernsehen lief jetzt Ornamente. Es war langweilig. Gai schlug vor, Bier zu trinken. Rada ging in die Küche und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Sie sprachen über dies und jenes, wobei sich herausstellte, dass Mak in der vergangenen halben Stunde ein komplettes Lehrbuch der Geopolitik durchgearbeitet hatte. Rada war begeistert. Gai aber wollte es nicht glauben. Er behauptete, in dieser Zeit hätte man das Buch durchblättern, bestenfalls den Text überfliegen können - allerdings rein mechanisch und ohne etwas zu verstehen oder sich gar etwas zu merken. Mak schlug eine Prüfung vor, und Gai erklärte sich bereit. Sie schlossen folgende Wette: Der Verlierer sollte zu Onkelchen Kaan gehen und ihm sagen, Kollege Schapschu sei ein kluger Mann und ein hervorragender Wissenschaftler. Gai öffnete das Lehrbuch, fand am Ende eines Kapitels Kontrollfragen und begann: »Worin besteht die moralische Größe der Nordexpansion unseres Staates?« Mak antwortete mit eigenen Worten, blieb jedoch sehr nahe am Text und fügte hinzu, von moralischer Größe könne seiner Meinung nach keine Rede sein, entscheidend sei die Aggressivität der Regimes in Honti und Pandea. Gai fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, feuchtete einen Finger an und überschlug einige Seiten. »Wie hoch ist die mittlere Getreideernte in den nordwestlichen Gebieten?« Mak lachte und sagte, Daten über die nordwestlichen Gebiete gebe es nicht. Es war unmöglich, ihm eine Falle zu stellen. Rada jubelte und streckte dem Bruder die Zunge heraus. »Welcher spezifische demografische Druck besteht im Mündungsgebiet der Blauen Schlange?«, fragte Gai. Mak nannte die Zahl, auch die Toleranzquote, und versäumte nicht hinzuzufügen, dass er die Bezeichnung »demografischer Druck« vage finde. Jedenfalls begreife er nicht, weshalb sie eingeführt worden sei. Gai begann ihm zu erklären, dass »demografischer Druck« die Maßeinheit für die Aggressivität sei, doch da fiel ihm Rada ins Wort: Er lenke ab und wolle sich wohl vor der weiteren Prüfung drücken, weil er am Verlieren sei.
Gai hatte tatsächlich überhaupt keine Lust, zu Onkel Kaan zu gehen. Und um Zeit zu gewinnen, fing er einen Streit mit Rada an. Mak hörte eine Weile zu und sagte dann ganz unvermittelt, Rada dürfe keinesfalls wieder als Kellnerin arbeiten - sie müsse studieren. Froh über den Themenwechsel, rief Gai, er habe das schon tausendmal gesagt und ihr vorgeschlagen, sich um Aufnahme in das Frauenkorps der Garde zu bemühen, wo man einen wahrhaft nützlichen Menschen aus ihr machen werde. Weiter kamen sie in diesem Gespräch nicht; Mak schüttelte nur den Kopf, und Rada äußerte sich, wie auch schon früher, sehr respektlos über das Frauenkorps.
Gai aber wollte nicht streiten; er warf das Lehrbuch hin, holte die Gitarre aus dem Schrank und begann sie zu stimmen. Sofort schoben Rada und Mak den Tisch beiseite und stellten sich einander gegenüber. Gai schlug kräftige Akkorde an, klopfte den Takt und sah zu, wie sie tanzten. Ein schönes Paar, dachte er, doch es gab keinen Platz, wo sie hätten zusammenleben können. Heirateten sie, müsste Gai in die Kaserne ziehen, was aber nicht so schlimm wäre, denn viele Korporale wohnten dort. Doch Mak wirkte überhaupt nicht heiratslustig. Er behandelte Rada eher wie einen guten Freund, wenn auch zartfühlender, achtungsvoller. Rada hingegen war ganz sicher in ihn verliebt. Wie ihre Augen glänzten! In so einen Burschen musste man sich wohl einfach verlieben. Sogar die alte Madam Go, die schon weit über sechzig war, hatte es erwischt: Kam Mak den Flur entlang, öffnete sie die Tür, steckte ihren Schädel heraus und grinste über das ganze Gesicht. In der Tat, Mak war im ganzen Haus beliebt. Auch die Jungs mochten ihn. Nur der Herr Rittmeister behandelte ihn seltsam, obwohl auch er nicht leugnete, dass der Bursche ein Teufelskerl war.
Die beiden tanzten bis zum Umfallen. Dann ließ sich Mak Gais Gitarre geben, stimmte sie auf seine merkwürdige Weise und fing an, diese eigenartigen Gebirgslieder zu singen. So viele Lieder - und kein einziges war ihnen bekannt. Jedes Mal etwas Neues. Und seltsam: Obwohl sie nichts verstanden, war ihnen vom bloßen Zuhören mal zum Weinen und mal zum Lachen zumute. Einige Melodien hatten sich Rada schon eingeprägt, und sie versuchte jetzt mitzusummen. Besonders gefiel ihr ein Scherzlied (Mak hatte es übersetzt) von einem Mädchen, das auf einem Berg sitzt und auf seinen Freund wartet. Der aber kann einfach nicht zu ihr gelangen, denn erst hindert ihn das eine, dann das andere … Spiel und Gesang übertönten das Läuten an der Haustür. Gleich darauf klopfte es, und ins Zimmer stürmte der Bursche des Herrn Rittmeisters Tschatschu.
»Herr Korporal, gestatten zu melden!«, schnarrte der Gardist und schielte zu Rada.
Mak unterbrach sein Gitarrenspiel. Gai sagte: »Melden Sie!«
»Befehl vom Herrn Rittmeister: Sie und Anwärter Sim haben sofort in der Schreibstube der Kompanie zu erscheinen. Das Auto wartet unten.«
Gai sprang auf. »Wegtreten!«, rief er. »Gehen Sie zum Wagen, wir kommen nach. Zieh dich schnell an!«, drängte er Maxim.
Rada nahm die Gitarre in die Arme, behutsam wie einen Säugling, und stellte sich ans Fenster, das Gesicht abgewandt.
Gai und Mak zogen sich eilig an.
»Was meinst du, worum es geht?«, fragte Mak.
»Was weiß ich«, brummte Gai. »Vielleicht Probealarm.«
»Mir gefällt das nicht«, sagte Mak.
Gai sah ihn an. Dann schaltete er das Radio ein, vielleicht war dort etwas zu erfahren. Aber wie immer um diese Zeit, brachte man »Müßige Gespräche tatkräftiger Frauen«. Inzwischen hatten sie auch das Koppel umgeschnallt, und Gai murmelte: »Rada, wir gehen.«
»Geht«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen.
»Los, Mak!« Gai stülpte sich das Barett auf.
»Ruft an«, bat Rada. »Wenn es länger dauert, ruft unbedingt an.« Sie blickte immer noch aus dem Fenster.
Der Bursche des Rittmeisters öffnete Gai beflissen die Wagentür. Dann stiegen sie ein und fuhren los. Es bestand tatsächlich Grund zur Eile, denn der Fahrer raste mit eingeschalteter Sirene los und fuhr auf der Reservespur. Gai bedauerte, dass der Abend so geendet hatte; es war einer dieser seltenen, sehr schönen Abende zu Hause gewesen, gemütlich, sorglos. Aber so war das Gardistenleben. Nur ein paar Minuten nach der Flasche Bier, dem Pyjama und den Liedern zur Gitarre kann es heißen: Panzer besteigen, schießen! So war das wunderbare Leben der Gardisten, und es war das beste von allen möglichen. Sie brauchten weder Freundinnen noch Ehefrauen, und Mak tat gut daran, Rada nicht zu heiraten, obwohl sie natürlich zu bedauern war. Macht nichts, dachte er, würde sie eben warten. Wenn sie ihn liebte, wartete sie.
Der Wagen rollte auf den Platz und bremste vor dem Kasernentor. Gai stieg schnell aus und lief die Stufen hinauf. Vor der Tür zur Schreibstube blieb er stehen, überprüfte den Sitz seines Baretts und der Gürtelschnalle, brachte Maxims Äußeres in Ordnung (Massaraksch! Immer stand ihm dieser Kragenknopf offen!) und klopfte. »Herein!«, krächzte die vertraute Stimme. Gai erstattete Meldung. Rittmeister Tschatschu saß in Mantel und Mütze an seinem Tisch, trank Kaffee und rauchte, die Granathülse vor ihm war voller Zigarettenstummel. Seitlich lagen zwei Maschinenpistolen. Der Rittmeister erhob sich langsam, stützte beide Hände schwer auf den Tisch, sah Mak an und sagte: »Anwärter Sim. Du hast dich als hervorragender Kämpfer und treuer Kamerad bewährt, so dass ich beim Brigadekommandeur um deine vorzeitige Beförderung zum Ordentlichen Soldaten der Kämpfenden Garde nachgesucht habe. Deine Feuertaufe hast du erfolgreich bestanden. Bleibt die letzte Prüfung - durch Blut.«
Gai hatte nicht erwartet, dass dies so bald geschehen würde, und sein Herz hüpfte vor Freude. Der Herr Rittmeister war ein Mordskerl! Ein alter Haudegen! Und er, Gai, dumm, wie er war, hatte geglaubt, Rittmeister Tschatschu versuche Mak hereinzulegen. Gai warf dem Freund einen Blick zu, und seine Begeisterung wurde sogleich gedämpft: Maks starres Gesicht und seine aufgerissenen Augen entsprachen zwar ganz und gar der Vorschrift, doch gerade in dieser Situation hätte er sie nicht so streng zu befolgen brauchen.
»Ich übergebe dir hier den Befehl, Anwärter Sim.« Der Rittmeister reichte Mak einen Bogen Papier. »Den ersten schriftlichen Befehl an dich persönlich. Ich hoffe, es ist nicht der letzte. Lies ihn durch und unterschreib.«
Mak überflog das Schreiben. Wieder stockte Gai das Herz - aber nicht vor Freude, sondern in der Vorahnung von etwas Ungutem. Maks Miene war noch immer ungerührt, und alles schien in Ordnung zu sein, doch er hatte ein wenig gezögert, ehe er den Stift nahm und unterschrieb. Rittmeister Tschatschu sah die Unterschrift kurz an und legte das Blatt in seine Tasche.
»Korporal Gaal!« Er reichte Gai einen verschlossenen Umschlag vom Tisch. »Geh zur Arrestzelle und bring uns die Verurteilten. Nimm die MP mit … nein, diese dort, die am Rand liegt.«
Gai hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter, machte kehrt und wandte sich zur Tür. Er hörte noch, wie der Rittmeister zu Mak sagte: »Macht nichts, Anwärter, keine Bange! Schlimm ist’s nur beim ersten Mal.«
Im Laufschritt überquerte Gai den Platz, händigte dem wachhabenden Offizier im Brigadegefängnis das Kuvert aus, unterschrieb an der vorgesehenen Stelle und erhielt seinerseits alle nötigen Bescheinigungen. Dann brachte man ihm die Verurteilten. Es waren zwei der ehemaligen Verschwörer - der dicke Mann, dem Mak die Finger ausgerenkt hatte, und die Frau. Massaraksch, das fehlte gerade! Die Frau hätte es nicht zu sein brauchen, das war nichts für Mak. Gai führte die Gefangenen hinaus auf den Platz und trieb sie zur Kaserne. Der Mann setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, sein Arm schlenkerte. Die Frau hingegen hielt sich steif wie ein Stock, hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und schien weder etwas zu hören noch zu sehen. Massaraksch, warum sollte sie nichts für Mak sein? Dieses Weib war genauso ein Scheusal wie der Mann. Weshalb sollten sie ihr irgendwelche Sonderrechte zubilligen? Und weshalb, Massaraksch, sollte der Anwärter Sim Sonderrechte genießen? Mochte er sich dran gewöhnen, Massaraksch und Massaraksch.
Der Herr Rittmeister und Mak saßen bereits im Wagen. Der Herr Rittmeister hinterm Steuer, Mak, die Maschinenpistole zwischen den Knien, auf dem Rücksitz. Gai öffnete die Tür, und die Verurteilten krochen hinein. »Auf den Boden!«, befahl er. Gehorsam ließen sie sich auf dem Eisenboden nieder. Gai nahm Mak gegenüber Platz. Er versuchte, einen Blick von ihm zu erhaschen, doch Mak sah die Verurteilten an. Nein, er starrte auf die Frau, die mit angezogenen Knien in sich zusammengesunken schien. Ohne sich umzudrehen, fragte der Rittmeister: »Fertig?«, und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Unterwegs wurde nicht gesprochen. Rittmeister Tschatschu fuhr sehr schnell - wohl, um die Sache erledigt zu haben, bevor es dämmerte. Wozu auch trödeln. Nach wie vor hielt Mak seine Augen auf die Frau gerichtet, so als wollte er, dass ihre Blicke sich träfen. Und Gai suchte noch immer nach Maks Blick. Die Verurteilten rutschten, sich gegenseitig stützend, auf dem Boden hin und her, der Dicke begann ein Gespräch mit der Frau, doch Gai schrie ihn an. Sie verließen jetzt die Stadt, passierten den südlichen Sicherheitsposten und bogen gleich darauf in einen halb zugewachsenen Feldweg, der zu den Rosa Höhlen führte. Gai kannte ihn, er kannte ihn sogar sehr gut … Das Auto rumpelte, man konnte sich kaum halten. Mak hob seine Augen nach wie vor nicht, und diese Halbtoten gingen Gai allmählich auf die Nerven: griffen ihm immerfort an die Knie, um die Stöße abzufangen. Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten und hieb diesem dicken Kerl seinen Stiefel in die Rippen. Doch auch das half nicht; der Kerl versuchte, sich weiter festzuhalten. Sie fuhren noch eine Kurve, dann bremste der Wagen scharf und rollte langsam in einen Steinbruch. Der Herr Rittmeister schaltete den Motor aus und befahl: »Aussteigen!«
Es war schon etwa sechs Uhr abends, im Gelände sammelte sich Abenddunst, die verwitterten Felsen schimmerten rosig. Früher hatte man hier Marmor gewonnen. Doch wer brauchte den jetzt noch …
Bald würde es so weit sein. Mak war noch immer der ideale Soldat: keine überflüssige Bewegung, das Gesicht starr und gleichgültig, die Augen in Erwartung der Befehle auf den Vorgesetzten gerichtet. Der dicke Gefangene hielt sich wacker, würdevoll. Scherereien würde es mit ihm wohl nicht geben. Das Weib aber verlor zu guter Letzt doch noch die Fassung. Krampfhaft presste sie immer wieder die Fäuste gegeneinander, drückte sie an die Brust und ließ sie wieder sinken. Ganz ohne Hysterie wird es nicht abgehen, dachte Gai, aber zur Exekution werden wir sie wohl trotzdem nicht schleifen müssen.
Der Herr Rittmeister steckte sich eine Zigarette an, schaute zum Himmel und wies Mak an: »Führe sie diesen Pfad entlang. Bei den Höhlen siehst du dann schon, wohin du sie stellen musst. Hinterher prüfst du auf jeden Fall, ob sie tot sind. Notfalls erledigst du sie mit einem Kontrollschuss. Weißt du, was das ist?«
»Jawohl!«, antwortete Mak mit ungerührter Stimme.
»Du lügst, du weißt es nicht. In den Kopf musst du treffen. Und nun los, Anwärter! Zurückkommen wirst du als Ordentlicher Soldat.«
In diesem Moment ließ sich die Frau vernehmen: »Wenn wenigstens einer von euch ein Mensch ist … sagt es meiner Mutter … Entensiedlung Nummer zwei … ganz in der Nähe … Sie heißt …«
»Erniedrige dich nicht!«, hörte man den tiefen Bass des dicken Mannes.
»Sie heißt Illi Tader …«
»Du sollst dich nicht erniedrigen!« Der Untersetzte hob die Stimme. Ohne auszuholen, schlug ihm Rittmeister Tschatschu mit der Faust ins Gesicht. Der Gefangene verstummte, griff sich an die Wange und blickte den Rittmeister hasserfüllt an.
»Los, Anwärter!«, wiederholte dieser.
Mak wandte sich den Verurteilten zu, machte eine Bewegung mit seiner Maschinenpistole, und die beiden betraten den Pfad. Die Frau drehte sich noch einmal um und rief: »Entensiedlung zwei, Illi Tader!«
Mak folgte ihnen langsam, die Maschinenpistole im Anschlag. Der Rittmeister öffnete die Wagentür, setzte sich seitlich auf den Fahrersitz und streckte die Beine aus.
»Na, dann warten wir ein Viertelstündchen.«
»Jawohl, Herr Rittmeister«, antwortete Gai mechanisch.
Er folgte Mak mit den Augen, bis die Gruppe hinter einem Felsvorsprung verschwunden war. Auf dem Rückweg kaufen wir eine Flasche Schnaps, dachte er. Soll er sich betrinken. Man sagt, das hilft.
»Du darfst rauchen, Korporal«, krächzte der Rittmeister.
»Danke, Herr Rittmeister, ich rauche nicht.«
Rittmeister Tschatschu spuckte weit aus. »Fürchtest du nicht, dein Freund könnte dich enttäuschen?«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Gai unsicher. »Obwohl es mir, wenn Sie erlauben, sehr leidtut, dass ihm die Frau zufiel. Er ist ein Gebirgler, und bei denen …«
»Er ist so wenig Gebirgler wie du und ich«, unterbrach ihn Rittmeister Tschatschu. »Und hier geht es auch nicht um Frauen. Übrigens, warten wir ab. Womit wart ihr beschäftigt, als ich euch holen ließ?«
»Wir haben gesungen, Herr Rittmeister.«
»Und was habt ihr gesungen?«
»Gebirgslieder, Herr Rittmeister. Er kennt viele.«
Rittmeister Tschatschu stieg aus und ging auf dem Pfad hin und her. Er sagte nichts mehr. Nach etwa zehn Minuten fing er an, den »Marsch« zu pfeifen. Gai wartete auf die Schüsse, doch sie fielen nicht. Langsam wurde er unruhig. Mak zu entkommen war unvorstellbar, ihn zu entwaffnen ebenso. Warum also schoss er nicht? Vielleicht hatte er die Gefangenen weiter geführt als bis zur üblichen Stelle? Dort stank es, die Gräber für die Hingerichteten waren flach, und Mak hatte einen sehr gut entwickelten Geruchssinn. Der brachte es fertig, einzig und allein vor Ekel noch fünf Kilometer weiter zu gehen.
»So …« Der Herr Rittmeister blieb stehen. »Das war’s, Korporal Gaal! Ich fürchte, deinen Freund sehen wir nicht wieder. Und du bist vermutlich die längste Zeit Korporal gewesen.«
Gai sah ihn verwundert an. Der Rittmeister grinste.
»Was glotzt du denn wie das Schwein auf den Schinken? Dein Freund ist geflohen, desertiert! Er ist ein Feigling und Verräter! Klar, Soldat Gaal?«
Gai war bestürzt. Weniger wegen Rittmeister Tschatschus Worten als durch seinen Ton. Der Herr Rittmeister war begeistert. Der Herr Rittmeister triumphierte. Der Herr Rittmeister strahlte, als hätte er das große Los gezogen. Unwillkürlich glitt Gais Blick in die Tiefe des Steinbruchs. Und da sah er Mak. Er kehrte zurück. Allein. Die Maschinenpistole baumelte am Riemen in seiner Hand.
»Massaraksch!« Der Rittmeister hatte Mak jetzt auch entdeckt und schien verwirrt.
Schweigend verfolgten sie, wie Mak über das Geröll balancierte und langsam näher kam, sahen seine ruhigen, gutmütigen Gesichtszüge, die seltsamen Augen - und in Gais Kopf kreiste alles: Schüsse waren nicht zu hören gewesen. Hatte Mak die Verurteilten etwa erwürgt oder mit dem Kolben erschlagen, er, eine Frau? Nein, Unsinn. Doch Schüsse hatte es nicht gegeben. Fünf Schritte vor ihnen blieb Mak stehen, blickte Rittmeister Tschatschu ins Gesicht und warf ihm die Maschinenpistole vor die Füße.
»Leben Sie wohl, Herr Rittmeister«, sagte er. »Diese unglücklichen Menschen habe ich laufen lassen, und jetzt gehe ich auch. Hier ist Ihre Waffe, die Uniform.« Während er das Koppel löste, wandte er sich an Gai: »Das ist eine schmutzige Sache, Gai. Sie haben uns betrogen.«
Er zog die Stiefel und den Overall aus, rollte alles zu einem Bündel zusammen und war jetzt so, wie Gai ihn zum ersten Mal gesehen hatte: an der Südgrenze, fast nackt, nur mit kurzen, silbrig glänzenden Shorts bekleidet, jetzt sogar barfuß. Er ging zum Wagen und legte das Bündel auf die Kühlerhaube. Gai erschrak. Dann sah er zu Rittmeister Tschatschu hinüber und erschrak noch mehr.
»Herr Rittmeister!«, rief er. »Er ist verrückt! Er hat wieder …«
»Anwärter Sim!«, blaffte der Rittmeister, die Hand an der Pistolentasche. »Steigen Sie in den Wagen! Sie sind verhaftet.«
»Nein«, entgegnete Mak. »Sie irren. Ich bin frei. Ich bin hier, um Gai zu holen. Gai, komm! Sie haben dich reingelegt. Sie sind nicht anständig. Früher habe ich’s geahnt, jetzt bin ich sicher.«
Gai schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erklären, doch er fand weder Worte noch hatte er Zeit dazu. Der Rittmeister zog die Pistole. »Anwärter Sim! In den Wagen!«, schnauzte er.
»Kommst du?«, fragte Mak.
Wieder schüttelte Gai den Kopf. Er starrte auf die Waffe in Rittmeister Tschatschus Hand und dachte nur eins: Gleich würde Mak erschossen. Und er wusste nicht, was er tun sollte.
»Na gut«, lenkte Mak ein. »Ich finde dich. Ich bringe Licht in diese Angelegenheit und finde dich. Dein Platz ist nicht hier. Gib Rada einen Kuss!«
Er drehte sich um und ging davon, über die Steine, barfuß, und ebenso leicht wie zuvor in seinen Stiefeln. Gai zitterte am ganzen Leib und blickte stumm auf Maks breiten Rücken; er wartete auf den Schuss, das schwarze kleine Loch unter dem linkem Schulterblatt.
»Anwärter Sim!« Die Stimme des Rittmeisters klang unbeteiligt. »Ich befehle Ihnen umzukehren. Andernfalls schieße ich.«
Mak hielt an, drehte sich noch einmal um.
»Schießen?«, sagte er. »Auf mich? Warum? Aber das ist jetzt unwichtig. Geben Sie mir Ihre Waffe.«
Der Herr Rittmeister zielte aus der Hüfte und richtete langsam die Mündung auf Mak.
»Ich zähle bis drei. Setz dich ins Auto, Anwärter! Eins …«
»Nun geben Sie mir schon die Pistole.« Mak näherte sich mit ausgestreckter Hand dem Rittmeister
»Zwei!«, krächzte der Rittmeister.
»Nicht!«, schrie Gai.
Der Herr Rittmeister schoss. Mak stand schon nahe. Die Kugel traf ihn in die Schulter, und er fuhr zurück, als sei er auf ein Hindernis gestoßen.
»Narr!«, sagte Mak. »Geben Sie Ihre Waffe her, Sie dummer, böser Narr!«
Er blieb nicht stehen, sondern kam, die Hand nach der Pistole ausgestreckt, immer näher, und aus dem Loch in seiner Schulter quoll plötzlich Blut. Der Herr Rittmeister gab einen merkwürdigen Laut von sich, wich zurück und schoss dreimal, schnell nacheinander, direkt in die breite, braune Brust. Mak wurde nach hinten geschleudert, fiel auf den Rücken, sprang wieder auf, stürzte noch einmal, erhob sich halb - und der Rittmeister, dem vor Erregung die Knie eingeknickt waren und der halb am Boden saß, traf ihn mit noch drei Kugeln. Mak wälzte sich auf den Bauch. Dann lag er starr.
Vor Gais Augen verschwamm alles, die Füße trugen ihn nicht mehr, und er sank auf das Trittbrett des Wagens. In seinen Ohren hallte das abscheuliche laute Knirschen, mit dem die Kugeln in den Körper dieses merkwürdigen, ihm aber so lieben Menschen eingedrungen waren. Kurze Zeit später kam er wieder zur Besinnung, blieb aber noch eine Weile sitzen, da er noch nicht riskieren wollte, sich auf die Beine zu stellen.
Maks gebräunter Körper lag zwischen weißrosa Steinen und war selbst reglos wie ein Stein. Rittmeister Tschatschu hockte noch an derselben Stelle, hielt die Pistole im Anschlag und rauchte gierig, tief inhalierend. Gai beachtete er nicht. Als ihm die Glut die Lippen versengte, warf er den Stummel weg und machte zwei Schritte auf den Toten zu. Der zweite geriet schon sehr kurz - er konnte sich nicht entschließen, näher an den Toten heranzutreten. Aus zehn Schritt Entfernung feuerte er den Kontrollschuss, traf aber nicht; Gai sah, wie neben Maks Kopf Steinstaub aufgewirbelt wurde.
»Massaraksch!«, fauchte der Rittmeister und nestelte an seiner Pistolentasche.
Er brauchte lange, um die Waffe einzustecken, konnte den Knopf einfach nicht schließen. Dann kam er zu Gai, packte ihn mit der verkrüppelten Hand an der Uniform und zog ihn mit einem Ruck hoch. Heftig atmete er ihm ins Gesicht und lallte wie ein Betrunkener: »Schön. Du bleibst Korporal. Doch in der Garde hast du nichts mehr zu suchen. Du beantragst deine Versetzung in die Armee. Steig ein.«
 
 
 
»Irgendetwas stinkt hier …«
 
»Irgendetwas stinkt hier«, sagte der Papa.
»Wirklich?«, sagte der Schwiegervater. »Ich rieche nichts.«
»Es stinkt, es stinkt«, sagte der Schwager angewidert. »Nach irgendwas Verfaultem. Wie auf dem Müllplatz.«
»Dann schimmeln vielleicht die Wände«, entschied der Papa.
»Gestern habe ich den neuen Panzer gesehen«, sagte der Onkel. »Einen ›Vampir‹. Ideale Abdichtung. Thermische Schranke bis tausend Grad.«
»Sie haben wahrscheinlich schon unter dem seligen Kaiser geschimmelt«, sagte der Papa, »und nach dem Umsturz wurden sie nicht renoviert.«
»Hat er es bestätigt?«, wollte der Vetter vom Onkel wissen.
»Hat er«, sagte der Onkel.
»Und wann geht er in Serie?«, fragte der Vetter.
»Ist er schon«, sagte der Schwiegervater. »Zehn Stück pro Tag.«
»Mit euren Panzern stehen wir bald ohne Hosen da«, sagte der Schwager mürrisch.
»Lieber ohne Hosen als ohne Panzer«, entgegnete der Onkel.
»Du bist Oberst gewesen«, antwortete ihm der Schwager bärbeißig, »und bist es geblieben. Willst immerzu mit Panzern spielen …«
»Irgendwie tut mir ein Zahn weh«, sagte der Papa nachdenklich. »Wanderer, ist es denn so schwer, eine schmerzlose Behandlung für Zähne zu erfinden?«
»Ich kann darüber nachdenken«, sagte der Wanderer.
»Denk lieber über die schweren Systeme nach«, sagte der Vetter verärgert.
»Ich kann auch über die schweren Systeme nachdenken«, meinte der Wanderer.
»Lasst uns heute einmal nicht über schwere Systeme reden«, schlug der Papa vor. »Lasst uns annehmen, es sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Ich finde, es ist sehr wohl der richtige Zeitpunkt dafür«, widersprach der Vetter. »Pandea hat noch eine Division an die Grenze zu Honti verlegt.«
»Und was geht dich das an?«, knurrte der Schwager.
»Viel geht mich das an«, antwortete der Vetter. »Ich habe nämlich darüber nachgedacht. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich die Pandeaner in Honti einmischen und dort im Handumdrehen ihren Mann an die Spitze bringen. Dann haben wir eine vereinigte Front von fünfzig Millionen gegen unsere vierzig.«
»Ich würde eine Menge darum geben, dass sie sich in Honti einmischen«, sagte der Schwager. »Ihr denkt immer, wer das schafft, hat einen Vorteil. Aber ich sage: Wer Honti anrührt, hat verloren.«
»Kommt darauf an, wie man es anrührt«, sagte der Schwiegervater leise. »Wenn man es vorsichtig macht, mit wenig Truppen und ohne dort stecken zu bleiben - anrühren und sich sofort zurückziehen, wenn sie aufhören, sich zu streiten … Und man müsste vor den Pandeanern da sein …«
»Was wollen wir eigentlich?«, fragte der Onkel. »Hontianer, die auf unserer Seite sind, vereinigte Hontianer ohne Bürgerkrieg oder tote Hontianer - ohne Invasion ist das alles nicht zu haben. Wir sollten uns auf eine Invasion einigen; alles Weitere sind dann schon Einzelheiten. Für jede Variante haben wir unseren Plan schon fertig.«
»Du willst uns partout ohne Hosen dastehen lassen«, sagte der Schwager. »Wenn es nach dir geht - ohne Hosen, Hauptsache mit Orden. Was bringt dir ein vereinigtes Honti, wenn du ein gespaltenes Pandea haben kannst?«
»Spekulatives Geschwätz«, bemerkte der Vetter, ohne sich direkt an jemanden zu wenden.
»Das ist nicht lustig«, sagte der Schwager. »Unrealistische Varianten bringe ich hier nicht vor. Wenn ich etwas sage, habe ich dafür Gründe.«
»Du kannst kaum ernsthafte Gründe haben«, sagte der Schwiegervater sanft. »Dich lockt ja nur, dass die Lösung so einfach scheint, und ich kann dich verstehen. Aber das Nordproblem ist mit einem geringen Einsatz von Mitteln nicht zu lösen. Dort hilft weder Putsch noch Umsturz. Dein Vorgänger hat Honti gespalten, und jetzt müssen wir es wieder vereinigen. Putsch, Gegenputsch - wenn wir nicht aufpassen, treiben wir es in die Revolution. Bei denen ist es nicht wie bei uns …«
»Und du, Schlaukopf, warum sagst du nichts?«, fragte der Papa. »Du bist doch bei uns der Schlaukopf.«
»Wenn die Väter sprechen, halten kluge Kinder den Mund«, antwortete der Schlaukopf lächelnd.
»Nun sag schon, sag.«
»Ich bin kein Politiker«, wandte der Schlaukopf ein. Alle lachten, der Onkel verschluckte sich sogar. Schlaukopf fuhr fort: »Wirklich, meine Herren, da gibt es nichts zu lachen. Ich bin bloß ein hoch spezialisierter Fachmann. Und als solcher kann ich nur mitteilen, dass meinen Informationen zufolge die Stimmung im Offizierskorps der Armee zum Krieg neigt.«
»Ach so?«, sagte der Papa und musterte ihn eindringlich. »Du also auch?«
»Entschuldige, Papa«, sagte der Schlaukopf hitzig. »Aber jetzt ist, glaube ich, ein sehr günstiger Zeitpunkt für eine Invasion: Die Umrüstung der Armee ist fast abgeschlossen.«
»Gut, gut«, lenkte der Papa ein. »Wir werden nachher darüber reden.«
»Es ist ganz und gar unnötig, nachher darüber zu reden«, entgegnete der Schwiegervater. »Wir sind hier unter uns, und ein Fachmann ist verpflichtet, seine Ansicht zu äußern. Zu dem Zweck wurde er schließlich in den Kreis aufgenommen.«
»Apropos Fachleute«, sagte der Papa. »Warum sehe ich den Hampelmann nicht?«
»Der Hampelmann inspiziert gerade den Verteidigungsgürtel in den Bergen«, sagte der Onkel. »Aber seine Meinung ist sowieso bekannt. Er hat Angst um die Armee, als wäre es seine eigene.«
»Ja«, sagte der Papa. »Mit dem Gebirge ist nicht zu spaßen. Vetter, warst du das, der mir erzählt hat, in der Garde sei ein Spion aus den Bergen entdeckt worden? Ja, meine Herren, Norden hin, Norden her, aber im Osten warten die Berge und hinter den Bergen der Ozean. Mit dem Norden werden wir irgendwie fertig. Aber wenn ihr Krieg führen wollt - bitte, dann führen wir eben Krieg, obwohl … Wie lange kommen wir hin, Wanderer?«
»Etwa zehn Tage«, sagte der Wanderer.
»Also schön, dann können wir fünf, sechs Tage Krieg führen.«
»Der Plan für die Tiefeninvasion«, sagte der Onkel, »sieht die Zerschlagung Hontis binnen acht Tagen vor.«
»Guter Plan«, stimmte der Papa zu. »In Ordnung, beschließen wir’s … Du scheinst dagegen zu sein, Wanderer?«
»Mich geht das nichts an«, sagte der.
»Gut«, beschied der Papa. »Sei ruhig dagegen. Was ist, Schwager, schließen wir uns der Mehrheit an?«
»Ach!«, sagte der Schwager erbost. »Macht doch, was ihr wollt … Und er hatte Angst vor einer Revolution …«
»Papa!«, triumphierte der Schwiegervater. »Ich wusste, dass du auf unserer Seite stehst!«
»Klar doch!«, sagte der Papa. »Was sollte ich auch ohne euch machen? Ich erinnere mich, früher besaß ich im Generalgouvernement Honti Bergwerke, Kupfer. Was wohl aus denen geworden ist? Ja, Schlaukopf! Jetzt werden wir die öffentliche Meinung organisieren müssen. Du hast dir sicher schon etwas ausgedacht, bist ja unser Schlaukopf.«
»Natürlich, Papa. Alle Vorkehrungen sind bereits getroffen.«
»Irgendein Attentat? Oder ein Überfall auf die Türme? Geh gleich los und bereite mir bis zum Abend die Unterlagen vor. Wir diskutieren inzwischen den Zeitplan.«
Als der Schlaukopf die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte der Papa: »Du wolltest uns etwas über Wasserblase mitteilen, Wanderer?«
Gesammelte Werke 1
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