ZWEITER TEIL
Gardist
5
Rittmeister Tschatschu beendete seine Unterweisung
und befahl: »Korporal Gaal, Sie bleiben. Die Übrigen können
gehn.«
Nachdem die Kommandanten im Gänsemarsch und dicht
auf Vordermann den Raum verlassen hatten, sah der Rittmeister Gai
eine Zeit lang an. Dabei wippte er mit seinem Stuhl und pfiff das
alte Soldatenlied »Gib Ruhe, Alte«. Rittmeister Tschatschu war ganz
anders als Rittmeister Toot: untersetzt, kahlköpfig, mit sehr
dunklem Teint und wesentlich älter als Toot. In jüngerer
Vergangenheit hatte er als Kriegsoffizier an acht Seekonflikten
teilgenommen; er trug das Flammende Kreuz und drei Medaillen »Für
Kampfeseifer«. Geradezu legendär wurde sein Zweikampf mit einem
weißen Submarine: Sein Panzer hatte einen Volltreffer erhalten und
war in Brand geraten; Tschatschu aber hatte weitergeschossen, bis
er wegen seiner furchtbaren Verbrennungen das Bewusstsein verlor.
Man erzählte sich, an seinem Körper gebe es keine heile Stelle mehr
- überall fremde, verpflanzte Haut, und an der linken Hand fehlten
ihm drei Finger. Er war bis zur Grobheit aufrichtig, eben ein
richtiger Kämpfer. Im Gegensatz zu dem reservierten Rittmeister
Toot erachtete er es auch nie für nötig, seine Stimmung zu
verbergen - weder vor Untergebenen noch vor seinen Vorgesetzten.
War er fröhlich,
wusste das die ganze Brigade, hatte er aber schlechte Laune und
pfiff »Gib Ruhe, Alte«, dann …
Gai blickte Rittmeister Tschatschu vorschriftsmäßig
in die Augen. Bei dem Gedanken, dass er diesen vortrefflichen
Menschen verärgert haben sollte, verzweifelte er fast. Hastig
besann er sich auf seine Verfehlungen und die seiner Gardisten.
Doch er konnte sich an nichts erinnern, das nicht längst erledigt
gewesen wäre - weggewischt mit einer Geste der verstümmelten Hand
und Tschatschus heiserem, griesgrämigem »Na schön, was soll’s, ist
eben die Garde …«.
Der Rittmeister hörte auf zu pfeifen, wippte auch
nicht mehr mit dem Stuhl.
»Ich mag weder Geschwätz noch Geschreibsel,
Korporal«, sagte er. »Entweder du empfiehlst den Anwärter Sim, oder
du empfiehlst ihn nicht. Was denn nun?«
»Jawohl, Herr Rittmeister. Ich empfehle ihn«,
antwortete Gai eilfertig. »Aber …«
»Ohne ›aber‹, Korporal! Empfiehlst du ihn oder
nicht?«
»Jawohl. Ich empfehle ihn.«
»Wie soll ich dann diese beiden Schreiben
verstehen?« Der Rittmeister zog rasch zwei zusammengelegte Blätter
aus seiner Brusttasche, hielt sie mit der versehrten Hand fest und
faltete sie mit der unversehrten auf dem Tisch auseinander. »Hier
steht: ›Ich empfehle genannten Mak Sim als ergeben und fähig …‹,
das ist klar, ›zur Bestätigung im hohen Rang eines Anwärters der
Kämpfenden Garde.‹ Und jetzt dein zweiter Schrieb, Korporal: ›In
Verbindung mit Obengesagtem betrachte ich es als meine Pflicht, die
Aufmerksamkeit der Truppenführung auf die Notwendigkeit einer
sorgfältigen Überprüfung des genannten Anwärters der Kämpfenden
Garde, M. Sim, zu lenken.‹ Massaraksch! Was willst du eigentlich,
Korporal?«
»Herr Rittmeister«, antwortete Gai erregt, »ich bin
in einer sehr schwierigen Situation! Ich kenne den Anwärter Sim als
befähigten und den Aufgaben der Garde ergebenen Bürger. Und ich
bin sicher, er wird uns großen Nutzen bringen. Aber ich weiß gar
nichts über seine Vergangenheit! Er kennt sie ja nicht einmal
selbst. Wenn man bedenkt, dass in der Garde nur Platz ist für
kristallklare …«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Tschatschu ungeduldig.
»Kristallklar, ohne Wenn und Aber ergeben, bis zum letzten Tropfen,
mit ganzer Seele … Machen wir’s kurz, Korporal: Du nimmst jetzt
eins dieser Blätter und zerreißt es. Du musst schließlich eine
Meinung haben! Und ich kann nicht mit beiden zum Brigadegeneral
gehen. Entweder ja oder nein. Wir sind in der Garde, nicht an der
Philosophischen Fakultät, Korporal! Zwei Minuten Bedenkzeit.«
Der Herr Rittmeister holte einen dicken Aktenordner
aus dem Regal und warf ihn angewidert vor sich auf den Tisch. Gai
blickte bedrückt auf die Uhr; es fiel ihm sehr schwer, seine Wahl
zu treffen. Vor der Truppenführung zu verheimlichen, dass man einen
Anwärter nur ungenügend kannte, war unehrenhaft und eines Gardisten
unwürdig, selbst im Falle Maxims. Andererseits war es aber ebenso
unehrenhaft und eines Gardisten unwürdig, sich vor der
Verantwortung zu drücken und die Entscheidung auf den Herrn
Rittmeister abzuwälzen, der den Anwärter nur zweimal gesehen hatte,
und auch das nur im Glied … Also gut, noch einmal. Was sprach für
Maxim: Er hat sich die Aufgaben der Garde mit großem Eifer zu
Herzen genommen, welche da sind: die Kriegsfolgen zu beseitigen und
die Agenten eines potenziellen Aggressors zu vernichten. Er hat
nicht nur die Musterung im Departement für soziale Gesundheit
einwandfrei durchlaufen, sondern auch die Überprüfung bestanden, zu
der ihn Rittmeister Toot und Stabsarzt Sogu in irgendeine geheime
Institution geschickt hatten. (Allerdings konnte man sich da bloß
auf Maxims eigene Aussage verlassen; die entsprechenden Papiere
hatte er verloren. Doch ließe man ihn sonst frei herumlaufen?)
Er war mutig und ein geborener Kämpfer und ganz allein mit
Rattenfängers Bande fertiggeworden. Er war sympathisch, im Umgang
schlicht, gutmütig, absolut uneigennützig, und überhaupt: ein
Mensch mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Was sprach gegen ihn? Keiner
wusste, wer er war und woher er kam. Entweder hatte er seine
Vergangenheit vergessen, oder er wollte sie nicht preisgeben. Und
er besaß keinerlei Dokumente. Aber machte ihn das so verdächtig?
Die Regierung kontrollierte lediglich die Grenzen und das zentrale
Gebiet; zwei Drittel des Landes aber steckten bis zum heutigen Tag
in Anarchie. Dort herrschten Hunger und Seuchen; die Menschen
flohen - und alle ohne Papiere, ja, die jungen Menschen wussten
nicht einmal, was das ist. Wie viele von ihnen waren krank, ohne
Gedächtnis, sogar degeneriert … Hauptsache, Maxim war kein
Entarteter.
»Nun, Korporal?«, ließ sich der Rittmeister
vernehmen.
»Jawohl, Herr Rittmeister!«, erwiderte Gai. In
seiner Stimme klang Resignation. »Gestatten …«
Er nahm den Bericht mit der Bitte, Maxim zu
überprüfen, und zerriss ihn langsam.
»R-richtig entschieden«, schnarrte der Herr
Rittmeister. »So macht man das bei der Garde! Papiere, Tinte,
Überprüfungen - unsere Prüfung ist der Kampf. Wenn wir in unsere
Maschinen steigen und in die Zone der Atomfallen hineinrollen,
sehen wir sofort, wer zu uns gehört und wer nicht.«
»Jawohl«, stimmte Gai zu, allerdings ohne rechte
Überzeugung. Er verstand den alten Haudegen, wusste aber auch, dass
der Kriegsveteran und Held von acht Seekonflikten hier irrte:
Natürlich, Kampf war Kampf - aber auch die Reinheit zählte. Bei
Maxim jedoch war das ohne Bedeutung, denn gerade er war ja
rein.
»Massaraksch!«, rief der Herr Rittmeister. »Das
Gesundheitsdepartement hat ihn durchgelassen; alles Übrige ist
unsere Sache.« Nach diesem rätselhaften Satz blickte er Gai böse
an und fügte hinzu: »Ein Gardist vertraut seinem Freund restlos.
Vertraut er ihm aber nicht, dann ist es kein Freund, und er sollte
ihn zum Teufel jagen. Ich habe mich über dich gewundert, Korporal.
Na, genug davon. Abmarsch in deine Gruppe, es bleibt wenig Zeit …
Während der Operation besehe ich mir deinen Anwärter selbst.«
Gai schlug die Hacken zusammen und ging hinaus.
Hinter der Tür erlaubte er sich ein Lächeln: Nun hatte der alte
Haudegen die Verantwortung doch noch auf sich genommen. Gutes war
eben immer gut! Jetzt konnte er Maxim reinen Gewissens als seinen
Freund betrachten. Mak Sim. Sein richtiger Familienname war
unaussprechlich. Entweder hatte er ihn im Fieber erfunden, oder er
entstammte wirklich diesem Bergvolk. Wie hieß gleich dessen alter
Herrscher? Saremtschitschakbeschmussaraji … Gai betrat den Platz
und hielt Ausschau nach seiner Gruppe. Der unermüdliche Pandi
hetzte die Jungs gerade durch das oberste Fenster einer
zweistöckigen Hausattrappe. Sie waren schweißnass, und das war
schlecht, denn bis zum Beginn der Operation hatten sie nur noch
eine Stunde.
»Einstellen!«, schrie Gai noch von fern.
»Einstellen!«, brüllte auch Pandi.
»Antreten!«
Die Gruppe formierte sich schnell. Pandi befahl:
»Stillgestanden!« Im Exerzierschritt marschierte er zu Gai und
meldete: »Herr Korporal, Truppe befasst mit dem Überwinden der
Sturmbahn.«
»Treten Sie ins Glied!«, sagte Gai und versuchte,
einen Ausdruck von Missbilligung in seine Intonation zu legen, wie
das Korporal Serembesch hervorragend konnte. Die Hände auf dem
Rücken verschränkt, ging er vor der Truppe auf und ab und musterte
die bekannten Gesichter.
Ihre Augen waren grau, hell- oder dunkelblau und
leicht aufgerissen; darin spiegelte sich die Bereitschaft, jedweden
Befehl auszuführen. Die Truppe achtete auf jede seiner Bewegungen
und Gai dachte, wie nah und lieb sie ihm waren, diese zwölf
baumstarken Jungs: rechts die sechs Soldaten der Garde, links die
sechs Anwärter - alle in gut sitzenden schwarzen Overalls, die
Knöpfe poliert, dazu glänzende Stiefel mit kurzem Schaft. Alle
hatten ihr Barett forsch auf die rechte Braue gezogen … Nein, nicht
alle. Mitten in der Linie, auf der Seite der Anwärter, ragte wie
ein Turm der Anwärter Mak Sim heraus, ein sehr fähiger Bursche,
sein Liebling - so traurig es für einen Kommandanten auch war,
jemanden vorzuziehen. Allerdings … hmm … dass er seine seltsamen
braunen Augen nicht aufsperrte, schön, er würde es noch lernen …
jedoch … hmm …
Gai trat zu Maxim und schloss den obersten Knopf
seines Overalls. Dann stellte er sich auf Zehenspitzen und richtete
ihm das Barett. Gut. Aber nun zog Mak, obwohl im Glied, schon
wieder die Mundwinkel bis zu den Ohren! Na meinetwegen, dachte Gai.
Wird er sich noch abgewöhnen. Er ist ja erst Anwärter, dazu der
Neueste in der Gruppe …
Um den Anschein von Gerechtigkeit zu wahren,
richtete Gai, obwohl unnötig, die Gürtelschnalle bei Maxims
Nachbarn. Dann ging er drei Schritte zurück und kommandierte:
»Rührt euch!« Die Männer stellten das rechte Bein ein wenig vor und
legten die Arme auf den Rücken.
»Gardisten«, begann Gai, »wir rücken heute im
Kompanieverband zu einer regulären Operation aus, um ein
Agentennest des potenziellen Gegners auszuheben. Die Operation
verläuft nach Plan dreiunddreißig. Die Herren Soldaten werden sich
zweifelsohne ihrer in diesem Plan festgelegten Aufgaben erinnern.
Den Herren Anwärtern aber, die vergessen, ihre Knöpfe zu schließen,
rufe ich das Wesentliche noch einmal ins Gedächtnis: Die Gruppe
bekommt einen Hauseingang zugewiesen. Sie teilt sich in vier
Trupps: in drei Dreiertrupps und die äußere Reserve. Die
Dreiertrupps, bestehend aus je zwei Soldaten und einem Anwärter,
kontrollieren der
Reihe nach und möglichst unauffällig die Wohnungen. Haben sie eine
Wohnung betreten, handeln sie folgendermaßen: Der Kandidat bewacht
den Eingang, der zweite Soldat besetzt, ohne sich durch das
Geringste ablenken zu lassen, die Hintertür, der Truppführer
durchsucht die Räume. Die Reserve - drei Anwärter und der
Gruppenführer, im gegebenen Fall also ich - bleibt unten im
Treppenhaus, um erstens niemanden während der Operation
herauszulassen und um zweitens sofort den Trupp zu unterstützen,
der Hilfe braucht. Die konkrete Zusammensetzung der Trupps und der
Reserve ist Ihnen bekannt … Achtung!« Er trat noch einen Schritt
zurück. »In Dreiertrupps und Reserve - antreten!«
Alle Männer nahmen ihren Platz ein. Niemand irrte
sich dabei, niemand verhedderte seine Maschinenpistole, rutschte
aus oder verlor das Barett, wie das bei früheren Übungen passiert
war. Rechts außen ragte Maxim aus der Reserve hervor und grinste
wieder breit. Jäh kam Gai der Gedanke: Womöglich betrachtete Mak
alles nur als unterhaltsames Spiel? Doch nein, so war es natürlich
nicht - weil es so nicht sein konnte. Schuld an diesem Eindruck war
bloß das idiotische Lächeln.
»Nicht übel«, brummte Gai, Korporal Serembesch
nachahmend, und blickte wohlwollend Pandi an: ein Mordskerl, der
Alte, hatte die Jungs gedrillt. »Achtung!«, rief er. »Gruppe -
antreten!«
Wieder kurze Bewegung, herrlich exakt und makellos,
und die Gruppe stand in Linie. Gai war erstaunt, mehr noch, er war
begeistert. Einfach hervorragend! Er legte die Hände wieder auf den
Rücken und schritt auf und ab.
»Gardisten!«, sagte er. »Wir sind die Stütze und
die einzige Hoffnung des Staates in dieser schweren Zeit. Nur auf
uns können sich die Unbekannten Väter bei ihrem großen Werk
verlassen - bedenkenlos verlassen!« Das war die Wahrheit, die reine
Wahrheit, und in ihr lagen Zauber und Hingabe. »Das Chaos, das der
verbrecherische Krieg hervorgebracht
hat, ist kaum vorüber, seine Folgen sind noch immer zu spüren.
Gardisten, Brüder! Wir haben nur eine Aufgabe: alles mit der Wurzel
auszurotten, was uns ins Chaos zurückzieht. Der Feind an unseren
Grenzen schläft nicht, er hat wiederholt und erfolglos versucht,
uns in einen neuen Krieg zu Lande und zur See hineinzuziehen, und
nur dank der Tapferkeit und Standhaftigkeit der Soldaten, der
Armee, kann unser Land in Frieden und Ruhe leben. Doch auch die
größten Anstrengungen der Armee werden nicht zum Ziel führen, wenn
wir den Feind im Inneren nicht besiegen. Diesen zu vernichten, ist
unsere und allein unsere Aufgabe, Gardisten. Dafür bringen wir
viele Opfer. Wir stören die Ruhe unserer Mütter, Brüder und Kinder,
bringen den rechtschaffenen Arbeiter, Beamten, Händler und
Industriellen um seine verdiente Erholung. Sie wissen, was uns
zwingt, in ihre Wohnungen einzudringen, und sie empfangen uns als
ihre Freunde, als ihre Beschützer. Macht euch das klar und lasst
euch bei der Erfüllung eurer Aufgabe nicht vom edlen Eifer
hinreißen. Freund ist Freund, und Feind ist Feind … Noch
Fragen?«
»Nein!«, schrie es aus zwölf Kehlen.
»Stillgestanden! Dreißig Minuten Pause und
Überprüfen der Ausrüstung! Wegtreten!«
Die Gruppe zerstreute sich; zu zweit und zu dritt
gingen die Gardisten zur Kaserne. Gai folgte ihnen langsam. Er
verspürte eine angenehme innere Leere. In einiger Entfernung
wartete Maxim und lächelte schon im Voraus.
»Los, spielen wir ›Wörter‹«, schlug er vor.
Gai stöhnte innerlich auf. Zurechtweisen sollte er
Mak, zurechtweisen! Wo gab es denn so etwas: ein Anwärter, ein
unerfahrener Milchbart, der eine halbe Stunde vor Operationsbeginn
seinen Korporal mit Vertraulichkeiten belästigte!
»Dazu ist jetzt nicht die Zeit«, sagte er so kühl
wie möglich.
»Bist du aufgeregt?«, fragte Maxim
mitfühlend.
Gai blieb stehen und verdrehte die Augen. Was
sollte er nur tun! Es war einfach unmöglich, diesem gutmütigen,
naiven Riesenkerl böse zu sein, ihn zurechtzuweisen, zumal er der
Retter seiner Schwester war und - wozu es verheimlichen - ihn beim
Exerzieren in jeder Hinsicht weit übertraf … Gai sah sich um und
sagte: »Hör zu, Mak, du bringst mich in eine unangenehme Situation.
Hier in der Kaserne bin ich dein Vorgesetzter. Ich befehle, du hast
dich unterzuordnen. Ich hab dir hundertmal …«
»Aber ich will mich ja unterordnen, befiehl doch!«,
unterbrach ihn Maxim. »Ich weiß, was Disziplin heißt.
Befiehl!«
»Das tat ich bereits. Befass dich mit deiner
Ausrüstung.«
»Entschuldige, Gai, so hast du es vorhin nicht
ausgedrückt. Du hast Pause und Herrichten der Ausrüstung befohlen.
Schon vergessen? Meine Ausrüstung ist fertig, und jetzt mache ich
Pause. Komm, spielen wir, ich weiß ein tolles Wort.«
»Mak, versteh doch: Ein Untergebener darf sich
erstens nur in der vorgeschriebenen Form an seinen Vorgesetzten
wenden und zweitens ausschließlich in dienstlicher
Angelegenheit.«
»Ja, ich weiß, Paragraf neun. Aber jetzt ist kein
Dienst. Wir machen Pause.«
»Wie kommst du darauf, dass ich Pause mache?«,
fragte Gai. Sie standen hinter der Attrappe eines Bretterzauns mit
Stacheldraht, und Gott sei Dank sah sie hier niemand. Keiner würde
bemerken, dass sich dieser Riese mit der Schulter gegen den Zaun
fläzte und drauf und dran war, seinen Korporal am Knopf zu fassen.
»Ich erhole mich einzig und allein zu Hause, aber selbst dort
gestatte ich keinem Untergebenen … Hör zu, lass meinen Knopf los
und mach deinen zu …«
Maxim kam der Aufforderung nach und sagte: »Im
Dienst ist es so, zu Hause anders. Warum?«
»Komm, reden wir nicht davon. Ich habe es satt, dir
immer wieder dasselbe zu erklären. Übrigens, wann lässt du endlich
dieses Lächeln im Glied?«
»Laut Vorschrift ist es nicht verboten«, entgegnete
Maxim prompt. »Und was ›immer wieder dasselbe erklären‹ betrifft,
so Folgendes: Sei nicht böse, Gai, ich weiß, du bist kein Sager …
kein Sprecher …«
»Kein was?«
»Du bist kein Mensch, der gut reden kann.«
»Kein Redner?«
»Redner … Ja, kein Redner. Aber das ist jetzt nicht
wichtig. Du hast heute zu uns gesprochen, und deine Worte waren gut
und richtig. Aber: Als du mir zu Hause von den Aufgaben der Garde
und der Situation im Land erzählt hast, war das viel interessanter,
es war ganz deins, deine Worte. Hier sagst du zum siebten Mal
dasselbe, und nie mit eigenen Worten. Es klingt sehr richtig, sehr
gleichmäßig, aber auch sehr langweilig … Was meinst du? Bist du mir
böse?«
Gai war nicht böse. Das heißt, eine kleine Nadel
piekte schon in seine Eigenliebe: Bis zu diesem Moment hatte er
geglaubt, ebenso gut und überzeugend zu reden wie Korporal
Serembesch oder gar der Herr Rittmeister Toot. Genau genommen
hatten sich die beiden im Laufe der drei Jahre auch ständig
wiederholt. Doch war das nicht verwunderlich und erst recht keine
Schande, denn in den drei Jahren hatte sich nichts entscheidend
verändert - weder bei der inneren noch bei der äußeren Lage.
»Und wo steht in der Vorschrift«, fragte Gai
ironisch lächelnd, »dass ein Untergebener seinen Vorgesetzten
kritisieren soll?«
»Dort steht das Gegenteil«, bekannte Maxim
seufzend. »Meiner Meinung nach ist das falsch. Wenn du dich mit
Ballistik befasst, befolgst du doch auch meinen Rat, und irrst du
dich in den Berechnungen, akzeptierst du meine Bemerkungen.«
»Ja, zu Hause«, sagte Gai eindringlich. »Da darf
man alles.«
»Und wenn du uns beim Schießen falsche
Zieleinstellungen vorgibst? Die Windkorrektur verkehrt berechnest?
Was dann?«
»Dann darfst du es trotzdem auf keinen Fall«,
entgegnete Gai bestimmt.
»Wir sollen falsch schießen?«, wunderte sich
Maxim.
»Man schießt wie befohlen.« Gais Stimme klang
streng. »Was du in diesen zehn Minuten gesagt hast, Mak, reicht für
fünfzig Tage Bau. Verstehst du?«
»Nein … Und im Kampf?«
»Was - ›im Kampf‹?«
»Wenn du da eine falsche Zieleinstellung vorgibst.
Was dann?«
»Hm«, brummte Gai, der noch nie im Ernstfall
kommandiert hatte. Ihm fiel plötzlich wieder ein, wie sich Korporal
Bachtu bei einer kriegerischen Aufklärung in der Karte geirrt und
die ganze Truppe ins konzentrierte Feuer der Nachbarkompanie gejagt
hatte. Bachtu selbst und die Hälfte der Jungs waren dabei ums Leben
gekommen; dabei hatten sie alle gewusst, dass er einen Fehler
machte, aber keiner hatte daran gedacht, ihn zu berichtigen.
Mein Gott, das wäre uns nie in den Sinn gekommen,
begriff Gai auf einmal. Maxim dagegen versteht das nicht. Nicht
nur, dass er es nicht versteht - denn da gibt es nichts zu
verstehen -, er akzeptiert es einfach nicht! Wie oft schon hat er
Dinge, die an sich völlig selbstverständlich sind, abgelehnt, und
man konnte ihn in keiner Weise überzeugen. Im Gegenteil, man begann
selbst zu zweifeln, der Kopf drehte sich wie ein Kreisel, war ganz
wirr … Nein, er ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist besonders und
ohne Beispiel. In einem Monat hat er die Sprache gelernt, Lesen und
Schreiben in zwei Tagen. An zwei weiteren Tagen hat er all meine
Bücher gelesen. Die Mathematik und Mechanik kennt er besser als die
Herren
Lehrer; dabei werden wir von richtigen Spezialisten unterrichtet.
Oder nehmen wir Onkelchen Kaan …
In letzter Zeit richtete der Alte seine Monologe am
Tisch ausschließlich an Maxim. Mehr noch: Einige Male ließ er sogar
durchblicken, Maxim sei in diesen Zeiten wohl der einzige Mensch,
der echtes Interesse und die rechten Fähigkeiten für fossile Tiere
mitbringe. Onkelchen Kaan zeichnete ein paar scheußliche Tiere auf
ein Blatt Papier, Maxim zeichnete noch scheußlichere hinzu, und
dann stritten sie, welches davon älter sei, welches von welchem
abstamme und warum es sich so und nicht anders verhalte, Fachbücher
aus Onkelchens Bibliothek wurden gewälzt … Es kam vor, dass Maxim
den Alten nicht mehr zu Wort kommen ließ, auch, dass Onkel Kaan
sich heiser schrie, die Zeichnungen in Fetzen riss und mit den
Füßen darauf trampelte, oder er schimpfte Maxim einen Ignoranten,
schlimmer noch als der Dummkopf Schapschu. Dann aber fuhr er sich
plötzlich mit beiden Händen durch den spärlichen grauen Haarkranz
und murmelte mit erstauntem Lächeln: »Kühn, Massaraksch, sehr kühn.
Sie haben Phantasie, junger Mann!« Bei alldem verstanden Gai und
Rada keine Silbe von dem, worum es ging. Besonders haftete Gai ein
Abend im Gedächtnis, an dem Maxim behauptete, einige der
vorzeitlichen Geschöpfe seien auf den Hinterbeinen gegangen. Der
Alte war sprachlos: Maxims These löste auf sehr einleuchtende und
natürliche Weise eine alte, noch aus der Vorkriegszeit stammende,
wissenschaftliche Streitfrage.
In Mathematik kennt er sich aus, ebenso in
Mechanik, die Militärchemie beherrscht er ausgezeichnet, die
Paläontologie - wer weiß heutzutage davon überhaupt noch etwas? -
ist ihm gleichermaßen vertraut. Er malt wie ein Maler, singt wie
ein Sänger. Und gutherzig ist er, übernatürlich gutherzig. Er
allein gegen acht Banditen, und er hat sie geschlagen, mit bloßen
Händen. Ein anderer an seiner Stelle würde einherstolzieren
wie ein Gockel und auf alle anderen pfeifen. Er aber quälte sich,
lag nächtelang wach. Lob und Dank bekümmerten ihn, und einmal brach
er gar in Zorn aus, wurde blass und schrie, es sei unehrenhaft, für
Mord zu loben. Gott, und was für ein Problem es war, ihn in die
Garde zu kriegen! Alles versteht er, ist mit allem einverstanden,
er will ja hinein - aber, sagt er, dort muss man schießen. Auf
Menschen. Ich erkläre ihm: auf Entartete, nicht auf Menschen, auf
den Abschaum, schlimmer noch als Banditen … Gott sei Dank, wir
konnten uns darauf einigen, dass er zunächst einmal nur den Gegner
entwaffnet, bis er sich ans Schießen gewöhnt hat. Lachhaft ist das,
aber auch irgendwie beängstigend. Nein, nicht ohne Grund sagt er
immerzu, er käme aus einer anderen Welt. Und ich kenne sie -
Onkelchen hat sogar ein Buch darüber: »Das Nebelland Sartak«. In
den Alabasterbergen, heißt es da, liegt das Tal Sartak, in dem
glückliche Menschen wohnen. Der Beschreibung nach sind alle wie
Maxim. Und das Erstaunliche: Verlässt einer von ihnen sein Tal,
vergisst er sofort, woher er stammt und was früher mit ihm war. Er
weiß nur noch, er kommt aus einer anderen Welt. Onkelchen meint ja,
so ein Tal gäbe es überhaupt nicht, das sei alles Erfindung, es
existiere nur ein Gebirgsrücken Sartak, und im Krieg, sagt er, habe
man diesen Bergrücken dermaßen mit Superbomben zerhackt, dass die
ortsansässigen Gebirgler nie mehr eine Erinnerung haben werden
…
»Warum bist du so still?«, fragte Maxim. »Machst du
dir meinetwegen Gedanken?«
Gai wandte den Blick ab. »Folgendes«, sagte er.
»Ich bitte dich um eins: Lass dir im Interesse der Disziplin
niemals anmerken, dass du mehr weißt als ich. Achte auf die
anderen, und benimm dich wie sie.«
»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete Maxim
bedrückt. Er dachte ein wenig nach und fügte hinzu: »Schwer, sich
daran zu gewöhnen. Bei uns ist alles anders.«
»Was macht deine Verletzung?«, fragte Gai, um das
Thema zu wechseln.
»Meine Wunden heilen schnell«, murmelte Maxim
zerstreut. »Hör mal, Gai, lass uns nach der Operation gleich nach
Hause fahren! Was schaust du denn so? Ich habe große Sehnsucht nach
Rada. Du nicht? Wir bringen die Jungs zur Kaserne und brausen dann
mit dem Lastwagen hin. Und dem Chauffeur geben wir frei.«
Gai holte tief Luft, aber da schallte aus dem
silbrigen Lautsprecherkasten fast direkt über ihren Köpfen die
Stimme des diensthabenden Brigadeoffiziers: »Sechste Kompanie, auf
dem Platz antreten! Achtung, sechste Kompanie …«
Gai raunzte nur: »Anwärter Sim! Gespräch beenden!
Marsch zum Antreten!«
Maxim stürmte los, Gai aber hielt ihn noch am Lauf
seiner Maschinenpistole zurück. »Ich bitte dich«, sagte er. »Wie
alle! Benimm dich wie alle! Heute beobachtet dich der Herr
Rittmeister persönlich.«
Drei Minuten später stand die Kompanie. Es wurde
schon dunkel, und über dem Platz flammten die Strahler auf. Hinter
den Männern brummten monoton die Lastwagenmotoren, und wie stets
vor einer Operation schritt der Herr Brigadegeneral in Begleitung
des Herrn Rittmeisters Tschatschu schweigend die Reihen ab und
musterte jeden einzelnen Gardisten. Er schritt ruhig, hatte die
Augen zusammengekniffen und die Mundwinkel freundlich nach oben
gezogen. Ohne ein Wort zu sagen, nickte er dann dem Herrn
Rittmeister zu und entfernte sich. Rittmeister Tschatschu hinkte,
die verkrüppelte Hand schwenkend, vor die Truppe und wandte den
Männern sein dunkles, nahezu schwarzes Gesicht zu.
»Gardisten!«, krächzte er mit einer Stimme, die Gai
eine Gänsehaut verursachte. »Vor uns liegt eine wichtige
Transaktion. Wir werden sie zuverlässig ausführen. Achtung …
Kompanie! Aufsitzen! Korporal Gaal, zu mir!«
Nachdem Gai herbeigelaufen war und Haltung
angenommen hatte, sagte der Rittmeister leise: »Ihre Gruppe hat
einen Spezialauftrag. Am Ankunftsort den Wagen nicht verlassen! Das
Kommando übernehme ich.«
6
Die Stoßdämpfer des Lastwagens waren erbärmlich,
was man auf dem holprigen Kopfsteinpflaster umso mehr zu spüren
bekam. Die Maschinenpistole zwischen den Knien, hielt Anwärter
Maxim Korporal Gaal vorsorglich am Gurtkoppel fest: Einem so um
seine Autorität besorgten Korporal stünde es schließlich schlecht
zu Gesicht, über die Bänke zu segeln wie etwa der Anwärter Soisa.
Gai hatte nichts gegen die Fürsorge seines Untergebenen, vielleicht
aber hatte er sie auch gar nicht bemerkt. Seit dem Gespräch mit dem
Rittmeister schien er sehr besorgt zu sein, und Maxim war froh,
dass sie laut Einsatzplan zusammenblieben und er - falls nötig -
würde helfen können.
Die Lastwagen passierten das Zentraltheater und
fuhren dann einige Zeit am Ufer des stinkenden Kanals »Neues Leben«
entlang, bogen in die lange, zu dieser Stunde leere Fabrikstraße
und bewegten sich kreuz und quer durch die gewundenen Gässchen
einer Arbeitervorstadt, in der Maxim noch nie gewesen war. Dabei
hatte es ihn schon in viele Ecken der Stadt verschlagen, und er
kannte sich dort mittlerweile gut aus. Überhaupt hatte er in diesen
etwas mehr als vierzig Tagen eine Menge gelernt und konnte endlich
seine Lage einschätzen: Sie war weit weniger tröstlich und sehr
viel merkwürdiger, als er bislang geglaubt hatte.
Er hockte noch über der Lesefibel, als Gai
unbedingt von ihm wissen wollte, woher er, Maxim, käme. Zeichnungen
halfen
nicht; die besah sich Gai nur mit eigenartigem Lächeln und
wiederholte: »Woher kommst du?« Da deutete Maxim gereizt zur Decke
und sagte: »Vom Himmel.« Zu seiner Verwunderung fand Gai diese
Erklärung völlig normal und überschüttete ihn mit Fragen. Viele
seiner Worte deutete Maxim als Planetennamen des hiesigen Systems,
doch dann zeigte ihm Gai eine Weltkarte in Merkatorprojektion und
es stellte sich heraus, dass er keine Planeten, sondern Staaten auf
der gegenüberliegenden Seite der Welt meinte. Maxim zuckte mit den
Schultern, verwendete jede ihm bekannte Verneinung und machte sich
daran, die Karte zu studieren, so dass das Gespräch fürs Erste
abbrach.
Am übernächsten Abend sahen Maxim und Rada fern.
Gezeigt wurde etwas Seltsames: eine Art Film ohne Anfang und Ende,
ohne fassbares Sujet, aber mit einer Unmenge von Mitwirkenden -
ziemlich abstoßenden Personen, die, vom menschlichen Standpunkt aus
betrachtet, brutal handelten. Rada schaute interessiert zu, schrie
manchmal auf, brach sogar zweimal in Tränen aus und packte Maxim am
Ärmel. Ihm jedoch wurde das Spektakel schnell langweilig, und er
wollte bei den Klängen der tragisch-düstren Musik schon einnicken,
als plötzlich etwas Vertrautes über den Bildschirm flimmerte. Er
rieb sich die Augen. Tatsächlich, es war die Pandora; ein finsterer
Tachorg wälzte sich durch den Dschungel, knickte die Bäume um, und
auf einmal stand Oleg da, eine Lockpfeife in der Hand, ernst und
konzentriert; langsam wich er zurück, stolperte über ein Knorrholz
und flog rückwärts in den Sumpf. Verwundert begriff Maxim, dass er
da sein eigenes Mentogramm sah, dann noch eins und ein weiteres,
ohne Kommentar, stets von ein und derselben Musik untermalt. Dann
verschwand die Pandora und überließ die Szene einem mageren
Blinden, der an einer dicht mit Spinnweben bedeckten Zimmerdecke
entlangkroch. »Was ist das?«, fragte Maxim und wies auf den
Bildschirm. »Eine Sendung«, antwortete
Rada ungeduldig. »Interessant. Sieh hin!« Er aber fand darin noch
immer keinen Sinn und dachte sich, dass hier womöglich die
Erinnerungen verschiedener Interplanetarier an ihre Heimat gezeigt
wurden. Doch bald verwarf er den Gedanken, denn die Bilder waren zu
scheußlich, zu monoton: isolierte stickige Kämmerchen, endlose
Korridore voller Möbel, die sich plötzlich in gigantische Dornen
verwandelten, Wendeltreppen im undurchdringlichen Dunkel enger
Schächte, vergitterte Keller; darin wimmelte es von stumpfsinnig
hantierenden Körpern, zwischen denen, wie bei Hieronymus Bosch,
starre, groteske Gesichter hervorblickten - es ähnelte eher einem
Fieberwahn als der wirklichen Welt. Verglichen mit diesen Visionen,
waren Maxims Mentogramme geradezu realistisch, wenn auch sein
Temperament dieses Reale bisweilen zu romantischem Naturalismus
verklärte. Derartige Sendungen wiederholten sich nahezu jeden Tag,
sie hießen »Wunderreise«, und Maxim begriff nie ganz ihren Sinn.
Fragte er danach, zuckten Gai und Rada die Schultern und
antworteten: »Eine Sendung. Damit es interessant ist. Eine
Wunderreise. Ein Märchen. Sieh nur hin, sieh hin. Mal kann man
lachen, mal macht es Angst.« Und in Maxim regten sich ernsthafte
Zweifel, ob Professor Nilpferds Untersuchungen wirklich der
Kontaktaufnahme dienten, ja, ob es sich dabei überhaupt um
Untersuchungen handelte.
Zehn Tage später sah sich Maxim indirekt in seinem
Zweifel bestätigt: Gai standen die Aufnahmeprüfungen für das
Fernstudium zum ersten Offiziersrang bevor, und er war dabei,
Mathematik und Mechanik zu lernen. Die Schemata und Formeln des
Grundkurses in Ballistik befremdeten Maxim. Als er nachfragte,
verstand ihn Gai zunächst nicht, erläuterte ihm aber dann,
nachsichtig lächelnd, die Kosmografie seiner Welt. Wie sich
herausstellte, war die bewohnte Insel weder Kugel noch Geoid: Sie
war überhaupt kein Planet.
Die bewohnte Insel war die Welt schlechthin - und
zwar die einzige im Universum. Unter den Füßen ihrer Bewohner lag
eine feste Oberfläche und über ihren Köpfen dehnte sich eine
riesenhafte, wenn auch endliche Gasblase aus. Diese war von
unbekannter Zusammensetzung und ihre physikalischen Eigenschaften
noch nicht völlig geklärt. Der Theorie zufolge nahm die Dichte des
Gases zum Mittelpunkt der Blase hin rapide zu, so dass dort
geheimnisvolle Prozesse stattfanden, die ihrerseits die
regelmäßigen Helligkeitsschwankungen des sogenannten Weltlichts
bedingten, insbesondere den Tag-Nacht-Rhythmus. Außer diesen
schnell aufeinanderfolgenden Zustandswandlungen erlebte das
Weltlicht auch längerfristige, die den Wechsel der Jahreszeiten und
entsprechende Temperaturschwankungen nach sich zogen. Die
Schwerkraft wirkte vom Mittelpunkt der Weltsphäre, das heißt der
Blase, senkrecht auf ihre Oberfläche. Kurzum: Die bewohnte Insel
lag auf der inneren Oberfläche einer gewaltigen Blase und diese
wiederum befand sich in einer endlosen festen Substanz, die den
Rest des Universums ausfüllte.
Überrascht und verwirrt, wollte Maxim zu streiten
beginnen, merkte aber bald, dass Gai und er einander noch weniger
verstanden als ein überzeugter Kopernikaner und ein
leidenschaftlicher Anhänger des Ptolemäus. Nein, das Wesentliche
waren die erstaunlichen atmosphärischen Eigenschaften dieses
Planeten. Erstens hob die ungewöhnlich starke Lichtbrechung den
Horizont an und suggerierte damit den hiesigen Menschen, ihr Planet
sei weder flach noch rund, sondern hohl. »Stellen Sie sich ans
Meeresufer«, empfahlen die Schulbücher, »und verfolgen Sie die
Bewegung eines Schiffs, das den Hafen verlässt. Zuerst wird es wie
auf einer Ebene schwimmen, aber je weiter es sich entfernt, desto
höher steigt es empor, bis es in der dunstigen Atmosphäre
verschwindet, die den übrigen Teil der Welt verhüllt.« Diese
Atmosphäre war unwahrscheinlich dicht und phosphoreszierte Tag und
Nacht,
so dass niemand je den Sternenhimmel sah. Die Tage, an denen man
die Sonne gesehen hatte, waren in den Chroniken verzeichnet und
bildeten die Grundlage zahlloser Versuche, eine Theorie des
Weltlichts zu entwickeln.
Maxim saß also in einer riesigen Falle. Um als
Fremdplanetarier wirklichen Kontakt herstellen zu können, musste er
die in Jahrtausenden gewachsenen, nun selbstverständlichen
Vorstellungen buchstäblich umkrempeln. Dem verbreiteten Fluch
»Massaraksch« nach zu urteilen, war das bereits versucht worden,
denn er bedeutete wörtlich: »die Welt mit der Innenseite nach
außen«. Außerdem hatte Gai eine weitere, rein mathematische Theorie
erwähnt, die die Welt anders betrachtete: Sie war in alter Zeit
entstanden und wurde anfangs von der offiziellen Religion verfolgt,
hatte auch ihre Märtyrer. Durch die Arbeiten genialer
Wissenschaftler erhielt sie im vergangenen Jahrhundert ihre
mathematische Begründung, blieb aber weiterhin abstrakt - bis sie,
wie die meisten Theorien, doch noch praktische Anwendung fand - in
jüngster Vergangenheit, bei der Entwicklung der ballistischen
Raketen.
Mit diesen neuen Erkenntnissen überdachte Maxim
noch einmal seine Lage und begriff, dass er all die Zeit als
verrückt gegolten hatte und seine Mentogramme nicht ohne Grund in
die schizoide »Wunderreise« aufgenommen worden waren. Wollte er
nicht zu Nilpferd zurück, musste er von seiner außerplanetarischen
Herkunft einstweilen schweigen. Das aber bedeutete, dass ihm die
bewohnte Insel nicht würde helfen können und er nur auf sich selbst
vertrauen durfte; den Nullsender musste er auf unbestimmte Zeit
vertagen. Er würde hier für lange - Massaraksch! -, womöglich für
immer festsitzen. Diese Hoffnungslosigkeit machte ihn schier
verrückt. Aber dann riss er sich doch wieder zusammen und zwang
sich, logisch zu denken. Mutter machte gewiss eine schwere Zeit
durch; es musste schrecklich für sie sein - und allein das
nahm ihm jede Freude an der Logik. Verflucht sollte sie sein,
diese zurückgebliebene, abgekapselte Welt! Überhaupt gab es nur
zwei Wege: Erstens, dem Unmöglichen nachzutrauern und sich
ohnmächtig zu grämen oder, zweitens, sich zusammenzureißen und zu
leben. Wirklich zu leben, wie er es immer wollte: Freunde haben,
Ziele anstreben, sich raufen, siegen, verlieren, Nackenschläge
einstecken, sich revanchieren - einerlei, was, nur nicht in
Verzweiflung die Hände ringen. Er hörte auf, über das Weltall zu
sprechen und fragte Gai nach der Geschichte und der sozialen
Struktur seiner bewohnten Insel.
Aber Gai wusste wenig darüber. Er kannte die
Geschichte seines Landes nur bruchstückhaft und besaß keinerlei
Fachliteratur. Und auch in der Stadtbibliothek war nichts zu
finden. Man konnte aber davon auszugehen, dass das Land, in dem
sich Maxim befand, vor dem letzten, verheerenden Krieg bedeutend
größer gewesen war. Anscheinend war es von einer kleinen Gruppe
unfähiger Finanzleute und degenerierter Aristokraten regiert
worden, die das Volk in die Armut getrieben hatten. Der
Staatsapparat war durch Korruption zersetzt worden, und am Ende
hatten sich die Machthaber auf einen großen, von den Nachbarn
provozierten Kolonialkrieg eingelassen. Der Krieg erfasste den
ganzen Planeten. Millionen und Abermillionen kamen ums Leben,
Tausende von Städten wurden zerstört, kleinere Staaten
hinweggefegt. Nicht nur im Land, sondern auf dem ganzen Planeten
brach das Chaos aus. Es begannen Zeiten von bitterem Hunger und
Epidemien. Es kam zu Volksaufständen, die die Unterdrücker mit
Atomwaffen beantworteten. Das Land und die Welt näherten sich dem
Untergang. Gerettet wurde die Situation von den Unbekannten Vätern
- dem Anschein nach eine anonyme Gruppe von jungen
Generalstabsoffizieren. Mit nur zwei Divisionen von Soldaten, die
nicht im atomaren Fleischwolf landen wollten, hatten sie geputscht
und die Macht übernommen. Das war
vor vierundzwanzig Jahren, und seitdem hatte sich die Lage
stabilisiert. Es wurde kein Frieden geschlossen, aber der Krieg
endete allmählich von selbst. Die anonymen Machthaber handelten
entschlossen und stellten die Ordnung wieder halbwegs her, brachten
mit harten Maßnahmen die Wirtschaft in Gang - zumindest in den
zentralen Regionen - und machten das Land zu dem, was es jetzt war.
Der Lebensstandard wuchs, der Alltag verlief friedlich, die
gesellschaftliche Moral wurde hoch geachtet wie nie zuvor. Alles
schien wieder in Ordnung. Maxim war klar, dass die politischen
Verhältnisse im Land weit entfernt waren vom Idealen und es sich im
Grunde um eine Militärdiktatur handelte. Dennoch erfreuten sich die
Unbekannten Väter offensichtlich großer Popularität - in allen
Schichten der Gesellschaft. Was aber die Wirtschaft anbetraf, so
entbehrte dieses Ansehen jeglicher Grundlage: Immerhin lag das
halbe Land noch in Trümmern, die Militärausgaben waren gigantisch,
die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte mehr als
bescheiden. Das Ansehen gründete sich anscheinend darauf, dass die
Militärjunta die Gier der Industriellen zügelte, was ihr die
Sympathien der Arbeiter einbrachte. Andererseits hielt sie die
Arbeiter nieder, was ihr die Wertschätzung der Industriellen
sicherte. Freilich reimte sich Maxim das nur zusammen; Gai empfand
schon die Fragestellung als seltsam. Ein Begriff wie »Klasse«
existierte für ihn nicht, und Widersprüche zwischen einzelnen
sozialen Gruppen schienen ihm undenkbar.
Die außenpolitische Lage des Landes war weiterhin
äußerst prekär. Im Norden grenzte es an zwei große Staaten - Honti
und Pandea, ehemalige Provinzen oder Kolonien. Über die Staaten
selbst war nichts bekannt, doch jeder wusste, dass sie die
aggressivsten Absichten hatten, unaufhörlich Diversanten und Spione
entsandten, Grenzzwischenfälle provozierten und den Krieg
vorbereiteten. Dessen Ziel war Gai unklar; er hatte sich auch nie
Gedanken darüber gemacht. Im Norden waren
Feinde, und gegen ihre Agenten kämpfte er auf Leben und Tod - das
reichte.
Hinter den Grenzwäldern im Süden lag, ausgebrannt
von Kernexplosionen, eine Wüste. Sie erstreckte sich über die
Fläche einer ganzen Reihe ehemaliger Staaten, die im Krieg eine
zentrale Rolle gespielt hatten. Was auf diesen Millionen von
Quadratkilometern vor sich ging, war unbekannt, und es
interessierte auch niemanden. Denn man hatte ununterbrochen und
alle Hände voll mit den Angriffen großer Horden halbwilder
Missgeburten zu tun, von denen es in den Wäldern hinter dem Fluss
Blaue Schlange nur so wimmelte. Insofern hielt man die Südgrenze
für die problematischste. Das Leben dort war hart, und genau dort
setzte man die Elite der Kämpfenden Garde ein. Gai hatte drei Jahre
im Süden gedient und erzählte haarsträubende Geschichten
darüber.
Es war möglich, dass sich südlich der radioaktiv
verseuchten Wüste - sozusagen am anderen Ende des einzigen
Kontinents des Saraksch - weitere Staaten erhalten hatten, aber sie
ließen nichts von sich hören. Dafür brachte sich das sogenannte
Inselimperium immer wieder unangenehm in Erinnerung. Es erstreckte
sich auf zwei große Archipele in der Antarktiszone, und der
Weltozean gehörte ihm. Seine mächtige Flotte von
Unterwasserschiffen kreuzte im radioaktiven Meer des Planeten -
schneeweiß gestrichen und ausgerüstet mit modernster
Vernichtungstechnik. An Bord waren Banden speziell abgerichteter
Kopfjäger. Diese weißen Submarines, unheimlich wie Phantome,
hielten die Uferbezirke in Atem. Sie schossen ohne jeden Anlass und
setzten Landetrupps von Piraten ab. Auch dieser weißen Bedrohung
bot die Garde kühn die Stirn.
Das Bild von Chaos und Zerstörung erschütterte
Maxim: Der Planet war ein Grab, in dem normales, sinnvolles Leben
kaum noch möglich war und jeden Moment ganz versiegen konnte.
Er hörte Radas grauenvolle und dennoch ruhig
vorgetragene Schilderungen, zum Beispiel, wie ihre Mutter vom Tod
des Vaters erfahren hatte: Als Arzt und Epidemiologe hatte er sich
geweigert, ein von der Pest heimgesuchtes Gebiet zu verlassen. Der
Staat aber verfügte damals weder über die Zeit noch über die
Möglichkeiten, die Pest ordnungsgemäß zu bekämpfen, und so hatte
man einfach eine Bombe auf den verseuchten Bezirk geworfen. Rada
erzählte, wie vor etwa zehn Jahren Aufständische auf die Hauptstadt
vorgerückt waren. Während der Evakuierung wurde ihre Großmutter
väterlicherseits beim Ansturm auf einen Zug von der Menge
totgetrampelt. Zehn Tage später starb ihr kleiner Bruder an der
Ruhr. Um den kleinen Gai und den völlig hilflosen Onkel Kaan zu
ernähren, hatte sie, Rada, nach dem Tod der Mutter achtzehn Stunden
täglich als Geschirrwäscherin in einer Versandstation, später als
Putzfrau in einem Luxuslokal für Spekulanten gearbeitet. Später
nahm sie an »Frauenrennen mit Wettmöglichkeit« teil, saß kurze Zeit
im Gefängnis, verlor ihre Arbeit und musste ein paar Monate
betteln.
Von Onkelchen Kaan, einem seinerzeit bedeutenden
Wissenschaftler, hörte Maxim, wie man im ersten Kriegsjahr die
Akademie der Wissenschaften aufgelöst und ein Bataillon der
Akademie Seiner Kaiserlichen Majestät zusammengestellt hatte. Wie
in den Hungerzeiten der Begründer der Evolutionstheorie den
Verstand verloren und sich erhängt hatte; wie sie aus dem von
Tapeten abgekratzten Leim Suppe kochten; wie eine ausgehungerte
Menschenmenge im Zoologischen Museum alles kurz und klein
geschlagen und die in Spiritus aufbewahrten Präparate verschlungen
hatte …
Und er hörte Gais unbedarfte Erzählungen über den
Bau der Raketenabwehrtürme an der südlichen Grenze: darüber, wie
des Nachts die Menschenfresser zu den Bauplätzen schleichen und
Zöglingen ebenso wie wachhabende Gardisten entführen; wie im
Dunkeln, lautlos wie Gespenster, Vampire
angreifen, erbarmungslos und brutal, teils Mensch, teils Bär,
teils Hund. Er hörte, wie sehr Gai das Raketenabwehrsystem lobte,
das unter unglaublichen Entbehrungen in den letzten Kriegsjahren
errichtet worden war. Im Grunde genommen, sagte Gai, hätte damals
das RAS die Kampfhandlungen beendet, indem es nämlich auch den
Luftraum über dem Land geschützt hatte. Auch heute noch sei das RAS
die einzige Garantie gegen die Aggressionen aus dem Norden. Und
dann kämen diese Mistkerle, diese Verbrecher und organisierten
Angriffe auf die Abwehrtürme - korrupte Subjekte, vom schmutzigen
Geld Hontis und Pandeas bestochen, Frauenund Kindermörder,
Entartete, ja, Entartete, Dreckskerle, schlimmer noch als
Rattenfänger. Gais erhitztes Gesicht war jetzt von Hass verzerrt.
»Das ist die Hauptsache«, rief er und hieb mit der Faust auf den
Tisch, »darum bin ich zur Garde gegangen. Nicht in eine Fabrik,
nicht aufs Feld, nicht ins Büro - zur Kämpfenden Garde, von der
alles abhängt!«
Maxim hörte gebannt zu - wie bei einem
schrecklichen, unwirklichen Märchen, das umso schrecklicher war,
weil es der Realität entsprang, vieles immer noch existierte und
sich dies Schreckliche, Unwirkliche jederzeit wiederholen konnte.
Lächerlich, nahezu beschämend schienen ihm seine eigenen
Misshelligkeiten, winzig wurden auf einmal seine Probleme - der
Kontakt, der Nullsender, das Händeringen, was hatte das schon zu
bedeuten …
Der Lastwagen bog scharf in eine schmale Straße mit
hohen Wohnblöcken ein, und Pandi sagte: »Da wären wir.« Die
Passanten auf dem Gehweg wichen hastig zurück und schützten ihr
Gesicht vor dem Scheinwerferlicht. Der LKW bremste. Über dem
Fahrerhaus schob sich nun eine lange Teleskopantenne heraus.
»Ab-sitz-en!«, brüllten die Führer der zweiten und
dritten Gruppe gleichzeitig, und die Gardisten sprangen über die
Bordwände.
»Erste Gruppe sitzen bleiben!«, kommandierte
Gai.
Pandi und Maxim, die schon aufgesprungen waren,
setzten sich wieder.
»In Dreiertrupps antreten!«, schrien die
Kommandanten auf dem Gehweg. »Zweite Gruppe, vorwärts!« - »Dritte
Gruppe, mir nach!«
Beschlagene Stiefel polterten über den Asphalt.
Eine Frau kreischte begeistert: »Seht hierher! Die Kämpfende
Garde!«
»Es lebe die Kämpfende Garde!«
»Hurra!«, brüllten die bleichen Menschen und
pressten sich an die Gemäuer, um nicht zu stören. Es schien, als
hätten sie auf die Gardisten gewartet und freuten sich nun über sie
wie über ihre besten Freunde.
Rechts von Maxim saß Anwärter Soisa, lang wie eine
Bohnenstange, mit weißblondem Flaum auf den Wangen - fast noch ein
Kind. Er drückte Maxim seinen spitzen Ellenbogen in die Seite und
zwinkerte ihm fröhlich zu. Maxim lächelte zurück. Die Gruppen waren
schon in den Hauseingängen verschwunden, nun standen nur noch die
Kommandanten davor: bestimmt, zuverlässig, mit unbewegten
Gesichtern unter den schief aufs Ohr gezogenen Baretten. Die Tür
der Fahrerkabine schlug zu, und Rittmeister Tschatschus Stimme
schnarrte: »Erste Gruppe, absitzen! Antreten!«
Maxim schwang sich über die Bordwand. Als die
Gruppe stand, wollte Gai Meldung erstatten, aber der Rittmeister
hielt ihn mit einer Handbewegung zurück, trat dicht vor die Reihe
und befahl: »Helme auf!«
Die Soldaten schienen nur auf dieses Kommando
gewartet zu haben; die Anwärter dagegen waren noch nicht fertig.
Der Rittmeister wartete, klopfte ungeduldig mit dem Absatz, bis
auch Soisa seinen Kinnriemen gerichtet hatte. Dann kommandierte er:
»Rechtsum! Im Laufschritt vorwärts!« Er selbst lief, trotz seiner
Unbeholfenheit, gewandt voran und schwenkte seine verkrüppelte
Hand. Er führte die Männer
durch den dunklen Torbogen in einen Hof, der finster und eng war
wie ein Brunnen, bog dann in einen anderen, ebenfalls finsteren,
und dazu übelriechenden Torweg und blieb unter einem trüben
Lämpchen vor einer Tür mit abblätternder Farbe stehen.
»Achtung!«, krächzte er. »Trupp eins und Anwärter
Sim folgen mir. Die Übrigen warten. Korporal Gaal, auf Pfiff
schicken Sie einen Dreiertrupp nach oben, vierte Etage! Keinen
herauslassen, lebend ergreifen, schießen nur im äußersten Fall!
Trupp eins und Anwärter Sim, mir nach!«
Er öffnete die Tür und verschwand. Maxim stürzte
ihm nach, an Pandi vorbei. Hinter der Tür begann eine steile
Steintreppe mit klebrigem Eisengeländer, schmal und schmutzig; das
Treppenhaus war von schwächlichem, fahlem Licht erhellt. Drei
Stufen auf einmal nehmend, rannte der Rittmeister hinauf. Als Maxim
ihn einholte, sah er in seiner Hand die Pistole. Da nahm auch er,
in vollem Lauf, seine Maschinenpistole vom Hals. Ihm wurde übel bei
dem Gedanken, jetzt womöglich auf Menschen schießen zu müssen, doch
er verdrängte ihn schnell - es waren ja keine Menschen, sondern
Tiere, schlimmer als der schnurrbärtige Rattenfänger oder die
gefleckten Affen. Der eklige Schmutz unter den Füßen, das matte
Licht und die bespuckten Wände stützten und verstärkten diese
Ansicht noch.
Erster Stock. Küchengeruch, im Spalt einer
halboffenen Tür das erschrockene Gesicht einer alten Frau. Mauzend
bringt sich eine aufgescheuchte Katze in Sicherheit. Zweiter Stock.
Irgendein Tölpel hat einen Eimer voll Spülwasser auf das
Treppenpodest gestellt. Der Rittmeister stößt ihn um, das
Spülwasser schwappt die Treppe hinunter. »Massaraksch!«, flucht
Pandi von unten. Ein Junge und ein Mädchen drücken sich, eng
umschlungen, in eine dunkle Ecke, ihre Gesichter spiegeln Freude
und Erschrecken wider. »Weg mit euch, runter!«, schnarrt der
Rittmeister ohne anzuhalten. Dritter
Stock. Eine hässliche braune Tür, deren Ölfarbe abbröckelt, daran
ein zerkratztes Blechschild: »Gobbi. Zahnarzt. Sprechzeit
durchgehend.« Von drinnen ein langgezogener Schrei. Der Rittmeister
steht und röchelt: »Das Schloss!« Über sein schwarzes Gesicht rinnt
Schweiß. Maxim begreift nicht. Pandi, inzwischen keuchend zu ihnen
gestoßen, schiebt ihn beiseite, setzt die Mündung der
Maschinenpistole unter den Türgriff und feuert. Funken sprühen,
Holzsplitter fliegen. Als Antwort knallen Schüsse hinter der Tür,
gedämpft durch einen Schrei. Wieder prasseln Späne. Etwas Hartes,
Heißes surrt widerlich pfeifend über Maxims Kopf hinweg. Der
Rittmeister reißt die Tür auf. Dunkelheit, gelbfeurige Blitze
hinter Rauchschwaden. »Mir nach!«, schreit der Rittmeister heiser
und wirft sich, den Kopf vorgereckt, den Blitzen entgegen. Maxim
und Pandi wollen ihm nach, doch die Tür ist schmal, Pandi wird
eingequetscht und schreit kurz auf. Im Flur ist es drückend schwül,
überall Pulverrauch. Gefahr von links. Maxims Arm schnellt vor,
packt einen heißen Lauf, drückt die Waffe nach oben. Leise, aber
sehr klar knacken ausgerenkte Gelenke, ein großer weicher Körper
fällt willenlos zu Boden. Vor ihnen, im Qualm, die Stimme des
Rittmeisters: »Nicht schießen! Lebend fassen!« Maxim wirft die
Maschinenpistole fort und stürmt in ein großes, hell erleuchtetes
Zimmer. Viele Bücher und Bilder; keiner, auf den man schießen
müsste. Auf dem Fußboden krümmen sich zwei Männer. Einer, schon
ganz heiser, schreit unentwegt. In einem Sessel liegt, den Kopf
zurückgeworfen, eine ohnmächtige Frau - das Gesicht weiß, geradezu
durchsichtig. Der Raum scheint angefüllt mit Schmerzen. Der
Rittmeister steht über dem Schreienden und blickt sich um. Er
steckt die Pistole ein. Maxim erhält einen heftigen Stoß: Es ist
Pandi, der an ihm vorbeistürzt, und hinter ihm her schleifen
Gardisten den schweren Körper dessen, der geschossen hat. Anwärter
Soisa, schweißnass vor Aufregung, reicht Maxim die weggeworfene
Maschinenpistole. Der Rittmeister
wendet ihm sein schreckliches, schwarzes Gesicht zu. »Wo ist der
andere?«, krächzt er. Im selben Moment löst sich der blaue Vorhang,
und ein hagerer Mann tritt hervor, in weißem Kittel, voll mit
Flecken. Er geht langsam, wie blind, auf den Rittmeister zu, hebt
wie in Zeitlupe zwei riesige Pistolen auf die Höhe seiner vor
Schmerz glasigen Augen. »He!«, schreit Soisa …
Maxim blieb keine Zeit, sich umzudrehen. Mit voller
Kraft sprang er von der Seite her auf den Mann zu, doch der
schaffte es trotzdem, einmal abzudrücken. Maxim sengte es das
Gesicht, Pulvergeruch drang ihm in den Mund; dann aber krallten
sich seine Finger um die fremden Handgelenke, und die Pistolen
polterten zu Boden. Der Mann sank in die Knie, ließ den Kopf
herabhängen und fiel, als Maxim seine Hände losließ, weich auf das
Gesicht.
»Na, na, na«, murmelte Tschatschu mit einem
seltsamen Ausdruck in der Stimme. »Legt ihn hierher!«, sagte er zu
Pandi. »Und du« - das galt dem bleichen, schweißnassen Soisa -
»lauf runter und teil den Gruppenführern mit, wo ich bin. Sie
sollen melden, wie es bei ihnen steht.« Soisa schlug die Hacken
zusammen und rannte zur Tür. »Ja. Schick mir Gaal«, fuhr der
Rittmeister fort. »Brüll nicht, Mistkerl!«, schrie er den
stöhnenden Mann an und stieß ihn mit der Stiefelspitze ein wenig in
die Seite. »Ach, zwecklos. Plärrender Dreck … Abschaum.
Durchsuchen!«, befahl er Pandi. »Legt sie alle in eine Reihe.
Gleich hier, auf dem Fußboden. Das Weibsstück auch, fläzt im
einzigen Sessel …«
Maxim ging zu der Frau, hob sie vorsichtig hoch und
trug sie auf das Bett. Er war verwirrt. So etwas hatte er hier
nicht erwartet. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es nicht mehr
- etwa gelbe, vor Hass gefletschte Zähne, ein bösartiges Gejaule,
ein Kampf auf Leben und Tod? Er konnte seine Empfindungen mit
nichts vergleichen, erinnerte sich dann aber, wie er einmal einen
Tachorg erschossen hatte: Da lag dieses
riesige, angsteinflößende und, wie es hieß, erbarmungslose Tier
mit zerschmettertem Rückgrat in einer tiefen Grube und weinte
kläglich, gab etwas von sich in seiner Todespein, was sich beinahe
anhörte wie einzelne Worte …
»Anwärter Sim!«, schrie der Rittmeister. »Ich habe
befohlen: auf den Fußboden!«
Tschatschus unheimliche, durchsichtige Augen
musterten Maxim. In seinen verkrampften Lippen zuckte es, und Maxim
begriff, dass nicht er hier über Recht und Unrecht entscheiden
konnte; er war noch ein Fremder, kannte weder ihren Hass noch ihre
Liebe. Er nahm die Frau wieder auf und legte sie neben den massigen
Mann, der beim Hereinkommen im Flur geschossen hatte. Pandi und ein
zweiter Gardist kontrollierten indessen sehr sorgfältig die Taschen
der Festgenommenen. Alle fünf Personen waren ohne
Bewusstsein.
Der Rittmeister setzte sich in den Sessel, warf
sein Barett auf den Tisch, steckte sich ein Stäbchen an und winkte
Maxim mit dem Finger zu sich. Der trat näher, nahm Haltung
an.
»Warum hast du die MP weggeworfen?«, fragte
Tschatschu leise.
»Sie hatten befohlen, nicht zu schießen.«
»Herr Rittmeister.«
»Jawohl. Sie hatten befohlen, nicht zu schießen,
Herr Rittmeister.«
Tschatschu kniff die Augen zusammen und blies den
Rauch zur Decke hoch.
»Das heißt, wenn ich befohlen hätte, nicht zu
sprechen, hättest du dir die Zunge abgebissen?«
Maxim schwieg. Das Gespräch gefiel ihm nicht, doch
er entsann sich noch gut an Gais Instruktionen.
»Was ist dein Vater?«, fragte der Rittmeister
weiter.
»Kernphysiker, Herr Rittmeister.«
»Lebt er noch?«
»Jawohl, Herr Rittmeister.«
Tschatschu nahm das Stäbchen aus dem Mund und
starrte Maxim an.
»Wo ist er?«
Maxim wurde klar, dass er sich verplappert hatte.
Er musste das wieder geradebiegen.
»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Genauer gesagt,
ich erinnere mich nicht.«
»Aber daran, dass er Kernphysiker ist, erinnerst du
dich … Woran noch?«
»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Ich erinnere
mich an vieles, doch Korporal Gaal meint, es sei nur
Einbildung.«
Im Flur hallten eilige Schritte. Gai kam herein und
stand vor dem Rittmeister stramm.
»Kümmere dich um diese Halbtoten, Korporal«, sagte
Tschatschu. »Reichen die Handschellen?«
Gai blickte über die Schulter zu den
Verhafteten.
»Wenn Sie gestatten, Herr Rittmeister, holen wir
noch ein Paar von der zweiten Gruppe.«
»Ausführung.«
Gai lief hinaus. Durch den Flur stampften wieder
Stiefel; die Gruppenführer erschienen und meldeten, die Operation
verlaufe erfolgreich, zwei Verdächtige seien bereits festgenommen
und die Einwohner leisteten, wie immer, aktive Hilfe. Der
Rittmeister ordnete an, schnellstmöglich zum Ende zu kommen und das
Losungswort »Prellstein« an den Stab zu geben. Nachdem die
Gruppenführer gegangen waren, rauchte er ein neues Stäbchen und sah
schweigend zu, wie die Gardisten die Bücher aus den Regalen nahmen,
sie durchblätterten und auf das Bett warfen.
»Pandi«, murmelte er dann, »kümmere dich um die
Bilder. Mit dem da sei vorsichtig, beschädige es nicht, das behalte
ich.« Er drehte sich wieder zu Maxim. »Wie findest du es?«, fragte
er.
Maxim blickte genauer hin: Dämmerung, erhabene,
horizontlose Meeresweite, das Ufer und eine Frau, die aus dem
Wasser steigt. Wind. Kühle. Die Frau friert.
»Ein gutes Bild, Herr Rittmeister«, sagte er.
»Erkennst du die Gegend?«
»Nein. Dieses Meer habe ich nie gesehen.«
»Und welches hast du gesehen?«
»Ein ganz anderes, Herr Rittmeister. Doch es war
Einbildung.«
»Unsinn. Dieses war es. Nur hattest du nicht den
Blick vom Ufer, sondern von der Kommandobrücke, unter dir war ein
weißes Deck zu sehen und hinten, am Heck, noch eine Brücke, aber
niedriger. Und am Ufer stand nicht dieses Weib, sondern ein Panzer,
und du hast unter seinen Turm gezielt. Weißt du Grünschnabel, was
es bedeutet, wenn eine Granate unter den Turm trifft? Massaraksch«,
zischte er und zerdrückte den Stummel auf dem Tisch.
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Maxim kalt. »Nie
im Leben habe ich auf etwas gezielt.«
»Wie kannst du das wissen? Du erinnerst dich doch
nicht, Anwärter Sim.«
»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben.«
»Herr Rittmeister.«
»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben, Herr
Rittmeister. Und ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Gai kam zurück, in Begleitung zweier Anwärter. Sie
legten den Verhafteten die schweren Handschellen an.
»Sind doch auch Menschen«, krächzte plötzlich der
Rittmeister. »Haben Frauen und Kinder. Haben jemanden geliebt,
jemand hat sie geliebt.«
Augenscheinlich wollte er Maxim verhöhnen, der aber
erwiderte offen: »Ja, Herr Rittmeister. Wie sich zeigt, sind es
auch Menschen.«
»Hast du das nicht erwartet?«
»Nein, Herr Rittmeister.« Aus den Augenwinkeln sah
er, dass Gai ihn erschrocken anschaute. Doch ihm war schon ganz
schlecht vom Lügen, und er fuhr fort: »Ich dachte, es sind
tatsächlich Missgeburten. Etwas wie nackte gefleckte …
Tiere.«
»Nackter gefleckter Dummkopf!«, schnauzte der
Rittmeister in wichtigem Ton. »Hinterwäldler! Bist hier nicht im
Busch. Hier sind sie wie Menschen. Liebe, gute Menschen, denen bei
starker Erregung fürchterlich das Köpfchen schmerzt … Tut dir der
Kopf weh, wenn du aufgeregt bist?«, fragte er unvermittelt.
»Mir tut nie etwas weh, Herr Rittmeister«,
antwortete Maxim. »Und Ihnen?«
»Waas?«
»Sie wirken so gereizt«, sagte Maxim, »dass ich
dachte …«
»Herr Rittmeister«, rief Gai mit schriller Stimme.
»Gestatten zu melden. Die Gefangenen sind bei Bewusstsein.«
Der Rittmeister warf ihm einen Blick zu und
grinste. »Reg dich nicht auf, Korporal. Dein Freund hat sich heute
als Gardist bewährt. Wäre er nicht, hätte Rittmeister Tschatschu
jetzt eine Kugel in der Rübe.« Er griff sich ein drittes Stäbchen,
hob die Augen zur Decke und stieß eine dicke Rauchfahne aus. »Hast
einen guten Riecher, Korporal. Auf der Stelle könnte ich diesen
Burschen zum Soldaten ernennen! Massaraksch, zum Offizier würde ich
ihn befördern. Er hat Brigadegeneralsallüren, stellt Offizieren
gern Fragen. Ich verstehe dich gut, Korporal; dein Bericht war
begründet. So dass wir … mit der Beförderung zum Offizier warten.«
Tschatschu stand auf, ging mit schweren Schritten um den Tisch
herum und baute sich vor Maxim auf. »Nicht mal Soldat wird er
vorerst. Er ist ein guter Kämpfer, doch ein Grünschnabel, ein
Hinterwäldler. Erst mal erziehen wir ihn … Achtung!«, brüllte er
plötzlich. »Korporal Gaal, die Verhafteten abführen! Soldat Pandi
und Anwärter Sim nehmen mein Bild und alles Papierne und bringen es
zu mir in den Wagen!«
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Gai warf
Maxim vorwurfsvolle Blicke zu, sagte aber nichts. Mit Fußtritten
und Faustschlägen brachten die Gardisten die Festgenommenen auf die
Beine und führten sie ab. Sie leisteten keinen Widerstand, schienen
aus Watte; sie taumelten und ihre Knie knickten ein. Der massige
Mann, der im Flur geschossen hatte, stöhnte laut und fluchte dann
flüsternd. Die Frau bewegte still die Lippen. In ihren Augen lag
ein seltsames Glitzern.
»He, Mak«, sagte Pandi, »hol die Decke da vom Bett
und wickle die Bücher rein. Sollte sie nicht reichen, nimmst du
noch das Laken. Wenn alles zusammengepackt ist, bringst du es
runter, ich trage das Bild. Und vergiss deine MP nicht, du
Hohlkopf. Wunderst dich wohl, weshalb der Herr Rittmeister geknurrt
hat? Hattest die MP hingeworfen! Man darf seine Waffe nicht aus der
Hand geben. Noch dazu im Kampf. Ach je, du Dörfler …«
»Lass das Gefasel, Pandi«, unterbrach Gai ihn
ärgerlich. »Schnapp dir das Bild und geh!«
In der Tür drehte sich Gai noch einmal zu Maxim um
und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Dann verschwand er.
Einige Zeit hörte man noch, wie Pandi beim Hinuntersteigen lauthals
»Gib Ruhe, Alte« sang. Maxim seufzte, legte die Maschinenpistole
auf den Tisch und ging zu den Bücherhaufen, die sich auf Bett und
Fußboden türmten. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er noch
nirgendwo so viele Bücher gesehen hatte wie hier, höchstens in der
Bibliothek. In den Buchhandlungen standen auch sehr viele, aber
immer die gleichen - laufende Meter derselben Bände.
Hier aber waren alle Titel verschieden. Es gab alte
Bücher mit vergilbten Seiten; einige waren angesengt, andere, zu
Maxims Verwunderung, spürbar radioaktiv. Doch er hatte keine Zeit,
sie gründlich durchzusehen und las nur die Titel. Ja, hier standen
weder Bücher wie »Kolizu Felsch oder Der tollkühne Brigadegeneral
und seine Heldentaten« noch Romane
wie »Liebe und Hingabe des Zauberers« oder voluminöse Poeme wie
»Flammendes Frauenherz«, auch keine Aufklärungsbroschüren wie
»Grundlagen der Sozialhygiene«. Maxim entdeckte viele ernsthafte
Werke: »Evolutionstheorie«, »Probleme der Arbeiterbewegung«,
»Finanzpolitik und wirtschaftliche Gesundheit des Staates«, »Hunger
- Stimulus oder Hemmnis«, dazu »Kritiken«, »Lehrgänge«,
»Grundlagen« und weitere Termini, die er nicht kannte. Hier gab es
Sammlungen mittelalterlicher hontischer Dichtung, Märchen und
Balladen von Völkern, die Maxim nicht kannte, die vierbändigen
Gesammelten Werke eines gewissen T. Kuur und viel Belletristik:
»Sturm und Gras«, »Der Mann, der das Weltlicht war«, »Inseln ohne
Blau« und viele Bücher in unbekannten Sprachen, weitere Bücher über
Mathematik, Physik, Biologie, dann wieder Belletristik …
Er packte die beiden Bündel und verharrte ein paar
Sekunden. Sein Blick wanderte durch das Zimmer: leere, umgestürzte
Regale, dunkle Flecken, wo früher Bilder hingen, die Bilder aus den
Rahmen gerissen, zertreten, aber keinerlei Anzeichen zahnärztlicher
Technik. Er nahm die Bücher und ging zur Tür, entsann sich dann
aber seiner Maschinenpistole und kehrte noch einmal um. Auf dem
Tisch lagen unter Glas zwei Fotografien. Eine zeigte die
durchsichtige Frau, sie hielt einen etwa vierjährigen Jungen mit
staunend aufgerissenem Mund auf den Knien und war jung, zufrieden,
stolz. Das andere war eine eindrucksvolle Gebirgsaufnahme, mit
dunklen Baumgruppen, einem alten, halb zerfallenen Turm. Maxim hing
sich seine Waffe um und ging zurück zu den Bündeln.
7
Morgens nach dem Frühstück trat die Brigade auf
dem Exerzierplatz an, zwecks Befehlsausgabe und Ausrücken zu den
Übungen. Für Maxim war das die qualvollste Prozedur des Tages, wenn
man von den Abendappellen einmal absah. Die Befehlsausgabe endete
jedes Mal mit geradezu paroxystischer Ekstase: blind, sinnlos und
unnatürlich, ohne jeden Grund und für jeden Außenstehenden ganz und
gar unangenehm. Maxim unterdrückte seinen unwillkürlichen Abscheu
gegen diesen Irrsinn, der die gesamte Brigade vom Kommandeur bis
zum Anwärter erfasste. Er sagte sich, er sei wohl einfach nicht
imstande, die Begeisterung nachzufühlen, die die Gardisten für die
Tätigkeit der Brigadekanzlei aufbrachten. Er schalt sich für seinen
Skeptizismus, den er als Fremder an den Tag legte, versuchte,
selbst Begeisterung zu empfinden und redete sich ein, unter den
schweren Bedingungen, die im Land herrschten, zeugten solche
Ausbrüche von Massenenthusiasmus von der Geschlossenheit der Leute,
von ihrer Einmütigkeit und Bereitschaft, sich ganz der gemeinsamen
Sache zu widmen. Und dennoch: Es fiel ihm schwer.
Von klein auf war Maxim zu Zurückhaltung und
Selbstironie erzogen worden, zum Abscheu vor großen Worten im
Allgemeinen und vor feierlichen Chorgesängen im Besonderen. Und so
war er fast böse auf seine Kameraden - eigentlich liebe, aufrechte
und großartige Jungs -, wenn sie, nachdem man den Befehl verlesen
hatte, Anwärter A werde wegen eines Streits mit dem Soldaten B mit
drei Tagen Arrest bestraft, plötzlich ihre Gutmütigkeit und ihren
Humor vergaßen, die Mäuler aufrissen und begeistert »Hurra«
schrien, um dann mit Tränen in den Augen den »Marsch der Kämpfenden
Garde« zu singen, zweimal, dreimal, mitunter auch viermal. Sogar
die Köche aus der Brigadeküche stürzten dann herbei und grölten
enthusiastisch mit, ungestüm Messer und
Schöpfkellen schwenkend, zum Glück außerhalb des Glieds. Da Maxim
in dieser Welt wie alle sein sollte, sang auch er und versuchte,
seinen Humor zu vergessen. Es gelang ihm auch, war aber
widerwärtig, denn statt Begeisterung fühlte er nur
Verlegenheit.
Diesmal brach die Euphorie nach dem Befehl Nummer
127 aus - der Beförderung des Soldaten Dimba zum Korporal, nach dem
Befehl 128 - einem Dank an den Anwärter Sim für seine Tapferkeit
während der Operation, und nach Befehl Nummer 129, der die
Renovierung der Kaserne der vierten Kompanie ankündigte. Der
Brigadeadjutant hatte kaum die entsprechenden Unterlagen in seiner
Ledermappe verstaut, da riss sich der General das Barett vom Kopf,
sog die Lungen voll Luft und kreischte in heiserem Falsett:
»Gardisten … Voran! Alle Feinde …« Und es ging los! Heute war es
besonders peinlich. Tränen kullerten über Rittmeister Tschatschus
dunkle Wangen, die Gardisten brüllten wie Stiere und schlugen mit
den Gewehrkolben auf den massiven Koppelschlössern den Takt. Um
nichts zu sehen und zu hören, schloss Maxim fest die Augen; er
schrie mit, wie ein angestochener Tachorg, und seine Stimme
übertönte alle anderen, zumindest schien es ihm so. »Voran, ohne
Furcht«, sang er. Was für ein idiotischer Text! Bestimmt von
irgendeinem Korporal verfasst. Man musste seine Sache sehr lieben,
um mit solchen Phrasen in den Kampf zu ziehen. Maxim öffnete die
Augen. Ein dichter Schwarm schwarzer Vögel schoss lautlos über den
Platz. »Dein diamantner Panzer schützt dich nicht, o Feind …«
Dann endete alles so plötzlich, wie es begonnen
hatte. Der Brigadegeneral blickte aus glanzlosen Augen auf die
Reihen, erinnerte sich wieder, wo er war, und kommandierte mit noch
weinerlicher, brüchiger Stimme: »Die Herren Offiziere führen die
Kompanien zu den Übungen.« Die Jungs schüttelten sich ein wenig und
sahen einander verdutzt an. Anscheinend
begriffen sie nichts, und Rittmeister Tschatschu musste zweimal
»Richt’ euch!« rufen, ehe die Reihen standen. Dann marschierte die
Kompanie zur Kaserne, und der Rittmeister befahl: »Erste Gruppe
Eskorte! Die anderen Übungen nach Dienstplan! Wegtreten!«
Die Kompanie ging auseinander. Gai formierte seine
Gruppe und gab die Positionen bekannt. Anwärter Maxim hatte sich
mit Soldat Pandi ins Vernehmungszimmer zu begeben. In aller Eile
erklärte Gai ihm, was er zu tun habe: sich rechts, beziehungsweise
hinter dem Verhafteten zu postieren und selbst den kleinsten
Versuch, sich vom Fleck zu rühren, mit Gewalt zu verhindern. Sie
würden unmittelbar dem Brigadekommandeur unterstellt sein,
verantwortlich sei Soldat Pandi. Kurz: Achte auf Pandis
Beispiel.
»Ich hätte dich niemals dazu eingeteilt. Es kommt
dir als Anwärter gar nicht zu. Aber der Herr Rittmeister hat es
befohlen. Halt die Ohren steif, Mak! Ganz versteh ich den Herrn
Rittmeister nicht. Vielleicht will er dich möglichst schnell
befördern - du hast ihm während der Aktion sehr gefallen. Gestern
bei der Auswertung mit den Gruppenführern hat er mehrfach von dir
gesprochen und dich durch diesen Befehl ausgezeichnet. Oder aber er
prüft dich. Warum - weiß ich nicht. Vielleicht ist mein Bericht
schuld, vielleicht aber auch dein dummes Gerede.« Besorgt musterte
er Maxim. »Putz nochmal die Stiefel, schnall das Koppel straff und
zieh die Paradehandschuhe an. Ach, du hast ja keine, für Anwärter
sind sie nicht vorgesehen. Gut, dann lauf zur Kleiderkammer. Und
mach schnell, in dreißig Minuten rücken wir aus.«
In der Kleiderkammer traf Maxim auf Pandi, der
seine beschädigte Kokarde umtauschte.
»Da, Korporal!«, sagte Pandi zum Verwalter der
Kleiderkammer und klopfte Maxim auf die Schulter. »Schau ihn dir
an! Den neunten Tag ist er in der Garde - und schon ein
Dank. Ins Vernehmungszimmer soll er, zusammen mit mir. Kommst doch
bestimmt wegen weißer Handschuhe? Gib ihm möglichst gute, Korporal,
er hat sie verdient. Der Bursche ist ein Ass!«
Der Korporal brummte unzufrieden, kroch zwischen
die Regale, die vollgestopft waren mit Kleidung und
Ausrüstungsgegenständen, warf mehrere Paare weißer Zwirnhandschuhe
vor Maxim auf den Tisch und knurrte geringschätzig: »Ein Ass! Ja,
bei den Verrückten hier, da seid ihr Asse. Wenn einem vor Schmerzen
die Eingeweide zerreißen, steckt man ihn leicht in den Sack. Da
wäre sogar mein Großvater ein Ass, ohne Arme und Beine.«
Pandi war beleidigt.
»Dein Großvater hätte sich flugs davongemacht, ohne
Arme und Beine«, entgegnete er, »wenn er plötzlich in zwei
Pistolenläufe geschaut hätte. Ich dachte schon, jetzt ist es aus
mit dem Herrn Rittmeister.«
»Aus«, äffte der Korporal ihn nach. »Rollt ihr erst
mal zur Südgrenze. Und dann, in einem halben Jahr, werden wir
sehen, wer sich flugs davongemacht hat.«
Sie verließen die Kleiderkammer. Dann fragte Maxim
so ehrerbietig er konnte (denn der alte Pandi mochte es, wenn man
ihm Respekt zollte): »Herr Pandi, warum haben die Entarteten solche
Schmerzen? Und alle gleichzeitig! Wie kommt das?«
»Vor Angst«, antwortete Pandi und senkte
wichtigtuerisch die Stimme. »Sind eben entartet, verstehst du?
Musst mehr lesen, Mak! Es gibt eine Broschüre: ›Die Entarteten. Ihr
Wesen und ihre Herkunft‹. Lies sie durch und merke es dir gut,
sonst bist und bleibst du ein Dummkopf. Tapferkeit alleine reicht
nicht weit.« Er schwieg eine Weile. »Wenn wir erregt, wütend oder
erschrocken sind, so ist das nicht weiter tragisch. Denn uns bricht
schlimmstenfalls der Schweiß aus, oder die Knie schlottern. Aber
der Organismus der Entarteten ist unnormal,
eben entartet. Hat so einer Angst oder ist wütend auf jemanden,
bekommt er furchtbare Schmerzen, im Kopf, aber auch im ganzen
Körper. Bis zur Ohnmacht. Verstanden? Daran erkennen wir sie und
können sie ergreifen. Nehmen sie hopp. Deine Handschuhe sind schön,
würden mir genau passen. Was meinst du?«
»Mir sind sie etwas eng, Herr Pandi«, klagte Maxim.
»Tauschen wir: Sie bekommen diese und geben mir Ihre
abgetragenen.«
Pandi war sehr zufrieden. Maxim ebenso. Plötzlich
kam ihm Fank in den Sinn, wie er sich im Auto krümmte, in Krämpfen
wälzte. Und wie ihn die Gardepatrouille verhaftete. Nur - worüber
konnte Fank so erschrocken gewesen sein? Oder auf wen wütend? Er
hatte sich doch gar nicht aufgeregt, ruhig seinen Wagen gelenkt,
vor sich hin gepfiffen. Irgendetwas wollte er gern. Wahrscheinlich
rauchen. Er hatte sich noch umgedreht und die Streife entdeckt.
Oder war das hinterher? Ja, er hatte es sehr eilig gehabt, aber der
Möbelwagen hatte ihm den Weg versperrt. Vielleicht war er deshalb
verärgert? Unsinn, was reime ich mir hier zusammen. Es gibt
schließlich alle möglichen Arten von Anfällen. Und festgenommen
wurde er wegen des Unfalls. Trotzdem wüsste ich gern, wohin er mich
bringen wollte und wer er ist. Wenn ich ihn nur finden
könnte.
Maxim putzte und polierte seine Stiefel, brachte
vor einem großen Spiegel seine Uniform in Ordnung, hängte sich die
Maschinenpistole um, blickte noch einmal in den Spiegel - und da
befahl Gai anzutreten.
Pedantisch musterte er alle, prüfte noch einmal, ob
sie ihre Pflichten kannten, und lief dann in die Schreibstube der
Kompanie. Die Gardisten spielten inzwischen »Seife«: Es wurden drei
Geschichten erzählt, die Maxim nicht verstand, weil er einige
Wendungen nicht kannte, und dann rückten ihm die Jungs auf die
Pelle. Er solle beichten, woher er seine Kraft
habe - in ihrer Gruppe ein schon gewohnter Scherz. Dann baten sie
ihn, ein paar Münzen zwischen den Fingern zu Tütchen zu drehen, zum
Andenken … Nun aber kam, von Gai begleitet, Rittmeister Tschatschu
aus der Schreibstube. Er besah sich die Männer ebenfalls sehr
genau, trat dann beiseite und sagte zu Gai: Ȇbernimm die Gruppe,
Korporal«. Und sie marschierten los.
Beim Hauptquartier angekommen, forderte der
Rittmeister den Soldaten Pandi und den Anwärter Sim auf, ihm zu
folgen. Gai und die anderen gingen weiter. In Begleitung des
Rittmeisters und Pandis betrat Maxim einen verrauchten, nicht allzu
großen Raum mit dicht verhängten Fenstern. Es roch nach Tabak und
Kölnischwasser. In der hinteren Hälfte stand ein riesiger leerer
Tisch und um ihn herum gepolsterte Stühle. An der Wand hing ein
altes, nachgedunkeltes Schlachtengemälde: Pferde, enge Uniformen,
blanke Säbel, viele Schwaden weißen Rauchs. Rechts neben der Tür,
zehn Schritt vom Tisch entfernt, sah Maxim einen eisernen Hocker,
dessen einziger Fuß mit mächtigen Schrauben fest im Boden verankert
war.
»Plätze einnehmen!«, kommandierte Tschatschu, ging
zum Tisch und setzte sich.
Pandi dirigierte Maxim sorgfältig rechts hinter den
Hocker, bezog selbst links davon Posten und flüsterte:
»Stillgestanden.« Beide erstarrten. Der Rittmeister hatte die Beine
übereinandergeschlagen, rauchte und blickte sie gleichgültig an.
Sehr gleichgültig, geradezu desinteressiert. Maxim spürte aber
deutlich, dass ihn der Rittmeister aufmerksam beobachtete - nur
ihn.
Die Tür hinter Pandi öffnete sich, und im selben
Moment tat dieser zwei Schritte vorwärts, einen Schritt nach rechts
und machte eine Linkswendung. Maxim zog es auch schon herum, doch
dann besann er sich, denn er stand ja gar nicht im Weg. So riss er
nur die Augen etwas weiter auf. Dieses
Spiel der Erwachsenen steckte doch tatsächlich an - obwohl es
primitiv war und, bedachte man die Notlage der bewohnten Insel,
vollkommen fehl am Platz.
Der Rittmeister erhob sich, drückte seine Zigarette
im Aschenbecher aus und begrüßte mit leichtem Zusammenschlagen der
Hacken den Brigadegeneral, einen Unbekannten in Zivil und den
Brigadeadjutanten, der eine dicke Mappe unter dem Arm trug. Alle
drei gingen nun zum Tisch. Der Brigadegeneral nahm in der Mitte
Platz. Er schaute mürrisch und unzufrieden drein, schob einen
Finger hinter den steifen Kragen und drehte einige Male den Kopf
hin und her, um den Kragen zu lockern. Der Zivilist, ein
unscheinbares Männlein mit einem gelblichen, schlaffen und schlecht
rasierten Gesicht, ließ sich lautlos neben ihm nieder. Der Adjutant
blieb stehen, öffnete seine Mappe und blätterte in den Papieren.
Einige reichte er dem General.
Pandi hatte kurze Zeit wie unentschlossen verharrt;
nun kehrte er mit ebenso exakten Bewegungen an seinen Platz zurück.
Am Tisch unterhielt man sich leise. »Kommst du heute zur
Versammlung, Tschatschu?«, fragte der Brigadegeneral. »Ich habe zu
tun!«, entgegnete der Rittmeister und zündete sich noch eine
Zigarette an. »Wirst es bereuen. Es gibt eine Diskussion.« - »Das
haben sie sich zu spät überlegt. Ich hab meine Meinung bereits
dargelegt.« - »Nicht auf die beste Weise«, mischte sich der
Zivilist behutsam ein. »Außerdem: Ändern sich die Umstände, ändern
sich auch die Meinungen.« - »Nicht bei uns in der Garde«, sagte der
Rittmeister schroff. »In der Tat, meine Herren«, näselte der
Brigadegeneral, »wir sollten uns heute aber trotzdem bei der
Versammlung treffen.« - »Ich habe gehört, sie hätten frische
Seepilze besorgt«, murmelte der Adjutant, während er weiter in
seinen Papieren wühlte. »Zum Bier - wäre das nichts, Rittmeister?«,
fiel der Zivilist ein. Doch Tschatschu lehnte ab: »Nein,
Herrschaften. Ich habe nur eine Meinung, und die
kennen Sie. Was aber das Bier betrifft …« Das Übrige verstand
Maxim nicht. Auf einmal lachten alle los, und der Rittmeister
lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Dann hörte der
Adjutant auf zu blättern, beugte sich zum Brigadegeneral und
flüsterte ihm etwas zu. Dieser nickte. Der Adjutant setzte sich und
sagte wie zu dem Eisenschemel: »Nole Renadu.«
Pandi stieß die Tür auf, lehnte sich hinaus und
wiederholte laut: »Nole Renadu.«
Eine Bewegung im Gang, und ein älterer, gut
gekleideter, doch etwas zerknitterter und zerzauster Mann trat mit
unsicherem Schritt ins Zimmer. Pandi nahm ihn am Ellenbogen und
drückte ihn auf den Hocker. Die Tür fiel ins Schloss. Der Mann
hustete laut, stützte die Arme auf die Knie und hob stolz den
Kopf.
»So …«, begann der Brigadegeneral, während er die
Akten studierte. Dann, plötzlich, überstürzten sich seine Worte:
»Nole Renadu, sechsundfünfzig, Hausbesitzer, Angehöriger der
Stadtverwaltung, Klubmitglied im ›Veteran‹, Mitgliedsnummer soundso
…« (Der Zivilist hielt die Hand vor den Mund und gähnte, zog eine
bunte Zeitschrift aus der Tasche, legte sie sich auf die Knie und
begann darin zu blättern.) »… Festgenommen dann und dann, dort und
dort … bei der Durchsuchung wurden konfisziert … So … Was haben Sie
in der Trompeterstraße acht gemacht?«
»Ich bin der Besitzer des Hauses«, antwortete
Renadu würdevoll. »Ich hatte eine Unterredung mit meinem
Verwalter.«
»Seine Papiere sind überprüft?«, wandte sich der
Brigadegeneral an den Adjutanten.
»Jawohl. Alles in Ordnung.«
»So …«, fuhr der General fort. »Sagen Sie, Herr
Renadu, ist Ihnen jemand von den Verhafteten bekannt?«
»Nein.« Renadu schüttelte energisch den Kopf.
»Wieso? Übrigens, der Familienname von dem einen, Ketschef. Ich
glaube, in meinem Haus wohnt ein gewisser Ketschef. Aber genau
weiß ich es nicht. Vielleicht irre ich mich, vielleicht wohnt er
nicht in diesem Haus. Ich hab nämlich noch zwei, eins davon
…«
»Verzeihung«, unterbrach ihn der Zivilist, ohne die
Augen von der Zeitschrift zu heben. »Haben Sie vielleicht darauf
geachtet, worüber sich die anderen Zelleninsassen
unterhielten?«
»Äh«, sagte Renadu langsam. »Ich muss gestehen. Sie
haben dort … äh … Insekten, so dass wir hauptsächlich über sie … In
einer Ecke wurde zwar geflüstert, aber ich habe nicht zugehört. Und
außerdem, diese Leute sind mir äußerst unangenehm. Ich bin Veteran.
Lieber hätte ich mit Insekten zu tun, hähä …«
»Natürlich«, stimmte der Brigadegeneral zu. »Gut.
Um Entschuldigung bitten wir Sie nicht, Herr Renadu. Hier sind Ihre
Papiere, Sie sind frei. Den Eskortenführer!«, sagte er
lauter.
Pandi öffnete die Tür. »Eskortenführer, zum
Brigadegeneral!«
»Von Entschuldigung ist keine Rede«, tat sich
Renadu wichtig. »Schuld bin nur ich, ich allein. Nicht einmal ich,
sondern das verfluchte Erbgut. Erlauben Sie?«, fragte er Maxim und
zeigte auf den Tisch, wo seine Dokumente lagen.
»Sitzen bleiben!«, sagte Pandi halblaut.
Gai kam herein. Der Brigadegeneral übergab ihm die
Papiere und befahl, Herrn Renadu das beschlagnahmte Eigentum
auszuhändigen. Dann war der Hausbesitzer entlassen.
»In der Privont Aiju«, sagte der Zivilist
nachdenklich, »ist es üblich, von jedem Entarteten - ich meine die
legalen - bei der Verhaftung eine Gebühr einzuziehen, als
freiwillige Spende zugunsten der Garde.«
»Bei uns ist das nicht üblich«, erwiderte der
General kalt. »Ich glaube, das ist ungesetzlich. Den Nächsten«,
befahl er.
»Rasche Mussai«, sagte der Adjutant zu dem eisernen
Schemel.
»Rasche Mussai«, echote Pandi durch die offene
Tür.
Rasche Mussai war ein dürrer, verhärmter Mann in
abgetragenem Hausmantel und mit nur einem Pantoffel. Kaum hatte er
sich gesetzt, lief der Brigadegeneral rot an und brüllte:
»Versteckst du dich, Dreckskerl?!«, worauf Rasche Mussai ebenso
wortreich wie verworren erklärte, dass er sich ganz und gar nicht
verstecke, aber eine kranke Frau habe und drei Kinder und seine
Miete nicht zahlen könne, dass man ihn schon zweimal festgenommen
und dann wieder laufen gelassen habe, dass er als Möbeltischler in
einer Fabrik arbeite und unschuldig sei. Maxim dachte, der
Angeklagte würde freigesprochen. Aber da erhob sich der
Brigadegeneral und verkündete, Rasche Mussai, zweiundvierzig Jahre
alt, verheiratet und das dritte Mal festgenommen, werde wegen
Verstoßes gegen den Ausweisungsbeschluss nach dem Gesetz über die
Vorbeugehaft zu sieben Jahren Zwangsarbeit mit anschließendem
Aufenthaltsverbot in den zentralen Bezirken verurteilt. Etwa eine
Minute brauchte der Gefangene, um das Gehörte zu begreifen, dann
folgte eine furchtbare Szene. Der erschütterte Möbeltischler
weinte, flehte zusammenhanglos um Vergebung, versuchte auf die Knie
zu fallen, schrie und wimmerte weiter, während Pandi ihn in den
Flur schleppte. Und wieder spürte Maxim Rittmeister Tschatschus
Blick auf sich ruhen.
»Kiwi Popschu«, verlangte der Adjutant.
Man stieß einen breitschultrigen jungen Mann
herein, dessen Gesicht von einer Hautkrankheit entstellt war. Der
Bursche erwies sich als Wohnungsdieb - ein auf frischer Tat
ertappter Wiederholungstäter. Er verhielt sich frech und
unterwürfig zugleich. Mal beschwor er die Herren Vorgesetzten, ihn
nicht eines grausamen Todes sterben zu lassen, kicherte dann wieder
hysterisch, machte spitze Bemerkungen und erzählte
Geschichten aus seinem Leben, die alle begannen: »Da gehe ich in
ein Haus …« Niemanden ließ er zu Wort kommen. Nach mehreren
erfolglosen Versuchen, ihm eine Frage zu stellen, lehnte sich der
Brigadegeneral zurück und blickte die Herren zur Rechten und zur
Linken entrüstet an. Rittmeister Tschatschu sagte lässig: »Anwärter
Sim, stopf dem Kerl das Maul.«
Maxim hatte keine Ahnung, wie man ein Maul stopft,
also packte er Kiwi Popschu einfach an der Schulter und rüttelte
ihn. Kiefer klappten aufeinander, der Bursche biss sich auf die
Zunge und verstummte. Der Zivilist, der den Verhafteten
interessiert beobachtet hatte, meinte: »Den nehme ich, der kann uns
nützen.«
»Sehr gut«, stimmte der Brigadegeneral zu und ließ
Kiwi Popschu zurück in die Zelle bringen.
Als der Gefangene fort war, sagte der Adjutant:
»Das war das Pack. Jetzt kommt die Gruppe.«
»Beginnen Sie mit dem Anführer«, riet der Zivilist.
»Wie hieß er gleich - Ketschef?«
Der Adjutant warf einen Blick in seine Akten und
sagte zu dem Eisenhocker: »Gel Ketschef.«
Man führte einen Bekannten herein: den Mann im
weißen Kittel. Er trug Handschellen und hielt deshalb die Fäuste
vorgestreckt. Seine Augen waren gerötet, das Gesicht aufgequollen.
Er setzte sich und starrte auf das Bild über dem
Brigadegeneral.
»Sie heißen Gel Ketschef?«, fragte dieser.
»Ja.«
»Zahnarzt?«
»War ich.«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Zahnarzt
Gobbi?«
»Ich habe seine Praxis gekauft.«
»Warum praktizieren Sie nicht?«
»Weil ich mein Sprechzimmer verkauft habe.«
»Warum?«
»Ein Engpass«, antwortete Ketschef.
»Was für eine Beziehung haben Sie zu Ordi
Tader?«
»Sie ist meine Frau.«
»Kinder?«
»Hatten wir. Einen Sohn.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß nicht.«
»Was taten Sie während des Krieges?«
»Ich habe gekämpft.«
»Wo? Welche Funktion?«
»Im Südwesten. Anfangs als Leiter des
Feldlazaretts, später als Kommandeur einer
Infanteriekompanie.«
»Verwundungen? Orden?«
»Beides.«
»Weshalb haben Sie sich zu staatsfeindlicher
Tätigkeit entschlossen?«
»Weil die Weltgeschichte nie zuvor einen
abscheulicheren Staat hervorgebracht hat«, sagte Ketschef. »Weil
ich meine Frau und mein Kind geliebt habe. Weil ihr meine Freunde
ermordet und mein Volk geschändet habt. Weil ich euch immer gehasst
habe. Reicht das?«
»Es reicht«, erwiderte der Brigadegeneral ruhig.
»Es ist mehr als genug. Verraten Sie uns lieber, wie viel Ihnen
Honti zahlt - oder bezahlt Sie Pandea?«
Der Mann im weißen Kittel lachte auf. Es klang
unheimlich: So könnte ein Toter lachen.
»Lassen Sie die Komödie, Brigadegeneral. Was soll
das …«
»Sie sind der Leiter der Gruppe?«
»Ja. War ich.«
»Welche Mitglieder Ihrer Organisation können Sie
nennen?«
»Keins.«
»Sind Sie sicher?«, fragte plötzlich der
Zivilist.
»Ja.«
»Sehen Sie, Ketschef«, fuhr der Zivilist sanft
fort. »Sie befinden sich in einer äußerst schwierigen Situation.
Über Ihre Gruppe wissen wir alles. Sogar einiges über deren
Verbindungen. Diese Informationen hat uns jemand zugespielt, und
jetzt hängt es ganz allein von uns ab, welchen Namen dieser Jemand
bekommt - Ketschef oder einen anderen …«
Ketschef hatte den Kopf gesenkt und schwieg.
»Sie!«, krächzte Rittmeister Tschatschu. »Sie, ein
ehemaliger Offizier! Verstehen Sie, was wir Ihnen anbieten? Nicht
das Leben, Massaraksch: die Ehre!«
Ketschef lachte wieder, hüstelte, gab aber kein
Wort von sich. Maxim spürte: Dieser Mann fürchtete nichts. Weder
den Tod noch die Schande. Denn beides lag hinter ihm. Er war
bereits tot und entehrt. Der Brigadegeneral zuckte mit den
Schultern. Dann erhob er sich und verkündete, Gel Ketschef, fünfzig
Jahre alt, verheiratet, Zahnarzt, werde entsprechend dem Gesetz
über sozialen Gesundheitsschutz zur Liquidation verurteilt. Die
Vollstreckung erfolge binnen achtundvierzig Stunden, Begnadigung
sei möglich, falls der Verurteilte sich einverstanden erkläre
auszusagen.
Nachdem man Ketschef abgeführt hatte, wandte sich
der Brigadegeneral unzufrieden an den Zivilen: »Ich verstehe dich
nicht. Er hat doch bereitwillig geredet. Ein typischer Schwätzer,
wie es bei euch so schön heißt. Ich versteh’s nicht …« Der Zivilist
grinste. »Deshalb befehligst du ja auch eine Brigade, mein Bester,
ich hingegen … eben bei uns.« - »Trotzdem«, nuschelte der
Brigadegeneral gekränkt. »Ein Anführer einer Gruppe, der
philosophiert, ich versteh’s nicht.« - »Aber mein Bester«, begann
der Zivilist noch einmal, »hast du je einen philosophierenden Toten
gesehen?« - »Unsinn …« - »Nein, im Ernst.« - »Du etwa?«, fragte der
Brigadegeneral. »Ja, gerade erst«, sagte der Zivile gewichtig. »Und
nicht zum ersten
Mal … ›Ich lebe, er ist tot - worüber sollen wir reden?‹ So
steht’s, glaube ich, bei Werbliban?« In diesem Moment sprang
Rittmeister Tschatschu auf, trat dicht an Maxim heran und fauchte
von unten herauf: »Wie stehst du denn da, Anwärter! Wohin guckst
du? Stillgestanden! Augen geradeaus! Den Blick fest!« Schwer atmend
musterte er Maxim einige Sekunden, und seine Pupillen weiteten und
verengten sich vor Wut. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und
griff nach einer Zigarette.
»So«, ließ sich der Adjutant vernehmen. »Bleiben
Ordi Tader, Memo Gramenu und noch zwei, die sich geweigert haben,
ihre Namen zu nennen.«
»Beginnen wir mit denen«, schlug der Zivilist vor.
»Ruft sie herein.«
»Nummer dreiundsiebzig-dreizehn«, sagte der
Adjutant.
Nummer dreiundsiebzig-dreizehn kam herein und
setzte sich auf den Eisenhocker. Trotz einer Armprothese trug auch
dieser Mann Handschellen. Er war hager, sehnig und hatte unnormal
dicke, zerbissene und angeschwollene Lippen.
»Ihr Name?«, fragte der Brigadegeneral.
»Welcher?«, erwiderte der Einarmige munter.
Maxim zuckte zusammen; er war sicher gewesen, der
Häftling würde schweigen.
»Sie haben mehrere? Dann nennen Sie den
jetzigen.«
»Mein jetziger Name ist
dreiundsiebzig-dreizehn.«
»Aha … Was haben Sie in Ketschefs Wohnung
gemacht?«
»Bin in Ohnmacht gefallen. Zu Ihrer Information:
Ich kann das sehr gut. Soll ich’s zeigen?«
»Bemühen Sie sich nicht«, mischte sich der Zivile
ein. Er war wütend. »Sie werden Ihr Talent noch brauchen.«
Der Einarmige brach in Gelächter aus, laut,
schallend, wie ein Junge. Maxim wurde mit Entsetzen klar, dass das
Lachen echt war. Die Männer am Tisch saßen da wie
versteinert.
»Massaraksch!«, rief der Gefangene schließlich und
wischte sich mit der Schulter die Tränen weg. »Das ist ja eine
Drohung! Freilich, sie sind noch ein junger Mann. Nach dem Umsturz
habt ihr alle Archive verbrannt und jetzt wisst ihr nicht einmal,
wie kleinkariert ihr geworden seid. Es war ein schwerer Fehler, die
alten Kader zu liquidieren: Sie hätten euch beigebracht, eure
Arbeit gelassen auszuüben. Sie haben zu viele Emotionen. Sie hassen
zu sehr. Aber seine Arbeit sollte man möglichst nüchtern erledigen,
nach Vorschrift - für Geld. Das beeindruckt Untersuchungsgefangene
ungeheuer. Es ist furchtbar, wenn man nicht vom Feind, sondern von
einem Beamten gefoltert wird. Sehen Sie sich meinen linken Arm an.
Den hat mir der gute alte Geheimdienst noch in der Vorkriegszeit
gekappt, in drei Etappen - und jede mit umfangreichem
Schriftwechsel. Die Folterknechte hatten eine schwere, undankbare
Aufgabe. Sie haben gelangweilt an meinem Arm herumgesägt und dabei
über ihre miserablen Gehälter geflucht. Und da bekam ich Angst und
habe nur mit großer Willensanstrengung nicht geredet. Aber jetzt …
Ich sehe ja, wie Sie mich hassen. Sie mich, und ich Sie. Das ist
gut. Aber Sie hassen mich noch nicht mal zwanzig Jahre, ich Sie
hingegen schon mehr als dreißig. Ich hab Sie schon gehasst, da sind
Sie noch unterm Tisch herumgelaufen und haben die Katzen gequält,
junger Mann.«
»Klar«, sagte der Zivilist. »Ein alter Hase. Ein
Freund der Arbeiter. Ich dachte, euch hätten sie schon alle
erledigt.«
»Darauf brauchen Sie nicht zu hoffen«, entgegnete
der Einarmige. »Sie sollten die Welt kennen, in der Sie leben.
Sonst bilden Sie sich noch allesamt ein, die alte Geschichte sei
vorbei und eine neue begonnen worden. Was für ein Unwissen! Es gibt
wirklich nichts, worüber man mit Ihnen reden könnte.«
»Ich glaube, es reicht«, wandte sich der
Brigadegeneral an den Zivilen.
Der schrieb schnell etwas auf seine Zeitschrift und
gab es dem Brigadegeneral zu lesen. Der wunderte sich, trommelte
mit den Fingern gegen sein Kinn und blickte den Zivilisten
zweifelnd an. Dieser lächelte. Da zuckte der Brigadegeneral mit den
Schultern, dachte kurz nach und fragte den Rittmeister: »Zeuge
Tschatschu, wie verhielt sich der Angeklagte bei der
Verhaftung?«
»Er wälzte sich auf dem Fußboden«, antwortete der
Rittmeister finster.
»Das heißt, Widerstand leistete er nicht … Soso …«
Der Brigadegeneral überlegte noch eine Weile, stand dann auf und
gab das Urteil bekannt: »Der Angeklagte dreiundsiebzig-dreizehn
wird zum Tode verurteilt, ohne konkreten Vollstreckungstermin. Bis
zur Hinrichtung verbleibt er in einem Erziehungslager.«
In Rittmeister Tschatschus Gesicht spiegelten sich
Verachtung, Unverständnis. Und der Einarmige lachte leise, als man
ihn hinausbrachte, und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen:
»Nein, so was!«
Nun kam Nummer dreiundsiebzig-vierzehn. Es war der
Mann, der sich schreiend auf dem Fußboden gewälzt hatte. Er trat
zwar herausfordernd auf, hatte aber große Angst. Schon von der
Schwelle aus verkündete er, dass er nicht zu antworten gedenke und
keinerlei Nachsicht wünsche. Er schwieg tatsächlich und reagierte
auf keine einzige Frage, nicht einmal auf die des Zivilisten, ob er
schlecht behandelt worden sei. Das Verhör endete damit, dass der
Brigadegeneral den Zivilisten ansah und etwas fragte. Der Zivilist
nickte. »Ja, zu mir.« Er wirkte sehr zufrieden.
Danach blätterte der Brigadegeneral die
verbliebenen Akten durch und sagte: »Kommen Sie, meine Herren,
gehen wir essen. Es ist unmöglich …«
Das Gericht entfernte sich. Maxim und Pandi
erhielten die Erlaubnis, bequem zu stehen. Als auch der Rittmeister
gegangen
war, schimpfte Pandi: »Hast du diese Monster gesehen? Schlimmer
noch als Schlangen, bei Gott. Und die Hauptsache: Hätten sie keine
Kopfschmerzen - wie sollte man sie als Entartete erkennen? Man mag
gar nicht dran denken.«
Maxim schwieg. Er wollte nicht reden. Sein
Weltbild, gestern noch logisch und klar, verschwamm allmählich und
verlor die Konturen. Übrigens brauchte Pandi keine Antwort. Er
streifte seine Handschuhe ab, um sie nicht zu beschmutzen, zog eine
Tüte Fruchtbonbons aus der Tasche, bot auch Maxim welche an und
erklärte ihm, warum er gerade diesen Dienst nicht ausstehen könne.
Denn erstens fürchte er, sich bei den Entarteten anzustecken, und
zweitens seien einige von ihnen, etwa dieser Einarm, dermaßen
frech, dass er sich enorm beherrschen müsse, damit er ihm keine
überbrate. Einmal habe er sich lange zusammengerissen, dann aber
losgedroschen - fast hätte man ihn zum Anwärter degradiert. Der
Rittmeister habe sich vor ihn gestellt und ihn nur für zwanzig Tage
eingebuchtet, danach noch vierzig Tage Ausgangssperre.
Maxim kaute seine Fruchtbonbons, hörte mit halbem
Ohr zu und sagte nichts. Hass, dachte er. Diese hassen jene, jene
hassen diese. Warum? Der abscheulichste Staat. Warum? Wie kommt er
darauf? Das Volk geschändet. Aber inwiefern? Was kann das bedeuten?
Und dieser Zivilist. Unmöglich, dass er mit Folter droht. Die gab
es früher, im Mittelalter. Obwohl, wenn man an den Faschismus
denkt. Vielleicht ist das ein faschistischer Staat? Massaraksch,
aber was ist denn Faschismus? Aggression, Rassentheorie … Hilter,
oder wie hieß der … nein … Hilmer … Ja, und die Theorie von der
Überlegenheit einer Rasse, Massenmord, Streben nach Weltherrschaft.
Lüge, zum Prinzip der Politik erhoben, staatliche Lüge - das habe
ich mir gemerkt, das hat mich am meisten entsetzt. Aber hier,
glaube ich, gibt es so etwas nicht. Gai ein Faschist? Und Rada?
Nein, das ist etwas anderes - Kriegsfolgen, eine Verrohung der
Sitten infolge der schlimmen Lage
im Land. Die Mehrheit ist bestrebt, den Widerstand der Minderheit
zu unterdrücken. Todesstrafe, Zwangsarbeit. Mir ist das zuwider,
aber was sollen sie tun? Und worin besteht eigentlich der
Widerstand? Ja, sie hassen die bestehende Ordnung. Doch was tun sie
konkret? Darüber ist kein Wort gefallen. Seltsam … Als ob sich die
Richter vorher mit den Angeklagten abgesprochen hätten und diese
einverstanden wären. Ja, sieht ganz danach aus. Die Angeklagten
versuchen, das Raketenabwehrsystem zu zerstören; den Richtern ist
das wohlbekannt, und die Angeklagten wissen, dass es den Richtern
bekannt ist. Alle bleiben bei ihren Überzeugungen, es gibt nichts
zu bereden; die bereits bestehenden Verhältnisse werden nur noch
offiziell bestätigt. Der eine wird liquidiert, der andere zur
»Erziehung« geschickt, der dritte … den dritten nimmt sich, warum
auch immer, der Zivilist. Man müsste den Zusammenhang kennen
zwischen den Kopfschmerzen und der Neigung zum Widerstand. Warum
wollen nur die Entarteten das Raketenabwehrsystem zerstören? Und
nicht einmal alle von ihnen?
»Herr Pandi«, fragte er, »wissen Sie, ob die
Hontianer alle entartet sind?«
Pandi grübelte. »Wie soll ich sagen, hm … Du musst
verstehen«, begann er schließlich, »unsere Ausbildung befasst sich
vor allem mit den städtischen Entarteten und den Wilden, die im
Süden hausen. Was in Honti los ist oder sonst wo, lernt man
wahrscheinlich bei der Armee. Vor allem musst du dir merken, dass
Honti der schlimmste äußere Feind unseres Staates ist. Vor dem
Krieg war es uns untertan, und jetzt rächt es sich grausam. Und die
Entarteten sind der innere Feind. Das wär’s. Klar?«
»Mehr oder weniger«, erwiderte Maxim. Sofort wurde
er von Pandi gerügt: Das sei in der Garde keine Antwort, in der
Garde heiße es »jawohl« oder »nein«; »mehr oder weniger« sei zivil.
Der Schwester des Korporals könne Maxim
so antworten, hier aber sei er im Dienst, hier sei es nicht
gestattet.
Vermutlich hätte er noch lange weiter geredet, das
Thema war ergiebig und lag ihm am Herzen, und der Zuhörer gab sich
aufmerksam und respektvoll - aber da kehrten die Herren Offiziere
zurück. Pandi verstummte mitten im Wort, flüsterte:
»Stillgestanden!«, und nahm ordnungsgemäß zwischen Tisch und
eisernem Hocker Haltung an. Auch Maxim erstarrte.
Die Offiziere waren bester Laune. Rittmeister
Tschatschu erzählte laut und mit leicht verächtlichem Gesicht, wie
sie im Jahre vierundachtzig rohen Teig direkt auf der glühend
heißen Panzerung backten und sich danach die Finger leckten. Der
Brigadegeneral und der Zivilist wandten ein, Kampfgeist sei zwar
gut und schön, aber auch die Küche der Garde müsse Niveau haben,
und je weniger Konserven sie verwende, desto besser. Die Augen halb
geschlossen, fing der Adjutant auf einmal an, auswendig aus
irgendeinem Kochbuch zu zitieren; die anderen lauschten ihm lange
und fast ergriffen. Endlich blieb der Adjutant stecken, räusperte
sich.
Der Brigadegeneral seufzte. »Ja, meine Herren …
Bringen wir’s zu Ende.«
Hüstelnd öffnete der Adjutant seine Mappe, kramte
in den Akten und sagte gepresst: »Ordi Tader.«
Die Frau war auch heute nahezu durchsichtig weiß,
so als sei sie noch immer bewusstlos. Kaum aber streckte Pandi den
Arm aus, um sie am Ellenbogen zu fassen und auf ihren Platz zu
drücken, wich sie so heftig zurück wie vor einer Natter. Man konnte
meinen, sie würde ihn jeden Augenblick schlagen. Doch ihre Hände
waren gefesselt, und so fauchte sie nur: »Rühr mich nicht an, du
Schwein!«, ging um Pandi herum und setzte sich.
Der Brigadegeneral stellte die üblichen Fragen. Sie
antwortete nicht. Der Zivilist erinnerte sie an ihr Kind, an ihren
Mann - sie schwieg. Sie hielt sich kerzengerade. Ihr Gesicht
konnte Maxim nicht sehen, nur ihren angespannten, mageren Hals,
die wirren hellen Haare. Und plötzlich sagte sie mit ruhiger tiefer
Stimme: »Ihr alle seid verdummte Idioten. Mörder. Ihr werdet alle
sterben. Du, Brigadegeneral - ich kenne dich nicht, sehe dich zum
ersten und letzten Mal. Du wirst einen furchtbaren Tod haben. Nicht
von meiner Hand, leider, aber er wird furchtbar sein. Und du,
Bluthund vom Geheimdienst. Zwei von deiner Sorte habe ich selbst
erledigt. Ich würde auch dich töten und würde dich kriegen, wenn
nicht diese Dreckskerle hinter mir stünden.« Sie holte tief Luft.
»Und du, Schwarzvisage, Kanonenfutter, fällst uns auch noch in die
Hände. Doch du stirbst einfach. Gel hat daneben geschossen, aber
ich kenne Leute, die treffen. Ihr alle hier werdet verrecken, lange
bevor wir eure verfluchten Türme plattmachen. Und das ist gut so.
Ich bete zu Gott, dass ihr eure Türme nicht überlebt, denn dann
kämt ihr ja zur Vernunft und würdet denen, die nach uns kommen,
leidtun, womöglich ließen sie euch laufen.«
Sie unterbrachen sie nicht, hörten aufmerksam zu.
Sie schienen bereit, ihr stundenlang zuzuhören, doch da stand sie
auf und machte einen Schritt zum Tisch hin. Pandi packte sie an der
Schulter und schleuderte sie auf den Schemel zurück. Dann spuckte
sie so kräftig aus, wie sie konnte, verfehlte aber die Offiziere,
fiel in sich zusammen und brach in Tränen aus. Einige Zeit
beobachteten die Männer, wie sie weinte. Dann erhob sich der
Brigadegeneral und verurteilte sie zum Tod binnen achtundvierzig
Stunden. Pandi griff sie am Ellenbogen und stieß sie hinaus, und
der Zivilist rieb sich die Hände und grinste: »Das war ein Fang!
Ausgezeichnete V-Leute.« Und der Brigadegeneral erwiderte: »Bedank
dich beim Rittmeister.« Und Tschatschu krächzte nur: »Singvögel«,
und alle verstummten.
Dann ließ der Adjutant Memo Gramenu bringen. Mit
ihm wurde nicht lange gefackelt: Er war derjenige gewesen, der im
Flur geschossen hatte. Bewaffneter Widerstand bei der Festnahme -
da war alles klar; man stellte ihm nicht einmal Fragen. Massig und
krumm hockte er da, und während der Brigadegeneral das Todesurteil
verlas, blickte er gleichgültig zur Decke. Er streichelte mit der
linken Hand seine rechte, deren ausgerenkte Finger mit einem Lappen
umwickelt waren. Maxim glaubte ihm eine widernatürliche Ruhe
anzumerken, nüchterne Selbstsicherheit und Gleichgültigkeit dem
gegenüber, was hier geschah, aber er war sich nicht ganz
sicher.
Sie hatten Gramenu noch nicht abgeführt, da
verstaute der Adjutant schon erleichtert die Akten in seiner Mappe,
unterhielt sich der Brigadegeneral mit dem Zivilisten über die
Beförderungsordnung, und Rittmeister Tschatschu kam zu Pandi und
Maxim und befahl ihnen wegzutreten. In seinen farblosen Augen
konnte Maxim eindeutig Spott und Drohung erkennen, aber das war ihm
im Moment egal. Voller Mitgefühl und ihn selbst befremdender
Neugier dachte er an denjenigen, dem es bevorstand, die Frau zu
töten. Denn das war etwas ganz Ungeheuerliches, Furchtbares. Doch
irgendwen würde es in den nächsten achtundvierzig Stunden
treffen.
8
Gai zog seinen Pyjama an, hängte die Uniform in
den Schrank und drehte sich zu Maxim um. Einen Stiefel in der Hand,
den anderen noch am Fuß, saß Anwärter Sim auf der Liege, die Rada
ihm in einer freien Ecke aufgestellt hatte; seine Augen starrten
zur Wand, der Mund stand halb offen. Gai schlich sich von der Seite
an und wollte dem Freund gegen die Nase schnipsen. Aber wie immer
traf er nicht, denn im letzten Moment wandte Mak den Kopf.
»Woran denkst du?«, versuchte Gai ihn zu necken.
»Leidest wohl, weil Rada nicht da ist? Hast eben Pech, Bruderherz,
heute hat sie Tagschicht.«
Mak lächelte schwach und befasste sich mit seinem
zweiten Stiefel. »Wieso - nicht da?«, murmelte er zerstreut.
»Erzähl keine Märchen …« Er hielt wieder inne. »Gai«, fuhr er fort,
»du hast immer gesagt, sie arbeiten für Geld …«
»Wer? Die Entarteten?«
»Ja. Du hast es oft gesagt - mir und auch den
Jungs. Hast sie ›bezahlte Agenten der Hontianer‹ genannt. Auch der
Rittmeister behauptet das, jeden Tag, immer wieder.«
»Was denn sonst?«, entgegnete Gai. Er vermutete,
dass Mak abermals über die Monotonie ihrer Argumente klagte. »Du
bist komisch, Mak. Wie können wir es mit anderen Worten erzählen,
wenn alles beim Alten bleibt? Die Entarteten sind nach wie vor
entartet. Früher erhielten sie Geld vom Feind, und jetzt ist es
ebenso. Im vergangenen Jahr beispielsweise, hat man eine Gruppe im
Randgebiet geschnappt - der ganze Keller lag voller Geld. Wie
sollten ehrliche Menschen zu solchem Reichtum kommen? Sind weder
Industrielle noch Bankiers … Und jetzt hat nicht einmal ein Bankier
so viel Geld, wenn er ein echter Patriot ist.«
Mak stellte die Stiefel ordentlich an die Wand,
stand auf und öffnete seinen Overall. »Gai«, begann er wieder,
»hast du mal erlebt, dass man etwas über jemand erzählt und du
diesen Menschen anschaust und fühlst: Es kann nicht stimmen. Es ist
ein Fehler, ein Missverständnis?«
»Das kommt vor.« Gais Gesicht verfinsterte sich.
»Wenn du allerdings die Entarteten …«
»Ja. Die meine ich. Ich habe sie mir heute
angesehen: normale Menschen! Verschieden natürlich - manche besser,
andere schlechter, einige mutig, andere feige -, keineswegs aber
Tiere, wie ich dachte und wie ihr alle denkt. Warte, unterbrich
mich nicht. Ich weiß nicht, ob sie euch wirklich schaden, das
heißt, anscheinend tun sie es. Aber ich glaube nicht, dass sie
gekauft sind.«
Gais Miene wurde noch düsterer. »Was heißt, du
glaubst es nicht? Schön, mich nimmst du vielleicht nicht ernst, ich
bin nur ein kleines Licht. Aber den Herrn Rittmeister? Und den
Brigadegeneral? Das Radio? Wie kann man den Unbekannten Vätern
nicht glauben? Sie lügen nie.«
Maxim streifte den Overall ab, trat ans Fenster und
blickte hinaus, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt und beide
Hände am Rahmen. »Wieso denn unbedingt lügen?«, sagte er halblaut.
»Und wenn sie irren?«
»Irren?«, wiederholte Gai befremdet und starrte auf
Maks nackten Rücken. »Wer irrt? Die Väter? Du hast Ideen … Die
Väter irren sich nie!«
»Möglich«, sagte Mak und drehte sich um. »Aber wir
reden jetzt nicht von ihnen. Es geht um die Entarteten. Du, zum
Beispiel, würdest doch für deine Sache sterben, wenn es sein
muss?«
»Natürlich«, antwortete Gai. »Du doch auch.«
»Ja. Würden wir. Für die Sache. Aber nicht für die
Gardistenverpflegung oder für Geld. Eine Milliarde eurer Scheinchen
könntet ihr mir hinblättern - ich würde dafür nicht in den Tod
gehen! Du etwa?«
»Natürlich nicht.« Gai seufzte. Dieser Mak ist
seltsam, dachte er. Immer denkt er sich was Neues aus.
»Und?«
»Was - und?«
»Versteh doch!« Mak wurde ungeduldig. »Du bist
nicht bereit, für Geld zu sterben. Ich bin nicht bereit, für Geld
zu sterben. Aber die Entarteten sollen es sein? So ein
Blödsinn!«
»Das sind doch Entartete!«, sagte Gai eindringlich.
»Deshalb sind sie ja entartet! Für sie ist Geld das Höchste. Nichts
ist ihnen heilig. Sie erdrosseln sogar Kinder - das hat es schon
gegeben. Was kann einer, der das Raketenabwehrsystem vernichten
will, für ein Mensch sein! Kaltblütige Mörder sind das!«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, erwiderte Mak.
»Sie sind heute verhört worden. Hätten sie ihre Komplizen verraten,
wären sie mit dem Leben davongekommen, hätten nur Zwangsarbeit
gekriegt. Aber sie haben keine Namen genannt. Folglich sind sie
ihnen mehr wert als Geld? Mehr als das Leben?«
»Das müsste sich erst herausstellen«, murmelte Gai.
»Laut Gesetz sind sie alle zum Tode verurteilt. Ohne jede
Verhandlung. Du hast ja gesehen, wie das vor sich geht.«
Er blickte den Freund an. Mak schien unschlüssig,
verwirrt. Er hat ein gutes Herz, dachte Gai, aber nicht die
leiseste Ahnung, und er begreift nicht, dass Härte gegen den Feind
nottut. Ihn anschnauzen sollte man, mit der Faust auf den Tisch
schlagen, damit er den Mund hält, nicht zu viel redet und auf
Ältere hört, solange er sich damit nicht auskennt. Er ist
schließlich kein ungebildeter Tölpel; wenn man es ihm vernünftig
erklärt, wird er es verstehen.
»Nein«, beharrte Mak eigensinnig. »Gegen Bezahlung
hasst man nicht. Sie aber hassen, hassen uns so sehr, ich wusste
gar nicht, dass Menschen so hassen können. Du hasst sie weniger als
sie dich. Und ich wüsste gern: warum?«
»Hör zu«, sagte Gai, »ich erkläre es dir noch
einmal. Erstens sind sie Entartete. Sie hassen überhaupt alle
normalen Menschen. Sind von Natur aus bösartig wie Ratten. Und
zweitens: Wir stören sie. Sie würden gern ihren Geschäften
nachgehen, Geld einstecken, herrlich und in Freuden leben. Wir aber
rufen: ›Stopp! Hände hinter den Kopf!‹ Sollen sie uns dafür
lieben?«
»Wenn sie alle böse wie Ratten sind, wieso ist es
dann dieser Hausbesitzer nicht? Warum hat man ihn laufen lassen,
wenn sie doch alle gekauft sind?«
Gai lachte. »Der Hausbesitzer ist ein Feigling.
Davon gibt es auch genügend. Sie hassen uns, aber sie haben Angst.
Für solche Leute ist es vorteilhafter, sich mit uns gutzustellen;
es sind nützliche, sozusagen legale Entartete. Zudem ist er
Hausbesitzer, ein reicher Mann, den kauft man nicht so leicht. Das
ist etwas anderes als dieser Zahnarzt. Du bist putzig wie ein Kind,
Mak. Die Menschen sind nicht alle gleich, und die Entarteten auch
nicht …«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Mak ungeduldig. »Was
aber den Zahnarzt betrifft: Ich wette meinen Kopf, dass dieser Mann
nicht bestechlich ist! Beweisen kann ich’s dir nicht, aber das
fühle ich. Er ist ein sehr tapferer, guter Mensch …«
»Ein Entarteter!«
»Einverstanden. Er ist ein tapferer, guter
Entarteter. Ich habe seine Bibliothek gesehen. Er ist sehr belesen.
Weiß tausendmal mehr als du oder der Rittmeister. Warum ist er
gegen uns? Wenn alles so ist, wie du behauptest - wie kann es dann
sein, dass dieser gebildete, kulturvolle Mensch es nicht weiß?
Weshalb schreit er uns an der Schwelle zum Grab ins Gesicht, er sei
für das Volk und gegen uns?«
»Ein gebildeter Entarteter ist ein Entarteter hoch
zwei«, dozierte Gai. »Seiner Natur entsprechend hasst er uns, und
die Bildung hilft ihm, diesen Hass zu begründen und zu verbreiten.
Bildung, mein Freund, ist nicht immer ein Segen. Wie bei der
Maschinenpistole kommt es drauf an, in wessen Händen sie
liegt.«
»Bildung ist immer ein Segen«, entgegnete Mak
überzeugt.
»Da irrst du. Mir wäre es lieber, die Hontianer
wären alle ungebildet. Dann könnten wir wenigstens wie Menschen
leben und müssten nicht ständig mit einem atomaren Angriff rechnen.
Im Handumdrehen hätten wir sie befriedet.«
»Ja«, sagte Mak mit einer merkwürdigen Betonung.
»Befrieden - das können wir. Brutalität ist uns nicht
abzusprechen.«
»Wieder redest du wie ein Kind. Nicht wir sind
brutal - die Zeit ist brutal. Wir kämen gern mit freundlichen
Worten und ohne Blutvergießen aus. Es wäre auch billiger. Aber was
sollen wir tun? Wenn man sie auf keine andere Weise umstimmen
kann.«
»Also haben die Entarteten eine Überzeugung?«,
parierte Mak. »Eine echte Überzeugung? Ist aber ein kluger Mensch
von seinem Recht überzeugt, was soll ihm dann das Geld der
Hontianer?«
Nun reichte es Gai. Er wollte gerade, als letztes
Mittel, den Kodex der Väter anführen und diesen dummen, endlosen
Streit damit beenden, da unterbrach sich Mak selbst, winkte ab und
rief: »Rada! Genug geschlafen! Die Gardisten haben Hunger und
sehnen sich nach weiblicher Gesellschaft!«
Zu Gais großer Verwunderung erklang hinter dem
Wandschirm Radas Stimme: »Ich bin längst wach. Ihr habt
herumgeschrien, meine Herren Gardisten, als wärt ihr auf eurem
Übungsplatz.«
»Warum bist du zu Hause!«, fuhr Gai sie an.
Rada trat hinter dem Schirm hervor, schloss im
Gehen die Knöpfe ihres Hauskleids.
»Ich bin entlassen«, erklärte sie. »Mutter Täj hat
eine Erbschaft gemacht, ihr Etablissement geschlossen und zieht
jetzt aufs Land. Aber sie hat mich schon weiterempfohlen für eine
gute Stelle. Mak, warum hast du deine Sachen überall verstreut?
Räum sie in den Schrank! Ich hatte euch doch gebeten, nicht mit
Stiefeln ins Zimmer zu kommen! Wo sind denn deine Stiefel, Gai?
Deckt den Tisch, wir essen gleich. Mak, du hast abgenommen. Was
machen sie dort mit dir?«
»Los, los«, rief Gai. »Rede nicht so viel, bring
lieber das Essen.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus und verließ das
Zimmer. Gai blickte zu Mak hinüber. Der sah dem Mädchen nach, wie
immer mit viel Zuneigung.
»Na, ist sie hübsch?«, frotzelte Gai - und
erschrak: Maks Miene war auf einmal wie versteinert. »Was hast
du?«
»Hör zu«, sagte Mak. »Alles darf man.
Wahrscheinlich sogar foltern - das wisst ihr besser als ich. Aber
Frauen erschießen, sie quälen …« Er nahm seine Stiefel und ging
hinaus.
Gai hüstelte, fuhr sich mit beiden Händen durch die
Haare und begann, den Tisch zu decken. Das Gespräch wirkte
unangenehm in ihm nach. Sehr zwiespältig. Sicher, Mak war noch jung
und nicht von dieser Welt. Aber er hatte wieder ganz erstaunliche
Dinge gesagt. Er war Logiker, das war’s, ein hervorragender
Logiker. Gerade hatte er zum Beispiel blanken Unsinn geredet - aber
wie folgerichtig der aufgebaut war! Ohne Maks Geschwätz wäre er,
Gai, gar nicht auf diesen eigentlich sehr einfachen Gedanken
gekommen: Entscheidend an den Entarteten ist - sie sind entartet!
Nimm ihnen diese Eigenschaft, und alle übrigen Anschuldigungen
gegen sie - Verrat, Menschenfresserei und so weiter - werden
plötzlich nichtig. Ja, der springende Punkt ist ihre Entartung, und
dass sie alles Normale hassen. Das genügt, das ›Gold der Hontianer‹
ist gar nicht so wichtig. Aber was sind die Hontianer - auch
Entartete? Das wurde uns nicht gesagt. Wären sie jedoch keine,
müssten unsere Entarteten sie hassen, ebenso wie uns. Massaraksch!
Diese verfluchte Logik …
Als Mak zurückkam, fiel Gai über ihn her: »Woher
wusstest du, dass Rada zu Hause ist?«
»Wie - woher? Das war doch klar …«
»Wenn es dir klar war, warum hast du mich nicht
darauf hingewiesen? Und warum, Massaraksch, hältst du dein Mundwerk
nicht, wenn Fremde dabei sind? Dreiunddreißigmal
Massaraksch.«
Mak wurde jetzt auch böse.
»Wer ist hier fremd, Massaraksch? Rada? Sie steht
mir näher als ihr alle mit eurem Rittmeister!«
»Massaraksch! Was besagt die Vorschrift zum
Dienstgeheimnis?«
»Massaraksch und Massaraksch! Was willst du von
mir? Ich wusste doch nicht, dass du nicht wusstest, dass sie hier
ist. Ich dachte, du erlaubst dir einen Scherz mit mir. Außerdem,
was für Geheimnisse haben wir schon ausgeplaudert …«
»Alles, was den Dienst betrifft.«
»Zum Teufel mit diesem Dienst, den ihr vor der
eigenen Schwester geheim halten müsst! Und überhaupt vor allen,
Massaraksch! In jedem Winkel steckt ein Geheimnis, man darf sich
nicht mehr drehen, den Mund nicht aufmachen!«
»Nun schreist du mich auch noch an! Ich bring dir
was bei, du Esel, und du schreist mich an!«
Aber Mak hatte sich schon wieder beruhigt.
Plötzlich stand er neben Gai, der nicht einmal Zeit hatte, sich zu
regen: Schon packten ihn starke Hände an den Hüften, das Zimmer
drehte sich vor seinen Augen, und die Decke rückte näher. Gai
stöhnte gepresst auf, als Mak ihn auf gestreckten Armen zum Fenster
trug. »Na, wohin jetzt mit dir und deinen Geheimnissen?«, fragte
er. »Da raus?«
»Lass diese dummen Späße, Massaraksch!«, schrie Gai
und ruderte krampfhaft mit den Armen, um Halt zu finden.
»Durch das Fenster willst du nicht? Gut, dann bleib
…«
Gai wurde zum Wandschirm getragen und auf Radas
Bett geworfen. Er setzte sich auf, zupfte seinen Pyjama zurecht und
knurrte: »Kraftprotz.« Auch er war nicht mehr böse. Auf wen hätte
er auch böse sein sollen - doch höchstens auf die Entarteten.
Sie deckten den Tisch. Dann kam Rada mit einem Topf
Suppe, gefolgt von Onkelchen Kaan und seinem Heiligtum: seinem
Flachmann, der, wie er beteuerte, das einzig wirksame Mittel gegen
Erkältungen und Alterswehwehchen darstellte. Sie setzten sich zum
Essen. Der Onkel trank ein Gläschen, schniefte laut und fing an,
über seinen Widersacher herzuziehen,
den Kollegen Schapschu. Der hatte wieder einmal einen Artikel über
die Funktion eines bestimmten Knochens bei einer bestimmten
Ureidechse geschrieben, und dabei beruhte der gesamte Artikel auf
Unsinn, nichts als Unsinn und war nur etwas für Ignoranten.
Für Onkel Kaan gab es eigentlich nur Ignoranten.
Die Kollegen von der Fakultät: Stümper - einige eifrig, andere
faul. Die Assistenten: seit ihrer Geburt Strohköpfe, sollten lieber
Vieh hüten in den Bergen - ob sie aber damit zurechtkämen, das sei
ebenfalls mehr als ungewiss. Und was die Studenten anging, so
schien die heutige Jugend ohnehin wie ausgewechselt: Es studierten
nur die allergrößten Idioten, die kein Unternehmer an seine
Drehbank ließe und kein Kommandeur je als Soldaten aufnähme. Das
Schicksal der Wissenschaft von den fossilen Tieren war also
besiegelt. Gai allerdings bedauerte es nicht allzu sehr. Gott mit
ihnen, diesen Fossilien - danach stand einem jetzt wahrhaftig nicht
der Sinn; überhaupt war ungewiss, wozu und wem dieses Fach je
nützen würde. Rada aber, die den Onkel sehr gern hatte, entrüstete
sich jedes Mal genauso wie er über die Dummheit seines Kollegen
Schapschu und war bekümmert, dass die Universitätsleitung die für
Expeditionen nötigen Mittel verweigerte.
Doch heute sprach man von etwas anderem. Rada
hatte, Massaraksch!, hinter ihrem Schirm alles gehört und fragte
nun den Onkel, worin sich die Entarteten von normalen Menschen
unterschieden. Gai warf Mak einen drohenden Blick zu und bat die
Schwester, ihren Lieben nicht den Appetit zu verderben, und
stattdessen die entsprechende Literatur zu lesen. Onkelchen Kaan
jedoch verkündete, diese Literatur sei für die dümmsten Dummköpfe
geschrieben, denn die Herrschaften aus der Abteilung Volksbildung
hielten alle anderen für ebensolche Analphabeten, wie sie es selbst
waren. Die Frage der Entarteten sei aber ganz und gar nicht so
einfach und belanglos, wie sie immer dargestellt werde - und das
nur, um eine bestimmte öffentliche Meinung zu erzeugen. Sie alle
hätten nun die Wahl, sich entweder wie kultivierte Menschen zu
benehmen oder wie die tapferen, doch leider ziemlich ungebildeten
Offiziere in den Kasernen. Mak schlug vor, der Abwechslung halber
einmal kultiviert zu sein. Der Onkel trank noch ein Gläschen und
erläuterte dann eine zurzeit in wissenschaftlichen Kreisen
verbreitete Theorie, nach der die Entarteten nichts anderes seien
als eine neue, durch radioaktive Strahlung entstandene biologische
Gattung.
»Die Entarteten sind ohne jeden Zweifel
gefährlich«, der Onkel hob den Zeigefinger, »und zwar noch viel
gefährlicher, als das in deinen billigen Broschüren dargestellt
wird, Gai. Die Entarteten sind aber nicht in sozialer oder
politischer Hinsicht gefährlich; denn sie kämpfen nicht gegen ein
bestimmtes Volk. Sie kämpfen gegen alle Völker, gegen alle
Nationalitäten und Rassen gleichzeitig. Sie kämpfen um ihren Platz
in der Welt, um die Existenz ihrer Spezies. Dieser Kampf ist
unabhängig von den sozialen Gegebenheiten, und enden wird er erst,
wenn entweder der letzte Mensch oder der letzte Mutant den
Schauplatz der biologischen Geschichte verlässt. ›Gold der
Hontianer‹ - so ein Quatsch!«, schrie der Professor aufgebracht.
»›Diversionen gegen das Raketenabwehrsystem‹ - alles Blödsinn!
Schaut nach Süden, meine Herren! Nach Süden! Hinter die Blaue
Schlange! Dort droht die wirkliche Gefahr. Von da werden, sich
immer weiter vermehrend, Kolonnen menschenähnlicher Ungeheuer über
uns hereinbrechen, um uns zu zertreten und auszulöschen. Du bist
ein Blinder, Gai. Auch deine Kommandeure sind blind. Es gilt, die
Zivilisation zu retten. Nicht irgendein Volk, nicht unsere Mütter
und Kinder - die gesamte Menschheit!«
Gai hielt ihm zornig entgegen, das Schicksal der
Menschheit interessiere ihn wenig. Er glaube nicht an solche
Hirngespinste, und fände sich eine Möglichkeit, die wilden
Entarteten auf Honti zu hetzen, damit sie seine Heimat verschonten,
so würde er dem sein ganzes Leben widmen. Der Professor nannte Gai
nun, abermals aufbrausend, einen verblendeten Blinden. Die
Unbekannten Väter seien wirklich Helden über alle Maßen: Sie
müssten einen sehr ungleichen Kampf führen, wenn die gesamte
Exekutive so erbärmlich sei und dermaßen mit Blindheit geschlagen,
wie Gai … Gai widersprach lieber nicht. Seiner Meinung nach hatte
Onkelchen Kaan keine Ahnung von Politik und wurde seinen Fossilen
immer ähnlicher. Nun fiel Mak ins Gespräch ein und wollte von dem
Entarteten erzählen, der schon vor dem Krieg gegen die Obrigkeit
gekämpft hatte. Aber Gai schnitt ihm das Wort ab, damit er kein
Dienstgeheimnis ausplauderte. Dann bat er Rada, das Hauptgericht zu
bringen, und Mak, den Fernseher einzuschalten. »Heute wurde schon
zu viel geredet«, sagte er. »Gönnt einem Soldaten beim Ausgang ein
wenig Entspannung.«
Aber Gais Phantasie war geweckt; im Fernsehen lief
Unsinn, und so begann er, von den wilden Entarteten zu erzählen. Er
wusste ja manches über sie - schließlich hatte er, Gott sei Dank!,
drei Jahre gegen sie gekämpft und nicht im Hinterland gehockt wie
gewisse Philosophen … Rada war wegen des Onkels gekränkt und
schimpfte Gai einen Angeber. Der Onkel und Mak hingegen ergriffen,
wer weiß, warum, für ihn Partei und baten ihn weiterzureden. Gai
aber stellte sich stur: Kein Wort würde er mehr sagen. Zum einen
war er tatsächlich ein wenig beleidigt, zum anderen konnte er sich
trotz aller Mühe an nichts erinnern, womit er die dummen Ideen des
alten Säufers hätte widerlegen können. Die Entarteten des Südens
waren in der Tat grausame, absolut gnadenlose Wesen und würden ohne
Zweifel bei der ersten Gelegenheit die ganze Menschheit ausrotten;
vielleicht hätten sie sogar Spaß dabei. Dann aber kam Gai die Idee,
dem Onkel eine These aufzutischen, die er einmal von Sef, dem
Ältesten der 134. Todeskandidaten-Gruppe, gehört hatte. Nach
Auffassung der Rotvisage
rührten die zunehmenden Aktivitäten der Missgeburten daher, dass
auch ihnen die radioaktive Wüste zu schaffen machte und sie nicht
mehr wussten, wo sie bleiben sollten. Der einzige Ausweg für sie
schien der gewaltsame Vorstoß nach Norden zu sein, in die
nichtradioaktiven Gebiete des Landes.
»Wer hat das behauptet?«, fragte der Onkel
verächtlich. »Von welchem Vollidioten stammt dieser vollkommen
primitive Gedanke?«
Gai sah ihn schadenfroh an und antwortete
gewichtig: »Das ist die Meinung eines gewissen Allu Sef, Träger des
Kaiserlichen Forschungspreises, eines der bedeutendsten Psychiater
unseres Landes.«
»Und wo hast du ihn getroffen?«, erkundigte sich
von oben herab der Onkel. »In der Kompanieküche?«
Gai wollte schon herausplatzen, woher er Sef
kannte, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Er setzte eine
bedeutende Miene auf, schaute zum Fernseher und lauschte dann sehr
aufmerksam dem Wetterbericht.
In dem Moment aber, Massaraksch!, mischte sich
schon wieder Mak ein. »Ich kann«, sagte er, »die Missgeburten im
Süden als neue menschliche Rasse akzeptieren. Aber wo ist die
Verbindung zwischen ihnen und dem Hausbesitzer Renadu, zum
Beispiel? Renadu zählt auch als Entarteter, gehört aber sicher
nicht zur neuen, sondern zur uralten Art von Menschen.« Darüber
hatte Gai nie nachgedacht, und er war froh, dass jetzt der Onkel in
die Bresche sprang: Onkelchen Kaan erklärte, dass die städtischen,
»getarnten« Entarteten nichts anderes seien als zufällig heil
davongekommene Exemplare dieser neuen Gattung, die ansonsten in den
zentralen Gebieten fast völlig vernichtet wurde. Er entsinne sich
noch an diese Gräuel. Man hatte die missgebildeten Säuglinge gleich
nach ihrer Geburt getötet, manchmal auch die Mütter. Und nur
diejenigen hätten überlebt, deren neue Artmerkmale
äußerlich nicht erkennbar gewesen seien. Onkel Kaan trank sein
fünftes Glas leer, kam in Fahrt und entwickelte einen genauen Plan
für die umfassende, totale medizinische Überprüfung der
Bevölkerung. Diese müsse früher oder später unweigerlich
durchgeführt werden - lieber früher als später. Und keine legalen
Entarteten! Keine Nachsicht! Das Unkraut müsse schonungslos
ausgerottet werden.
Damit beendeten sie ihr Essen. Rada spülte das
Geschirr. Der Onkel, der keine Einwände erwartete, sah sich
siegesgewiss um, verschloss den Flachmann, steckte ihn ein und
murmelte, er gehe jetzt, um diesem Nichtskönner Schapschu eine
Antwort zu schreiben. Aus irgendeinem Grund nahm er sein Glas mit.
Gai sah ihm hinterher - die abgewetzte Jacke, die alten, geflickten
Hosen, die gestopften Socken und abgetragenen Pantoffeln, und der
Alte tat ihm leid. Verfluchter Krieg! Früher gehörte dem Onkel eine
große Wohnung, er hatte eine Frau, einen Sohn, ein Dienstmädchen,
besaß kostbares Geschirr, Geld, sogar einen Landsitz - und jetzt?
Ein verstaubtes Arbeitszimmer voller Bücher, in dem er auch schlief
und wohnte, schäbige Kleider. Er war einsam, vergessen … Gai schob
sich den Sessel näher zum Fernseher, räkelte sich und blickte
schläfrig auf den Bildschirm. Mak saß noch einige Zeit neben ihm,
war dann aber plötzlich verschwunden - vollkommen lautlos, wie nur
er es konnte. Schon befand er sich in der anderen Ecke des Zimmers
und stöberte in Gais kleiner Bibliothek. Er griff sich ein Lehrbuch
heraus und blätterte darin, im Stehen, die Schulter gegen den
Kleiderschrank gelehnt. Jetzt setzte sich Rada zu ihrem Bruder,
begann zu stricken und verfolgte mit halbem Auge das
Fernsehprogramm. Im Haus wurde es ruhig und friedlich. Gai nickte
ein.
Er träumte unsinniges Zeug: In einem eisernen
Tunnel fing er zwei Entartete, verhörte sie und merkte plötzlich,
dass einer von ihnen Mak war. Der andere sagte, mild und gutherzig
lächelnd: »Du hast die ganze Zeit geirrt, Gai. Du gehörst zu uns.
Der Rittmeister ist ein professioneller Mörder, ohne Patriotismus,
ohne wahre Treue. Er tötet gern, so wie du gern Garnelensuppe
isst.« Und Gai drückten Zweifel, er fühlte, gleich würde er alles
verstehen. Noch eine Sekunde, und keine einzige Frage wäre mehr
offen. Diese ungewohnte Empfindung quälte ihn so sehr, dass sein
Herzschlag aussetzte und er erwachte.
Rada und Mak plauderten leise über Nichtigkeiten -
das Baden im Meer, den Sand, die Muscheln. Gai aber hörte nicht zu.
Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, er könne tatsächlich zu
Zweifeln fähig sein, zum Schwanken, zur Unsicherheit. Im Traum
hatte er gezweifelt. Bedeutete das nun, dass er auch in
Wirklichkeit unter diesen Umständen unsicher wäre? Einige Zeit
versuchte er, sich des Traumes in allen Einzelheiten zu erinnern,
aber er entglitt ihm, wie Seife aus nassen Händen. Am Ende erschien
er ihm ganz und gar unwahrscheinlich, und Gai dachte erleichtert,
es seien wohl doch nur Hirngespinste gewesen. Als Rada sah, dass er
nicht schlief, fragte sie ihn, was er für besser halte, Meer oder
Fluss, und Gai antwortete militärisch knapp, im Stil des alten
Doga: »Am besten ist ein gutes Schwitzbad.«
Im Fernsehen lief jetzt Ornamente. Es war
langweilig. Gai schlug vor, Bier zu trinken. Rada ging in die Küche
und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Sie sprachen über dies
und jenes, wobei sich herausstellte, dass Mak in der vergangenen
halben Stunde ein komplettes Lehrbuch der Geopolitik
durchgearbeitet hatte. Rada war begeistert. Gai aber wollte es
nicht glauben. Er behauptete, in dieser Zeit hätte man das Buch
durchblättern, bestenfalls den Text überfliegen können - allerdings
rein mechanisch und ohne etwas zu verstehen oder sich gar etwas zu
merken. Mak schlug eine Prüfung vor, und Gai erklärte sich bereit.
Sie schlossen folgende Wette: Der Verlierer sollte zu Onkelchen
Kaan gehen und ihm sagen,
Kollege Schapschu sei ein kluger Mann und ein hervorragender
Wissenschaftler. Gai öffnete das Lehrbuch, fand am Ende eines
Kapitels Kontrollfragen und begann: »Worin besteht die moralische
Größe der Nordexpansion unseres Staates?« Mak antwortete mit
eigenen Worten, blieb jedoch sehr nahe am Text und fügte hinzu, von
moralischer Größe könne seiner Meinung nach keine Rede sein,
entscheidend sei die Aggressivität der Regimes in Honti und Pandea.
Gai fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, feuchtete einen
Finger an und überschlug einige Seiten. »Wie hoch ist die mittlere
Getreideernte in den nordwestlichen Gebieten?« Mak lachte und
sagte, Daten über die nordwestlichen Gebiete gebe es nicht. Es war
unmöglich, ihm eine Falle zu stellen. Rada jubelte und streckte dem
Bruder die Zunge heraus. »Welcher spezifische demografische Druck
besteht im Mündungsgebiet der Blauen Schlange?«, fragte Gai. Mak
nannte die Zahl, auch die Toleranzquote, und versäumte nicht
hinzuzufügen, dass er die Bezeichnung »demografischer Druck« vage
finde. Jedenfalls begreife er nicht, weshalb sie eingeführt worden
sei. Gai begann ihm zu erklären, dass »demografischer Druck« die
Maßeinheit für die Aggressivität sei, doch da fiel ihm Rada ins
Wort: Er lenke ab und wolle sich wohl vor der weiteren Prüfung
drücken, weil er am Verlieren sei.
Gai hatte tatsächlich überhaupt keine Lust, zu
Onkel Kaan zu gehen. Und um Zeit zu gewinnen, fing er einen Streit
mit Rada an. Mak hörte eine Weile zu und sagte dann ganz
unvermittelt, Rada dürfe keinesfalls wieder als Kellnerin arbeiten
- sie müsse studieren. Froh über den Themenwechsel, rief Gai, er
habe das schon tausendmal gesagt und ihr vorgeschlagen, sich um
Aufnahme in das Frauenkorps der Garde zu bemühen, wo man einen
wahrhaft nützlichen Menschen aus ihr machen werde. Weiter kamen sie
in diesem Gespräch nicht; Mak schüttelte nur den Kopf, und Rada
äußerte sich, wie auch schon früher, sehr respektlos über das
Frauenkorps.
Gai aber wollte nicht streiten; er warf das
Lehrbuch hin, holte die Gitarre aus dem Schrank und begann sie zu
stimmen. Sofort schoben Rada und Mak den Tisch beiseite und
stellten sich einander gegenüber. Gai schlug kräftige Akkorde an,
klopfte den Takt und sah zu, wie sie tanzten. Ein schönes Paar,
dachte er, doch es gab keinen Platz, wo sie hätten zusammenleben
können. Heirateten sie, müsste Gai in die Kaserne ziehen, was aber
nicht so schlimm wäre, denn viele Korporale wohnten dort. Doch Mak
wirkte überhaupt nicht heiratslustig. Er behandelte Rada eher wie
einen guten Freund, wenn auch zartfühlender, achtungsvoller. Rada
hingegen war ganz sicher in ihn verliebt. Wie ihre Augen glänzten!
In so einen Burschen musste man sich wohl einfach verlieben. Sogar
die alte Madam Go, die schon weit über sechzig war, hatte es
erwischt: Kam Mak den Flur entlang, öffnete sie die Tür, steckte
ihren Schädel heraus und grinste über das ganze Gesicht. In der
Tat, Mak war im ganzen Haus beliebt. Auch die Jungs mochten ihn.
Nur der Herr Rittmeister behandelte ihn seltsam, obwohl auch er
nicht leugnete, dass der Bursche ein Teufelskerl war.
Die beiden tanzten bis zum Umfallen. Dann ließ sich
Mak Gais Gitarre geben, stimmte sie auf seine merkwürdige Weise und
fing an, diese eigenartigen Gebirgslieder zu singen. So viele
Lieder - und kein einziges war ihnen bekannt. Jedes Mal etwas
Neues. Und seltsam: Obwohl sie nichts verstanden, war ihnen vom
bloßen Zuhören mal zum Weinen und mal zum Lachen zumute. Einige
Melodien hatten sich Rada schon eingeprägt, und sie versuchte jetzt
mitzusummen. Besonders gefiel ihr ein Scherzlied (Mak hatte es
übersetzt) von einem Mädchen, das auf einem Berg sitzt und auf
seinen Freund wartet. Der aber kann einfach nicht zu ihr gelangen,
denn erst hindert ihn das eine, dann das andere … Spiel und Gesang
übertönten das Läuten an der Haustür. Gleich darauf klopfte es, und
ins Zimmer stürmte der Bursche des Herrn Rittmeisters
Tschatschu.
»Herr Korporal, gestatten zu melden!«, schnarrte
der Gardist und schielte zu Rada.
Mak unterbrach sein Gitarrenspiel. Gai sagte:
»Melden Sie!«
»Befehl vom Herrn Rittmeister: Sie und Anwärter Sim
haben sofort in der Schreibstube der Kompanie zu erscheinen. Das
Auto wartet unten.«
Gai sprang auf. »Wegtreten!«, rief er. »Gehen Sie
zum Wagen, wir kommen nach. Zieh dich schnell an!«, drängte er
Maxim.
Rada nahm die Gitarre in die Arme, behutsam wie
einen Säugling, und stellte sich ans Fenster, das Gesicht
abgewandt.
Gai und Mak zogen sich eilig an.
»Was meinst du, worum es geht?«, fragte Mak.
»Was weiß ich«, brummte Gai. »Vielleicht
Probealarm.«
»Mir gefällt das nicht«, sagte Mak.
Gai sah ihn an. Dann schaltete er das Radio ein,
vielleicht war dort etwas zu erfahren. Aber wie immer um diese
Zeit, brachte man »Müßige Gespräche tatkräftiger Frauen«.
Inzwischen hatten sie auch das Koppel umgeschnallt, und Gai
murmelte: »Rada, wir gehen.«
»Geht«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen.
»Los, Mak!« Gai stülpte sich das Barett auf.
»Ruft an«, bat Rada. »Wenn es länger dauert, ruft
unbedingt an.« Sie blickte immer noch aus dem Fenster.
Der Bursche des Rittmeisters öffnete Gai beflissen
die Wagentür. Dann stiegen sie ein und fuhren los. Es bestand
tatsächlich Grund zur Eile, denn der Fahrer raste mit
eingeschalteter Sirene los und fuhr auf der Reservespur. Gai
bedauerte, dass der Abend so geendet hatte; es war einer dieser
seltenen, sehr schönen Abende zu Hause gewesen, gemütlich, sorglos.
Aber so war das Gardistenleben. Nur ein paar Minuten nach der
Flasche Bier, dem Pyjama und den Liedern zur Gitarre
kann es heißen: Panzer besteigen, schießen! So war das wunderbare
Leben der Gardisten, und es war das beste von allen möglichen. Sie
brauchten weder Freundinnen noch Ehefrauen, und Mak tat gut daran,
Rada nicht zu heiraten, obwohl sie natürlich zu bedauern war. Macht
nichts, dachte er, würde sie eben warten. Wenn sie ihn liebte,
wartete sie.
Der Wagen rollte auf den Platz und bremste vor dem
Kasernentor. Gai stieg schnell aus und lief die Stufen hinauf. Vor
der Tür zur Schreibstube blieb er stehen, überprüfte den Sitz
seines Baretts und der Gürtelschnalle, brachte Maxims Äußeres in
Ordnung (Massaraksch! Immer stand ihm dieser Kragenknopf offen!)
und klopfte. »Herein!«, krächzte die vertraute Stimme. Gai
erstattete Meldung. Rittmeister Tschatschu saß in Mantel und Mütze
an seinem Tisch, trank Kaffee und rauchte, die Granathülse vor ihm
war voller Zigarettenstummel. Seitlich lagen zwei
Maschinenpistolen. Der Rittmeister erhob sich langsam, stützte
beide Hände schwer auf den Tisch, sah Mak an und sagte: »Anwärter
Sim. Du hast dich als hervorragender Kämpfer und treuer Kamerad
bewährt, so dass ich beim Brigadekommandeur um deine vorzeitige
Beförderung zum Ordentlichen Soldaten der Kämpfenden Garde
nachgesucht habe. Deine Feuertaufe hast du erfolgreich bestanden.
Bleibt die letzte Prüfung - durch Blut.«
Gai hatte nicht erwartet, dass dies so bald
geschehen würde, und sein Herz hüpfte vor Freude. Der Herr
Rittmeister war ein Mordskerl! Ein alter Haudegen! Und er, Gai,
dumm, wie er war, hatte geglaubt, Rittmeister Tschatschu versuche
Mak hereinzulegen. Gai warf dem Freund einen Blick zu, und seine
Begeisterung wurde sogleich gedämpft: Maks starres Gesicht und
seine aufgerissenen Augen entsprachen zwar ganz und gar der
Vorschrift, doch gerade in dieser Situation hätte er sie nicht so
streng zu befolgen brauchen.
»Ich übergebe dir hier den Befehl, Anwärter Sim.«
Der Rittmeister reichte Mak einen Bogen Papier. »Den ersten
schriftlichen Befehl an dich persönlich. Ich hoffe, es ist nicht
der letzte. Lies ihn durch und unterschreib.«
Mak überflog das Schreiben. Wieder stockte Gai das
Herz - aber nicht vor Freude, sondern in der Vorahnung von etwas
Ungutem. Maks Miene war noch immer ungerührt, und alles schien in
Ordnung zu sein, doch er hatte ein wenig gezögert, ehe er den Stift
nahm und unterschrieb. Rittmeister Tschatschu sah die Unterschrift
kurz an und legte das Blatt in seine Tasche.
»Korporal Gaal!« Er reichte Gai einen
verschlossenen Umschlag vom Tisch. »Geh zur Arrestzelle und bring
uns die Verurteilten. Nimm die MP mit … nein, diese dort, die am
Rand liegt.«
Gai hängte sich die Maschinenpistole über die
Schulter, machte kehrt und wandte sich zur Tür. Er hörte noch, wie
der Rittmeister zu Mak sagte: »Macht nichts, Anwärter, keine Bange!
Schlimm ist’s nur beim ersten Mal.«
Im Laufschritt überquerte Gai den Platz, händigte
dem wachhabenden Offizier im Brigadegefängnis das Kuvert aus,
unterschrieb an der vorgesehenen Stelle und erhielt seinerseits
alle nötigen Bescheinigungen. Dann brachte man ihm die
Verurteilten. Es waren zwei der ehemaligen Verschwörer - der dicke
Mann, dem Mak die Finger ausgerenkt hatte, und die Frau.
Massaraksch, das fehlte gerade! Die Frau hätte es nicht zu sein
brauchen, das war nichts für Mak. Gai führte die Gefangenen hinaus
auf den Platz und trieb sie zur Kaserne. Der Mann setzte mühsam
einen Fuß vor den anderen, sein Arm schlenkerte. Die Frau hingegen
hielt sich steif wie ein Stock, hatte die Hände in den
Jackentaschen vergraben und schien weder etwas zu hören noch zu
sehen. Massaraksch, warum sollte sie nichts für Mak sein? Dieses
Weib war genauso ein Scheusal wie der Mann. Weshalb sollten sie ihr
irgendwelche Sonderrechte zubilligen? Und weshalb, Massaraksch,
sollte der Anwärter Sim Sonderrechte genießen?
Mochte er sich dran gewöhnen, Massaraksch und Massaraksch.
Der Herr Rittmeister und Mak saßen bereits im
Wagen. Der Herr Rittmeister hinterm Steuer, Mak, die
Maschinenpistole zwischen den Knien, auf dem Rücksitz. Gai öffnete
die Tür, und die Verurteilten krochen hinein. »Auf den Boden!«,
befahl er. Gehorsam ließen sie sich auf dem Eisenboden nieder. Gai
nahm Mak gegenüber Platz. Er versuchte, einen Blick von ihm zu
erhaschen, doch Mak sah die Verurteilten an. Nein, er starrte auf
die Frau, die mit angezogenen Knien in sich zusammengesunken
schien. Ohne sich umzudrehen, fragte der Rittmeister: »Fertig?«,
und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Unterwegs wurde nicht gesprochen. Rittmeister
Tschatschu fuhr sehr schnell - wohl, um die Sache erledigt zu
haben, bevor es dämmerte. Wozu auch trödeln. Nach wie vor hielt Mak
seine Augen auf die Frau gerichtet, so als wollte er, dass ihre
Blicke sich träfen. Und Gai suchte noch immer nach Maks Blick. Die
Verurteilten rutschten, sich gegenseitig stützend, auf dem Boden
hin und her, der Dicke begann ein Gespräch mit der Frau, doch Gai
schrie ihn an. Sie verließen jetzt die Stadt, passierten den
südlichen Sicherheitsposten und bogen gleich darauf in einen halb
zugewachsenen Feldweg, der zu den Rosa Höhlen führte. Gai kannte
ihn, er kannte ihn sogar sehr gut … Das Auto rumpelte, man konnte
sich kaum halten. Mak hob seine Augen nach wie vor nicht, und diese
Halbtoten gingen Gai allmählich auf die Nerven: griffen ihm
immerfort an die Knie, um die Stöße abzufangen. Schließlich konnte
er sich nicht mehr zurückhalten und hieb diesem dicken Kerl seinen
Stiefel in die Rippen. Doch auch das half nicht; der Kerl
versuchte, sich weiter festzuhalten. Sie fuhren noch eine Kurve,
dann bremste der Wagen scharf und rollte langsam in einen
Steinbruch. Der Herr Rittmeister schaltete den Motor aus und
befahl: »Aussteigen!«
Es war schon etwa sechs Uhr abends, im Gelände
sammelte sich Abenddunst, die verwitterten Felsen schimmerten
rosig. Früher hatte man hier Marmor gewonnen. Doch wer brauchte den
jetzt noch …
Bald würde es so weit sein. Mak war noch immer der
ideale Soldat: keine überflüssige Bewegung, das Gesicht starr und
gleichgültig, die Augen in Erwartung der Befehle auf den
Vorgesetzten gerichtet. Der dicke Gefangene hielt sich wacker,
würdevoll. Scherereien würde es mit ihm wohl nicht geben. Das Weib
aber verlor zu guter Letzt doch noch die Fassung. Krampfhaft
presste sie immer wieder die Fäuste gegeneinander, drückte sie an
die Brust und ließ sie wieder sinken. Ganz ohne Hysterie wird es
nicht abgehen, dachte Gai, aber zur Exekution werden wir sie wohl
trotzdem nicht schleifen müssen.
Der Herr Rittmeister steckte sich eine Zigarette
an, schaute zum Himmel und wies Mak an: »Führe sie diesen Pfad
entlang. Bei den Höhlen siehst du dann schon, wohin du sie stellen
musst. Hinterher prüfst du auf jeden Fall, ob sie tot sind.
Notfalls erledigst du sie mit einem Kontrollschuss. Weißt du, was
das ist?«
»Jawohl!«, antwortete Mak mit ungerührter
Stimme.
»Du lügst, du weißt es nicht. In den Kopf musst du
treffen. Und nun los, Anwärter! Zurückkommen wirst du als
Ordentlicher Soldat.«
In diesem Moment ließ sich die Frau vernehmen:
»Wenn wenigstens einer von euch ein Mensch ist … sagt es meiner
Mutter … Entensiedlung Nummer zwei … ganz in der Nähe … Sie heißt
…«
»Erniedrige dich nicht!«, hörte man den tiefen Bass
des dicken Mannes.
»Sie heißt Illi Tader …«
»Du sollst dich nicht erniedrigen!« Der Untersetzte
hob die Stimme. Ohne auszuholen, schlug ihm Rittmeister Tschatschu
mit der Faust ins Gesicht. Der Gefangene verstummte, griff sich an
die Wange und blickte den Rittmeister hasserfüllt an.
»Los, Anwärter!«, wiederholte dieser.
Mak wandte sich den Verurteilten zu, machte eine
Bewegung mit seiner Maschinenpistole, und die beiden betraten den
Pfad. Die Frau drehte sich noch einmal um und rief: »Entensiedlung
zwei, Illi Tader!«
Mak folgte ihnen langsam, die Maschinenpistole im
Anschlag. Der Rittmeister öffnete die Wagentür, setzte sich
seitlich auf den Fahrersitz und streckte die Beine aus.
»Na, dann warten wir ein Viertelstündchen.«
»Jawohl, Herr Rittmeister«, antwortete Gai
mechanisch.
Er folgte Mak mit den Augen, bis die Gruppe hinter
einem Felsvorsprung verschwunden war. Auf dem Rückweg kaufen wir
eine Flasche Schnaps, dachte er. Soll er sich betrinken. Man sagt,
das hilft.
»Du darfst rauchen, Korporal«, krächzte der
Rittmeister.
»Danke, Herr Rittmeister, ich rauche nicht.«
Rittmeister Tschatschu spuckte weit aus. »Fürchtest
du nicht, dein Freund könnte dich enttäuschen?«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Gai unsicher.
»Obwohl es mir, wenn Sie erlauben, sehr leidtut, dass ihm die Frau
zufiel. Er ist ein Gebirgler, und bei denen …«
»Er ist so wenig Gebirgler wie du und ich«,
unterbrach ihn Rittmeister Tschatschu. »Und hier geht es auch nicht
um Frauen. Übrigens, warten wir ab. Womit wart ihr beschäftigt, als
ich euch holen ließ?«
»Wir haben gesungen, Herr Rittmeister.«
»Und was habt ihr gesungen?«
»Gebirgslieder, Herr Rittmeister. Er kennt
viele.«
Rittmeister Tschatschu stieg aus und ging auf dem
Pfad hin und her. Er sagte nichts mehr. Nach etwa zehn Minuten fing
er an, den »Marsch« zu pfeifen. Gai wartete auf die
Schüsse, doch sie fielen nicht. Langsam wurde er unruhig. Mak zu
entkommen war unvorstellbar, ihn zu entwaffnen ebenso. Warum also
schoss er nicht? Vielleicht hatte er die Gefangenen weiter geführt
als bis zur üblichen Stelle? Dort stank es, die Gräber für die
Hingerichteten waren flach, und Mak hatte einen sehr gut
entwickelten Geruchssinn. Der brachte es fertig, einzig und allein
vor Ekel noch fünf Kilometer weiter zu gehen.
»So …« Der Herr Rittmeister blieb stehen. »Das
war’s, Korporal Gaal! Ich fürchte, deinen Freund sehen wir nicht
wieder. Und du bist vermutlich die längste Zeit Korporal
gewesen.«
Gai sah ihn verwundert an. Der Rittmeister
grinste.
»Was glotzt du denn wie das Schwein auf den
Schinken? Dein Freund ist geflohen, desertiert! Er ist ein Feigling
und Verräter! Klar, Soldat Gaal?«
Gai war bestürzt. Weniger wegen Rittmeister
Tschatschus Worten als durch seinen Ton. Der Herr Rittmeister war
begeistert. Der Herr Rittmeister triumphierte. Der Herr Rittmeister
strahlte, als hätte er das große Los gezogen. Unwillkürlich glitt
Gais Blick in die Tiefe des Steinbruchs. Und da sah er Mak. Er
kehrte zurück. Allein. Die Maschinenpistole baumelte am Riemen in
seiner Hand.
»Massaraksch!« Der Rittmeister hatte Mak jetzt auch
entdeckt und schien verwirrt.
Schweigend verfolgten sie, wie Mak über das Geröll
balancierte und langsam näher kam, sahen seine ruhigen, gutmütigen
Gesichtszüge, die seltsamen Augen - und in Gais Kopf kreiste alles:
Schüsse waren nicht zu hören gewesen. Hatte Mak die Verurteilten
etwa erwürgt oder mit dem Kolben erschlagen, er, eine Frau? Nein,
Unsinn. Doch Schüsse hatte es nicht gegeben. Fünf Schritte vor
ihnen blieb Mak stehen, blickte Rittmeister Tschatschu ins Gesicht
und warf ihm die Maschinenpistole vor die Füße.
»Leben Sie wohl, Herr Rittmeister«, sagte er.
»Diese unglücklichen Menschen habe ich laufen lassen, und jetzt
gehe ich auch. Hier ist Ihre Waffe, die Uniform.« Während er das
Koppel löste, wandte er sich an Gai: »Das ist eine schmutzige
Sache, Gai. Sie haben uns betrogen.«
Er zog die Stiefel und den Overall aus, rollte
alles zu einem Bündel zusammen und war jetzt so, wie Gai ihn zum
ersten Mal gesehen hatte: an der Südgrenze, fast nackt, nur mit
kurzen, silbrig glänzenden Shorts bekleidet, jetzt sogar barfuß. Er
ging zum Wagen und legte das Bündel auf die Kühlerhaube. Gai
erschrak. Dann sah er zu Rittmeister Tschatschu hinüber und
erschrak noch mehr.
»Herr Rittmeister!«, rief er. »Er ist verrückt! Er
hat wieder …«
»Anwärter Sim!«, blaffte der Rittmeister, die Hand
an der Pistolentasche. »Steigen Sie in den Wagen! Sie sind
verhaftet.«
»Nein«, entgegnete Mak. »Sie irren. Ich bin frei.
Ich bin hier, um Gai zu holen. Gai, komm! Sie haben dich
reingelegt. Sie sind nicht anständig. Früher habe ich’s geahnt,
jetzt bin ich sicher.«
Gai schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erklären,
doch er fand weder Worte noch hatte er Zeit dazu. Der Rittmeister
zog die Pistole. »Anwärter Sim! In den Wagen!«, schnauzte er.
»Kommst du?«, fragte Mak.
Wieder schüttelte Gai den Kopf. Er starrte auf die
Waffe in Rittmeister Tschatschus Hand und dachte nur eins: Gleich
würde Mak erschossen. Und er wusste nicht, was er tun sollte.
»Na gut«, lenkte Mak ein. »Ich finde dich. Ich
bringe Licht in diese Angelegenheit und finde dich. Dein Platz ist
nicht hier. Gib Rada einen Kuss!«
Er drehte sich um und ging davon, über die Steine,
barfuß, und ebenso leicht wie zuvor in seinen Stiefeln. Gai
zitterte
am ganzen Leib und blickte stumm auf Maks breiten Rücken; er
wartete auf den Schuss, das schwarze kleine Loch unter dem linkem
Schulterblatt.
»Anwärter Sim!« Die Stimme des Rittmeisters klang
unbeteiligt. »Ich befehle Ihnen umzukehren. Andernfalls schieße
ich.«
Mak hielt an, drehte sich noch einmal um.
»Schießen?«, sagte er. »Auf mich? Warum? Aber das
ist jetzt unwichtig. Geben Sie mir Ihre Waffe.«
Der Herr Rittmeister zielte aus der Hüfte und
richtete langsam die Mündung auf Mak.
»Ich zähle bis drei. Setz dich ins Auto, Anwärter!
Eins …«
»Nun geben Sie mir schon die Pistole.« Mak näherte
sich mit ausgestreckter Hand dem Rittmeister
»Zwei!«, krächzte der Rittmeister.
»Nicht!«, schrie Gai.
Der Herr Rittmeister schoss. Mak stand schon nahe.
Die Kugel traf ihn in die Schulter, und er fuhr zurück, als sei er
auf ein Hindernis gestoßen.
»Narr!«, sagte Mak. »Geben Sie Ihre Waffe her, Sie
dummer, böser Narr!«
Er blieb nicht stehen, sondern kam, die Hand nach
der Pistole ausgestreckt, immer näher, und aus dem Loch in seiner
Schulter quoll plötzlich Blut. Der Herr Rittmeister gab einen
merkwürdigen Laut von sich, wich zurück und schoss dreimal, schnell
nacheinander, direkt in die breite, braune Brust. Mak wurde nach
hinten geschleudert, fiel auf den Rücken, sprang wieder auf,
stürzte noch einmal, erhob sich halb - und der Rittmeister, dem vor
Erregung die Knie eingeknickt waren und der halb am Boden saß, traf
ihn mit noch drei Kugeln. Mak wälzte sich auf den Bauch. Dann lag
er starr.
Vor Gais Augen verschwamm alles, die Füße trugen
ihn nicht mehr, und er sank auf das Trittbrett des Wagens. In
seinen
Ohren hallte das abscheuliche laute Knirschen, mit dem die Kugeln
in den Körper dieses merkwürdigen, ihm aber so lieben Menschen
eingedrungen waren. Kurze Zeit später kam er wieder zur Besinnung,
blieb aber noch eine Weile sitzen, da er noch nicht riskieren
wollte, sich auf die Beine zu stellen.
Maks gebräunter Körper lag zwischen weißrosa
Steinen und war selbst reglos wie ein Stein. Rittmeister Tschatschu
hockte noch an derselben Stelle, hielt die Pistole im Anschlag und
rauchte gierig, tief inhalierend. Gai beachtete er nicht. Als ihm
die Glut die Lippen versengte, warf er den Stummel weg und machte
zwei Schritte auf den Toten zu. Der zweite geriet schon sehr kurz -
er konnte sich nicht entschließen, näher an den Toten
heranzutreten. Aus zehn Schritt Entfernung feuerte er den
Kontrollschuss, traf aber nicht; Gai sah, wie neben Maks Kopf
Steinstaub aufgewirbelt wurde.
»Massaraksch!«, fauchte der Rittmeister und
nestelte an seiner Pistolentasche.
Er brauchte lange, um die Waffe einzustecken,
konnte den Knopf einfach nicht schließen. Dann kam er zu Gai,
packte ihn mit der verkrüppelten Hand an der Uniform und zog ihn
mit einem Ruck hoch. Heftig atmete er ihm ins Gesicht und lallte
wie ein Betrunkener: »Schön. Du bleibst Korporal. Doch in der Garde
hast du nichts mehr zu suchen. Du beantragst deine Versetzung in
die Armee. Steig ein.«
»Irgendetwas stinkt hier …«
»Irgendetwas stinkt hier«, sagte der
Papa.
»Wirklich?«, sagte der Schwiegervater. »Ich
rieche nichts.«
»Es stinkt, es stinkt«, sagte der Schwager
angewidert. »Nach irgendwas Verfaultem. Wie auf dem
Müllplatz.«
»Dann schimmeln vielleicht die Wände«, entschied
der Papa.
»Gestern habe ich den neuen Panzer gesehen«,
sagte der Onkel. »Einen ›Vampir‹. Ideale Abdichtung. Thermische
Schranke bis tausend Grad.«
»Sie haben wahrscheinlich schon unter dem
seligen Kaiser geschimmelt«, sagte der Papa, »und nach dem Umsturz
wurden sie nicht renoviert.«
»Hat er es bestätigt?«, wollte der Vetter vom
Onkel wissen.
»Hat er«, sagte der Onkel.
»Und wann geht er in Serie?«, fragte der
Vetter.
»Ist er schon«, sagte der Schwiegervater. »Zehn
Stück pro Tag.«
»Mit euren Panzern stehen wir bald ohne Hosen
da«, sagte der Schwager mürrisch.
»Lieber ohne Hosen als ohne Panzer«, entgegnete
der Onkel.
»Du bist Oberst gewesen«, antwortete ihm der
Schwager bärbeißig, »und bist es geblieben. Willst immerzu mit
Panzern spielen …«
»Irgendwie tut mir ein Zahn weh«, sagte der Papa
nachdenklich. »Wanderer, ist es denn so schwer, eine schmerzlose
Behandlung für Zähne zu erfinden?«
»Ich kann darüber nachdenken«, sagte der
Wanderer.
»Denk lieber über die schweren Systeme nach«,
sagte der Vetter verärgert.
»Ich kann auch über die schweren Systeme
nachdenken«, meinte der Wanderer.
»Lasst uns heute einmal nicht über schwere
Systeme reden«, schlug der Papa vor. »Lasst uns annehmen, es sei
nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Ich finde, es ist sehr wohl der richtige
Zeitpunkt dafür«, widersprach der Vetter. »Pandea hat noch eine
Division an die Grenze zu Honti verlegt.«
»Und was geht dich das an?«, knurrte der
Schwager.
»Viel geht mich das an«, antwortete der Vetter.
»Ich habe nämlich darüber nachgedacht. Ich halte es durchaus für
möglich, dass sich die Pandeaner in Honti einmischen und dort im
Handumdrehen ihren Mann an die Spitze bringen. Dann haben wir eine
vereinigte Front von fünfzig Millionen gegen unsere
vierzig.«
»Ich würde eine Menge darum geben, dass sie sich
in Honti einmischen«, sagte der Schwager. »Ihr denkt immer, wer das
schafft, hat einen Vorteil. Aber ich sage: Wer Honti anrührt, hat
verloren.«
»Kommt darauf an, wie man es anrührt«, sagte der
Schwiegervater leise. »Wenn man es vorsichtig macht, mit wenig
Truppen und ohne dort stecken zu bleiben - anrühren und sich sofort
zurückziehen, wenn sie aufhören, sich zu streiten … Und man müsste
vor den Pandeanern da sein …«
»Was wollen wir eigentlich?«, fragte der Onkel.
»Hontianer, die auf unserer Seite sind, vereinigte Hontianer ohne
Bürgerkrieg oder tote Hontianer - ohne Invasion ist das alles nicht
zu haben. Wir sollten uns auf eine Invasion einigen; alles Weitere
sind dann schon Einzelheiten. Für jede Variante haben wir unseren
Plan schon fertig.«
»Du willst uns partout ohne Hosen dastehen
lassen«, sagte der Schwager. »Wenn es nach dir geht - ohne Hosen,
Hauptsache mit Orden. Was bringt dir ein vereinigtes Honti, wenn du
ein gespaltenes Pandea haben kannst?«
»Spekulatives Geschwätz«, bemerkte der Vetter,
ohne sich direkt an jemanden zu wenden.
»Das ist nicht lustig«, sagte der Schwager.
»Unrealistische Varianten bringe ich hier nicht vor. Wenn ich etwas
sage, habe ich dafür Gründe.«
»Du kannst kaum ernsthafte Gründe haben«, sagte
der Schwiegervater sanft. »Dich lockt ja nur, dass die Lösung so
einfach scheint, und ich kann dich verstehen. Aber das Nordproblem
ist mit einem geringen Einsatz von Mitteln nicht zu lösen. Dort
hilft weder Putsch noch Umsturz. Dein Vorgänger hat Honti
gespalten, und jetzt müssen wir es wieder vereinigen. Putsch,
Gegenputsch - wenn wir nicht aufpassen, treiben wir es in die
Revolution. Bei denen ist es nicht wie bei uns …«
»Und du, Schlaukopf, warum sagst du nichts?«,
fragte der Papa. »Du bist doch bei uns der Schlaukopf.«
»Wenn die Väter sprechen, halten kluge Kinder
den Mund«, antwortete der Schlaukopf lächelnd.
»Nun sag schon, sag.«
»Ich bin kein Politiker«, wandte der Schlaukopf
ein. Alle lachten, der Onkel verschluckte sich sogar. Schlaukopf
fuhr fort: »Wirklich, meine Herren, da gibt es nichts zu lachen.
Ich bin bloß ein hoch spezialisierter Fachmann. Und als solcher
kann ich nur mitteilen, dass meinen Informationen zufolge die
Stimmung im Offizierskorps der Armee zum Krieg neigt.«
»Ach so?«, sagte der Papa und musterte ihn
eindringlich. »Du also auch?«
»Entschuldige, Papa«, sagte der Schlaukopf
hitzig. »Aber jetzt ist, glaube ich, ein sehr günstiger Zeitpunkt
für eine Invasion: Die Umrüstung der Armee ist fast
abgeschlossen.«
»Gut, gut«, lenkte der Papa ein. »Wir werden
nachher darüber reden.«
»Es ist ganz und gar unnötig, nachher darüber zu
reden«, entgegnete der Schwiegervater. »Wir sind hier unter uns,
und ein Fachmann ist verpflichtet, seine Ansicht zu äußern. Zu dem
Zweck wurde er schließlich in den Kreis aufgenommen.«
»Apropos Fachleute«, sagte der Papa. »Warum sehe
ich den Hampelmann nicht?«
»Der Hampelmann inspiziert gerade den
Verteidigungsgürtel in den Bergen«, sagte der Onkel. »Aber seine
Meinung ist sowieso bekannt. Er hat Angst um die Armee, als wäre es
seine eigene.«
»Ja«, sagte der Papa. »Mit dem Gebirge ist nicht
zu spaßen. Vetter, warst du das, der mir erzählt hat, in der Garde
sei ein Spion aus den Bergen entdeckt worden? Ja, meine Herren,
Norden hin, Norden her, aber im Osten warten die Berge und hinter
den Bergen der Ozean. Mit dem Norden werden wir irgendwie fertig.
Aber wenn ihr Krieg führen wollt - bitte, dann führen wir eben
Krieg, obwohl … Wie lange kommen wir hin, Wanderer?«
»Etwa zehn Tage«, sagte der Wanderer.
»Also schön, dann können wir fünf, sechs Tage
Krieg führen.«
»Der Plan für die Tiefeninvasion«, sagte der
Onkel, »sieht die Zerschlagung Hontis binnen acht Tagen
vor.«
»Guter Plan«, stimmte der Papa zu. »In Ordnung,
beschließen wir’s … Du scheinst dagegen zu sein,
Wanderer?«
»Mich geht das nichts an«, sagte der.
»Gut«, beschied der Papa. »Sei ruhig dagegen.
Was ist, Schwager, schließen wir uns der Mehrheit an?«
»Ach!«, sagte der Schwager erbost. »Macht doch,
was ihr wollt … Und er hatte Angst vor einer Revolution
…«
»Papa!«, triumphierte der Schwiegervater. »Ich
wusste, dass du auf unserer Seite stehst!«
»Klar doch!«, sagte der Papa. »Was sollte ich
auch ohne euch machen? Ich erinnere mich, früher besaß ich im
Generalgouvernement Honti Bergwerke, Kupfer. Was wohl aus denen
geworden ist? Ja, Schlaukopf! Jetzt werden wir die öffentliche
Meinung organisieren müssen. Du hast dir sicher schon etwas
ausgedacht, bist ja unser Schlaukopf.«
»Natürlich, Papa. Alle Vorkehrungen sind bereits
getroffen.«
»Irgendein Attentat? Oder ein Überfall auf die
Türme? Geh gleich los und bereite mir bis zum Abend die Unterlagen
vor. Wir diskutieren inzwischen den Zeitplan.«
Als der Schlaukopf die Tür hinter sich
geschlossen hatte, sagte der Papa: »Du wolltest uns etwas über
Wasserblase mitteilen, Wanderer?«