3. JUNI’78
Erneut Maja Glumowa
Ich hatte das Videofon eindeutig zu laut
eingestellt, denn der Apparat dröhnte, zwar melodiös, aber direkt
neben meinem Ohr los wie der Unbekannte in den kurzen Hosen auf dem
Höhepunkt der Werbung um Mrs. Nickleby. Wie eine Rakete schoss ich
aus dem Sessel und streifte dabei en passant die Empfangstaste. Der
Anrufer war Seine Exzellenz. 7:03 Uhr.
»Genug geschlafen«, sagte er ziemlich gutmütig. »In
deinem Alter pflegte ich überhaupt nicht zu schlafen.«
Wie lange wird er mir wohl noch mein Alter
vorhalten? Ich bin schon fünfundvierzig. Und außerdem hatte er in
meinem Alter durchaus geschlafen. Er hatte auch heute noch etwas
fürs Schlafen übrig.
»Ich habe nicht geschlafen«, schwindelte ich.
»Umso besser«, sagte er. »Also kannst du
unverzüglich an die Arbeit gehen. Mach diese Glumowa ausfindig.
Bringe bei ihr Folgendes in Erfahrung: Ob sie sich seit gestern mit
Lew Abalkin getroffen hat. Ob Abalkin mit ihr über ihre Arbeit
gesprochen hat. Wenn ja, was genau ihn daran interessiert hat. Ob
er nicht den Wunsch geäußert hat, sie im Museum zu besuchen. Das
ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.«
Ich reagierte prompt: »Bei der Glumowa in Erfahrung
bringen, ob sie sich mit ihm noch einmal getroffen hat, ob sie über
die Arbeit gesprochen haben, wenn ja, was ihn interessiert hat, ob
er nicht das Museum besuchen wollte.«
»Jawohl! Du hast vorgeschlagen, die Legende zu
ändern. Ich habe nichts dagegen. Die KomKon fahndet nach dem
Progressor Abalkin, um von ihm Angaben über einen Unglücksfall zu
erhalten. Die Untersuchung hängt mit einem Persönlichkeitsgeheimnis
zusammen und wird deshalb nicht in der Öffentlichkeit geführt.
Keine Einwände. Hast du Fragen?«
»Ich möchte gern wissen, was dieses Museum damit zu
tun hat …«, murmelte ich leise vor mich hin.
»Hast du etwas gesagt?«, erkundigte sich Seine
Exzellenz.
»Angenommen, sie haben nicht von diesem Museum
gesprochen. Soll ich dann versuchen herauszubekommen, was sich bei
der ersten Begegnung zwischen den beiden ereignet hat?«
»Findest du das wichtig?«
»Sie nicht?«
»Ich nicht.«
»Seltsam«, sagte ich und blickte zur Seite. »Wir
wissen, was Abalkin von mir erfahren wollte. Wir wissen, was er von
Fedossejew erfahren wollte. Aber wir haben nicht die leiseste
Ahnung, was er von Maja Glumowa wollte!«
Seine Exzellenz sagte: »Gut. Finde es heraus. Aber
so, dass es die Klärung der Hauptfragen nicht stört. Und vergiss
nicht, den Armbandsender anzulegen. Mach es am besten gleich, dass
ich es sehe.«
Seufzend nahm ich den Sender aus dem Tischkasten
und streifte ihn über das linke Handgelenk. Der Sender
drückte.
»Gut«, sagte Seine Exzellenz und legte auf.
Ich ging unter die Dusche. Aus der Küche hörte ich
ein Krachen und Scheppern - Aljonna machte sich am Müllschlucker zu
schaffen. Es roch nach Kaffee. Ich duschte mich, dann frühstückten
wir. Aljonna saß mir in meinem Morgenmantel gegenüber und ähnelte
einer kleinen chinesischen Gottheit. Sie erklärte, sie müsse heute
einen Vortrag halten, und wollte ihn mir zur Übung vortragen. Ich
lehnte ab und berief mich auf die Umstände. »Schon wieder?«, fragte
sie mitfühlend und aggressiv zugleich. »Schon wieder«, gestand ich
ein wenig provokant. »Verdammt«, sagte sie. »Stimmt«, pflichtete
ich ihr bei. »Dauert es lange?«, wollte sie wissen. »Ich habe noch
drei Tage Zeit«, sagte ich. »Und wenn du es nicht schaffst?«,
fragte sie. »Dann ist alles aus«, antwortete ich. Sie warf mir
einen Blick zu, und ich begriff, dass sie sich wieder furchtbare
Dinge ausmalte. »Langweilige Sache«, sagte ich, »mir reicht es. Ich
bring diesen Fall zu Ende, und dann fahren wir beide irgendwohin,
möglichst weit weg.« - »Ich kann nicht«, sagte sie traurig. »Du
hast es immer noch nicht satt?«, fragte ich. »Gibst dich doch bloß
mit Unsinn ab …« Das war genau das, was ich sagen musste.
Augenblicklich wurde sie kratzbürstig und wollte mir beweisen, dass
sie sich nicht mit Unsinn abgab, sondern mit sehr interessanten und
sehr wichtigen Dingen. Letzten Endes einigten wir uns darauf, in
einem
Monat nach Nowaja Semlja zu fahren. Das war gerade in Mode …
Wieder im Arbeitszimmer, wählte ich im Stehen die
Nummer der Wohnung Glumowas. Niemand meldete sich. Es war 7:51 Uhr.
Ein strahlend sonniger Morgen. Bei diesem Wetter konnte höchstens
unser »Turm« bis acht Uhr schlafen. Maja Glumowa war gewiss schon
zur Arbeit gegangen und der sommersprossige Toivo in sein Internat
zurückgekehrt.
Ich plante in Gedanken mein Tagesprogramm. In
Kanada war es jetzt spät am Abend. Soviel ich weiß, haben die
Kopfler eine überwiegend nächtliche Lebensweise, so dass es nichts
ausmachte, wenn ich in drei, vier Stunden dorthin aufbräche …
Übrigens, wie stand es heute um den Null-T? Ich verlangte die
Auskunft. Der Null-Transport hatte seit vier Uhr morgens seine
normale Funktion wiederaufgenommen. Ich würde heute also sowohl
Wepl als auch Kornej Jašmaa aufsuchen können.
Ich ging in die Küche, trank noch eine Tasse Kaffee
und begleitete Aljonna auf das Dach zum Gleiter. Wir
verabschiedeten uns mit übertriebener Herzlichkeit: Bei ihr fing
das Vortragsfieber an. Ich winkte ihr eifrig nach, bis sie außer
Sicht war, und kehrte ins Arbeitszimmer zurück.
Was mochte Seine Exzellenz so an diesem Museum
interessieren? Es war ein Museum wie jedes andere auch. Eine
gewisse Beziehung zur Arbeit der Progressoren, insbesondere auf dem
Saraksch, hatte es natürlich schon … Da fielen mir auf einmal
wieder die über die ganze Iris geweiteten Pupillen Seiner Exzellenz
ein. War er etwa damals wirklich erschrocken? War es mir etwa
gelungen, Seiner Exzellenz einen Schrecken einzujagen? Und womit?
Mit der ganz alltäglichen und sogar zufälligen Mitteilung, dass die
Freundin Abalkins im Museum für Außerirdische Kulturen arbeitet. In
der Spezialabteilung für Objekte ungeklärter Bestimmung. Moment!
Die Spezialabteilung hatte er selbst genannt. Ich hatte gesagt,
dass die Glumowa im Museum für Außerirdische Kulturen arbeitet, und
er hatte mir erklärt: in der Spezialabteilung für Objekte
ungeklärter Funktion … Ich erinnerte mich an die Zimmerfluchten,
vollgestellt, behängt, verbaut, angefüllt mit sonderbaren
Gegenständen, die abstrakten Skulpturen oder topologischen Modellen
ähnelten. Und Seine Exzellenz nahm an, ein Stabsoffizier des
Imperiums, der hundert Parsek entfernt von hier etwas angestellt
hatte, könnte sich für irgendetwas in diesen Räumen
interessieren.
Ich wählte die Nummer von Glumowas Arbeitszimmer
und war äußerst erstaunt, denn vom Bildschirm lächelte mich das
freundliche Gesicht Grischa Serossowins an, genannt Wassermann, aus
der vierten Untergruppe meiner Abteilung. Ein paar Sekunden lang
beobachtete ich, wie sich der Ausdruck in Grischas rotwangigem
Gesicht langsam veränderte. Freundliches Lächeln, Verwirrung, die
dienstliche Bereitschaft, eine Anweisung entgegenzunehmen, und
schließlich wieder freundliches Lächeln. Jetzt etwas steif. Ich
konnte den Jungen verstehen. Wenn ich schon höchst erstaunt war,
dann musste er gerade die Fassung verloren haben. Natürlich hatte
er alles andere erwartet, als auf dem Bildschirm seinen
Abteilungsleiter zu sehen, aber im Großen und Ganzen schlug er sich
tapfer.
»Guten Tag«, sagte ich. »Rufen Sie doch bitte Maja
Toivowna an den Apparat.«
»Maja Toivowna …« Grischa schaute sich um. »Wissen
Sie, sie ist nicht da. Ich glaube, sie ist heute noch nicht
gekommen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«
»Bestellen Sie ihr, dass Kammerer angerufen hat,
der Journalist. Sie müsste sich meiner erinnern. Aber Sie - sind
Sie neu in der Abteilung? Irgendwie habe ich Sie …«
»Ja, ich bin erst seit gestern hier. Eigentlich
gehöre ich nicht dazu, ich arbeite an den Exponaten …«
»Aha …«, sagte ich. »Nun denn. Danke. Ich rufe
wieder an.«
Soso. Seine Exzellenz ergreift Maßnahmen. Sieht so
aus, als wäre er absolut sicher, dass Lew Abalkin im Museum
auftaucht. Und zwar in der Abteilung für diese Objekte. Versuchen
wir zu verstehen, warum er ausgerechnet Grischa ausgewählt hat.
Grischa ist bei uns noch ziemlich neu und unerfahren. Aber
intelligent, reaktionsschnell. Als Exobiologe ausgebildet.
Vielleicht ist es das. Ein junger Exobiologe nimmt die erste
selbstständige Forschungsarbeit in Angriff. Etwas wie »Die
Abhängigkeit zwischen der Topologie des Artefakts und der
Biostruktur eines vernunftbegabten Wesens«. Alles läuft still,
friedlich, elegant, anständig. Außerdem ist Grischa Meister in der
Disziplin Subaks …
Schön. Das habe ich, wie es scheint, verstanden.
Die Glumowa ist wahrscheinlich unterwegs aufgehalten worden. Zum
Beispiel könnte sie sich gerade irgendwo mit Lew Abalkin
unterhalten. Apropos, wir haben ja für heute um zehn Uhr ein
Treffen vereinbart. Hat sicherlich gelogen. Aber wenn ich wirklich
zu diesem Treffen fliegen muss, ist es jetzt an der Zeit, ihn
anzurufen und mich zu erkundigen, ob seine Pläne unverändert sind.
Ohne Zeit zu verlieren, rief ich in »Ossinuschka« an.
Der Bungalow Nummer sechs meldete sich gleich, und
ich erblickte auf dem Bildschirm Maja Glumowa.
»Ach, Sie sind es«, sagte sie voller
Abneigung.
Ich kann unmöglich beschreiben, welche Kränkung,
welche Enttäuschung in ihrem Gesicht lagen. Sie sah merklich
schlechter aus als am Tag zuvor. Die Wangen wirkten hohl. Um die
Augen lagen Schatten; sie schienen kränklich und allzu groß. Die
Lippen waren fiebrig. Und erst eine Sekunde später, als sie sich
langsam vom Bildschirm zurücklehnte, bemerkte ich, dass ihr schönes
Haar sorgsam und nicht ohne Koketterie frisiert war. Sie trug ein
hochgeschlossenes graues Kleid von strenger Eleganz - und darüber
die bewusste Bernsteinkette.
»Ja, ich bin es«, sagte der Journalist Kammerer
etwas ratlos. »Guten Morgen. Ich wollte eigentlich … Also, ist Lew
zu Hause?«
»Nein«, sagte sie.
»Er hat nämlich ein Treffen mit mir vereinbart. Ich
wollte …«
»Hier?«, erkundigte sie sich lebhaft und rückte
wieder näher an den Bildschirm. »Wann?«
»Um zehn. Ich wollte mich einfach vergewissern, für
alle Fälle. Aber nun ist er nicht da …«
»Und er hatte sich sicher mit Ihnen verabredet? Was
hat er genau gesagt?«, fragte sie irgendwie fast kindlich und sah
mich erwartungsvoll an.
»Was hat er gesagt?«, wiederholte der Journalist
Kammerer langsam. Das heißt, nun schon nicht mehr der Journalist
Kammerer, sondern ich. »Also, Maja Toivowna. Machen wir uns keine
falschen Hoffnungen. Höchstwahrscheinlich wird er nicht
kommen.«
Jetzt blickte sie mich an, als traute sie ihren
Augen nicht. »Wie das … Woher wissen Sie?«
»Warten Sie auf mich«, sagte ich. »Ich erzähle
Ihnen alles. In ein paar Minuten bin ich da.«
»Was ist mit ihm passiert?«, schrie sie
durchdringend und voller Angst auf.
»Ihm fehlt nichts. Machen Sie sich keine Sorgen.
Warten Sie, ich komme gleich.«
Zwei Minuten fürs Anziehen. Drei Minuten bis zur
nächsten Null-T-Kabine. Verdammt, eine Schlange vor der Kabine …
Freunde, ich bitte Sie, lassen Sie mich vor, es ist sehr wichtig.
Danke, vielen Dank! … So. Eine Minute für die Suche nach dem Index.
Was die dort in der Provinz für Indexzahlen haben! Fünf Sekunden,
um den Index zu wählen. Und ich trete aus der Kabine hinaus in das
leere, mit Holzbalken verkleidete Klubhaus-Vestibül des Kurorts.
Stehe noch eine Minute lang auf der breiten Vortreppe und blicke
mich um.
Aha, dort muss ich hin. Ich bahne mir einen Weg durch das Gestrüpp
von Ebereschen und Brennnesseln. Bloß nicht dem Doktor Goannek über
den Weg laufen …
Maja Glumowa erwartete mich im Eingangsbereich -
sie saß an dem niedrigen kleinen Tisch mit dem Bärchen und hielt
das Videofon auf den Knien. Als ich eintraf, sah ich unwillkürlich
zu der angelehnten Wohnzimmertür hin, und sofort beeilte sie sich
zu sagen: »Wir werden uns hier unterhalten.«
»Ganz wie Sie möchten«, antwortete ich.
Betont gelassen schaute ich mir Wohnzimmer, Küche
und Schlafzimmer an. Überall war sauber aufgeräumt, und natürlich
war niemand darin. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie reglos
dasaß, die Hände aufs Videofon gelegt, und vor sich hin
starrte.
»Wen haben Sie da gesucht?«, fragte sie kühl.
»Ich weiß nicht«, gestand ich aufrichtig. »Unser
Gespräch ist ein wenig heikel, und ich wollte mich vergewissern,
dass wir alleine sind.«
»Wer sind Sie?«, wollte sie wissen. »Aber lügen Sie
nicht wieder.«
Ich präsentierte ihr die Legende Nummer zwei, gab
die Erklärung über das Persönlichkeitsgeheimnis ab und fügte hinzu,
dass ich mich für die Lügen nicht zu entschuldigen gedachte - ich
hatte einfach versucht, meine Angelegenheit zu erledigen, ohne sie
in unnötige Aufregung zu versetzen.
»Und jetzt haben Sie also beschlossen, nicht weiter
Rücksicht auf mich zu nehmen?«
»Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«
Sie gab keine Antwort.
»Jetzt sitzen Sie hier und warten«, sagte ich.
»Aber er kommt nicht. Er führt Sie an der Nase herum. Uns alle
führt er an der Nase herum; ein Ende ist nicht abzusehen. Aber die
Zeit vergeht.«
»Warum glauben Sie, dass er nicht hierher
zurückkehren wird?«
»Weil er sich versteckt hält«, erklärte ich. »Und
weil er alle belügt, mit denen er zu sprechen hat.«
»Wozu haben Sie dann hier angerufen?«
»Weil ich ihn partout nicht finden kann!«, sagte
ich verärgert. »Ich muss jede Gelegenheit ergreifen, selbst die
idiotischste.«
»Was hat er getan?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, was er getan hat. Vielleicht
nichts. Ich suche ihn nicht, weil er etwas getan hat. Ich suche
ihn, weil er der einzige Zeuge eines großen Unglücks ist. Und wenn
wir ihn nicht ausfindig machen, werden wir nie erfahren, was sich
dort zugetragen hat.«
»Wo - dort?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte ich ungeduldig.
»Dort, wo er im Einsatz war. Nicht auf der Erde. Auf dem Planeten
Saraksch.«
Es war ihr anzusehen, dass sie zum ersten Mal etwas
von dem Planeten Saraksch hörte. »Warum verbirgt er sich denn?«,
fragte sie leise.
»Das wissen wir nicht. Er befindet sich am Rande
eines psychischen Zusammenbruchs. Man kann sagen, dass er krank
ist. Vielleicht leidet er unter Wahnvorstellungen, vielleicht unter
einer fixen Idee.«
»Krank …«, sagte sie und schüttelte still den
Kopf.
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Was wollen
Sie von mir?«
»Haben Sie ihn noch einmal gesehen?«
»Nein«, sagte sie. »Er hat versprochen anzurufen,
hat es aber nicht getan.«
»Warum warten Sie dann hier auf ihn?«
»Ja, wo soll ich denn sonst auf ihn warten?«
In ihrer Stimme lag so viel Leid, dass ich den
Blick abwandte und eine Weile schwieg. Dann fragte ich: »Und wo
wollte er Sie anrufen? Im Büro?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht. Beim ersten Mal hat er
mich im Büro angerufen.«
»Er hat Sie im Museum angerufen und gesagt, dass er
zu Ihnen kommt?«
»Nein. Er hat mich gleich zu sich bestellt.
Hierher. Ich habe einen Gleiter genommen und bin
losgeflogen.«
»Maja Toivowna«, sagte ich. »Mich interessieren
alle Einzelheiten Ihrer Begegnung. Sie haben ihm von sich erzählt,
von Ihrer Arbeit. Er hat Ihnen von seiner berichtet. Versuchen Sie
sich zu erinnern, was genau gewesen ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben über
nichts dergleichen gesprochen. Das mutet sicher seltsam an … Wissen
Sie, wir hatten uns so viele Jahre nicht gesehen … Erst später,
schon zu Hause, ist mir aufgefallen, dass ich gar nichts über ihn
erfahren habe. Ich hatte ihn zwar gefragt: Wo warst du, was hast du
gemacht, aber er hat nur abgewinkt und gebrüllt, das sei alles
Mist, alles Unsinn …«
»Also hat er Sie ausgefragt?«
»Aber nicht doch! Das hat ihn alles nicht
interessiert … Wer ich bin, wie ich lebe - allein oder mit jemandem
zusammen. Wofür ich lebe … Er war wie ein kleiner Junge. Ich will
nicht darüber sprechen.«
»Maja Toivowna, Sie sollen nicht darüber sprechen,
worüber Sie nicht sprechen wollen.«
»Ich will über gar nichts sprechen!«
Ich stand auf, ging in die Küche und brachte ihr
Wasser. Schnell trank sie das Glas aus und verschüttete etwas
Wasser auf ihrem grauen Kleid.
»Das geht niemanden etwas an«, sagte sie, als sie
mir das Glas zurückreichte.
»Sprechen Sie nicht darüber, was niemanden etwas
angeht«, sagte ich und setzte mich wieder. »Wonach hat er Sie
ausgefragt?«
»Ich sage Ihnen doch: Er hat mich überhaupt nicht
ausgefragt! Er hat erzählt, Erinnerungen ausgegraben, gezeichnet,
sich mit mir gestritten … wie ein kleiner Junge. Stellen Sie sich
vor, er kann sich an alles erinnern! Fast an jeden einzelnen Tag!
Wo er stand, wo ich stand, was Rex gesagt hat, wie Wolf
dreinblickte. Ich konnte mich an nichts erinnern, er aber schrie
mich an und zwang mich, mein Gedächtnis anzustrengen, und dann
erinnerte ich mich. Und wie er sich freute, wenn mir etwas einfiel,
was er selbst vergessen hatte.«
Sie verstummte.
»Das alles betraf die Kindheit?«, erkundigte ich
mich, nachdem ich eine Weile gewartet hatte.
»Ja gewiss! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das
niemanden etwas angeht, nur ihn und mich! Aber er war in der Tat
wie von Sinnen. Ich hatte schon keine Kraft mehr, schlief ein, er
aber weckte mich und schrie mir ins Ohr: Und wer ist damals von der
Wippe gefallen! Und wenn ich mich erinnerte, umschlang er mich mit
den Armen, lief mit mir durchs Haus und brüllte: Richtig, genauso
ist es gewesen, richtig!«
»Und er hat Sie nicht gefragt, was jetzt mit dem
Lehrer ist, mit den Schulfreunden?«
»Ich erkläre Ihnen doch in einem fort: Er hat mich
nach nichts und nach niemandem etwas gefragt! Sind Sie nicht
imstande, das zu begreifen? Er hat erzählt, Erinnerungen
hervorgeholt und verlangt, dass auch ich mich erinnerte.«
»Ja, ich verstehe, ich verstehe«, sagte ich. »Und
was meinen Sie, was hatte er weiter vor?«
Sie schaute mich an wie den Journalisten Kammerer.
»Gar nichts, begreifen Sie doch«, sagte sie.
Und im Allgemeinen hatte sie natürlich Recht. Die
Antworten auf die Fragen Seiner Exzellenz hatte ich erhalten:
Abalkin interessierte sich nicht für die Arbeit der Glumowa,
Abalkin beabsichtigte nicht, sich ihrer zum Eindringen ins
Museum zu bedienen. Aber ich verstand überhaupt nicht,
welches Ziel Abalkin verfolgte, als er mit ihr diese Stunden der
Erinnerung veranstaltete. Sentimentalität? Ein Tribut an eine
kindliche Liebe? Rückkehr in die Kindheit? Daran glaubte ich nicht.
Es war irgendein praktisches Ziel gewesen, im Voraus gut
durchdacht, und Abalkin hatte es erreicht, ohne bei Maja Glumowa
den geringsten Verdacht zu wecken. Mir war klar, dass sie selbst
von dieser Absicht nichts wusste. Schließlich hatte auch sie nicht
begriffen, was da eigentlich passiert war.
Und noch eine Frage blieb mir zu klären. Gut, sie
hatten sich Erinnerungen hingegeben, sich geliebt, getrunken, sich
wieder erinnert, waren eingeschlafen, aufgewacht, hatten sich
wieder geliebt und waren wieder eingeschlafen. Was aber hatte Maja
Glumowa in solche Verzweiflung getrieben, an den Rand der Hysterie?
Hier tat sich natürlich ein weites Feld für unterschiedlichste
Mutmaßungen auf. Etwa, was die Gewohnheiten eines Stabsoffiziers
des Inselimperiums anging. Aber es konnte auch etwas anderes sein.
Und dieses andere konnte sich für mich als durchaus wertvoll
erweisen. Einen Moment lang war ich unentschlossen: Entweder ich
ließ etwas im Unklaren, was vielleicht sehr wichtig war, oder ich
entschloss mich zu einer furchtbaren Taktlosigkeit, auf die Gefahr
hin, im Resultat doch nichts Wesentliches herauszufinden …
Ich fasste einen Entschluss.
»Maja Toivowna«, sagte ich, nach Kräften bemüht,
die Worte mit fester Stimme auszusprechen.
»Sagen Sie, was war die Ursache für Ihre
Verzweiflung, deren unfreiwilliger Zeuge ich bei unserer ersten
Begegnung geworden bin?«
Während ich diese Frage formulierte, wagte ich
nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich hätte mich nicht gewundert,
wenn sie mich auf der Stelle zum Teufel gejagt oder mir das
Videofon auf den Kopf geschlagen hätte. Doch sie tat weder das eine
noch das andere.
»Ich war dumm«, sagte sie ziemlich ruhig. »Eine
dumme hysterische Gans. Ich hatte das Gefühl, als hätte er mich
ausgequetscht wie eine Zitrone und dann einfach weggeworfen. Aber
jetzt ist mir klar: Er hat im Moment andere Sorgen. Für Takt und
Feingefühl hat er weder Zeit noch Kraft. Ich habe ständig
Erklärungen von ihm verlangt, aber er konnte mir nichts erklären …
Er weiß ja sicher, dass Sie nach ihm suchen …«
Ich stand auf.
»Vielen Dank, Maja Toivowna«, sagte ich. »Aber ich
habe den Eindruck, Sie haben unsere Absichten missverstanden.
Niemand will ihm etwas Böses. Wenn Sie ihm begegnen sollten,
versuchen Sie bitte, ihm diesen Gedanken begreiflich zu machen.«
Sie gab keine Antwort.