4. JUNI’78
Lagebesprechung
All dies und noch viel mehr erzählte mir Seine
Exzellenz, nachdem wir aus dem Museum zurückgekehrt waren. Wir
saßen in seinem Arbeitszimmer, und es wurde schon hell, als er
seine Erzählung beendete. Er verstummte, erhob sich schwer und
ging, ohne mich anzusehen, Kaffee kochen.
»Du kannst Fragen stellen«, knurrte er.
Bis zu diesem Augenblick hatte in mir ein einziges
Gefühl vorgeherrscht: ein großes, ja grenzenloses Bedauern, dass
ich das alles erfahren hatte und jetzt darin verwickelt war. Jeder
normale Mensch, der ein normales Leben führte und einer normalen
Arbeit nachging, hätte diese Geschichte als eines der vielen
phantastischen und grausigen Märchen aufgefasst, die immer wieder
an der Grenze zwischen dem Erschlossenen und dem Unbekannten
entstehen. Sie erreichen uns in einer bis zur Unkenntlichkeit
verzerrten Form und haben die wunderbare Eigenschaft - so
bedrohlich und furchteinflößend sie auch sein mögen -, zu unserer
hellen, freundlichen Erde in keiner direkten Beziehung zu stehen
und nicht den kleinsten Einfluss auf unser tägliches Leben zu
besitzen. Denn alles war schon immer von irgendjemandem irgendwo
bereinigt worden, wurde gerade bereinigt oder würde binnen
kürzester Zeit bereinigt sein.
Aber ich war ja leider kein normaler Mensch. Ich
war just einer von denen, deren Aufgabe es war, die Dinge zu
bereinigen. Mir war klar, dass dieses Geheimnis bis zum Ende meiner
Tage auf meinen Schultern lasten würde. Und dass ich mit dem
Geheimnis eine Verantwortung übernahm, um die ich nicht gebeten
hatte, und die ich wirklich nicht brauchte. Mir war klar, dass ich
von nun an Entscheidungen zu fällen hatte und deswegen alles wissen
und verstehen musste, was
in der Angelegenheit schon bekannt war - nach Möglichkeit noch
mehr. Und das bedeutete, sich weiter in dieses Geheimnis zu
verstricken - in ein Geheimnis, das genauso widerlich war wie all
unsere Geheimnisse, ja, noch widerlicher. Gegenüber Seiner
Exzellenz empfand ich eine geradezu kindische Dankbarkeit, weil er
bis zuletzt versucht hatte, mich vom Abgrund dieses Geheimnisses
fernzuhalten. Auf eine noch kindischere Art und Weise aber ärgerte
ich mich über ihn und schimpfte, weil er mich schließlich doch
nicht hatte davor bewahren können.
»Hast du keine Fragen?«, erkundigte sich Seine
Exzellenz.
Ich gab mir einen Ruck. »Sie sind also der Ansicht,
dass das Programm in Aktion getreten ist und Lew Abalkin Tristan
ermordet hat?«
»Lass uns logisch überlegen.« Seine Exzellenz
stellte die Tassen auf den Tisch, goss vorsichtig Kaffee ein und
setzte sich. »Tristan war sein beobachtender Arzt. Einmal pro Monat
trafen sie sich irgendwo im Dschungel, und Tristan führte eine
prophylaktische Untersuchung durch. Angeblich, um routinemäßig den
Grad der psychischen Anspannung des Progressors zu überprüfen, in
Wahrheit aber, um sich zu vergewissern, dass Abalkin auch weiterhin
ein Mensch ist. Auf dem ganzen Planeten Saraksch kannte nur Tristan
die Nummer meines Sonderkanals. Am dreißigsten, spätestens am
einunddreißigsten Mai hätte er mir dreimal die Sieben durchgeben
müssen - ›alles in Ordnung‹. Aber am achtundzwanzigsten, dem Tag,
der für die Untersuchung vorgesehen war, kommt Tristan um. Und
Abalkin flieht auf die Erde. Flieht auf die Erde und hält sich
verborgen. Dann ruft er, Lew Abalkin, mich über den Sonderkanal an,
den nur Tristan kannte.« Seine Exzellenz trank den Kaffee mit einem
Zug aus, schwieg eine Weile und biss auf seinen Lippen herum. »Ich
glaube, du hast die Hauptsache noch nicht begriffen, Mak. Wir haben
es nicht mehr mit Lew Abalkin zu tun, sondern mit den
Wanderern
. Lew Abalkin gibt es nicht mehr. Vergiss ihn. Was da auf uns
zukommt, ist ein Werkzeug der Wanderer.« Wieder verstummte
er für eine Weile. »Ehrlich gesagt, kann ich mir nur sehr schwer
vorstellen, wie man Tristan dazu gebracht hat, meine Nummer zu
verraten, erst recht an Lew Abalkin. Und ich fürchte, man hat ihn
nicht einfach nur umgebracht.«
»Sie nehmen also an, dass das Programm ihn
antreibt, nach den Zündern zu suchen?«
»Ich kann nichts anderes annehmen.«
»Aber Abalkin hat doch keine Ahnung von den
Zündern. Oder hat Tristan das etwa auch verraten?«
»Tristan wusste nichts davon. Auch Lew Abalkin weiß
nichts davon. Das Programm weiß es!«
»Und wie verhält sich Jašmaa? Die anderen?«
»Alles im Bereich der Norm. Aber die Zeichen sind
ja auch nicht bei allen gleichzeitig aufgetaucht. Abalkin war der
Erste.«
Seine Exzellenz hatte also bezüglich der anderen
Mehrlinge schon die notwendigen Maßnahmen ergriffen. So brauchte
ich Gott sei Dank nicht zu erfahren, welche. Es ging mich nichts
an. Vorerst.
Ich sagte: »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch,
Exzellenz. Glauben Sie nicht, ich wollte etwas beschönigen oder
abschwächen. Aber Sie haben ihn nicht getroffen. Und Sie haben die
Leute nicht gesehen, mit denen er sich getroffen hat. Ich verstehe
durchaus: der Tod Tristans, seine Flucht, der Anruf über Ihren
Sonderkanal, er hält sich verborgen, kontaktiert Maja Glumowa, bei
der die Zünder aufbewahrt werden. Das alles scheint eindeutig zu
sein, eine makellos logische Kette. Aber da ist auch noch etwas
anderes! Abalkin trifft sich zwar mit Maja Glumowa - aber kein Wort
über das Museum, nur über Kindheitserinnerungen und die frühere
Liebe. Er trifft sich mit dem Lehrer - und es geht um nichts als
die
Kränkung darüber, dass der Lehrer ihm das Leben verpfuscht hätte.
Das Gespräch mit mir - nur um die Kränkung, ich hätte ihm seinen
Vorrang streitig gemacht. Und warum sollte er sich überhaupt mit
dem Lehrer treffen? Bei mir kann man es zur Not erklären - sagen
wir, er wollte überprüfen, wer ihm auf der Spur ist. Aber warum der
Lehrer? Dann Wepl - die absurde Bitte um Asyl, auf die man sich
schon gar keinen Reim machen kann!«
»Man kann, Mak. Auf alles. Das Programm ist eine
Sache, das Bewusstsein eine andere. Abalkin begreift ja nicht, was
mit ihm geschieht. Das Programm verlangt von ihm etwas
Unmenschliches, sein Bewusstsein versucht dagegen krampfhaft, diese
Befehle zumindest halbwegs rational zu erklären. Er irrt wild
umher, er tut Sonderbares und Sinnloses. Etwas in der Art hatte ich
erwartet. Daher war das Persönlichkeitsgeheimnis ja notwendig:
Jetzt haben wir wenigstens eine kleine Zeitreserve. Und was Wepl
betrifft - da hast du wirklich gar nichts verstanden. Hier hat
niemand um Asyl gebeten. Die Kopfler haben gespürt, dass er kein
Mensch mehr ist, und uns deshalb ihre Loyalität demonstriert. So
war das.«
Aber es gelang Seiner Exzellenz nicht, mich zu
überzeugen - obwohl seine Logik geradezu makellos war. Ich aber
hatte Abalkin gesehen, hatte mich mit ihm unterhalten. Ich hatte
den Lehrer und Maja Toivowna gesehen und mit ihnen gesprochen.
Abalkin irrte wild umher - ja. Er machte sonderbare Dinge - ja.
Aber diese Dinge waren nicht sinnlos. Hinter ihnen verbarg sich ein
Ziel, das ich einfach noch nicht hatte verstehen können. Außerdem
wirkte Abalkin mitleiderregend, er konnte nicht gefährlich sein
…
Das alles aber war nur meine Intuition, und ich
wusste, was sie in unserem Geschäft wert war - wenig. Zudem gehört
die Intuition in den Bereich der menschlichen Erfahrung; wir aber
hatten es hier mit den Wanderern zu tun.
»Kann ich noch einen Kaffee haben?«, bat ich.
Seine Exzellenz stand auf, wandte mir den Rücken zu
und kochte neuen Kaffee.
»Ich sehe, du hast Zweifel«, sagte er, »ich hätte
auch welche, wenn es doch dazu nur Anlass gäbe. Aber ich bin ein
alter Rationalist, Mak, und habe alles Mögliche gesehen. Habe mich
stets vom Verstand leiten lassen, und der Verstand hat mich nie
getäuscht. Mir sind all diese phantastischen Kunststücke zuwider,
all die geheimnisvollen Programme, die vor fünfundvierzigtausend
Jahren erstellt wurden und sich dann nach einem unbekannten Prinzip
ein- und ausschalten. All die mystischen, außerräumlichen
Verbindungen zwischen lebendigen Seelen und dummen Scheiben, die
versteckt in einem Futteral liegen. Das alles hängt mir zum Hals
heraus!«
Er brachte den Kaffee und schenkte ihn ein.
»Wenn wir gewöhnliche Wissenschaftler wären«, fuhr
er fort, »und uns mit der Erforschung von Naturerscheinungen
befassten, mit welcher Freude würde ich alles für eine Kette von
Zufällen erklären! Tristan ist zufällig ums Leben gekommen - es
wäre nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass so etwas
geschieht. Abalkins Freundin aus der Kindheit hat sich zufällig als
diejenige erwiesen, die die Zünder aufbewahrt. Er hat rein zufällig
die Nummer meines Sonderkanals gewählt, als er jemand anders
anrufen wollte. Ich schwöre dir, dieses sehr unwahrscheinliche
Zusammentreffen von unwahrscheinlichen Ereignissen würde mir
glaubhafter vorkommen als ein dummes teuflisches Programm, das
menschlichen Embryos eingepflanzt worden sein soll. Für einen
Wissenschaftler ist alles klar: Erfinde nicht ohne zwingenden Grund
neue Wesenheiten. Aber wir sind keineWissenschaftler. Der Irrtum
eines Wissenschaftlers ist letzten Endes seine Privatsache. Wir
aber dürfen uns nicht irren. Wir dürfen in den Ruf von Ignoranten,
Mystikern, abergläubischen Dummköpfen geraten. Eins aber wird uns
nicht verziehen: wenn wir die Gefahr unterschätzt haben … Wenn es
bei uns auf einmal
nach Schwefel stinkt, sollten wir keine Betrachtungen über
Molekülfluktuationen anstellen, sondern haben die Pflicht, davon
auszugehen, dass der Leibhaftige aufgetaucht ist. Wir haben die
nötigen Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn das hieße, die Produktion
von Weihwasser in industriellem Maßstab zu organisieren. Und Gott
sei gedankt, wenn sich herausstellt, dass es doch nur eine
Fluktuation war und uns der ganze Weltrat mitsamt seinen Scholaren
auslacht …« Er schob gereizt die Tasse von sich: »Ich kann diesen
Kaffee nicht trinken, und essen kann ich schon den vierten Tag
nichts.«
»Exzellenz«, sagte ich. »Was reden Sie denn. Warum
der Leibhaftige? Was können wir schließlich Schlechtes von den
Wanderern sagen? Nehmen Sie nur die Operation ›Tote Welt‹.
Dort haben sie die Bevölkerung eines ganzen Planeten gerettet!
Einige Milliarden Menschen!«
»Du versuchst zu beschwichtigen«, sagte Seine
Exzellenz und lächelte düster. »Sie haben gar nicht die Bevölkerung
gerettet. Den Planeten haben sie gerettet - vor der Bevölkerung.
Und das mit Erfolg. Wo aber die Bevölkerung geblieben ist - das
wissen wir nicht.«
»Wieso den Planeten?«, fragte ich verwirrt.
»Und wieso die Bevölkerung?«
»Also gut«, sagte ich. »Aber darum geht es jetzt
auch nicht. Angenommen, Sie haben Recht: ein Programm, Zünder, der
Leibhaftige. Was könnte Abalkin uns anhaben? Er ist schließlich
allein.«
»Junge«, sagte Seine Exzellenz fast zärtlich. »Du
denkst seit nicht mal einer halben Stunde darüber nach, ich aber
zerbreche mir darüber schon seit vierzig Jahren den Kopf. Und nicht
nur ich. Aber es ist uns bisher nichts eingefallen, das ist das
Schlimmste. Und es wird uns auch nichts einfallen, denn die
klügsten und erfahrensten von uns sind ja doch nur Menschen. Wir
wissen nicht, was die Wanderer von uns wollen. Wir wissen
nicht, was sie zu tun imstande sind. Und wir werden
es niemals erfahren. Unsere einzige Hoffnung ist, dass wir bei
unseren wilden, ungeplanten Aktionen immer wieder Schritte tun
werden, die sie nicht vorhergesehen haben. Sie können nicht alles
vorhergesehen haben. Das kann niemand. Und dennoch ertappe ich mich
jedes Mal, wenn ich mich zu einer Handlung entscheide, bei dem
Gedanken, dass sie genau das erwartet haben und ich es deshalb
nicht tun darf. So weit ist es mit mir gekommen, dass ich alter
Dummkopf froh bin über die Entscheidung, den verdammten Sarkophag
nicht gleich am ersten Tag vernichtet zu haben. Denn die Tagoraner
haben es getan - und schau sie dir jetzt an! Diese furchtbare
Sackgasse, in der sie stecken. Vielleicht ist es die Folge dieses
sehr vernünftigen, rationalen Schritts, den sie vor anderthalb
Jahrhunderten unternommen haben. Andererseits empfinden sie selbst
das ja keineswegs so. Eine Sackgasse ist es nur aus unserer, der
menschlichen Sicht! Von ihrem Standpunkt aus blühen und gedeihen
sie und sind zweifellos der Ansicht, dass sie das ihrer
rechtzeitigen, radikalen Entscheidung zu verdanken haben. Oder
nehmen wir unseren Entschluss, den Amok laufenden Abalkin nicht an
die Zünder zu lassen. Aber vielleicht haben sie genau das von uns
erwartet?«
Er legte den kahlen Schädel in die Hände und
schüttelte den Kopf.
»Wir sind alle müde, Mak«, sagte er. »Wie müde wir
alle sind! Wir können schon gar nicht mehr über dieses Thema
nachdenken. Vor Müdigkeit werden wir leichtsinnig und sagen uns
immer öfter: ›Es wird schon gutgehen!‹ Früher war Gorbowski in der
Minderheit, jetzt aber haben siebzig Prozent der Kommission seine
Hypothese angenommen. ›Ein Käfer im Ameisenhaufen‹ … Ach, wie schön
das wäre! Wie gern man daran glauben möchte! Dass kluge Wesen aus
rein wissenschaftlicher Neugier einen Käfer in einen Ameisenhaufen
gesetzt haben und jetzt eifrig alle Nuancen der Ameisenpsychologie
beobachten, alle Feinheiten ihrer sozialen Organisation.
Die Ameisen jedoch sind zu Tode erschrocken; sie laufen aufgeregt
hin und her, sorgen sich und sind bereit, ihr Leben für den
heimatlichen Haufen hinzugeben - die Ärmsten haben ja keine Ahnung,
dass der Käfer am Ende aus dem Haufen kriechen und seiner Wege
gehen wird, ohne den Ameisen das Geringste zuleide getan zu haben.
Kannst du dir das vorstellen, Mak? Nicht das geringste Leid! Regt
euch nicht auf, Ameisen! Alles wird gut.
Wenn es nun aber kein ›Käfer im Ameisenhaufen‹ ist?
Sondern ein ›Iltis im Hühnerstall‹? Weißt du Mak, was das ist - ein
Iltis im Hühnerstall?« Und da explodierte er. Er donnerte mit den
Fäusten auf den Tisch, starrte mich aus wütenden grünen Augen an
und brüllte los: »Diese Schufte! Vierzig Jahre meines Lebens haben
sie mir gestohlen! Vierzig Jahre lang machen sie schon eine Ameise
aus mir! Ich kann an nichts anderes denken! Sie haben einen
Angsthasen aus mir gemacht! Ich erschrecke vor meinem eigenen
Schatten, traue meinen eigenen Gedanken nicht mehr. Na, was starrst
du mich so an? In vierzig Jahren wirst du genauso sein, vielleicht
schon viel früher, denn die Ereignisse folgen immer schneller
aufeinander! Sie werden sich so entwickeln, wie wir Alten es uns
nicht hätten träumen lassen. Und wir werden allesamt in Pension
gehen, weil wir nicht damit fertig werden. Dann wird das alles auf
euch zukommen. Aber auch Ihr werdet nicht damit fertig werden. Weil
ihr …«
Er brach plötzlich ab, blickte nicht mich an,
sondern über meinen Kopf hinweg. Und stand langsam vom Tisch auf.
Ich drehte mich um.
Auf der Schwelle, in der offenen Tür, stand Lew
Abalkin.