Kapitel 78
Lächerlich.
Es änderte eigentlich nichts zu wissen, dass Beth jetzt Single war. Schon seit Wochen. Praktisch seit Monaten.
Was änderte das schon? Nichts, oder? Eigentlich gar nichts.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Doris. Sie spielten Karten und aßen riesige Sandwiches, die sie aus dem Automaten gezogen hatten. (Doris nahm sich nie einfach so etwas von den Waren.) Lincoln hatte die Nacht wieder in seiner Wohnung verbracht und war direkt zur Arbeit gegangen.
»Ich versuche hier gerade, dir zu erklären, dass man bei Zehnern nichts melden kann«, sagte Doris.
Chris war ja nie das Problem gewesen. Zumindest nicht das größte Problem. Nicht, dass das jetzt noch wichtig wäre.
»Das ist doch gar nicht so kompliziert«, meinte Doris.
Nichts hatte sich verändert. Nichts.
»Hör mal«, wechselte Doris das Thema. »Ich muss mit dir reden. Deine Mutter hat mich heute angerufen.«
»Was?«
»Sie wollte mir doch das Rezept für dieses Möhren-Hühnchen-Dings geben, das sie immer macht, das mit Sellerie. Und Reis. Na ja, am Ende hat sie mir dann schließlich verraten, dass sie sich Sorgen um dich macht. Sie meinte, du würdest nicht mehr jede Nacht nach Hause kommen. Also, du hattest mir gegenüber gar nicht erwähnt, dass du deiner Mutter nichts von deinem Umzug erzählen würdest.«
»Aber ich bin ja gar nicht umgezogen. Ich hab noch nichts in die neue Wohnung gebracht.«
»Das ist doch total verrückt. Geht es um dieses Mädchen?«
»Was für ein Mädchen?«
»Deine Mutter hat mir erzählt, was sie dir angetan hat, diese Schauspielerin.«
»Meinst du Sam? Die hat mir gar nichts angetan«, widersprach Lincoln.
»Hat sie dich etwa nicht wegen eines Puerto-Ricaners sitzen lassen?«
»Nein«, beteuerte Lincoln. »Ich meine, nicht so ganz.«
»Und jetzt ruft sie bei euch zu Hause an.«
»Sam hat bei uns angerufen?«
»Ich kann durchaus verstehen, warum deine Mutter die Nachrichten nicht an dich weitergibt«, sagte Doris. »Schau doch, was du ihr alles vorenthältst. Triffst du dich mit diesem Mädchen in meiner Wohnung?«
»Nein.«
»Das würde jedenfalls erklären, warum du in letzter Zeit in Gedanken immer ganz woanders bist. Und jeden anderen Rock ignorierst.«
»Nein.« Lincoln presste die Hände gegen seine Schläfen und versuchte, nicht wie ein kleines Kind zu klingen. »Hast du meiner Mutter von der Wohnung erzählt?«
»Ich bin zu alt, um die Mütter anderer Leute anzulügen.«
Als Lincoln an diesem Abend nach Hause kam, war es schon zu spät, um noch mit seiner Mutter zu reden.
Als er am nächsten Morgen nach unten kam, war sie in der Küche und schnitt Kartoffeln in Scheiben. Auf dem Herd stand ein dampfender Kessel. Lincoln lehnte sich neben sie an den Küchentresen.
»Oh«, sagte sie, »ich wusste gar nicht, dass du da bist.«
»Ich bin hier.«
»Hast du Hunger? Ich kann dir Frühstück machen. Aber du willst ja wahrscheinlich los, zum Fitnessstudio.«
»Nein«, antwortete er, »ich hab keinen Hunger. Und ich muss auch nicht los. Ich hatte gehofft, wir könnten uns unterhalten.«
»Ich mache gerade Kartoffelsuppe«, fuhr sie fort. »Aber ich brauche nicht den ganzen Speck. Soll ich dir Eier mit Speck machen?« Sie war bereits dabei, die Eier am Rand einer Eisenpfanne aufzuschlagen, goss Milch hinein und rührte. »Wir haben auch englische Muffins. Die teuren.«
»Ich hab wirklich keinen Hunger«, wiederholte er. Sie sah ihn nicht an. Lincoln legte ihr die Hand auf den Arm, und sie kratzte mit der Gabel in der Pfanne herum. »Mom«, sagte er.
»Das ist so seltsam …«, murmelte sie. Ihr Tonfall verriet nicht, ob sie traurig oder wütend war. »Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als du mich für alles brauchtest.
Du warst so ein kleines Ding und hast geweint, wenn ich dich auch nur eine Sekunde hingelegt hatte. Ich weiß nicht, wie ich es überhaupt geschafft habe, zu duschen oder zu kochen. Hab ich wahrscheinlich einfach nicht getan. Ich hatte auch Angst, dass ich mit dir zu nah an den Herd komme.«
Lincoln starrte auf die Eier. Er hasste es, wenn sie so redete. Das war, als würde er sie unbeabsichtigt in ihrem Nachthemd zu sehen bekommen.
»Was glaubst du, warum erinnere ich mich daran«, fragte sie, »wenn du das nicht mehr weißt? Warum tut uns die Natur das an? Was bringt das der Evolution? Das waren die wichtigsten Jahre meines Lebens, und du erinnerst dich nicht einmal mehr daran. Du kannst nicht verstehen, warum es für mich so schwer ist, dich an jemand anderen weiterzugeben. Du willst, dass ich ganz cool tue.«
»Du gibst mich doch nicht weiter. Da ist niemand anderes.«
»Dieses Mädchen. Dieses schreckliche Mädchen.«
»Es gibt kein Mädchen. Ich treffe mich nicht mit Sam.«
»Lincoln, sie ruft hier an. Es bringt doch nichts, jetzt zu lügen.«
»Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Ich war ja gar nicht hier, um ihre Anrufe entgegenzunehmen. Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich angelogen und nichts von der Wohnung erzählt habe. Aber ich bin nicht mit Sam zusammen. Ich bin mit niemandem zusammen. Ich wünschte, ich wäre mit jemandem zusammen. Immerhin bin ich fast neunundzwanzig. Und du solltest dir das auch für mich wünschen.«
Sie schnaubte.
»Ich möchte dir die Wohnung zeigen«, erklärte er.
»Die brauche ich nicht zu sehen.«
»Ich möchte es aber. Ich möchte sie dir zeigen.«
»Lass uns darüber reden, wenn du was gegessen hast.«
»Mom, ich hab dir doch gesagt, dass ich keinen Hunger habe …« Er zog sie am Arm zu sich, weg vom Herd. »Bitte. Komm mit!«
Lincolns Mutter stieg nur widerwillig zu ihm ins Auto. Sie hasste es, auf dem Beifahrersitz mitzufahren, dabei wurde ihr immer schlecht, sagte sie. (Eve hingegen meinte, ihr würde schlecht, wenn sie auch nur für dreißig Sekunden jemand anderem die Kontrolle überlassen musste.) Sie war still, während er seine neue Nachbarschaft ansteuerte, die nur ein paar Meilen entfernt war, und vor dem Wohnhaus parkte.
»Das ist es«, erklärte er.
»Was soll ich denn jetzt dazu sagen?«, fragte sie.
»Du sollst gar nichts sagen. Ich möchte nur, dass du es dir ansiehst.«
Er stieg aus dem Auto, bevor sie protestieren konnte. Sie folgte ihm unwillig, blieb vor dem Auto, auf dem Bürgersteig und an der Treppe zunächst einmal stehen. Er hingegen ging weiter, und so folgte sie ihm schließlich. Ins Haus, schweigend die Treppe hinauf, über die Türschwelle. »Willkommen!«, sagte Lincoln und hielt ihr die Tür auf. Seine Mutter machte ein paar Schritte in die Wohnung – sah sich um, sah nach oben – und ging dann noch ein paar weitere Schritte zu den Fenstern. Die Sonne fiel ins Wohnzimmer. Sie streckte die geöffnete Hand ins Licht.
»Ich zeige dir die Küche«, verkündete Lincoln einen Augenblick später, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Na ja, das, was eben da ist. Man kann eigentlich schon alles von hier aus sehen. Und hier ist das Schlafzimmer.« Seine Mutter folgte ihm in den nächsten Raum und betrachtete seine neue Matratze. »Und das Badezimmer haben wir gleich hier. Das ist ziemlich klein.« Sie trat im Schlafzimmer ans Fenster, sah nach draußen und setzte sich dann auf die Bank davor.
»Die ist doch super, nicht?«, fragte er.
Sie sah zu ihm hoch und nickte. »Das ist eine schöne Wohnung. Ich wusste gar nicht, dass man hier noch so was finden kann.«
»Ich auch nicht«, stimmte er zu.
»Die Decken sind so hoch«, murmelte sie.
»Sogar im dritten Stock.«
»Und die Fenster … hier hat vorher also Doris gewohnt?«
Er nickte.
»Zu dir passt die Wohnung besser.«
Er wollte lächeln und Erleichterung verspüren, aber sie hatte irgendetwas an sich – ihre Stimme, die Art, wie sie dasaß –, was ihn davon abhielt.
»Ich verstehe bloß nicht«, sagte sie und lehnte sich zurück, gegen die Scheibe, »warum.«
»Warum?«
»Es ist nett hier«, räumte sie ein. »Die Wohnung ist schön. Aber ich verstehe nicht, warum du überhaupt ausziehen willst, wenn du es doch gar nicht musst. Wenn da wirklich kein Mädchen mit im Spiel ist. Warum willst du denn allein sein?«
Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte.
»Solange du noch zu Hause wohnst, kannst du dein Geld für andere Sachen sparen«, sagte sie. »Du hast doch genug Platz, du kannst tun und lassen, was du willst, ich bin da, wenn du mich brauchst … Warum?
Und erzähl mir jetzt bitte nicht«, fuhr sie fort und sprach immer hastiger, »dass man das eben so macht. Denn … denn wen interessiert schon, was andere Leute so machen? Und außerdem stimmt das auch gar nicht. Das ist eine relativ neue Entwicklung. Eine Entwicklung in der westlichen Gesellschaft. Die Familie in kleine Teilchen aufzuspalten.
Was wäre denn gewesen, wenn du nirgendwo hättest hingehen können, als du aus Kalifornien zurückkamst? Was wäre gewesen, wenn ich zu dir dasselbe gesagt hätte, was mir meine Mutter eröffnet hat, als ich Eves Vater verlassen habe? ›Du bist jetzt auf dich allein gestellt‹, lauteten ihre Worte. ›Du bist eine erwachsene Frau.‹ Ich war zwanzig Jahre alt. Und allein. Und bin von einer Wohnung zur nächsten getingelt, habe auf Sofas geschlafen. Mit diesem winzigen Baby. Eve war noch so klein … Sie hat immer hier geschlafen«, seine Mutter legte sich die Hand auf die Brust, genau unterhalb des Halses, »weil ich Angst hatte, ich würde sie fallen lassen oder sie zwischen den Kissen verlieren …
Du wirst dich nie so durchschlagen müssen, Lincoln. Du musst niemals allein sein. Warum solltest du das dann wollen?«
Er lehnte sich an die Schlafzimmerwand und rutschte nach unten, bis er auf dem gusseisernen Heizkörper saß. »Ich will doch nur …«, begann er.
»Nur was?«
»Ich muss mein eigenes Leben leben.«
»Lebst du denn jetzt etwa nicht dein eigenes Leben?«, fragte sie. »Ich mache dir doch nun wirklich keine Vorschriften.«
»Nein, ich weiß, es ist nur …«
»Nur was?«
»Es fühlt sich nicht so an, als würde ich mein eigenes Leben führen.«
»Was?«
»Solange ich noch zu Hause wohne, fühlt es sich eher so an, als würde ich immer noch in deinem Leben leben. Als wäre ich immer noch ein Kind.«
»Das ist doch albern«, urteilte sie.
»Vielleicht«, gab er zu.
»Dein eigenes Leben geht in dem Moment los, in dem du geboren wirst. Sogar noch davor.«
»Wenn ich bei dir wohne, kommt es mir eben einfach so vor, als würde ich nicht … als wäre ich nicht … Das ist wie bei George Jefferson.«
»Der aus der Fernsehserie?«
»Genau. Solange der noch bei All in the Family mitgespielt hat, war er einfach jemand, der Archie Bunkers Geschichten interessanter machte. Er hatte aber nichts Eigenes. Er hatte keine Storys oder Nebendarsteller. Ich weiß nicht einmal, ob man überhaupt je seine Wohnung zu sehen bekommt. Aber als er seine eigene Show bekam, hatte George auch sein eigenes Wohnzimmer und eine Küche … und ein Schlafzimmer, denke ich. Er hatte ja sogar seinen eigenen Aufzug. Räume, in denen er sein durfte, in denen seine Geschichten passierten. Wie in dieser Wohnung hier. Die ist einfach etwas, was mir gehört.«
Sie sah ihn misstrauisch an. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich hab mir The Jeffersons nie angeguckt.«
»Und was ist mit Rhoda?«, fragte Lincoln.
Sie runzelte die Stirn. »Du meinst damit also, dass du jetzt der Star der Show sein willst. Heißt das, ich sollte langsam mal abtreten?«
»Mein Gott, nein«, sagte er. »Die haben ja All in the Family auch nicht abgesetzt, nur weil The Jeffersons lief.«
»Jetzt hör mal damit auf, übers Fernsehen zu reden. Lass es mit den Vergleichen gut sein.«
»Okay.« Er nickte und versuchte, klar und vernünftig zu denken. »Ich möchte mein eigenes Leben leben. Und ich möchte, dass du dein Leben lebst. Getrennt von meinem.«
»Aber du bist doch mein Leben!« Jetzt konnte sie die Tränen der Enttäuschung nicht mehr zurückhalten. »Du bist mein Leben seit dem Tag, an dem du geboren wurdest. Du bist ein Teil von mir, du und Eve, ihr seid der wichtigste Teil von mir. Wie soll ich mich denn davon trennen?«
Lincoln antwortete nicht. Seine Mutter ging an ihm vorbei aus dem Zimmer. Er ließ sich weiter nach unten sinken, bis auf den Fußboden, und schlug die Hände vors Gesicht.
So verharrte er etwa zwanzig Minuten, bis er irgendwann feststellte, wie anstrengend es war, so dazusitzen, bis die Müdigkeit stärker wurde als Wut und Schuldgefühle.
Seine Mutter saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden und schaute zum Kronleuchter hoch. »Du kannst die Couch aus dem Wintergarten mitnehmen«, bot sie an, als er hereinkam, »die braune. Der Raum ist sowieso völlig überladen. Die würde hier gut reinpassen. In diesem Licht würde die Farbe fast wie Lila aussehen.«
Er nickte.
»Und wir besorgen dir im Secondhandladen richtig schönes Geschirr. Du solltest kein Plastik mehr kaufen. Weißt du, das hinterlässt nämlich Spuren im Essen«, erklärte sie, »und simuliert Östrogen. Das nistet sich dann in deinen Fettzellen ein und erzeugt Brustkreb… wozu das bei Männern führt, weiß ich allerdings nicht. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass du noch Geschirr brauchst. Kürzlich habe ich welches bei Goodwill gesehen, komplett mit Butterschale und Sauciere und so. Weiß mit kleinen blauen Gänseblümchen. Nicht sehr männlich, aber trotzdem …«
»Ich bin nicht wählerisch«, erklärte er.
Sie nickte wieder und wieder. »Du kannst natürlich alles aus deinem Zimmer mitnehmen, oder du kannst es auch dalassen. Das wird immer dein Zimmer sein. Genau wie das von deiner Schwester. Du kannst immer nach Hause zurückkommen, wenn du eine Bleibe brauchst, und natürlich auch, wenn du es einfach möchtest. Dieses Haus ist dein Zuhause, solange es meines ist.«
»Okay«, sagte er. »Danke.«
Er ging zu ihr hinüber und zog sie mit beiden Händen hoch. Sie hielt seine Hände fest und drückte sie, dann begann sie, ihren langen Rock glattzustreichen.
»Ich nehme mal an, deine Schwester weiß über all das hier schon Bescheid.«
»Nein.«
»Oh.« Das war mal eine gute Nachricht. »Kann sein, dass ich sie nachher kurz anrufe. Vielleicht will sie ja mitkommen und mir dabei helfen, dir eine Küchenausstattung zu kaufen.«
»Sicher«, meinte er. Dann umarmte er sie heftig und wünschte sich, das wäre ihm schon früher eingefallen.
»Das ist wirklich eine schöne Wohnung«, sagte sie noch einmal.
»Danke.«
Eve rief Lincoln am nächsten Tag bei der Arbeit an. Alles, was sie sagen konnte, war »Gut für dich« und »Ich bin so stolz auf dich«. Sie bot Lincoln Jake seniors Hilfe beim Umzug an. »Ich muss nur eine Couch rüberbringen.« »Was auch immer«, sagte Eve. Es gab wirklich nicht viel zu transportieren, außer seinen Klamotten und dem Computer.
In der nächsten Woche ging er jeden Tag zum Mittagessen nach Hause, zu seiner Mutter. Sie gab ihm Kartons mit Müslischalen und Gläsern mit. Ein Bücherregal. Einen kleinen Beistelltisch, der gerade noch auf den Rücksitz passte. Handbestickte Küchentücher.
»Das ganze Zeug ist doch so alt«, murrte Eve, als sie vorbeikam, um sich die Wohnung anzusehen. »Das sieht ja so aus, als wäre irgendeine Großmutter gestorben und du wärst in ihre Wohnung gezogen.«
»Mir gefällt’s.«
»Ich kaufe dir mal irgendwas aus Edelstahl«, versprach sie. »Irgendwas, das ein bisschen mehr nach Junggeselle aussieht.«