Kapitel 64

An diesem Abend hatte Lincoln keine Lust, nach der Arbeit nach Hause zu gehen. Er musste immer wieder an Beth im trägerlosen Kleid denken. Milchig-weiße Schultern. Sommersprossen. Vielleicht sollte er sich mit dem Mädchen verabreden, mit dem Justin ihn verkuppeln wollte. Oder mit einer dieser Lutheranerinnen seiner Schwester. Oder mit dem Mädchen, das im Fitnessstudio arbeitete, Becca. Wenn Lincoln beim Bankdrücken war, hatte sie in letzter Zeit ständig vorbeigeschaut, und sie berührte ihn häufig ohne jeden Grund am Arm. Vielleicht war sie immer noch von seinen Ellbogen beeindruckt.

Schließlich landete Lincoln allein im Village Inn. Als die Kellnerin kam, bestellte er zwei Stück Schokoladenkuchen. Sie brachte sie auf zwei Tellern, was er irgendwie peinlich fand.

Er hatte die Zeitung vom nächsten Tag dabei, einer der Vorteile, wenn man beim Courier arbeitete, aber er war zu aufgewühlt, um zu lesen.

Er war so aufgewühlt, so durcheinander, dass er erst beim zweiten Stück Schokoladenkuchen Chris am Nebentisch bemerkte. Er saß Lincoln gegenüber, und beide waren allein da.

Lincoln erinnerte sich an das letzte Mal, als er Chris gesehen hatte, an Silvester, und erwog kurz, sich mit einem Satz zum Nachbartisch auf ihn zu werfen und ihm die Visage zu polieren. Aber dazu hatte er doch keine Lust mehr.

Chris sah irgendwie anders aus. Geschniegelt. Er trug ein schickes Hemd, natürlich verwegen aufgeknöpft, und einen Blazer, und seine Haare sahen glatt und glänzend aus. Wie in einer bescheuerten Shampoo-Werbung, dachte Lincoln. Und dann, ach ja, die Generalprobe. Und dann fing er an zu lachen. Ein wenig. Eher innerlich.

Denn das sollte er ja eigentlich gar nicht wissen, aber er wusste es trotzdem. Und eigentlich sollte er diesen Typen hassen, aber er hasste ihn nicht. Er wollte Chris nicht umbringen. Er wollte mit ihm nur die Plätze tauschen. Nein, nicht einmal das. Wenn Lincoln heute Abend Beths Date für das Probeessen gewesen wäre, dann wäre er jetzt mit ihr zu Hause. Wenn er ihr Begleiter für die Hochzeit morgen wäre, dann würde er die Stunden zählen, bis sie dieses Kleid anziehen würde und es dann wieder ausziehen würde.

Er lachte wieder. Innerlich.

Da sah Chris zu ihm auf und schien ihn wiederzuerkennen.

»Hey«, sagte Chris.

Lincoln hörte auf zu lachen. Bis zu diesem Augenblick hatte er irgendwie geglaubt, dass er für Chris unsichtbar war. Genau so, wie er für Beth unsichtbar war (nur, dass er es ja gar nicht war). »Hey«, gab Lincoln zurück.

»Hey, hm, du hast nicht zufällig ’ne Zigarette, oder?«, fragte Chris.

Lincoln schüttelte den Kopf. »Sorry.«

Chris nickte und lächelte. »Heute Abend bin ich schlecht vorbereitet. Nichts zu rauchen. Nichts zu lesen.« Er wirkte mitgenommen, es sah bei ihm aber besser aus als bei Lincoln.

»Du kannst einen Teil von meiner Zeitung haben«, bot Lincoln an.

»Danke.« Chris stand auf, kam herüber, lehnte sich an Lincolns Tisch und griff nach dem Unterhaltungsteil.

»Ich hab heute die Filmkritik verpasst«, erklärte er.

»Kino-Fan?«, fragte Lincoln einfältig.

»Eher ein Kinokritiker-Fan«, meinte Chris. »Meine Freundin schreibt die Rezensionen … Hey, das ist ja die Zeitung von morgen.«

»Eigentlich ist es die von heute …«, murmelte Lincoln. »Ich arbeite beim Courier

»Vielleicht kennst du sie ja.«

»Ich kenne da nicht so viele Leute«, entgegnete Lincoln. Er war wie erstarrt und konnte kaum glauben, dass sich sein Mund wirklich bewegte. Er hatte das Gefühl, dass er tatsächlich zu Stein erstarren würde, wenn er etwas Falsches sagte. Was ja durchaus passieren konnte. »Ich arbeite nachts.«

»Du würdest es wissen«, sagte Chris und sah aus dem Fenster. »Du würdest es wissen, wenn du sie kennen würdest. Sie ist ein Naturereignis. Eine Allmacht, der keiner entkommt. Eine Elementargewalt, weißt du?«

»Wie ein Tornado?«, fragte Lincoln.

Chris lachte. »Ja, so ungefähr. Ich dachte eigentlich mehr an, keine Ahnung, was ich da gedacht habe, aber ja. Sie ist …« Er klopfte sich nervös auf die Brusttasche und fuhr sich dann mit der Hand durchs Haar. »Du bist Single, oder? Ich meine, ich hab dich bei unseren Konzerten nie mit einem Mädchen gesehen.«

»Stimmt«, sagte Lincoln. Ich bin nicht nur nicht unsichtbar, ich bin auch offensichtlich allein.

Chris lachte wieder. Ein hartes Lachen. Sarkastisch. Es nahm seinem Lächeln ein wenig den Charme.

»Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das ist …« Er schüttelte bedauernd den Kopf und fuhr sich wieder durchs Haar. »Es liegt am Jackett«, erklärte er. »Ich musste die Zigaretten zu Hause lassen, weil sie aus der Tasche geguckt haben. Edel, was? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal so lange nicht mehr … Hast du je geraucht?«

»Nein«, murmelte Lincoln, noch immer völlig erstarrt. »Hab nie damit angefangen.«

»Keine Zigaretten, kein Mädchen, du führst ein sorgenfreies Leben, mein Freund.«

»So kann man es auch sehen«, meinte Lincoln und starrte den Mann vor sich angestrengt an. Er hoffte auf ein Wunder wie in dem Film Ein ganz verrückter Freitag, genau jetzt, genau hier.

»Oh«, meinte Chris verschämt. Er war hübsch genug für dieses Wort. »Richtig«, sagte er. »Ich wollte nicht …« Er senkte den Blick und hielt den Unterhaltungsteil hoch. »Danke. Hierfür. Dann lass ich dich mal wieder in Ruhe … Normalerweise hätte ich dich auch gar nicht behelligt … das ist nur wegen des Jacketts, weißt du? Ich bin heute nicht ich selbst.«

Es gelang Lincoln zu lächeln. Chris stand auf.

»Wir sehen uns«, verabschiedete er sich. Er ging hinüber zu seinem Platz und legte ein paar Dollar auf den Tisch. »Wir spielen nächste Woche im Sokol, du solltest vorbeischauen und Hallo sagen, wenn du kommst.«

Lincoln sah Chris nach und hoffte – hoffte wahrhaftig und inständig, von ganzem Herzen –, dass sein Gegenüber jetzt zu ihr nach Hause ging.

Liebe auf den zweiten Klick
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