Kapitel 25

Beth Fremont

Jennifer Scribner-Snyder

: Do., 14. 10. 1999, 11:09 Uhr

Endlich Oktober!

Ooh! Oho!

Endlich? Der Oktober ist doch schon wieder halb vorbei. Und was ist überhaupt im Oktober?

Nicht was ist im Oktober, was ist der Oktober? Mein Lieblingsmonat. Und er hat außerdem sowieso erst halb angefangen.

Manche finden ihn ja melancholisch. »October«, singt Bono, »and the trees are stripped bare – wenn die Bäume kahl und nackt sind …«

So bin ich nicht. So ein kühles Lüftchen lässt mein Herz höher schlagen, da stellen sich mir glatt die Nackenhaare auf. Das fühlt sich an, als wäre jeder einzelne Augenblick für mich gemacht. Im Oktober bin ich der Star in meinem eigenen Film – ich höre den Soundtrack im Kopf (im Moment ist es Suite: Judy Blue Eyes), und ich glaube an meine eigene Spannungskurve.

Ich bin im Februar geboren, aber im Oktober bin ich zum Leben erwacht.

Du bist eine Spinnerin.

Ja, eine Pfauenspinnerin. Ein Schmetterling.

Oktober, tauf mich mit deinen Blättern! Hüll mich in Kord, nähr mich mit Erbsensuppe. Oktober, steck mir Mini-Schokoriegel in die Tasche und ritz mein Lächeln in tausend Kürbisse!

O Herbst! O Teekessel! O Wunder!

Ich liebe diese kleinen Riegel.

Fröhlichen Oktober wünsche ich!

Gut, fröhlichen Oktober! Warum eigentlich nicht.

Gibt es auch noch andere Gründe für deine übermütig gute Laune, die nichts mit dem Herbst zu tun haben?

Nein, ich glaube nicht. Ich hatte gestern einen total ätzenden Abend – ich war mit Chris auf einer Sacajawea-Party –, aber ich glaube, gerade deshalb ist meine Laune heute umso besser. Ich bin aufgewacht und hab mir gedacht, egal, wie übel sonst alles aussieht, uns bleibt immer noch der Oktober.

Wer schmeißt denn eine Party an einem Mittwochabend?

Musiker.

Ich dachte, die meisten von denen würden tagsüber einer normalen Arbeit nachgehen?

Selbst die normale Arbeit erledigen die nachts (oder manchmal am späten Nachmittag). Nur die Freundinnen müssen morgens früh raus, und zu erwähnen, dass du zeitig aufstehen musst – dass du also, um es mal so zu sagen, wirklich nicht unter der Woche rausgehen solltest –, das ist Band-Freundinnen-Diffamierung.

Und was passiert mit denen, die da so diffamieren?

Sobald du zur Tür raus bist, egal, ob du deinen Typen dabei mitschleifst oder nicht, schnappt sich jeder andere anwesende Herr seine Dame und dankt ihr dafür, dass sie nicht so eine Spielverderberin ist. Sie fühlt sich deshalb gut und geliebt und erscheint am nächsten Morgen gerädert und mit Kopfschmerzen bei der Arbeit und trägt ein Plektron um den Hals wie ein Albatros.

Du bist also eine Spielverderberin?

O ja, und zwar eine ganz schlimme. Eine Spielverderberin nahezu mythischen Ausmaßes. Das geht schon damit los, dass ich sie die Partys nicht in meiner Wohnung abhalten lasse. Und bei all ihren Partys früh verschwinde, nämlich um Mitternacht. Ich habe irgendwann damit aufgehört, so zu tun, als würde es mir mein Körper nicht übel nehmen, wenn ich die ganze Nacht aufbleibe, rauche und trinke.

Zu bleiben wäre allerdings auch keine Lösung. Da hat man dann nämlich nicht die Wahl, bei ihren Lastern dankend abzulehnen. Denn das wäre ja praktisch so, als würde man sie dafür verurteilen.

Gestern Abend war es besonders schlimm. Stef ist mir tierisch auf die Nerven gegangen. Er war high, und ich glaube, er wollte ein Mädchen beeindrucken, das er bei einem Konzert aufgegabelt hatte.

»Beth …«, sagte er zu mir, »warum amüsierst du dich denn überhaupt nicht mehr?«

Ich hab ihn ignoriert, aber das konnte er natürlich gar nicht vertragen. »Im Ernst, Beth. Du hast dich verändert. Früher warst du mal cool.«

»Ich hab mich nicht verändert. Ich war noch nie cool.«

»Und ob. Als Chris angefangen hat, dich mitzubringen, waren wir anderen alle neidisch. Du hattest diese Haare bis zum Po und diese engen Hüsker-Dü-T-Shirts, und du hast dich besoffen und bist die ganze Nacht aufgeblieben, um unsere Refrains umzuschreiben.«

Und das war gleich in mehrfacher Hinsicht fies, weil er damit:

1. so getan hat, als ob ich ihm mal sympathisch war,

2. mich daran erinnert hat, wie er mir immer auf den Busen gestarrt hat,

3. und mich in Verlegenheit gebracht hat, weil ich nach einer Möglichkeit suchen musste, ihn so zu beleidigen, dass Chris nicht gleich mit beleidigt wird. Ich meine, ich konnte nicht sagen: »Ich bin jetzt erwachsen«, oder: »Jetzt muss man ja nichts mehr umschreiben, ihr spielt schließlich seit sechs Jahren dieselben Songs …«

Also hab ich nur gesagt: »Lass es gut sein, Stef, ich bin müde.«

Dann hat er plötzlich angefangen, Sympathie zu heucheln und vorzuschlagen, ich sollte doch nach Hause gehen, damit ich am nächsten Morgen für die Arbeit ausgeruht bin. Ich hab ihm erklärt, dass Filmkritiker nie vor Mittag anfangen zu arbeiten. Gewerkschaftsvorgaben.

»Und genau das hat dich verändert, Beth. Dein Job. Die Filmkritik. Kritiker sind Schmarotzer. Die leben von der Kreativität anderer. Sie erschaffen selbst nichts Neues. Die sind wie unfruchtbare Frauen, die auf Supermarktparkplätzen die Babys anderer Leute klauen. Wer selbst nichts draufhat, wird Lehrer, und wer nicht einmal unterrichten kann, der kritisiert eben.«

Er hatte sich gerade so richtig schön in Rage geredet, da hat einer der anderen Typen beschlossen einzugreifen – »Hey, Chris, willst du denn deine Freundin nicht verteidigen?«

Und Chris’ Antwort lautete: »Beth braucht meine Hilfe nicht, um sich zu verteidigen. Vertrau mir. Sie ist eine Walküre.«

Und das fühlte sich irgendwie gut an. Dass er mich stark und unabhängig mag. Andererseits würde ich es auch ganz gut finden, wenn man mich mal ein wenig verteidigt. Und außerdem, rauben die Walküren nicht die Seelen toter Krieger? Oder vielleicht begleiten sie sie nur in den Himmel oder das Walhalla oder wie? Jedenfalls macht mich das noch nicht zur Kriegerin. Vielleicht sind die Walküren auch bloß Schmarotzer, die sich im Glanz der Seelen sonnen, die sie einfordern. Ich weiß auch nicht, ich hätte mir gewünscht, dass er was anderes sagt.

Ich wollte, dass er sagt: »Verpiss dich, Stef!«

Oder: »Beth ist doch keine Last für mich. Sie ist der Wind, der meine Flügel zum Schwingen bringt. Und ohne sie würden Filme wie Armageddon und Ich weiß immer noch, was du letzten Sommer getan hast unzählige unschuldige Opfer fordern, auch unter unseren Freunden oder Nachbarn. Ihre Arbeit ist wichtig und kreativ.«

Oder: »Das war’s, ich verlasse diese bescheuerte Band. Ich werd wieder zur Uni gehen, ich wollte eigentlich immer Zahnarzt werden.«

Zahnarzt? Im Ernst, Zahnarzt?

Ich glaube, wenn Chris wieder studieren würde, um Zahnarzt zu werden, dann würdest du ihn verlassen.

Würde ich nicht!

Ich sehe dich einfach nicht als Zahnarztgattin, an der Seite eines Mannes, der ordentliche Schuhe trägt und immer nach Fluoridbehandlung riecht.

Ich könnte mir das schon vorstellen … Er hätte dann eine nette kleine Praxis in der Nachbarschaft, und im Wartezimmer würden alte Ausgaben von Guitar World liegen. Nachmittags würde ich manchmal vorbeischauen, und dann würde er die weiße Maske runterziehen, um mich mit einem Kuss zu begrüßen. Die Kinder würden sich um einen riesigen Zahn streiten, und seine nette, omahafte Arzthelferin würde jedem einen zuckerfreien Lutscher zustecken …

Moment mal, Kinder?

Na, und ob. Ein Junge und ein Mädchen. Zwillinge vielleicht. Mit seinen Locken und meinem Notendurchschnitt.

Was ist mit deinem Job?

Machst du Witze? Ich bin mit einem Zahnarzt verheiratet.

Findet deine Zahnarzt-Fantasie eigentlich im Jahr 1973 statt?

Ich hab immer gedacht, dass ich zu Hause bleiben würde, solange die Kinder klein sind. Wenn ich je Kinder bekomme. Und wenn ich es mir leisten kann. Meine Mutter war zu Hause, und aus uns ist doch durchaus was geworden. Ich glaube, ich würde damit klarkommen, für ein paar Jahre die Hausfrau und Mutter zu spielen.

Hmmm … ich glaube, ich wäre gerne Hausfrau, aber ohne Kinder.

Heißt das, du würdest gern einfach zu Hause bleiben?

Und so Hausfrauenkram machen. Backen. Basteln.

Was würdest du denn basteln?

Ich könnte Pullis häkeln und kunstvolle Scrapbooks erstellen. Ich könnte mir eine von diesen Klebepistolen zulegen.

Wenn unsere Ahninnen uns hören könnten, dann würden sie direkt bereuen, die sexuelle Revolution für uns gewonnen zu haben.

Meine Mutter hat nicht für die sexuelle Revolution gekämpft. Sie hat ja nicht einmal mitbekommen, dass die stattgefunden hat. Mein Dad hat uns vor 20 Jahren verlassen, und sie redet immer noch davon, dass der Mann das Haupt der Familie ist.

Du bist also in einem kopflosen Haushalt aufgewachsen?

Genau. Zusammen mit meiner Mutter, der Hausfrau ohne Ehemann.

Deine Mutter ist deprimierend. Da kehre ich doch lieber zurück zu meiner Zahnarzt-Fantasie.

Und ich an meine Arbeit.

Spielverderberin.

Liebe auf den zweiten Klick
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