Kapitel 24

So weit war es also mit Lincolns Liebesleben gekommen. Er las, was Frauen über andere Männer schrieben, andere, attraktive Männer. Gitarrengötter, Action-Helden und Rotschöpfe.

Nachdem Lincoln an diesem Abend Beths und Jennifers Nachrichten gelöscht und den Courier verlassen hatte, fuhr er hinaus auf die Schnellstraße. Sie führte mehr oder weniger einmal um die Stadt herum. Wenn man erst mal auf dieser Straße war, konnte man, solange man wollte, weiterfahren, ohne abzubiegen und ohne je irgendwo anzukommen.

Sam und er hatten manchen Abend so verbracht, wenn sie keine Lust hatten, bei ihren Eltern herumzusitzen oder in irgendeinem Diner abzuhängen. Lincoln fuhr, und Sam kurbelte das Fenster herunter, lehnte den Kopf gegen die Tür und sang laut mit der Musik mit.

Sie hörten sich im Radio gerne eine Sendung auf dem Soft-Rock-Sender an, die Pillow Talk hieß. Sie funktionierte wie ein Wunschkonzert. Die Leute riefen an und widmeten die gewünschten Songs jemandem. Es war immer rührseliges Zeug, das mindestens zehn oder fünfzehn Jahre alt war und von Air Supply, Elton John oder Bread gesungen wurde. Sam machte sich gerne über ihre Live-Widmungen lustig, aber sie suchte nur selten nach einem anderen Sender.

Sie sangen zusammen oder redeten. Beim Autofahren fiel es ihm leicht, zu reden, vielleicht, weil er keinen Blickkontakt herstellen musste, oder vielleicht, weil seine Hände etwas zu tun hatten. Weil es dunkel und die Schnellstraße leer war. Wegen der Liebeslieder. Und weil der Wind ihnen um die Nase wehte.

»Lincoln«, hatte Sam an einem dieser Abende noch vor ihrem Abschlussjahr gefragt, »glaubst du, dass wir irgendwann mal heiraten?«

»Das hoffe ich«, flüsterte Lincoln. Normalerweise dachte er nicht in solchen Kategorien an ihre Beziehung, »verheiratet«. Er dachte darüber nach, dass er niemals ohne sie sein wollte. Und wie glücklich sie ihn machte und dass er für den Rest seines Lebens so glücklich sein wollte. Wenn eine Hochzeit ihm das garantieren konnte, dann wollte er auf jeden Fall heiraten.

»Wäre es nicht romantisch«, sinnierte sie, »deine Jugendfreundin zu heiraten? Wenn die Leute uns fragen, wie wir uns kennengelernt haben, dann werden wir sagen: ›Das war in der Highschool. Ich hab ihn gesehen und wusste es einfach.‹ Und dann werden sie fragen: ›Und habt ihr nie darüber nachgedacht, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein?‹ Und du wirst sagen … ja, was wirst du sagen, Lincoln?«

»Ich werde Nein sagen.«

»Das ist nicht sonderlich romantisch.«

»Das geht die doch nichts an.«

»Dann erzähl es mir«, bat sie, löste den Anschnallgurt und legte den Arm um seine Hüfte. »Na, sag schon, wirst du dich jemals fragen, wie es gewesen wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein?«

»Jetzt schnall dich erst mal wieder an«, mahnte er. »Ich würde mich das nicht fragen, weil ich ja schon weiß, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Ich weiß es eben einfach.«

»Und wie wäre das?«

»Es wäre weniger dran.«

»Wie, weniger?«

Nur für eine Sekunde sah er zu ihr hinüber, wie sie seitlich in ihrem Schalensitz hockte, und umfasste das Steuer noch fester. »Das muss einfach so sein. Wenn ich dich doch schon so sehr liebe. Wenn ich doch bei dir schon das Gefühl habe, dass in meiner Brust alles explodiert, sobald ich dich sehe. Es wäre völlig unmöglich, jemanden noch mehr zu lieben, das würde mich umbringen. Und ich könnte auch niemanden weniger lieben, denn das würde sich ja immer nach weniger anfühlen. Selbst wenn ich irgendein anderes Mädchen lieben würde, dann würde ich immer nur daran denken können, wie anders es ist, dich zu lieben und es zu lieben.«

Sam stemmte sich in ihrem Schalensitz hoch und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Das ist so eine gute Antwort.«

»Das ist eine wahre Antwort.«

»Und was« – jetzt klang ihre Stimme mädchenhaft –, »wenn irgendwann mal jemand wissen wollte, ob du dich je fragst, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein.«

»Wer sollte mich denn so was fragen?«

»Das ganze Szenario ist doch völlig hypothetisch.«

»Ich weiß noch nicht mal, wie es ist, mit dir zusammen zu sein«, erwiderte Lincoln ruhig und ohne jeden Vorwurf.

»Noch nicht.«

»Noch nicht«, bestätigte er, konzentrierte sich auf die Straße und das Gaspedal und aufs Atmen.

»Also … würdest du keine anderen Mädchen anschauen und dich fragen, was dir da entgeht?«

»Nein«, sagte er.

»Nein?«

»Ich weiß, dass du keine einsilbigen Antworten willst. Lass mich mal einen Moment darüber nachdenken, ich will nicht bescheuert oder verzweifelt klingen.«

»Bist du denn verzweifelt?« Sie küsste ihn auf den Nacken und presste ihren Körper gegen seinen.

»Ich fühle mich … ja. Verzweifelt. Und als würde ich uns beide gleich umbringen. Ich kann nicht … ich kann die Augen nicht offen halten, wenn du das machst, das ist wie beim Niesen. Da hinten kommt gleich die nächste Ausfahrt. Lass mich in Ruhe fahren, nur noch ein paar Minuten. Bitte.«

Sie ließ sich wieder in ihren Sitz sinken. »Nein, nimm die Abfahrt nicht. Fahr weiter.«

»Warum?«

»Weil ich möchte, dass du weiterredest. Ich möchte, dass du auf meine Frage antwortest.«

»Nein«, erklärte er. »Nein, ich frage mich nie, wie es wäre, mit jemand anderem Sex zu haben. Du bist das einzige Mädchen, das ich je berührt habe. Und es kommt mir vor, als wäre das so vorherbestimmt. Ich berühre dich, und mein ganzer Körper … schrillt wie eine Alarmglocke oder so. Ich könnte andere Mädchen anfassen, und vielleicht wäre da was, du weißt schon, vielleicht gäbe es da auch ein Geräusch. Aber nicht wie bei dir. Und was würde passieren, wenn ich sie anfasse, immer und immer wieder, und dann … versuche, wieder dich zu berühren? Dann würde ich uns vielleicht gar nicht mehr hören. Es würde vielleicht nicht mehr richtig klingen.«

»Ich liebe dich, Lincoln«, sagte Sam.

»Ich liebe dich«, erwiderte Lincoln.

»Und ich liebe dich.«

»Ich liebe dich«, wiederholte er. »Ich liebe dich.«

»Jetzt können wir irgendwo rausfahren, okay?«

Es geschah nicht an diesem Abend, das Zusammensein. Aber in diesem Sommer. Und im Auto. Es war unbeholfen und unbequem und ganz wunderbar.

»Nur du«, hatte er ihr versprochen. »Immer nur du.«

Pillow Talk gab es inzwischen nicht mehr. Stattdessen lief eine Show, die sie auf mehreren Sendern gleichzeitig brachten. Da riefen Leute an und erzählten ihre Liebesgeschichte, und die Moderatorin, eine gewisse Alexis, suchte dann einen Song für sie aus. Egal, um was es dem Anrufer gegangen war, Alexis wählte immer einen aktuellen Hit für ein eher erwachsenes Publikum. Irgendwas von Mariah Carey oder Celine Dion.

Nach ein paar Minuten Alexis schaltete Lincoln das Radio ab und kurbelte das Fenster herunter. Er hielt die Hand in den Wind und lehnte den Kopf an die Tür und fuhr immer wieder um die Stadt herum, bis seine Finger ganz kalt und taub waren.

Liebe auf den zweiten Klick
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