Kapitel 26

Beth und Jennifer schienen alle Regeln und Einschränkungen vergessen zu haben. Sie hielten sich nicht mehr zurück. Beth war derart leichtsinnig, dass sogar einige ihrer Mails an andere Mitarbeiter im WebShark-Ordner landeten.

Beth.

Lincoln konnte sich nicht einmal selbst erklären, warum sie ihm so wichtig war. Jennifer und sie waren beide witzig, warmherzig und hatten Köpfchen. Aber es waren Beths Bemerkungen, die ihn immer bis ins Mark trafen.

Wenn er ihre Mails las, kam es ihm vor, als würde er sie sprechen hören, als könnte er sie vor sich sehen, obwohl er immer noch nicht wusste, wie sie aussah. Er hatte das Gefühl, er konnte sie lachen hören.

Er fand es toll, dass sie Jennifer mit Samthandschuhen anfasste, wenn sie über ihre Ehe und über Mitch sprach. Er liebte die Art und Weise, wie sie mit ihrem Humor über ihre Geschwister, ihre Vorgesetzten und sogar über sich selbst hinwegfegte. Er versuchte, sich nicht allzu sehr daran zu ergötzen, dass sie ganze Szenen aus Ghostbusters auswendig kannte, dass sie Kung-Fu-Filme mochte und dass sie alle Namen der ursprünglichen X-Men aufzählen konnte – denn aus solchen Gründen würde sich wohl eher ein Typ aus einem Kevin-Smith-Film in eine Frau verlieben.

Sich verlieben … war er dabei, sich zu verlieben? Oder war ihm einfach nur langweilig?

Wenn seine Schicht zu Ende war, ging er manchmal, so einmal oder zweimal die Woche, in die Redaktion und an Beths Schreibtisch vorbei, nur um das Durcheinander von Kaffeebechern und Notizblöcken zu betrachten und einen Beweis dafür zu haben, dass es sie wirklich gab. Gegen ein Uhr morgens waren die Redakteure meistens schon gegangen, und der Raum wurde nur noch von den Straßenlaternen erleuchtet. Wenn sich bei ihm auf dem Weg in die Redaktion das schlechte Gewissen meldete, dann redete er sich ein, dass er ja nichts Falsches tat. Solange er nicht versuchte, Beth selbst zu sehen. Er erklärte sich selbst, dass es ja im Prinzip so war, als würde er für ein Mädchen in einer Seifenoper schwärmen. Einer Radio-Soap. Nichts, worauf man stolz sein konnte, aber harmlos. Etwas, womit die Zeit nachts schneller verging.

In manchen Nächten, so wie heute, erlaubte er es sich, einen Moment an ihrem Tisch stehen zu bleiben.

Ein Kaffeebecher. Eine angebrochene Toblerone. Ein Häufchen Büroklammern. Und etwas Neues, ein Flyer für ein Konzert klebte an ihrem Bildschirm. Er war knallrosa mit einem Comic-Gitarristen – Sacajawea im Ranch Bowl, Samstagabend. Diesen Samstagabend.

Hm.

Justin hatte Lust auf ein Konzert. Justin war eigentlich immer für alles zu haben. Er bot an, Lincoln abzuholen, aber Lincoln schlug vor, sie sollten sich direkt in der Kneipe treffen.

»Alter, versteh schon, du bist ein rastloser Typ. Ich werde dich nicht aufhalten.«

Sie trafen sich im Ranch Bowl eine halbe Stunde, bevor Sacajawea die Bühne betrat. Justin war ganz offensichtlich enttäuscht. Der Laden war schmutzig und überfüllt, es gab keine Tische oder Schnaps-Specials, und man musste sich hinter die Bühne drängen, um zur Theke zu gelangen. Das Publikum bestand überwiegend aus Männern, und die Band, die gerade spielte – Razorwine, der Aufschrift auf dem Schlagzeug zufolge –, hörte sich an, als würde sie ein Beastie-Boys-Album auf der Kreissäge interpretieren. Die beiden fanden ein Plätzchen an der Wand, wo sie sich anlehnen konnten, aber Justin wollte eigentlich sofort wieder gehen. Das Ganze war ihm so zuwider, dass er nicht einmal Lust hatte, sich was zu trinken zu holen.

»Lincoln, komm schon, das ist hier doch total deprimierend. Der reinste Friedhof. Ach was, noch übler, der Friedhof der Kuscheltiere. Lincoln. Alter. Lass uns abhauen. Komm schon. Dann gehen die Drinks für den Rest des Abends auch auf mich.«

Ein Typ neben ihnen, ein bulliger Kerl im Flanellhemd, fuhr Justin schließlich an, er solle doch endlich den Mund halten. »Ein paar von uns sind hier, um die Musik zu hören!«

»Scheiße, Mann, das ist ja wohl dein Problem«, knurrte Justin zwischen zusammengebissenen Zähnen durch eine Wolke Camel-Rauch. Lincoln packte seinen Freund am Ärmel und zog ihn zurück.

»Wovor hast du denn Schiss?«, fragte Justin. »Du bist doch der reinste Schrank. Den legst du doch locker aufs Kreuz.«

»Ich will ihn aber nicht aufs Kreuz legen. Ich will nur die Band hören, die nächste Band. Ich dachte, du magst Metal.«

»Das ist kein Metal«, grunzte Justin, »das ist Pferdescheiße.«

»Nur eine halbe Stunde«, bat Lincoln, »und dann gehen wir, wohin auch immer du willst.«

Die Kreissägen-Band beendete ihr Set, und Sacajawea fingen an, ihre Instrumente aufzubauen. Es war nicht schwierig, ihn auszumachen, Beths Freund. In natura sah er genauso gut aus wie auf den Fotos. Sehnig und zerzaust. Alle Bandmitglieder hatten langes, feminines Haar. Sie trugen enge Hosen und offene, wallende Hemden.

»Was, zum Teufel, ist das denn?«, meinte Justin.

Um sie herum gingen im Publikum Veränderungen vor sich. Die kräftigen Kerle verschwanden in Richtung Bar, während aus den Schatten plötzlich Gruppen von Frauen auftauchten. Mädchen mit tiefsitzenden Jeans. Mädchen mit gepiercten Zungen und Schmetterlingstattoos. »Wo kommen denn auf einmal die ganzen Nabelpiercings her?«, wollte Justin wissen. Das Licht ging aus, und Sacajaweas Set begann mit einem elektrisierenden Gitarrensolo.

Die Frauen drängten nach vorn, Richtung Bühne. Genau wie Lincoln hatten die meisten Mädchen nur Augen für den Gitarristen. Und der Sänger – Stef, vermutete Lincoln – musste sie regelrecht umwerben, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Er schnurrte wie Robert Plant und stampfte wie Mick Jagger. Gegen Ende des ersten Liedes zog Stef Mädchen auf die Bühne hoch, um seinen Mikroständer an ihnen zu reiben. Aber nicht Chris. Chris hatte nur Augen für seine Gitarre. Von Zeit zu Zeit sah er kurz hoch zu all den Mädchen im Publikum und lächelte, als hätte er sie gerade erst bemerkt. Darauf fuhren sie völlig ab.

»Lass uns abhauen«, sagte Lincoln zu Justin, denn er wusste auf einmal nicht mehr, warum er überhaupt gekommen war und was er zu sehen gehofft hatte. Und dafür hatte er D & D ausfallen lassen.

»Vergiss es«, rief Justin, »die Typen haben’s voll drauf.«

Sie hatten es wirklich drauf, das musste Lincoln zugeben. Wenn man so was mochte. Verschwitzten, sexy, himmelschreienden Acid Rock. Justin und er blieben bis zum Ende der Show. Als sie vorbei war, wollte Justin ins Village Inn auf der anderen Straßenseite. Er verbrachte zwanzig Minuten damit, das Konzert noch mal durchzukauen, und redete dann noch mal zwei Stunden lang über ein Mädchen, dasselbe Mädchen, mit dem er an dem Abend im Steel Guitar nach Hause gegangen war. Sie hieß Dena und war Zahnhygienikerin. Seitdem waren sie jeden Abend zusammen ausgegangen oder gemeinsam zu Hause geblieben, und jetzt wollte Dena, dass sie einander versprachen, sich mit niemandem sonst zu treffen. Was laut Justin völliger Blödsinn war, weil er ohnehin keine Zeit hatte, eine andere zu sehen.

Dena hingegen meinte, dass es eine Sache war, keine Zeit für andere Mädchen zu haben, jedoch eine ganz andere Sache, sich offiziell festzulegen. Denn im ersten Fall hätte Justin ja immer noch die Erlaubnis, mit einer anderen Sex zu haben, solange er dafür nur ein Viertelstündchen Zeit und eine willige Partnerin zur Hand hatte. Was absolut scheißrichtig war, wie Justin erklärte. Er wollte keine feste Freundin. Er hasste die Idee, mit nur einer einzigen Person zusammen zu sein – beinahe genauso sehr, wie er die Vorstellung hasste, Dena mit einem anderen Mann teilen zu müssen. Lincoln aß zwei Stück Schokoladentorte und hörte zu. »Wenn du wirklich eine andere Frau treffen wolltest«, erklärte er schließlich, während er mit einem dritten Stück liebäugelte, »dann würdest du das längst tun. Dann würdest du nicht mit mir hier rumhängen und über Dena reden.«

Justin dachte einen Moment darüber nach. »Du obermieses Superhirn«, rief er schließlich, klopfte Lincoln auf den Arm und sprang vom Tisch hoch. »Alter. Danke. Ich ruf dich an.«

Lincoln blieb im Restaurant sitzen und trank seinen Kaffee aus, während er darüber nachgrübelte, ob das Universum Justin gerade die wahre Liebe im Steel Guitar beschert hatte, nur um Lincoln dafür zu bestrafen, dass er behauptet hatte, dort würde es Amor niemals am Türsteher vorbeischaffen.

Als Lincoln aufstand, um zu gehen, herrschte im Village Inn gerade 3:00-Uhr-Flaute. Das Restaurant war leer, abgesehen von einem einzigen Mann, der in der Ecke an einem Tisch saß, Kopfhörer trug und in einem Taschenbuch las. Selbst im speckig-fettigen Licht der frühen Morgenstunden sah Chris makellos aus. Die Kellnerin, die die Ketchup-Flaschen auffüllte, starrte ihn an, aber er schien es nicht zu bemerken.

Liebe auf den zweiten Klick
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