Kapitel 66

Ob das Gehirn wohl Informationen wie ein fremdes Organ abstoßen konnte? Doris versuchte, Lincoln das Binokel-Spielen beizubringen, aber seine kleinen grauen Zellen weigerten sich, die Informationen aufzunehmen. Zum Glück, oder vielleicht eher leider, konnte sie das nicht entmutigen. Er überlegte, vielleicht doch wieder an seinem Arbeitsplatz zu essen. Wenn er sowieso nicht mehr versuchte, Beth über den Weg zu laufen, dann konnte er genauso gut dort bleiben. Aber das erschien ihm Doris gegenüber nicht fair, vor allem jetzt, wo seine Mutter ihm ihre Leckerbissen extra für die andere Frau mitgab. Inzwischen teilte Doris ihren Kuchen mit ihm.

»Manche Leute haben einfach Probleme damit, Spielregeln zu verstehen«, bemerkte sie. »Jetzt gebe ich.« Sie führte kleine Tricks vor, während sie mischte. »Und, hast du große Pläne fürs Wochenende?«

»Nein«, antwortete Lincoln. Vielleicht würde er D & D spielen. Vielleicht würde er mit Chuck auf den Golfplatz gehen. Und einer der Korrektoren gab eine »Fröhliches Neues Jahr«-Party, zu der Lincoln eingeladen war. (»Wir feiern immer alles ein paar Wochen später«, hatte Chuck erklärt. »Diese Mistkerle aus der Tagesschicht springen an Feiertagen nie für uns ein.«)

»Meine Vitrine steht nämlich immer noch in meiner alten Wohnung …«, rief Doris ihm in Erinnerung. »Ich hab dem Hausmeister gesagt, dass am Einunddreißigsten alles draußen ist.«

»Oh, stimmt«, sagte Lincoln. »Tut mir leid. Ich kann Samstagabend bei dir vorbeischauen.«

»Wie sieht’s denn mit Sonntag aus? Am Samstag hab ich eine Verabredung.«

»Sicher.« Er nickte. »Sonntag.«

Als sie Golf spielten, versuchte Chuck, Lincoln dazu zu überreden, zu der Korrektoren-Party zu kommen.

»Eigentlich mag ich Partys nicht«, wandte Lincoln ein.

»Das wird sowieso keine richtige Party. Korrektoren schmeißen ganz schreckliche Partys.«

»Willst du mich so überzeugen?«

»Emilie kommt auch …«

»Ich dachte, ich hätte gehört, dass sie jetzt mit jemandem zusammen ist.«

»Die haben sich getrennt. Warum magst du Emilie eigentlich nicht? Die ist doch zauberhaft.«

»Ja«, meinte Lincoln, »sie ist ganz süß.«

»Sie ist zauberhaft«, bekräftigte Chuck. »Und sie kann die komplette Liste der Präpositionen auswendig. Und sie bringt auch Kürbisbrot mit, und dieses Spiel, Electronic Catch Phrase.«

»Das klingt eher so, als würdest du Emilie mögen.«

»Ich doch nicht. Ich versuche gerade, mich wieder mit meiner Frau zu versöhnen. Und wie lautet deine Ausrede?«

»Ich hab sozusagen … gerade eine schwierige Beziehung hinter mir.«

»Wann ist die denn zu Ende gegangen?«

»Kurz bevor sie richtig angefangen hat«, erklärte Lincoln.

Chuck lachte auf, und kleine Dampfwölkchen bildeten sich in der Januarluft.

»Ist es nicht zu kalt, um Golf zu spielen?«, fragte Lincoln.

»Ich kriege Kopfschmerzen von der Sonne«, sagte Chuck.

Lincoln änderte seine Meinung nicht. Er hatte keine Lust auf Partys. Oder Spiele. Oder Leute.

Drei Wochen. So lange war es jetzt her, dass Beth und Jennifer das letzte Mal im WebShark-Ordner aufgetaucht waren. Das ist doch gut, redete Lincoln sich ein. Auch wenn es überhaupt nicht logisch ist, dass sie so ruhig sind. Auch wenn es so gar nicht zu ihnen passt. Sie machen es dir leicht. Leichter.

Er beschloss, sich einen Film auszuleihen, Harold und Maude. Den hatte er seit der Highschool nicht mehr gesehen, und er freute sich auf die Szene am Ende, in der Harold seinen Jaguar über die Klippe jagt und dann Banjo spielt. Er hoffte nur, dass ihn niemand aus der Zeitung bei Blockbuster sehen würde, wie er sich Harold und Maude auslieh. (Chuck hatte ihm erzählt, dass die Korrektoren ihn früher »Doris’ kleinen Freund« genannt hatten, bevor sie seinen Namen kannten.) Er hätte die Videokassette fast hinter dem Rücken versteckt, als ihn jemand am Arm berührte.

»Lincoln. Lincoln? Bist du das?«

Er drehte sich um.

Wenn man jemanden zum ersten Mal nach neun Jahren wiedertrifft, dann ist es seltsam, denn zunächst sieht er für einen Augenblick lang, nur für den Bruchteil einer Sekunde, so ganz anders aus, und dann sieht er wieder genauso aus wie immer, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.

Sam sah genauso aus wie Sam. Klein, braune Locken – die sie jetzt ein wenig länger trug, nicht in dieser unordentlichen Bobfrisur wie im College. Große, leuchtende Augen, so dunkel, dass man kaum die Pupillen ausmachen konnte. Schwarze Klamotten, die so aussahen, als ob sie sie im Ausland gekauft hätte. Silberringe an den Fingern. Sie hatte sich eine rosafarbene Krawatte als Gürtel umgebunden.

Und sie berührte ihn immer noch. Sie hatte jetzt nach beiden Armen gegriffen.

»Lincoln!«, rief sie.

Lincoln stand reglos da und schwieg, aber er kam sich vor wie Keanu Reeves in der Szene aus Matrix, in der er die Zeit langsamer laufen lässt, um einem Kugelhagel auszuweichen.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du das bist.« Sie umfasste seine Arme, fingerte vorn an seiner Jacke herum und legte ihm schließlich die Hände auf die Brust. »O mein Gott. Du hast dich gar nicht verändert.«

Sie zog an seiner Jacke. Er rührte sich nicht.

»Du riechst sogar noch genauso wie früher«, verkündete sie. »Nach Pfirsich! Ich kann einfach nicht fassen, dass ich dich hier treffe. Wie geht’s?« Sie zog wieder an seiner Jacke. »Wie geht es dir?«

»Gut«, murmelte er, »alles klar bei mir.«

»Es muss Vorsehung sein, dass ich dir hier über den Weg laufe«, plapperte Sam weiter. »Ich bin letzten Monat wieder hierhergezogen, und ich hab jeden Tag an dich gedacht. Ich glaube, ich habe keine einzige Erinnerung an diese Stadt, die nichts mit dir zu tun hat. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern besuche oder auf die Schnellstraße fahre, geht mir immer nur ›Lincoln, Lincoln, Lincoln‹ durch den Kopf. Gott, ist das schön, dich zu sehen. Wie geht es dir? Jetzt mal im Ernst. Ich meine, das letzte Mal, als ich von dir gehört habe …« Sie setzte eine traurige Miene auf. Sie berührte ihn am Arm, an der Schulter, am Kinn. »Aber das ist ja schon Jahre her … Wie geht es dir? Was machst du so? Du musst mir alles erzählen!«

»Oh, du weißt schon«, erwiderte er, »ich bin hier. Arbeite. Ich meine, ich arbeite. Mit Computern. Nicht genau hier. Hier in der Gegend.« Was sollte er denn sonst sagen? Dass er immer noch bei seiner Mutter wohnte? Dass er sich gerade einen Film ausleihen wollte, den er vermutlich das erste Mal zusammen mit Sam gesehen hatte? Dass sie der Jaguar war, den er über die Klippe jagen musste?

Obwohl sie es gar nicht war. Oder doch?

Plötzlich verspürte Lincoln etwas ganz Neues, er fühlte sich stärker. Er legte Harold und Maude heimlich beiseite und griff nach einem anderen Film – Hairspray.

»Was ist denn mit dir?«, fragte er. »Warum bist du wieder zurück?«

»O Gott«, meinte Sam und rollte mit den Augen, als würde sie drei Stunden und einen griechischen Chor brauchen, um das alles zu erklären. »Die Arbeit. Die Familie. Ich bin zurückgekommen, weil ich wollte, dass meine Jungen ihre Großeltern richtig kennenlernen. Kannst du dir vorstellen, dass ich Mutter bin? Gott. Und dann hab ich diesen Job beim Theater. Es geht um Entwicklung und das Sammeln von Spenden, du weißt schon, reichen Leuten das Gefühl geben, wichtig zu sein. Hinter den Kulissen, aber quasi trotzdem auf einer Bühne. Ich weiß auch nicht, viele Veränderungen. Ein großes Risiko. Liam bleibt erst mal für sechs Monate in Dublin, falls die Sache schlecht laufen sollte. Wusstest du, dass ich in Dublin war?«

»Dublin«, echote Lincoln. »Mit Liam. Dein Mann?«

»Sozusagen«, antwortete Sam mit einer weiteren Das-ist-eine-viel-zu-lange-Geschichte-Geste. »Ich hab mir geschworen, dass ich nie wieder einen Mann mit ausländischem Pass heirate. Gebranntes Kind et cetera.« Sie sprach es in vier harten Silben aus. Et-ce-te-ra. Ihre kleinen Hände mit den perfekt manikürten rosafarbenen Nägeln wirbelten herum, während sie sprach, landeten aber immer wieder auf Lincolns Armen und Brust.

»Ich werd dir das ganze Abenteuer schon noch erzählen«, versprach sie. »Bald. Wir müssen uns unbedingt auf den neuesten Stand bringen. Ich fand immer, zwei Menschen, die so viel zusammen erlebt haben wie wir und so wichtige Jahre ihres Lebens zusammen verbracht haben, hätten sich nie aus den Augen verlieren sollen.« Sie senkte die Stimme. Von der Bühne zum Bildschirm. »Das ist einfach nicht richtig.«

»Ich hab eine Idee«, verkündete sie plötzlich, hielt sich an seiner Jacke fest, stellte sich auf die Zehenspitzen und lehnte sich gegen ihn. Er rückte innerlich von ihr ab. »Was machst du jetzt

»Jetzt gerade?«, fragte er.

»Lass uns zu Fenwick’s gehen und Bananeneis essen. Und dann musst du mir einfach alles erzählen.«

»Alles«, wiederholte Lincoln und fragte sich, welchen Teil von allem er je Sam auf die Nase binden wollte.

»Alles«, bekräftigte sie noch einmal und lehnte sich noch mehr an ihn. Sie roch nach Gardenien. Und da war noch etwas anderes, Gardenien plus sexuelle Erfahrung.

»Fenwick’s hat vor ein paar Jahren zugemacht«, sagte er.

»Dann setzen wir uns einfach ins Auto und fahren so lange herum, bis wir irgendwo Bananeneis finden. In welche Richtung sollen wir bloß fahren?«, fragte sie lachend. »Nach Austin. Oder Fargo?«

»Ich kann nicht«, behauptete er. »Ich kann nicht. Nicht heute Abend. Ich hab … noch was vor.«

»Was hast du denn noch vor?«, fragte sie und ließ sich auf die Fersen sinken.

»Eine Party«, erklärte er.

»Oh«, hauchte sie. Dann wühlte sie in ihrer schwarzen Samthandtasche herum. Die hatte einen knochenfarbenen Griff, der nach Elfenbein aussah. »Hier«, sagte sie und drückte ihm etwas in die Hand. »Hier hast du meine Karte. Ruf mich an. Am besten hast du mich gestern schon angerufen. Und das meine ich auch so, Lincoln.«

Sie blickte ihn ernst an. Er nickte und hielt die Karte fest.

»Lincoln«, rief sie und war ganz gesenkte Wimpern und wissendes Lächeln. Sie fasste ihn an den Schultern und küsste ihn rasch auf beide Wangen. »Vorsehung!«

Und dann rauschte sie auch schon davon. Die Sohlen ihrer hochhackigen Schuhe waren pink. Sie hatte nicht einmal einen Film mitgenommen.

Und Lincoln … Lincoln stand immer noch da.

Liebe auf den zweiten Klick
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