Kapitel 58

Diese Woche blieben alle bis spätabends in der Informatikabteilung, selbst diejenigen, die nicht direkt etwas mit dem Programmieren zu tun hatten. Greg war völlig fertig. Er war davon überzeugt, dass die Millennium-Kids ihn reingelegt hatten. Er verriet Lincoln, dass der Arzt ihm Paroxetin verschrieben hatte. Lincoln versuchte die ganze Zeit, bei der internationalen Eingreiftruppe Anzeichen für Angst oder eine plötzliche Flucht zu entdecken. Aber die saßen nur in ihrer Ecke, starrten auf Bildschirme voller Codes, drückten in aller Seelenruhe auf Tasten und tranken Mountain Dew.

Wegen der vielen Leute und der vielen Arbeit hatte Lincoln keine Gelegenheit, sich auf den WebShark-Ordner zu stürzen oder in der Redaktion herumzuhängen. Bis Donnerstag hatte er nicht einmal eine richtige Pause fürs Abendessen eingelegt. (Noch 27 Stunden.) Doris freute sich, ihn zu sehen, und noch viel mehr, als sie sah, dass er Schokoladenkuchen mitgebracht hatte.

»Mein Junge, deine Mutter ist ein echtes Original«, betonte sie, als Lincoln den Kuchen auspackte. »Und abgesehen davon, dass sie toll kocht, steckt sie voller Energie, das hat man gleich gemerkt. Ich wette, sie sieht auch noch gut aus. Warum hat sie eigentlich nie wieder geheiratet?«

»Das weiß ich nicht so genau.«

Er konnte sich seine Mutter nicht als Ehefrau vorstellen, obwohl er ja wusste, dass sie kurze Zeit mit Eves Dad verheiratet gewesen war. Er hatte ein Foto von ihrer Hochzeit gesehen, sie trug ein Minikleid aus weißer Spitze und eine aufgetürmte blonde Föhnfrisur. Lincoln konnte sich ja nicht einmal vorstellen, dass seine Mutter auch nur zu einer Verabredung ging. Eve hatte ihm erzählt, dass das anders gewesen war, bevor er geboren wurde. Sie konnte sich noch an Männer und Partys und fremde Leute beim Frühstück erinnern …

»Als mein Paul gestorben ist, konnte ich in den ersten Jahren gar nicht daran denken, mich mit anderen Männern zu treffen«, erzählte Doris. »Aber dann ist mir klar geworden, dass ich ja gut und gerne noch mal vierzig Jahre vor mir hatte. Das ist länger, als Paul und ich überhaupt zusammen waren. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich vierzig Jahre lang den Trauerkloß spiele, da bin ich mir sicher.«

»Also hast du angefangen, dich wieder zu verabreden?«

»Na, und ob.« Doris lächelte. »Es gibt da ein paar Herren, mit denen ich mich regelmäßig treffe. Bislang noch nichts Ernstes, aber man weiß ja nie.«

So langsam fragte sich Lincoln, ob er eigentlich mit Doris zu Abend aß, weil er nett zu ihr sein wollte, oder ob es nicht vielmehr umgekehrt war.

»Meine Mom sagt, du musst dir keine Sorgen wegen des Blutdrucks machen«, erklärte er und reichte ihr eine Plastikgabel. »Den hat sie mit Olivenöl gemacht.«

»Olivenöl im Kuchen?«, fragte Doris. »Ist der etwa grün?«

»Er ist lecker«, entgegnete Lincoln. »Ich hab schon drei Stück gegessen.«

Doris probierte ein Stück. »O mein Gott«, seufzte sie, den Mund voller Krümel. »Und ob der lecker ist. So saftig. Und die Glasur – hat sie dafür auch Olivenöl genommen?«

»Ich glaube, in der Glasur ist Butter drin.«

»Oh, na ja.«

Eine Frau kam in den Raum und ging auf den Snackautomaten hinter ihnen zu. Sie war jung, etwa in Lincolns Alter, und groß. Sie hatte die Haare zu einem großen, dunklen Knoten hochgebunden, und sie hatte ein Gesicht voller Sommersprossen. Hübsch …

»Hi, Doris«, grüßte sie.

»Hey, hallo Schätzchen«, antwortete Doris. »Du arbeitest heute aber spät.«

Die Frau, das Mädchen, lächelte Doris an und nickte, dann lächelte sie in Lincolns Richtung. Sie hatte breite Schultern und einen großen, straffen Busen. Lincoln hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er lächelte zurück. Sie wandte sich wieder dem Automaten zu. Er hatte sie vorher noch nie gesehen, oder? Sie beugte sich vor, um irgendwas aus dem Automaten zu nehmen. Im Nacken waren ein paar weiche Locken dem Haarknoten entwischt. Sie trug ein figurbetontes weißes Shirt und eine pinkfarbene Cordhose. Sie hatte eine eher schmale Taille. Und eher breite Hüften. Ihr Rücken lief in einer sanften Krümmung aus. So wunderschön …

»Zu schade, dass die schon einen Freund hat«, bemerkte Doris, als sich die Tür hinter der Frau schloss. »Das ist ein nettes Mädchen … und auch eher was in deiner Größe. Bei der müsstest du dir nicht das Kreuz brechen, wenn du ihr einen Gutenachtkuss gibst.«

Lincoln spürte, dass er errötete. Doris kicherte.

»Apropos«, sagte er und stand auf. »Ich muss wieder zurück an die Arbeit.«

»Danke für den Kuchen, mein Junge.«

Auf dem Weg zurück in die Informatikabteilung machte er versuchsweise einen Abstecher in die Redaktion.

Vielleicht war sie es gewesen. Das Mädchen. Beth. Vielleicht war das die Nacht, seine Nacht, um mit ihr zu reden. Der Vorabend des Millennium-Vorabends. Sie hatte ihn angelächelt. Na ja, vermutlich hatte sie eher Doris angelächelt, aber schließlich hatte sie ihn angeschaut und dabei immer noch gelächelt.

Vielleicht war sie es. Seine Sie.

Und vielleicht würde sie heute Abend an ihrem Schreibtisch sitzen, und Lincoln würde vorbeikommen und Hallo sagen – so wie auf der ganzen Welt Männer kurz stehen bleiben, um Frauen Hallo zu sagen. Ein Neuanfang, sagte er sich immer wieder, während sich sein Magen zusammenkrampfte.

Er schaffte es nicht einmal bis zu Beths Schreibtisch.

Das Mädchen aus dem Pausenraum saß in der Lokalredaktion am Tisch neben dem Gerät, mit dem der Polizeifunk abgehört wurde, und telefonierte. Wahrscheinlich war das einfach nur die neue Polizeireporterin, Megan Soundso, wahrscheinlich hatte er ihren Namen schon in der Zeitung gesehen. Nicht Beth. Immer noch keine Beth.

Trotzdem erlaubte er es sich, den Blick kurz auf ihr ruhen zu lassen, auch wenn sie es nicht war. Dieses Mädchen war hübsch. Noch viel mehr als nur hübsch. Er stellte sich vor, wie sich ihr Haar aus dem Knoten löste. Er dachte an ihr Lächeln.

Liebe auf den zweiten Klick
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