Kapitel 51

Lincoln las diese E-Mails öfter als einmal. Öfter als zweimal. Öfter, als er sollte. Und jedes Mal, wenn er sie wieder durchging, krampfte sich sein Magen noch ein wenig mehr zusammen.

Er konnte dieses Mädchen immer noch nicht vor sich sehen. Diese Frau. Aber Chris konnte er sich nur zu gut vorstellen, und zum ersten Mal, seit – na ja, seit das alles angefangen hatte, war er wütend.

Er hasste die Vorstellung davon, wie Chris lieb zu Beth war. Wie er ihr Tee machte und sie tröstete. Aber er hasste auch den Gedanken daran, dass er sie vernachlässigte und nicht zu ihr nach Hause zurückkehrte. Lincoln hasste die Überzeugung, dass Beth, sogar dann, wenn er mit ihr reden könnte, wenn das möglich sein sollte und wenn er sich nicht in diese Sackgasse manövriert hätte, dass sie selbst dann immer noch jemand anderen lieben würde.

Beim Abendessen war er so aufgewühlt, dass er Doris sein Stück Kürbiskuchen überließ.

»Dieser Zitronenguss ist toll«, sagte sie. »So säuerlich. Wer würde schon auf den Gedanken kommen, einen Kürbiskuchen mit Zitronenguss zu überziehen? Deine Mutter sollte ein Restaurant eröffnen. Womit verdient sie denn ihr Geld?«

»Sie arbeitet nicht«, erklärte er. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte sie nie gearbeitet. Sie hatte immer noch etwas von dem Geld von Eves Dad übrig, von dem sie sich Jahre vor Lincolns Geburt hatte scheiden lassen. Außerdem war sie ausgebildete Masseurin. Eine Zeit lang schien sie sich damit über Wasser zu halten. Im Sommer bot sie manchmal Sitzmassagen auf Flohmärkten an. Es schien seiner Mutter nie an Geld zu fehlen. Aber Lincoln sollte vielleicht Miete zahlen, überlegte er nun, oder sich zumindest an den Kosten für die Lebensmittel beteiligen … vor allem jetzt, wo er Doris mit durchfütterte.

»Was ist denn mit deinem Dad? Was macht der so?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Lincoln. »Ich hab ihn nie kennengelernt.«

Doris verschluckte sich an ihrem Kuchen. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und Lincoln hoffte, dass Beth nicht gerade jetzt hereinkommen würde. »Du armes Ding«, bedauerte sie ihn.

»Das ist wirklich nicht so schlimm«, erklärte er.

»Nicht so schlimm? Es ist furchtbar, ohne Vater aufzuwachsen.«

»War es nicht«, widersprach Lincoln, aber vielleicht war es das ja doch gewesen, was wusste er schon? »Es war in Ordnung.«

Doris tätschelte ihn ein paarmal, bevor sie die Hand zurückzog.

»Kein Wunder, dass deine Mutter dich so bekocht.«

Nach dem Essen ging Lincoln an seinen Schreibtisch zurück und dachte über seinen Dad nach (den er tatsächlich nie kennengelernt hatte, der vielleicht nicht einmal wusste, dass Lincoln überhaupt existierte), landete aber bald wieder bei Sam. Sie hatte Lincoln immer wieder gesagt, er sollte an dieser »Vaterloser-Junge-Masche arbeiten«.

»Das ist doch total romantisch«, hatte Sam gemeint. Sie waren auf dem Spielplatz. Hockten oben auf der Seilbrücke. »Wie bei James Dean in Jenseits von Eden

»James Dean war in Jenseits von Eden aber ein mutterloser Junge.« Lincoln hatte den Film zwar nicht gesehen, aber das Buch gelesen. Er hatte alles von Steinbeck gelesen.

»Und was ist mit dem Film Denn sie wissen nicht, was sie tun?«

»Ich glaube, da hatte er beide Eltern.«

»Unbedeutende Kleinigkeiten«, behauptete Sam. »James Dean strömt doch die Vaterlosigkeit aus jeder Pore.«

»Und wie soll das bitte romantisch sein?«, fragte Lincoln.

»Das macht dich unberechenbar«, schlug sie vor. »Als könnten sich in deiner Seele jeden Augenblick traurige Abgründe auftun.«

Damals hatte er gelacht, aber jetzt kam ihm das nicht mehr so witzig vor. Vielleicht war er da steckengeblieben. In den traurigen Abgründen seiner Seele.

»Mom hat gesagt, du benimmst dich merkwürdig«, verkündete Eve, als sie sich am nächsten Tag zum Mittagessen bei Kentucky Fried Chicken trafen. (Eve hatte das Restaurant ausgesucht.)

»Wie jetzt, merkwürdig?«

»Sie sagt, du hast Stimmungsschwankungen und dass du abnimmst. Sie glaubt, dass du vielleicht Diätpillen schluckst. Sie hat dich mit Patty Duke verglichen.«

»Ich nehme ab, weil ich im Fitnessstudio trainiere«, sagte er und ließ die Gabel sinken. »Das hab ich dir doch schon erzählt. Ich gehe immer vor der Arbeit dorthin.«

»Ehrlich gesagt«, erwiderte sie, »merkt man dir das auch an. Du siehst gut aus. Stehst aufrechter da. Und dein Bierbauch verschwindet langsam.«

»Ich trinke gar nicht so viel Bier.«

»Das ist nur so ein Ausdruck«, erklärte sie. »Du siehst toll aus.«

»Danke.«

»Also, warum benimmst du dich so merkwürdig?«

Er hätte beinahe alles abgestritten, aber das kam ihm sinnlos vor und wie eine Lüge.

»Ich weiß auch nicht«, gab er stattdessen zu. »Manchmal glaube ich, dass ich wirklich glücklich bin. Körperlich habe ich mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Und was meine Sozialkontakte angeht, auch. Als würde ich besser Zugang zu den Leuten finden. Ich rede zum Beispiel mit neuen Leuten, und es fällt mir nicht so schwer wie früher.«

Das stimmte tatsächlich, auch wenn diese neuen Leute wahrscheinlich nicht zu den Menschen gehörten, an die Eve so gedacht hatte …

Doris.

Und Justin und Dena, auch wenn die nicht so ganz neu waren.

Und die Korrektoren, die im Prinzip so etwas waren wie D-&-D-Spieler, nur ohne D & D. Aber sie zählten als neue Bekanntschaften. Ein paar von ihnen waren sogar Frauen – keine Frauen, an denen Lincoln interessiert war, aber Frauen.

Beth und Jennifer schienen zu zählen. Obwohl sie natürlich nicht zählten.

»Ich hab das Gefühl, als ob ich endlich so einiges verarbeite«, meinte Lincoln. »Das klingt bescheuert, oder?«

Seine Schwester sah ihn aufmerksam an. »Nein«, entgegnete sie. »Das klingt wirklich gut.«

Er nickte. »Aber manchmal fühle ich mich dann wiederum furchtbar verzweifelt. Ich mag meine Arbeit nicht. Und ich habe aufgehört, über einen neuen Job nachzudenken. Und obwohl ich fast gar nicht mehr an Sam denke, kommt es mir völlig unmöglich vor, dass ich so was je wieder habe. Eine Beziehung, meine ich.«

Wenn er das seiner Mutter erzählt hätte, wäre sie in Tränen ausgebrochen. Eve hingegen sah ihn an, so wie er die Leute anschaute, die ihm ihre Computerprobleme darlegten. Er fühlte sich manchmal mitschuldig an der Falte zwischen ihren Augenbrauen.

»Okay«, sagte sie. »Ich denke, das ist schon mal gut.«

»Wie kann das denn gut sein?«

»Na ja, du hast mir gerade von all den guten Sachen in deinem Leben erzählt«, rekapitulierte sie. »Das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu vor sechs Monaten.«

»Ja.«

»Wie wäre es denn, wenn du aufhörst, darüber nachzugrübeln, wie du dein ganzes Dasein wieder auf die Reihe kriegst, und stattdessen versuchst, deinem Leben weitere positive Aspekte hinzuzufügen? Einen nach dem anderen. Sammel einfach immer mehr schöne Erfahrungen.«

»Das ist jetzt ein Rat aus der Anlageberatung, oder? Du machst aus meinem Leben gerade eine Bankangelegenheit.«

»Das ist ein guter Rat.«

Er schwieg einen Moment. »Eve, glaubst du, es war schlecht für mich, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin?«

»Vermutlich«, mutmaßte sie und stibitzte ihm einen Keks. »Bereitet dir das Sorgen?«

»Ich versuche einfach nur herauszufinden, was mit mir nicht stimmt.«

»Na, dann hör damit auf«, riet sie. »Ich hab’s dir doch gesagt, versuch lieber herauszufinden, was mit dir stimmt.«

Bevor sie gingen, überredete Eve ihn noch dazu, sich am Wochenende mit ihrem Großen den Pokemon-Film anzusehen. »Ich kann da nicht mit ihm hingehen«, erklärte sie. »Ich bin allergisch gegen Pikachu.« Dann fügte sie hinzu: »Geschnallt? Pikachu? Pikachu. Das klingt, als würde ich niesen.« Als sie aus dem KFC kamen, blieb Lincoln mit Eve auf dem Bürgersteig stehen, um sie in den Arm zu nehmen. Sie ließ es geschehen, aber nur einen Moment lang. Dann tätschelte sie ihm hölzern den Rücken. »Okay, das reicht jetzt«, befahl sie. »Heb dir den Rest für Mom auf.«

An diesem Abend traf sich Lincoln mit Justin und Dena im Ranch Bowl. Lincoln trug seine neue Jeansjacke. Diese Woche hatte er sich neue Jeans zulegen müssen, kleinere Jeans, und die Jacke war ein Spontankauf gewesen. In der Junior High hatte er so eine gehabt, und das war das letzte Mal gewesen, dass er sich wie ein harter Kerl vorgekommen war. Er hatte vergessen, das Preisschild abzumachen, also hörte Justin den ganzen Abend nicht mehr auf, ihn »die olle Minnie Pearl« und »XXL« zu nennen. Sie blieben so lange weg, dass Lincoln verschlief und am nächsten Nachmittag keine Zeit mehr hatte, noch zu duschen, bevor er seinen Neffen abholte.

»Du riechst nach Zigarettenqualm«, maulte Jake jr., als er in Lincolns Wagen stieg. »Rauchst du etwa?«

»Nein. Aber ich war gestern bei einem Konzert.«

»Mit Zigaretten?«, fragte der Sechsjährige. »Und Alkohol?«

»Manche Leute haben da geraucht und getrunken«, erklärte Lincoln. »Aber ich nicht.«

Jake schüttelte traurig den Kopf. »Dieses Zeug bringt dich um.«

»Das stimmt.« Lincoln nickte.

»Ich hoffe, dieser Rauchgestank bleibt nicht an mir kleben. Ich muss doch morgen zur Schule.«

Der Pokemon-Film war noch viel schlimmer, als Lincoln erwartet hatte. Er war jedes Mal beinahe erleichtert, wenn Jake jr. zur Toilette musste. »Meine Mom sagt, ich darf nicht allein gehen«, flüsterte Jake. »Sie sagt, ich bin so niedlich, womöglich klaut mich noch jemand.«

»Das hat meine Mom auch immer zu mir gesagt«, erwiderte Lincoln.

Liebe auf den zweiten Klick
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