Kapitel 72

In letzter Zeit waren die Nachrichten von Beth und Jennifer alle so ähnlich.

Sie mailten sich wieder, aber irgendwas hatte sich zwischen ihnen verändert. Sie rissen Witze und beklagten sich über die Arbeit, aber sie schrieben über nichts wirklich Wichtiges.

Warum frustrierte ihn das? Warum beunruhigte es ihn?

Draußen war es kalt und grau, mit Regen, der unbedingt Schnee sein wollte. Aber Lincoln konnte nicht noch weitere sechs Stunden im hermetisch abgeriegelten Informatikbüro hocken. Er beschloss, zum Abendessen zu McDonald’s zu fahren. Ihm war nach etwas Heißem und Fettigem zumute.

Auf den Straßen sah es schlimmer aus als erwartet. Er hatte beinahe einen Zusammenstoß mit einem Geländewagen, der an der roten Ampel nicht schnell genug bremsen konnte. Die Fahrt nahm den Großteil seiner Essenspause in Anspruch, und als er zum Büro zurückkam, hatte jemand auf seinem Platz geparkt. Er musste auf den Auffangparkplatz ein paar Blocks weiter ausweichen.

Als er jemanden weinen hörte, dachte er zunächst, es wäre eine Katze. Es war ein furchtbares Geräusch. So todtraurig. Er sah sich um und entdeckte eine Frau neben einem der letzten Wagen, die noch auf dem Parkplatz standen. Sie lehnte an ihrem Auto und stand in einer riesigen schlammigen Pfütze.

Als Lincoln näher kam, sah er auch den platten Reifen und den Wagenheber, der neben ihr im Matsch lag.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er.

»Ja.« Sie klang eher erschrocken als wirklich überzeugt. Eine kleine, kräftige Frau mit hellem Haar. Er hatte sie vorher schon ein paarmal gesehen, während der Tagesschicht. Sie war völlig durchnässt und schluchzte jämmerlich. Sie sah nicht zu ihm hoch. Lincoln stand ein wenig unbeholfen da, er wollte nicht, dass sie sich seinetwegen noch schlechter fühlte, aber er wollte sie auch nicht allein lassen.

Sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Haben Sie vielleicht ein Handy, das ich benutzen könnte?«

»Nein«, sagte er. »Aber ich kann Ihnen helfen, den Reifen zu wechseln.«

Sie wischte sich über die Nase, was sinnlos erschien, wenn man bedachte, wie klitschnass sie war. »Okay«, sagte sie schließlich.

Er suchte nach einem Plätzchen, um sein Abendessen abzustellen, doch als er keines fand, reichte er der Frau seine McDonald’s-Tüte und griff nach dem Radkreuz. Sie hatte bereits einige der Muttern am Reifen gelöst; das würde schnell gehen.

»Arbeiten Sie beim Courier?«, erkundigte sie sich. Sie war immer noch so durcheinander. Lincoln wünschte, sie würde nicht versuchen, mit ihm zu reden.

»Ja«, bestätigte er.

»Ich auch, bei der Korrektur. Ich heiße Jennifer. Und wo sind Sie tätig?«

Jennifer. Jennifer?

»Im Sicherheitsbereich«, hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen. »Systemsicherheit.«

Er bockte den Wagen auf und sah sich nach dem Ersatzreifen um. »Der liegt immer noch im Kofferraum«, schluchzte sie. Natürlich. Lincoln konnte sie nicht mehr ansehen; was, wenn sie ihn erkennen würde? Vielleicht war sie es ja gar nicht. Wie viele Jennifers gab es wohl unter den Korrektoren? Er ließ das Auto wieder herunter, öffnete den Kofferraum, hievte den Reifen heraus und bockte den Wagen wieder auf. Er war ziemlich sicher, dass sie immer noch weinte, aber er wusste nicht, wie er sie trösten sollte. »In der Tüte hab ich ein paar Fritten, wenn Sie möchten«, bot er an. Kaum waren die Worte heraus, wurde ihm auch schon klar, dass dieses Angebot ihn vermutlich wie einen Freak klingen ließ. Aber sie schien jetzt wenigstens keine Angst mehr vor ihm zu haben. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, aß sie gerade seine Fritten.

Er brauchte ungefähr fünfzehn Minuten, um den Reifen zu wechseln. Jennifer (Jennifer?) hatte keinen richtigen Ersatzreifen, nur eins von diesen provisorischen Dingern, mit denen neue Autos ausgestattet sind. Sie bedankte sich bei ihm und gab ihm den Rest seines Abendessens zurück.

»Das ist nicht viel mehr als ein Schwimmreifen«, erklärte er. »Das sollten Sie so schnell wie möglich in Ordnung bringen lassen.«

»Okay.« Sie nickte. »Werd ich machen.« Sie schien gar nicht zuzuhören. Er hatte das Gefühl, sie wollte einfach nur, dass er endlich verschwand. Und er wollte auch nichts wie weg. Er wartete, bis sie ins Auto gestiegen war und den Motor angelassen hatte, bevor er ging. Aber als er sich umsah, hatte sich das Auto immer noch nicht von der Stelle gerührt. Er blieb stehen.

Er fragte sich, warum Jennifer – wenn es denn Jennifer war, die Jennifer – weinte, was passiert war. Vielleicht hatte sie sich mit Mitch gestritten. Vielleicht hatte sie einen Streit mit Mitch angefangen. Aber dafür gab es in ihrer E-Mail keine Anzeichen. Vielleicht …

Oh.

Oh.

Wann hatte sie es denn zum letzten Mal erwähnt … Warum war ihm das nicht aufgefallen … Er hätte selbst darauf kommen müssen, als plötzlich keine E-Mails mehr kamen, und auch durch die Art und Weise, wie sie miteinander redeten, und das, was sie nicht sagten.

Das Baby. Das hätte er merken müssen.

Er war so ein Egoist. Es war ihm nur darum gegangen, sich selbst in ihren Unterhaltungen zu entdecken. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte, wenn es ihm tatsächlich aufgefallen wäre … Er konnte ja schlecht sagen, dass es ihm leidtat, oder ihr eine Postkarte schicken oder so …

Lincoln ging zurück und klopfte ans Autofenster. Das war völlig beschlagen. Sie wischte ein Stückchen frei, erkannte ihn und kurbelte das Fenster herunter.

»Sind Sie sicher, dass bei Ihnen alles okay ist?«, hakte er noch einmal nach.

»Es geht mir gut.«

»Ich hab wirklich das Gefühl, ich sollte lieber Ihren Mann anrufen.«

»Der ist nicht zu Hause«, entgegnete sie.

»Dann vielleicht eine Freundin oder Ihre Mutter oder so.«

»Mir geht’s gut, wirklich.«

Er konnte sie doch nicht allein lassen. Vor allem jetzt, wo er wusste, oder zumindest zu wissen glaubte, was mit ihr nicht stimmte. »Wenn jemand, der mir wichtig ist, weinend in einem Parkhaus hocken würde«, erklärte er und wünschte, er könnte ihr verraten, dass sie ihm ja tatsächlich wichtig war, »und auch noch zu so später Stunde, dann würde ich schon wollen, dass man mich anruft.«

»Hören Sie, Sie haben recht. Mir geht’s nicht gut, aber das kommt schon wieder in Ordnung. Und ich fahre jetzt auch. Versprochen.«

Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie eigentlich gar nicht fahren sollte. Auf den Straßen herrschte ein heilloses Durcheinander, sie war völlig durcheinander … Aber er konnte ihr schließlich keine Vorschriften machen. Und er konnte auch nichts sagen, um sie zu trösten. Er reichte ihr seine McDonald’s-Tüte. »Okay. Aber fahren Sie bitte wirklich bald nach Hause.«

Dann fuhr sie los. Lincoln sah ihr zu, wie sie das Parkhaus verließ und auf die Schnellstraße einbog. Als sie schließlich nicht mehr zu sehen war, rannte er los, zum Courier-Gebäude. Er war so durchnässt und durchgefroren, dass er an seinem Schreibtisch die matschverschmierten Schuhe auszog und versuchte herauszufinden, welche der Lüftungsspalten unter der Decke die meiste Wärme ausstrahlte, um sich darunterzustellen. Sein Abendessen stammte letztendlich aus den Automaten. (Er sollte Doris wirklich Bescheid sagen, dass die Sandwiches bereits ein paar Tage vor dem Verfallsdatum schlecht zu werden schienen.) Er fragte sich, ob Jennifer wohl gut nach Hause gekommen war und ob er mit seiner Vermutung darüber, was passiert war, vielleicht recht hatte. Möglicherweise war es ja auch etwas viel Harmloseres. Oder es war nicht einmal dieselbe Jennifer.

Lincoln verbrachte die Nacht wieder in seiner Wohnung. Draußen war es noch immer eisig kalt, und die Fahrt war kürzer als die nach Hause. Er dachte daran, eventuell seine Mutter anzurufen und ihr Bescheid zu sagen, dass es ihm gut ging und er keinen Unfall gehabt hatte. Bis jetzt hatte sie noch nichts dazu gesagt, dass er nicht jeden Abend nach Hause kam. Vielleicht versuchte sie auch nur, ihm ein wenig mehr Freiraum zu lassen. Vielleicht musste er ja gar nicht wirklich ausziehen. Vielleicht würde sich das einfach nach und nach ergeben …

Er steckte den Kopf unters Kissen, um nicht hören zu müssen, wie Gott ihn auslachte.

Liebe auf den zweiten Klick
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