Kapitel 57

Da alle über Silvester redeten, war Weihnachten völlig in den Hintergrund getreten.

Lincoln musste an Heiligabend arbeiten. »Irgendjemand muss ja da sein«, sagte Greg. »Und ich bin das ganz bestimmt nicht. Ich habe mir schon ein Santa-Claus-Kostüm gemietet.«

Eigentlich war es auch egal. Eve verbrachte Weihnachten bei Jakes Familie in Colorado, und Lincolns Mutter hatte es nicht so mit Weihnachten, wie mit »all diesen jüdisch-christlichen Feiertagen«.

Also arbeitete Lincoln an Heiligabend, und danach ging er mit ein paar von den Korrektoren zum Essen. Am anderen Flussufer gab es ein Kasino mit einem Rund-um-die-Uhr-Buffet. »Die haben heute Krebsscheren«, erklärte Chuck. »Zur Feier der Geburt des Herrn.« Auch Mini-Emilie war mit von der Partie. Lincoln merkte, dass sie ihn oft ansah, aber er versuchte, sie nicht auch noch zu ermutigen. Er wollte Beth nicht betrügen. Dich würden sie nicht mal in die Wildwasserbahn einsteigen lassen, dachte er.

Den Weihnachtsmorgen verbrachte er zusammen mit seiner Mutter. Sie aßen frische Lebkuchen und schauten sich im Fernsehen Jimmy-Durante-Filme an.

Als er am nächsten Morgen nach unten kam, war seine Mutter gerade am Telefon und redete über Butter.

»Pff«, machte sie, »das ist richtiges Essen. Richtiges Essen ist nicht schlecht für dich. Alles andere bringt uns um. Die Farbstoffe. Die Pestizide. Die Konservierungsstoffe. Margarine.« Seine Mutter fand Margarine besonders abscheulich. Wenn sie mitbekam, dass eine Familie in ihrer Butterdose Margarine aufbewahrte, war das für sie etwa genauso schlimm, wie wenn ihre Tiere nicht stubenrein wären. Wenn Margarine so eine gute Idee ist, sagte sie immer, warum hat Gott sie uns dann nicht gegeben? Warum hat er den Israeliten nicht versprochen, sie in das Land zu führen, wo Margarine und Honig fließen? Japaner essen keine Margarine, lautete ein weiteres Argument. Skandinavier essen auch keine Margarine. »Meine Eltern waren gesund wie Ackergäule«, erklärte sie der Person am anderen Ende der Leitung, »und die haben den Rahm oben von der Milch runtergetrunken.«

Lincoln nahm sich das letzte Stück Lebkuchen und ging ins Wohnzimmer. Eve hatte ihrer Mutter zu Weihnachten einen DVD-Player geschenkt, und er hatte versprochen, ihn anzuschließen. Er war sich sicher, ihn zum Laufen gebracht zu haben – es gab keine DVDs, um das zu testen –, als seine Mutter ins Zimmer kam.

»Also«, begann sie und ließ sich langsam auf die Couch sinken.

»Was ist denn los?«, fragte er.

»Also …«, wiederholte sie. »Ich hatte da gerade eine Frau namens Doris am Telefon.«

Lincoln sah rasch hoch. Seine Mutter starrte bereits von oben auf ihn herab, als hätte sie ihn mit dem Beweis für ein Verbrechen konfrontiert.

»Sie hat so getan, als müsste ihr Name mir etwas sagen«, fuhr seine Mutter fort. »Und hat sich immer wieder bei mir bedankt.«

Lincoln spürte, wie seine Miene erstarrte. Warum rief Doris bei ihm zu Hause an? »Ich kann das erklären«, beteuerte er.

»Das hat Doris schon übernommen«, erwiderte seine Mutter. Er war nicht sicher, ob sie wütend war. »Sie hat mir erzählt, dass du jeden Abend dein Essen mit ihr teilst.«

»Ja«, antwortete er vorsichtig, »das stimmt.«

»Ich weiß, dass es stimmt. Diese Frau kennt jedes einzelne Gericht, das im Laufe des letzten Monats meine Küche verlassen hat. Sie hat mich nach dem Rezept für die Lachspasteten deiner Großmutter gefragt.«

»Tut mir leid«, sagte Lincoln. »Aber ich konnte nicht anders. Du solltest mal sehen, was sie sich immer zum Essen mitbringt – Toastbrot mit Putenfleisch, und das jeden Abend –, und du machst mir immer so tolle Sachen zurecht. Da hatte ich ein schlechtes Gewissen.«

»Es macht mir nichts aus, dass du teilst«, erklärte seine Mutter. »Ich würde nur gerne wissen, warum du mir nichts davon erzählt hast, dass du mein Essen … an eine Wildfremde weggibst …«

Sie blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich hatte mich schon gefragt, wie es sein kann, dass du so viel isst und trotzdem abnimmst. Ich hab gedacht, du nimmst vielleicht Steroide.«

»Ich nehme doch keine Steroide, Mom.« Er musste lachen.

Und das brachte wiederum sie zum Lachen.

»Das ist also alles?«, fragte sie. In ihrer Stimme schwang noch immer etwas mit. Sie machte sich Sorgen.

»Was meinst du?«

»Sie tut dir einfach nur leid?«

»Na ja«, sagte Lincoln. Er konnte ihr ja wohl kaum verraten, dass er deshalb mit Doris aß, um vielleicht zufällig einer Frau zu begegnen, die er eigentlich gar nicht kannte. »Ich nehme mal an, wir sind befreundet. Doris ist eigentlich ziemlich witzig. Manchmal zwar eher unbeabsichtigt …«

Seine Mutter atmete tief durch, als wollte sie sich gegen irgendetwas wappnen. Lincoln verstummte.

»Oh, Mom, nein. So ist das nicht. Es ist wirklich nicht mehr als das. Mom. O Gott.«

Sie fasste sich an die Stirn und atmete geräuschvoll aus.

»Warum denkst du immer gleich an irgendwas Abwegiges?«

»Was soll ich denn bitte denken, wenn du jeden Tag mit derselben Frau zu Abend isst? Und so abwegig wäre das auch wieder nicht. Einige meiner Freundinnen genießen die Aufmerksamkeit jüngerer Männer.«

»Mom.«

»Bist du sicher, dass Doris sich keine falschen Hoffnungen macht?«

»Ja.« Jetzt fasste er sich an den Kopf.

»Du warst immer schon viel zu großzügig«, meinte sie und legte ihm die Hand auf den Kopf. »Weißt du noch, wie du deine Action-Figuren in die Sammelbüchse der Heilsarmee geworfen hast?« Und ob er das noch wusste. Ein Snivvianer und Luke Skywalker als X-Wing-Pilot. Es war eine spontane Geste gewesen. Am Abend dieses Tages hatte er sich in den Schlaf geweint, als er die Folgen seiner Tat begriffen hatte.

Sie schob ihm die Haare aus der Stirn und ließ ihre Hand dort einen Moment ruhen.

»Hast du Lust auf Waffeln?«, fragte sie plötzlich und stand auf. »Ich hab den Teig schon fertig. Oh, und iss bitte nicht das ganze Lamm auf, ich hab Doris versprochen, dass du ihr ein Stück davon mitbringst …«

»Hat sie deshalb angerufen?«, fragte er. »Um sich bei dir zu bedanken?«

»Oh, nein.« Seine Mutter redete jetzt lauter, während sie in die Küche ging. »Sie wollte mit dir sprechen. Sie zieht um – wusstest du, dass sie umzieht? Sie hat erzählt, dass die Umzugsleute aufgetaucht sind und ihre Möbel durch die Gegend werfen wie der Gorilla aus der Samsonite-Werbung. Denen wollte sie die Vitrine ihrer Großmutter nur ungern anvertrauen, und ich kann sie gut verstehen. Ich hab ihr angeboten, dass ich dich gleich vorbeischicke – du hast ja einen jungen, starken Rücken –, aber sie meinte, das hat noch ein paar Tage Zeit. Was meinst du, lieber Sahne für die Waffeln oder Ahornsirup? Oder beides? Wir haben beides da.«

»Beides«, entschied Lincoln. Er folgte ihr in die Küche. Er lächelte zwar, aber ihm war fast ein bisschen schwindelig. Auch wenn seine Mutter und er derselben Meinung waren, hatte er trotzdem immer das Gefühl, dass er gerade eben so mitkam.

Liebe auf den zweiten Klick
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