Kapitel 77
Von: Beth Fremont
An: Jennifer Scribner-Snyder
Gesendet: Mo., 14. 02. 2000, 15:15 Uhr
Betreff: In guten wie in schlechten Zeiten
Also, ich hab das jetzt tatsächlich in einem Nachrichten-Dokument aufgeschrieben und im System gespeichert, damit die Sache nicht womöglich gelöscht wird und ich noch mal ganz von vorn anfangen muss. Sorge nur bitte dafür, dass das nicht aus Versehen in der Frühausgabe landet, okay?
Okay, bist du sicher, dass du das hören willst? Das ist wirklich eine lange Geschichte.
Und bist du sicher, dass du nicht mehr böse auf mich bist? Willst du auch nicht mehr über das Baby reden?
Denn das mit der Hochzeit läuft uns ja nicht weg. (Das ist inzwischen alles andere als brandaktuell.)
Von Jennifer an Beth: Ja, ich bin bereit, und nein, ich bin nicht mehr böse. So, dann mal raus damit!
Von Beth an Jennifer: Okay, also, hier kommt es …
Die Hochzeit an sich war wunderschön.
Wie erwartet sah ich in meinem Brautjungfernkleid ziemlich übel aus. Aber anscheinend hat das außer mir niemand bemerkt, und ich war es sogar selbst leid, mich darüber jammern zu hören, also hab ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Und diese Miene war tatsächlich weitaus ansehnlicher als das Gesicht, das die meisten anderen Brautjungfern aufgesetzt haben. Die wollten nämlich alle »Smokey Eyes – du weißt schon, wie Helen Hunt bei der Oscar-Verleihung«. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester Gwen und ich die Einzigen sind, die auf den Hochzeitsfotos nicht wie Opfer häuslicher Gewalt aussehen.
Die Zeremonie hatte durchaus bewegende Momente, aber sie war so gottverdammt lang – eine komplette Messe, wie schon erwähnt –, sodass ich mich die ganze Zeit darauf konzentrieren musste, die Beine nicht übereinanderzuschlagen, um nicht ohnmächtig zu werden, und kaum etwas anderes mitbekommen habe. (Das ist auf der Hochzeit von meinem Cousin passiert. Da ist einer der Trauzeugen auf einen Stuhl geknallt und hatte eine Wunde am Ohr. Der Anzug war nur gemietet und voller Blut.) Ich dachte, wenn ich ohnmächtig werde und auf die kleine Tri-Delt-Verbindungsschwester hinter mir falle, dann zerquetsche ich die womöglich noch.
Chris war der absolute Routinier. Er hat während der Zeremonie neben meinen Eltern gesessen und danach jedem einzelnen Mitglied meiner ausgedehnten Familie die Hand geschüttelt. Er war so charmant, ich hab bereits angefangen, ihn Stepford-Chris zu nennen.
Und als dann der Moment für das große Familienfoto mit all den Ehepartnern und Enkelkindern gekommen war, hat Kiley darauf bestanden, dass Chris mit aufs Bild kam. Da hat sie keinen Protest zugelassen. »Wir kennen dich schließlich schon länger als all die Ehemänner«, meinte sie.
Das Essen war köstlich – die alten italienischen Damen aus der Kirche meiner Eltern haben überbackene Mostaccioli und eine italienische Soße mit roter Paprika dazu gemacht. Meine Schwester hatte solche Angst vor Flecken auf ihrem Kleid, dass sie nur Knoblauchbrot gegessen hat. (Ob ich ihre Portion Nudeln verdrückt habe? Na, und ob!)
Der Hochzeitstanz von Kiley und Brian zu Louis Armstrong war fantastisch. Sie sah so wunderschön aus. Ich musste den Brautjungferntanz – zu dem Song aus Titanic – mit einem von den Sigma Chis absolvieren, und der hat mir ganz offensichtlich in den Ausschnitt geguckt, was widerlich war, aber auch ein wenig schmeichelhaft. Anscheinend hab ich’s immer noch drauf.
Sobald meine offiziellen Pflichten als Brautjungfer erledigt waren, zog ich meine Strickjacke an und fühlte mich schon hunderttausendmal besser. Ich war in toller Stimmung und erleichtert, dass das Schlimmste jetzt vorbei war, und hab mich darauf gefreut, den Rest des Abends mit Chris zu verbringen. Ich war plötzlich so wahnsinnig verliebt wie noch nie zuvor.
Denn erstens sah er gefährlich gut aus. Er trug die dunkelgraue Jacke, die ich ihm gekauft hatte, mit einem weichen, blauen, krawattenähnlichen Ding aus Satin, das er irgendwo gefunden hat. Damit kam er rüber, als sollte er eigentlich Gedichte auf Französisch schreiben. (Um Jungfrauen damit zu verführen.) Meine Mutter hat ihn gefragt, ob er da einen Schal trägt.
Und zweitens wusste ich, dass er sich in die ganze Sache nur deshalb so reingehängt hat, weil er mich liebt. Um mir einen Gefallen zu tun. Ich hatte das Gefühl, sein gutes Benehmen war ein geradezu erdrückender Beweis für die Tatsache, dass ich ihm wichtig bin. Ich sollte dafür ja eigentlich gar keinen Beweis brauchen, aber solche Hinweise können ziemlich beruhigend sein.
Während des Abendessens ist Chris nach draußen verschwunden, um eine zu rauchen, und als ich ihn neben der Hintertür entdeckte, schien er sich zu freuen, mich zu sehen, genau wie ich. »Gehörst du jetzt mir?«, fragte er. Er hat mir gesagt, wie schön ich aussehe. Er hat mich geküsst und meinte, ich sollte doch die Strickjacke ausziehen. »Lass uns nach Hause gehen«, schlug er vor.
Ich erklärte, dass ich noch nicht gehen konnte, dass ich meiner Schwester versprochen hatte, ich würde noch tanzen. Sie wollte auf keinen Fall einen von diesen Empfängen, bei denen nur kleine Kinder tanzen, also mussten ihr alle Brautjungfern schwören, bis zum Ententanz zu später Stunde auf der Tanzfläche zu bleiben.
»Dann werden wir wohl mal tanzen«, verkündete er und zog noch einmal an seiner Zigarette. Er hat die Angewohnheit, beim Inhalieren den Kopf vorzubeugen und von unten zu mir hochzugucken; ich kann durchaus verstehen, warum Zwölfjährige Rauchen cool finden.
Also gingen wir wieder rein und haben zu jedem einzelnen Song getanzt. Sozusagen getanzt. Eigentlich haben wir uns vor allem im Arm gehalten, uns hin und her gewiegt und uns Eskimoküsschen gegeben.
Weißt du noch, wie ich damals völlig von diesem litauischen Restaurant in der Stadt besessen war? Und das hatte dann immer nur geöffnet, wenn der grummeligen alten Besitzerin gerade danach war! Einmal hab ich eine Woche lang jeden Tag dort vorbeigeschaut, ohne Erfolg. Und dann, als ich schon längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder Napoleon-Torte zu essen, bin ich zufällig da vorbeigefahren und habe das »Geöffnet«-Schild im Fenster gesehen.
Na ja, wenn man mit Chris zusammen ist, dann ist das etwa so, als würde man mit diesem Restaurant zusammen sein. Ich weiß nie, wann er da ist und wie sehr er sich mir gegenüber öffnen wird. Er ist fast nie ganz da, hundertprozentig dabei. Den Chris, der da auf Kileys Hochzeit war, den kriege ich fast nie zu sehen – das »Geöffnet«-Schild, kalte Gurkensuppe, Rouladen und Mohn-Kolatschen.
Plötzlich hab ich mich dabei ertappt, wie ich dachte, dass ich so auch gerne auf meiner eigenen Hochzeit tanzen würde. (Wenn auch ohne die ganzen Dixie-Chicks- und Alan-Jackson-Songs.) Auf diese Art und Weise, bei der Tanzen eigentlich mehr ein Sich-Anfassen zur Musik ist. Das ist so, als würde man die Augen zumachen und überlegen, wie man jemandem sagen kann, dass man ihn liebt, wenn man es weder mit Worten noch mit Sex ausdrücken will.
Chris’ Arm lag um meine Hüfte, und er fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Er hat mir lächelnd einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Er sah mich an, sah direkt in mich hinein, und das fühlte sich an, als wäre ich in die Sonne verliebt.
Und dann – und jetzt wirst du mich mit Sicherheit auslachen –, dann hat der DJ auch noch Rocky Mountain High gespielt.
Scheiße, dieses Lied finde ich so toll, dabei sind mir die Adler und Seen und Colorado ziemlich egal. Aber Rocky Mountain High, so klingt die absolute Glückseligkeit. Wenn du hörst, wie John Denver singt: »He was born in the summer of his 27th year …«, wie soll einem da nicht das Herz aufgehen und sich dem Kosmos öffnen?
Also lief Rocky Mountain High, und ich hab angefangen, Chris zu küssen, als könnte ich es gar nicht erwarten, dass endlich der Refrain kommt, diese Verehrung und Verletzlichkeit und I’ve seen it raining fire in the sky. Und Chris hat zurückgeküsst. Und als er sich dann von mir gelöst hat – ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der Songwriter sich zu einem Leben voll zauberhafter Momente bekennt, doch im Herzen immer noch Angst trägt –, da sagte Chris: »Beth, ich liebe dich. Ich liebe dich mehr, als ich je wollte. Mehr, als ich je ausdrücken kann.«
Und ich wollte ihm auch sagen, dass ich ihn liebe, aber er hat mich unterbrochen, mich geküsst und meinte: »Warte, ich bin noch nicht fertig. Das ist wichtig.«
Hältst du mich jetzt für blöd, wenn ich dir verrate, dass ich tatsächlich geglaubt habe, er könnte mir vielleicht einen Antrag machen? Ich war mir nicht sicher. Wahrscheinlich hätte ich eher dagegen gewettet. Aber wenn er je um meine Hand anhalten wollte, dann hätte es keinen besseren – keinen perfekteren – Moment dafür geben können.
»Manchmal«, erklärte er, »da liebe ich dich so sehr, dass ich es kaum aushalte. Manchmal habe ich einfach nicht die Kraft dafür, für so etwas Großes. Und das kann ich auch nicht abstellen oder leiser drehen. Manchmal bin ich schon müde, wenn ich nur daran denke, dass ich dich gleich sehen werde.«
Ich war nicht dazu bereit, aus meiner Träumerei herausgerissen zu werden. Ich dachte, angenehm müde, oder?
»Ich werde dich immer lieben«, fuhr er fort, »aber du musst wissen, dass ich dich niemals heiraten werde.«
Ich muss wohl so ausgesehen haben, als hätte ich ihn nicht verstanden, denn er hat es noch einmal wiederholt. Mit viel Nachdruck. »Beth. Ich werde dich niemals heiraten.« Er sah mich aus sanften, liebevollen Augen an. Wenn du uns aus ein paar Metern Entfernung beobachtet und sein Gesicht gesehen hättest, dann hättest du tatsächlich denken können, dass er mir gerade einen Antrag gemacht hatte.
Zunächst einmal kam mir augenblicklich in den Sinn, dass es ziemlich brutal war, das so auszudrücken. Dass er mich nicht heiraten würde. Hätte er nicht sagen können, dass wir niemals heiraten würden? Hätte er nicht wenigstens andeuten können, dass das eine gemeinsame Entscheidung war? Wäre das nicht wesentlich höflicher gewesen?
Und dann hat er versucht, mich zu küssen, wieder zu dem Kuss zurückzukehren, den wir vor seiner Ankündigung voller Liebe und Leidenschaft und John Denver geteilt hatten. Aber ich fand, dass es da noch so einiges zu klären gab. Also löste ich mich von ihm und fragte: »Meinst du, dass du nie heiraten wirst? Oder dass du mich nicht heiraten wirst?«
Er dachte darüber nach. »Beides«, sagte er schließlich und strich mir übers Haar, »aber vor allem Letzteres.«
»Vor allem, dass du mich nicht heiraten wirst.«
Er nickte. »Aber nicht, weil ich dich nicht lieben würde. Ich liebe dich. Aber ich liebe dich zu sehr. Du bist einfach zu viel für mich.«
In dem Moment machte ich mich von ihm los und begann, auf der Tanzfläche im Kreis zu gehen. Ich ging zwischen den Tanzenden hindurch und schließlich zur Vordertür hinaus. Ich lief eine Minute auf dem Parkplatz hin und her, bevor mir schließlich klar wurde, dass ich nicht wusste, wo Chris geparkt hatte, und dass er immer noch meine Schlüssel hatte. (Wenn ich je zu den Menschen gehören werde, für die Liebe letztendlich zu einer Hochzeit führt, dann werde ich meinen Brautjungfern Kleider mit Taschen aussuchen.) Ich sah mich um und entdeckte ihn vor dem Büro für Kriegsveteranen. »Tu das nicht!«, rief er.
»Ich mache ja gar nichts«, entgegnete ich. »Sondern du.« Und dann beschloss ich, dass ich verdammt sein sollte, wenn ich auch nur einen Schritt auf ihn zu machte. Also rief ich, er sollte mir die Schlüssel zuwerfen. Das wollte er aber nicht, er meinte, er würde mich nach Hause fahren. Und ich so: »Komm bloß nicht näher. Wirf mir die Schlüssel rüber.«
»Ich wusste, dass du das nicht verstehen würdest«, sagte er. »Ich wusste, dass du es falsch auffassen würdest.«
Wie sollte ich das denn bitte auffassen?
Er meinte, ich sollte die Wahrheit erkennen. »Dass ich dich genug liebe, um ehrlich zu dir zu sein.«
»Aber nicht genug, um mich zu heiraten«, erwiderte ich.
»Zu sehr, um dich zu heiraten.«
Selbst in meinem Zustand gelang es mir noch, mit den Augen zu rollen.
»Ich bin einfach nicht dafür gemacht«, rief er. »Sieh mich doch an. Du weißt, dass das stimmt.« Und zum ersten Mal, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, klang er nicht mehr cool. Er klang ein wenig panisch. Und ein wenig wütend. »Ich will einfach nicht jemanden so sehr lieben, dass er mir immer im Kopf herumgeht, mir keinen Raum mehr für mich selbst lässt. Wenn ich gewusst hätte, dass ich mich bei dir so fühlen würde, dann hätte ich dich schon vor langer Zeit verlassen, als ich es noch konnte.«
Ich hab dann nur noch wiederholt, er solle mir endlich die Schlüssel rüberwerfen. Ich glaube, ich habe ihn ein »übles, mieses Schwein« genannt. Als würde ich in einer Fremdsprache fluchen. Er hat mir die Schlüssel rübergeworfen, und sie sind wie ein Baseball am Auto hinter mir abgeprallt. »Komm bloß nicht nach Hause«, hab ich gedroht. »Ich will dich nicht sehen.«
»Ich muss aber noch nach Hause«, war seine Antwort. »Ich brauche meine Gitarre.«
Hast du mal Der Untermieter gesehen? Schau den Film lieber nicht an, wenn du romantische Komödien danach noch genießen möchtest. Im Vergleich dazu sieht jeder Film mit Julia Roberts oder Sandra Bullock alt aus. Und du solltest dir Der Untermieter auch dann nicht anschauen, wenn es dir unheimlich ist, Richard Dreyfuss für den Rest deines Lebens total attraktiv zu finden, selbst in Was ist mit Bob? und Mr Hollands Opus.
Das wunderbare Ende von Der Untermieter zeigt, wie die Frau (Marsha Mason als eine Art zerknautschte Elfe), die längst nicht mehr an die wahre Liebe glaubt, weil sie von einer ganzen Reihe Schauspieler-Nieten verlassen wurde, plötzlich begreift, dass der Typ, den Richard Dreyfuss spielt, wirklich zu ihr zurückkommen wird, so wie er es versprochen hat, weil er nämlich seine Gitarre in ihrer Wohnung gelassen hat. Und so weiß sie, dass er sie wirklich und ehrlich liebt.
Als Chris seine Gitarre ins Spiel gebracht hat, wusste ich, dass er mich wirklich und ehrlich nicht liebt. Ich habe diese Marsha-Mason-Szene durchlebt, nur andersherum.
Ich bin ins Auto gestiegen und so lange gefahren, bis ich sicher war, dass er mich nicht zu Fuß einholen konnte, obwohl ich nicht daran geglaubt habe, dass er es überhaupt versucht. Dann habe ich auf dem Parkplatz vom nächsten Arby’s gehalten und versucht zu weinen, aber ich war noch immer viel zu perplex. Ich war in dem Augenblick hängen geblieben, in dem man gerade einen Schlag in die Magengrube bekommen hat und noch zu sehr außer Atem ist, um auch nur sagen zu können: »Scheiße, das tat richtig weh.« Ich war einfach nur müde, unendlich müde, und ich konnte nicht nach Hause; ich war mir ziemlich sicher, dass ich dort auf Chris treffen würde. Und jeder, der mir für die Nacht Unterschlupf gewährt hätte, war immer noch bei der Hochzeit. Also hab ich mir ein Zimmer im Holiday Inn gegenüber von Arby’s genommen und ferngesehen, bis ich eingeschlafen bin.
Ich hab geschlafen, bis ich am nächsten Morgen auschecken musste, und hab das Teufelskleid dagelassen. (Ich hatte Sportklamotten im Auto.) Dann bin ich zur Wohnung gefahren.
Natürlich war Chris da und hat gerade Tee gemacht. Er hatte kurz vorher geduscht. Seine Haare waren noch ganz nass und lockig, und sein T-Shirt lag über einem Stuhl. Ich schwöre dir, vom Hals bis zu den Jeansknöpfen ist er ungefähr drei Meilen lang. Er meinte, er hätte sich Sorgen um mich gemacht.
»Ich wollte dich nicht sehen.«
»Wolltest nicht?«, hakte er nach und goss heißes Wasser in zwei Becher.
»Will nicht.«
»Beth …« Jetzt war er wieder ganz cool. Er hat mich angeguckt, als würde so ein Blick schon reichen. »Du kannst nicht einfach vor dem weglaufen, was zwischen uns ist. Ich hab’s versucht … aber es ist die reinste Hexerei«, versicherte er. »Du und ich, das ist Magie.«
Ich hab ihm erklärt, dass ich keine Magie will, sondern jemanden, der mich nicht verlassen würde, wenn er könnte. Der es nicht als Belastung empfindet, sich zu binden.
»Ich hab mich doch auf eine feste Bindung eingelassen«, erwiderte Chris. »Ich hab dich nie betrogen.«
Das meinte ich überhaupt nicht. »Du hast gesagt, du wirst schon müde, wenn du mich nur ansiehst«, wiederholte ich seine Worte.
»Ich hab nur gesagt, dass mir das manchmal zu viel wird.«
»Okay, aber ich will eben jemanden, der nicht so denkt. Ich will jemanden mit so einem großen Herzen, dass darin Platz für mich ist.«
»Du willst jemanden, dessen Liebe um deinen Finger passt.«
»Das solltest du dir aufschreiben«, fauchte ich, »das klingt wie ein Songtext.«
Das war gemein, aber langsam verlor ich wirklich die Fassung. Ich hab mich in der Küche umgesehen, hab ihn angeschaut und dachte plötzlich, dass wir doch eigentlich ein schönes Leben führen. Dass es absurd ist, mit ihm Schluss zu machen, nur weil er etwas ausgesprochen hat, was ich tief in meinem Innersten doch sowieso schon wusste. Ich dachte daran, wie zärtlich und liebevoll er jetzt zu mir sein würde und was für ein toller Tag vor uns liegen könnte, wenn ich es nur gut sein lassen würde.
»Ich will, dass du gehst«, verkündete ich.
»Wo soll ich denn hin?«
»Das kann jetzt nicht mehr mein Problem sein.«
»Es kann nicht? Bist du plötzlich nicht mehr in der Lage, dir um mich Sorgen zu machen?«
»Du kannst bei Stef bleiben. Oder bei deinen Eltern.«
»Das ist hier auch mein Zuhause.«
»Dann gehe ich eben«, bekräftigte ich. »Dann musst du aber einen neuen Mietvertrag abschließen.« Das war gemein. Ich wusste genau, dass er sich die Miete allein nicht leisten kann.
»Beth, jetzt komm schon. Hör auf damit. Schau mich an.«
»Ich kann dich nicht mehr ansehen.«
Wir haben uns noch eine Weile gestritten, bevor er endlich bereit war zu gehen. Dann bin ich eine Weile verschwunden, damit er packen konnte. Ich bin zu meinen Eltern gefahren.
Meine Eltern … waren begeistert, als ich ihnen erzählt hatte, was passiert war. Ich glaube, über meine Trennung haben sie sich mehr gefreut als über Kileys Hochzeit. »Ich wusste, dass es ein Fehler war, ihn mit aufs Familienfoto zu lassen«, verkündete meine Mutter. »Meine starke, schlaue Tochter«, wiederholte mein Dad immer wieder.
Beim Packen hat mich Chris einmal angerufen, um nach dem Plattenspieler zu fragen. Der gehört mir, aber Chris war sowieso der Einzige, der sich Schallplatten angehört hat. Ich hab ihm gesagt, er könnte ihn haben und den Rest der Stereoanlage auch. »Mein Gott«, sagte er. »Wenn ich gewusst hätte, dass du dich so edel zeigen würdest, hätte ich nicht schon deine ganze CD-Sammlung eingepackt.« Da musste ich dann doch ein bisschen lachen. »Gestern«, murmelte er, »da hast du noch mir gehört. Jede einzelne Sommersprosse. Und heute reden wir darüber, wer den Videorekorder kriegt.«
»Den kriege ich«, stellte ich klar.
Seitdem habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Er ruft mich an, aber ich rufe nicht zurück. Ich bin zu schwach. Er hat im Schrank einen von seinen Pullis liegen lassen, und ich hab seit fünf Wochen in diesen Pullover geweint. Ich fühle mich, als hätte ich eine meiner eigenen Nieren aus meiner Wohnung geworfen.
Okay, ich glaube, das ist alles. Das ist also bei der Hochzeit meiner Schwester passiert.
Von Jennifer an Beth: Beth … ich bin sprachlos. Ich kann ja kaum noch tippen. Warum hast du nur so lange damit gewartet, mir das zu erzählen?
Von Beth an Jennifer: Ich hab versucht, dich von Arby’s aus anzurufen, aber du warst nicht zu Hause, und als ich am Montag mit dir gesprochen habe, hat sich herausgestellt, dass du ein noch viel schrecklicheres Wochenende hattest als ich. Nachdem du mir das mit dem Baby erzählt hattest, konnte ich dir das mit Chris nicht mehr sagen. Ich wollte nicht, dass du das Gefühl hast, du müsstest auch nur ein winziges Fitzelchen Energie an mich verschwenden.
Von Jennifer an Beth: Du bist eine tolle Freundin.
Ich bin total geschockt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du dich je von ihm trennen würdest.
Von Beth an Jennifer: Obwohl du es dir gewünscht hast.
Von Jennifer an Beth: Manchmal schon.
Von Beth an Jennifer: Ich hab ja immer gewusst, dass er egoistisch und zügellos und irgendwie auch faul ist; das sind ja quasi Voraussetzungen, wenn man Leadgitarrist werden will. Und ich wusste auch, dass Musik für ihn so ziemlich das Einzige im Leben ist, was den ganzen Aufwand lohnt. Aber ich hatte eigentlich angenommen, ich würde unter »so ziemlich« fallen. Wie hätte ich denn bei ihm bleiben sollen, nachdem ich wusste, dass seine Liebe zu mir für ihn ein Kreuz ist, das er tragen muss?
Von Jennifer an Beth: Nein, das konntest du nicht.
Von Beth an Jennifer: Diese Vorstellung, die Liebe würde ihn so überwältigen, dass bei einer Hochzeit nichts mehr von ihm übrig bleibt …
Von Jennifer an Beth: Das ist doch nur eine faule Ausrede.
Von Beth an Jennifer: Ja, ich weiß. Wenn ich darüber nachdenke, was ich eigentlich ständig tue, dann kann ich mich nicht so recht entscheiden, ob er …
a) durchaus dazu in der Lage ist, erwachsen zu werden und eine richtige Beziehung mit jemandem zu führen. Er liebt einfach nur mich nicht genug. Oder …
b) nicht dazu in der Lage und außerdem ein Idiot ist.
Von Jennifer an Beth: Vermutlich beides.
Von Beth an Jennifer: Aber eher Letzteres.
Glaubst du, ich habe neun Jahre meines Lebens vergeudet?
Von Jennifer an Beth: Nö, nur die letzten zwei oder drei. Als du ihn beim Studentenwerk entdeckt hast, konntest du ja noch nicht ahnen, dass sein Herz ein paar Nummern zu klein ist.
Von Beth an Jennifer: Ich glaube, du versuchst gerade, mir nach dem Mund zu reden. Ich glaube, du denkst insgeheim, dass Chris sich vom ersten Tag an gefühlsmäßig verschlossen hat – und dass mich das aus irgendeinem schrecklichen Grund fasziniert hat.
Von Jennifer an Beth: Du hast recht. Das denke ich tatsächlich.
Von Beth an Jennifer: Also bin ich selbst an alldem schuld?
Von Jennifer an Beth: Vielleicht. Ich weiß nicht. Ich glaube, es ist auch ziemlich egal, was ich gedacht oder getan oder kommen gesehen habe. Das musstest du selbst erkennen. Da musstest du selbst durch.
Von Beth an Jennifer: Danke, dass du so ehrlich bist.
Von Jennifer an Beth: Wenn ich dir jetzt eine schlimme Frage stelle, wirst du mir dann auch ehrlich antworten?
Von Beth an Jennifer: Ja.
Von Jennifer an Beth: Glaubst du, ich bin an meiner Fehlgeburt schuld?
Von Beth an Jennifer: Nein.
Zu 93 % nein. Ich glaube nicht, dass deine Einstellung sie ausgelöst hat, sie war allerdings auch nicht gerade hilfreich.
Von Jennifer an Beth: Ich glaube nicht, dass ich mit 93 % leben kann.
Von Beth an Jennifer: Kannst du.
Von Jennifer an Beth: Ich will wieder schwanger werden, findest du das schrecklich und gestört?
Von Beth an Jennifer: Ich denke, das kommt auf den Grund an.
Von Jennifer an Beth: Ich glaube, der Grund ist – weil ich wirklich ein Baby möchte. Aber ich traue mir selbst nicht über den Weg und befürchte, ich könnte tief in meinem Inneren noch irgendeinen völlig verdrehten anderen Grund dafür haben. Ich hab das Gefühl, dass ich etwas Wichtiges verloren habe. Ich weiß, dass ich das nicht verdiene. Ich verdiene kein Baby.
Von Beth an Jennifer: Niemand verdient ein Baby.
Von Jennifer an Beth: Ich habe das Gefühl, wir sollten diese Unterhaltung eigentlich bei einer Flasche Blue Nun führen.
Von Beth an Jennifer: Mein Fehler. Ich dachte, das würden wir.
Von Jennifer an Beth: Die Vorstellung, dass es schwierig sein soll, dich zu lieben, ist absolut lächerlich.