Kapitel 35
Letztendlich hatte Lincoln niemandem davon erzählt, was mit Sam in Kalifornien passiert war. (Obwohl seine Mutter ihn immer wieder mit Fragen gelöchert und schließlich sogar Sams Mutter im Supermarkt zur Rede gestellt hatte.)
Er redete nicht darüber, weil das bedeutet hätte, es zu akzeptieren. Es hinzunehmen. Und auch, weil er wusste, dass es gar nicht so schlimm klingen würde, wenn er es jemandem erzählte. Dass es in Wirklichkeit eine ziemlich normale Teenager-Herzschmerz-Story war. Dass der übelste Teil der ganzen Sache darin bestand, ein Semester an der Uni verpasst und alle Stipendien verloren zu haben. Das wäre zumindest der schlimmste Part für jemand anderen, für einen unbeteiligten Beobachter.
Er redete nicht mit seiner Mutter darüber, nicht ein einziges Mal, niemals, weil er wusste, wie sehr es sie freuen würde, recht gehabt zu haben.
Als er auszog, um zum College zu gehen, hatte sie ihn zweimal die Woche angerufen.
»Ich war noch nie in Kalifornien«, erklärte sie.
»Mom, es ist toll hier. Der Campus ist schön. Und sicher.«
»Ich weiß eben nicht, wie es da aussieht«, beharrte sie. »Ich kann dich mir da einfach nicht vorstellen. Ich versuche, an dich zu denken und dir positive Energien zu senden, aber ich weiß einfach nicht, wohin ich sie schicken soll.«
»Nach Westen.«
»Das meine ich nicht, Lincoln. Wie soll ich mir schöne Dinge für dich vorstellen, wenn ich dich nicht vor meinem inneren Auge sehe?«
Sie fehlte ihm auch. Und er vermisste den Mittleren Westen. Die Landschaft, nach der Sam sich gesehnt hatte, bereitete ihm nur Kopfschmerzen. Wohin man auch sah, überall waren Bäume und Flüsse, Wasserfälle, Berge, das Meer … Man konnte nicht einfach nur irgendwo hinsehen, um in diese Richtung zu schauen, um nachzudenken. Er hielt sich oft in der Campusbibliothek auf, einem Gebäude ohne Fenster.
Sam hingegen verbrachte viel Zeit im Uni-Theater. Noch hatte sie keine Veranstaltungen für Schauspielstudenten besucht, aber sie hatte für ein paar Stücke vorgesprochen und kleinere Rollen bekommen. In der Highschool war Lincoln immer mitgegangen, wenn Sam Theaterprobe hatte. Er hatte seine Hausaufgaben mitgebracht und im Zuschauerraum in der letzten Reihe gesessen. Dort konnte er wunderbar lernen. Er hatte kein Problem damit, den Lärm und die Stimmen auszublenden. Es gefiel ihm, wie Sams Stimme von Zeit zu Zeit zu seinen Chemieaufgaben durchdrang.
Lincoln hätte auch zu gerne im Uni-Theater gepaukt, während Sam Probe hatte, sie fand aber, dass er damit zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. »Du würdest sie nur daran erinnern, dass ich anders bin«, erklärte sie. »Dass ich neu an der Uni und nicht von hier bin. Ich will, dass sie mich ansehen und meine Rolle sehen, mein Talent und nichts anderes. Du erinnerst sie an meinen zuckersüßen Hintergrund im Herzen Amerikas.«
»Was ist denn an dir bitte zuckersüß?«
»Die Sache mit dem liebevollen teutonischen Bauernburschen.«
»Ich bin doch kein Bauernbursche.«
»Für die sind wir das«, stellte Sam klar. »Für die sind wir doch gerade erst vom Tomatenhänger gefallen. Sie finden es witzig, dass wir aus Nebraska kommen. Für sie ist sogar das Wort Nebraska witzig. Das klingt für sie nach ›Timbuktu‹ oder ›Hoboken‹.«
»Wie ›Punxsutawney‹?«, hatte Lincoln gefragt.
»Genau. Und sie finden es zum Totlachen, dass wir hier zusammen hergekommen sind.«
»Was ist denn daran so witzig?«
»Es ist zu niedlich«, urteilte sie. »Das ist genau das, was die Farmerskinder vom Tomatenhänger tun würden. Wenn du weiterhin zu den Proben kommst, dann kriege ich nie eine gute Rolle.«
»Vielleicht spielen sie ja irgendwann mal Wunderbare Pollyanna.«
»Lincoln, bitte.«
»Ich will bei dir sein. Wenn ich nicht ins Theater komme, dann kriege ich dich ja gar nicht mehr zu Gesicht.«
»Du wirst mich zu Gesicht bekommen.«
Doch so war es nicht.
Nur, wenn sie sich zum Frühstück in der Wohnheim-Cafeteria trafen. Nur, wenn sie nach den Proben in seinem Zimmer vorbeischaute, damit er ihr bei den Hausaufgaben half oder um sich über etwas auszuweinen, was im Theater passiert war. Sie blieb nicht über Nacht, nicht, wenn sein Zimmergenosse da war. Er sehnte sich ständig nach ihr.
»Wir waren öfter alleine, als wir noch bei unseren Eltern gewohnt haben«, beschwerte er sich schließlich bei ihr, als sie an einem Freitag einen der wenigen gemeinsamen Nachmittage in seinem Zimmer verbrachten und er sie im Arm halten durfte.
»In der Highschool hatten wir ja auch alle Zeit der Welt«, entgegnete sie.
»Warum haben dann alle um uns herum so viel Zeit?«
»Wer denn?«
»Alle außer dir«, erklärte er. »Egal, wohin ich gehe, überall sehe ich Leute zusammen sein. In ihren Zimmern. Im Aufenthaltsraum und im Studentenwerk. Bei Spaziergängen.« Denn so hatte er es sich im College auch vorgestellt. Er hatte sich ausgemalt, wie Sam und er sich auf der schmalen Wohnheimmatratze aneinanderkuschelten, wie sie Hand in Hand zu den Veranstaltungen gingen und sich gemeinsam auf Bänke oder Sofas in Cafés quetschten. »Ich habe für so was Zeit.«
»Vielleicht solltest du dann mehr Zeit mit all den anderen verbringen«, sagte sie. Sie hatte sich von ihm gelöst, ihre schwarze Strickjacke zugeknöpft und sich eine Spange ins Haar geschoben.
»Nein, ich will aber Zeit mit dir verbringen.«
»Ich bin doch jetzt hier«, entgegnete sie.
»Und das ist einfach wunderbar. Warum kann es denn nicht öfter so sein? Wenigstens ein Mal die Woche?«
»Weil es eben nicht geht, Lincoln.«
»Warum denn nicht?« Er hasste sich selbst dafür, dass er wie ein Waschlappen klang.
»Weil ich nicht an diese Uni gekommen bin, um Zeit mit meinem Highschool-Freund zu verbringen. Ich bin hierhergekommen, um meine Karriere anzukurbeln.«
»Ich bin nicht dein Highschool-Freund«, stellte er klar, »ich bin dein Freund.«
»Es gibt mit Sicherheit allein in diesem Stockwerk ein halbes Dutzend Mädchen, die die nächsten vier Jahre nur allzu gerne damit verbringen würden, mit dir zu kuscheln. Wenn es das ist, was du willst.«
»Ich will dich.«
»Dann sei doch glücklich mit mir.«
Sam wollte in den Weihnachtsferien nicht mit nach Hause kommen. Sie wollte auf dem Campus bleiben und bei der Produktion von Eine Weihnachtsgeschichte mitwirken. (Sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Rolle des Tiny Tim ergattern konnte.) Aber ihr Vater hatte so einige Vielflieger-Punkte eingelöst und ihr ein Business-Class-Ticket geschickt. »Ich bin noch nie erster Klasse geflogen«, erzählte sie Lincoln ganz aufgeregt. »Ich werde auf den Betty-Grable-Look setzen, irgendwas mit Handschuhen anziehen und Gin Tonic bestellen.« Lincoln würde den Bus nehmen, was Sam zufolge faszinierend sein würde. »So eine richtige Amerika-Erfahrung. Ich werd dir ein paar Sandwiches machen.«
Was sie dann nicht tat. Sie erklärte auch, sie würde Lincoln nicht zum Busbahnhof begleiten können, weil sie an dem Nachmittag ein Treffen der Theatergruppe hatte. Er sagte, das sei schon in Ordnung, er wollte sowieso nicht, dass sie ihn begleitete. Ein Mädchen, das als Tiny Tim durchgehen konnte, sollte nicht allein von der Busstation zurücklaufen müssen.
Aber Lincoln hasste die Tatsache, dass sie sich zwischen seiner Busreise und Weihnachten ein paar Tage lang nicht sehen würden. Aber wenigstens würden sie beide nach Hause kommen. Und dann würden sie die Woche nach Weihnachten haben, und Silvester. Vielleicht würde es ihnen guttun, sich wieder in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu begegnen. Er beschloss, Sam einen Zettel hinzulegen, bevor er den Bus nahm, um ihr zu sagen, dass er sie vermissen würde. Im Laden gegenüber vom Wohnheim kaufte er einen billigen Blumenstrauß und schrieb auf ein Blatt liniertes Uni-Papier:
Sam,
oh, auch wenn ich das Tal des Todes durchquere,
fliegt mein Herz dennoch erster Klasse.
In Liebe, Lincoln
Klingt doch romantisch, dachte er, als er auf ihr Gebäude zulief. Und irgendwie geographisch. Und hat auch einen biblischen Anklang. Er blieb in ihrem Stockwerk vor den Liften stehen und fügte noch ein Postskriptum hinzu: Ich liebe dich und ich liebe dich und ich liebe dich. Als er gerade das letzte »dich« geschrieben hatte, öffnete sich einer der Aufzüge.
Lincoln hätte fast gelächelt, als er Sam sah. Beinahe. Sie stand auf Zehenspitzen, hatte die Arme triumphierend um den Hals eines anderes Mannes geschlungen und bäumte sich ihm entgegen. Die beiden küssten sich … und zwar zu leidenschaftlich, um zu bemerken, dass der Aufzug längst angekommen war. Der Mann hatte eine Hand in Sams schwarzen Locken vergraben und die andere in ihrem kurzen Rock. Es war Lincoln überhaupt nicht klar geworden, wie falsch das ganze Szenario war, bis sich die Aufzugtüren wieder schlossen. Tatsächlich hatte er noch gedacht: Die proben wahrscheinlich. Denn kannte er den Typen nicht aus dem Theater?
Lincoln streckte die Hand aus und drückte den Aufzugknopf. Die Tür öffnete sich wieder.
Na klar, er erkannte ihn wieder. Marlon. Er war klein und dunkel und nicht von hier. Brasilianer. Oder vielleicht aus Venezuela. Er war einer von diesen typischen Kerlen, die auf Partys der Theatergesellschaft immer von einer Menschentraube umgeben waren und ständig auf Tische sprangen, um einen Toast auszubringen. Marlon. Sam und er hatten im September zusammen in einem Stück gespielt: The Straw.
Sam holte zwischen Kuss und Kuss tief Luft. Er konnte ihre Zunge sehen.
»Marlon?«, sagte er laut.
Sam drehte sich abrupt um. Ihre Miene erstarrte, während sich die Türen ein zweites Mal schlossen.
Lincoln fing an, erneut wütend auf dem Knopf herumzudrücken. Die Lifttüren gingen wieder auf, aber das ignorierte er. Er wollte jetzt in den anderen Aufzug. Plötzlich war er völlig verzweifelt und wollte nur noch eines, nämlich endlich weg.
»Lincoln«, hörte er Sam sagen.
Er ignorierte sie und drückte immer nur noch weiter auf den Knopf.
»Lass es mich doch erklären«, bat sie.
Drück, drück, drück. Runter, runter, runter.
»Er wird nicht kommen, solange wir hier sind«, sagte Sam. Sie stand immer noch im Aufzug. Marlon hielt die Tür auf.
»Dann geh doch«, knurrte Lincoln.
»Du kannst diesen Aufzug nicht haben«, versetzte Marlon mit dieser sexy Latin-Lover-Stimme.
Drück, drück, drück.
»Lincoln, hör auf damit, du tust dir noch weh«, flehte Sam.
»Oh, natürlich«, flötete Marlon, »das ist Lincolon!« Er hob die Hände in einer Geste des Wiedererkennens. Als wollte er mich umarmen, dachte Lincoln. Oder nein, als wollte er einen Toast auf mich ausbringen. Meine Damen und Herren, Lincolon! Die Aufzugtür ging langsam wieder zu. Sam stellte sich dazwischen.
»Macht den Aufzug frei«, forderte Lincoln, »lasst mich gehen.«
»Nein«, entgegnete sie. »Niemand geht hier irgendwohin. Lincoln, du machst mir Angst.«
Er drückte wieder heftig auf den Knopf. Das Licht erlosch.
»Lasst uns jetzt mal ganz ruhig bleiben«, warf Marlon ein. »Wir sind hier schließlich alle erwachsen.«
Nein, dachte Lincoln, du bist erwachsen. Ich bin erst neunzehn Jahre alt. Und du ruinierst mir gerade den Rest meines Lebens. Du küsst den Rest meines Lebens. Du ruinierst ihn mir mit deinen kleinen, ausdrucksstarken Händen.
»Es ist nicht, was du denkst«, sagte Sam mit Nachdruck.
»Ach nein?«, fragte Lincoln.
»Na ja …«, murmelte Marlon diplomatisch.
»Ist es nicht«, wiederholte Sam. »Lass es mich doch erklären.«
»Du könntest die Treppe nehmen«, schlug Marlon vor.
»Oh«, machte Lincoln, »klar.«
Er versuchte, nicht in Richtung Treppenhaus loszurennen. Das mit dem Weinen war schon peinlich genug. Er weinte die acht Stockwerke Mädchenwohnheim lang. Er weinte allein an der Bushaltestelle. Er weinte auf dem Weg durch ganz Nevada, Utah und Wyoming. Er weinte in den Ärmel seines Flanellhemdes wie der traurigste Holzfäller der Welt. Er dachte daran, wie oft er Sam versprochen hatte, dass er niemals jemand anderen lieben könnte. Würde sich das nun ändern? Hatte Sam sie beide zu Lügnern gemacht? Er glaubte schließlich an die wahre Liebe, war das dann nicht stärker als alles andere? Stach es nicht sogar Marlon aus? Lincoln würde sie erklären lassen. Wenn er nach Hause kam. Nein, er würde sie nicht einmal darum bitten, es ihm zu erklären.
Irgendwo in Colorado begann Lincoln, Sam einen Brief zu schreiben. »Ich glaube nicht, dass du mich betrogen hast«, stand darin. »Und selbst wenn, dann ist es auch egal. Ich liebe dich so sehr, dass alles andere egal ist.«
Eve holte ihn von der Bushaltestelle ab.
»Du siehst ja furchtbar aus«, bemerkte sie. »Ist eine Bande Penner über dich hergefallen?«
»Können wir auf dem Weg nach Hause bei Sams Eltern vorbeifahren?«
»Klar.«
Als sie dort ankamen, bat Lincoln Eve, nicht in der Einfahrt zu parken. Sams Zimmer lag über der Garage. Bei ihr brannte Licht. Lincoln dachte darüber nach zu klingeln, aber schließlich warf er den Brief einfach in den Briefkasten. Er hoffte, Eve würde ihn auf dem Weg nach Hause nicht danach fragen.