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Unsere depressive Erfolgsgesellschaft
Die Geburt der Depression aus dem Geiste der Romantik
Depressionen gedeihen auf dem Boden der Romantik. Romantik führt die Überzeugung mit sich, dass der individuelle Wille stärker ist als alle äußeren Strukturen dieser Welt. Der romantische Mensch ist in der Lage, sich in völliger Freiheit jede beliebige Form zu geben.[229] Autonomie wird zum höchsten Wert. Das romantische Subjekt ist in seinem Anspruch absolut und will sich nicht als begrenzt akzeptieren. Depression ist der Sieg der Romantik über die Vernunft.
Das romantische Selbst muss am Widerstand der Wirklichkeit scheitern. Die Proklamation der romantischen Freiheit führt in die Gefangenschaft. Die Freiheit der Vernunft ist hingegen die Einsicht in die Notwendigkeit, der man ausgesetzt ist, oder die resignative Reife:[230] Die Erfahrungen mit der Welt werden nicht ignoriert.
Mit der absolut gesetzten und daher notwendig ignoranten Autonomie kann man seine Not haben. Nicht das romantische, sich autonom gebärdende Selbst, sondern ein Selbst, das seine Gefährdungen und seine Abhängigkeiten in Rechnung stellt, wird sich selbst, die anderen und auch die umgebende Welt menschlich gestalten. Die Stimmung profitiert allemal.
Nun hat sich seit der Zeit der Romantik einiges verändert. Aber die romantischen Ideen der Freiheit und Autonomie haben sich erhalten, an Wert gewonnen und zeigen heute noch stärker und verbreiteter als vor zweihundert Jahren ihre destruktiven Wirkungen.