Zu wenig Hoffnung und Optimismus – selber schuld!
Was ist die Konsequenz solcher Vorstellungen, dass Hoffnung, positive Gedanken und Optimismus gesund machen? Wenn Kranke nicht erfolgreich sind, sind sie nicht nur weiterhin krank, sondern auch noch schuld daran. Sie haben dann nämlich nicht genug Hoffnung und positive Gedanken und Gefühle erzeugt. Und wenn sie sich nicht schuldig fühlen, haben sie zumindest allen Grund, sich zu schämen.
So geht es etwa einer Patientin, die sich an Chopra wendet, nachdem ihr Brustkrebs Metastasen in Lunge und Knochen gebildet hat: »Obwohl ich die Behandlung befolge, obwohl ich den weiten Weg zurückgelegt und mich von allen negativen Gefühlen befreit und allen vergeben habe, obwohl Meditation, gesunde Ernährung, Sport und Vitamine Teil meines Lebens geworden sind, kommt der Krebs immer wieder zurück. Habe ich etwas nicht verstanden? Ich bin überzeugt, dass ich ihn besiegen werde, doch mit jeder Diagnose fällt es mir schwerer, mir eine positive Einstellung zu bewahren.«[28] Chopras Antwort: »Sie müssen einfach damit fortfahren, bis der Krebs endgültig weg ist. Ich weiß, es ist entmutigend, dass er zurückkehrt, nachdem Sie so große Fortschritte gemacht haben, aber manchmal ist der Krebs einfach recht hartnäckig, und dann bedarf es eines äußersten Maßes an Beharrlichkeit, um ihn endgültig zu besiegen.«[29]
Eine andere Patientin: »Ich weiß, dass ich immer positiv sein muss und dies der einzige Weg ist, mit dem Krebs umzugehen – aber das ist furchtbar schwer. Ich weiß, wenn ich traurig bin, Angst habe oder mich aufrege, mache ich, dass mein Tumor schneller wächst, und verkürze damit mein Leben.«[30]
Die Zuteilung der Verantwortung für die Heilung des Krebses durch hoffnungsvollen Optimismus beinhaltet auch die Verantwortung für die Entstehung des Krebses. Der Krebspatient hatte in der Vergangenheit zu wenig Optimismus, oder er hat sich in anderer Weise schuldig gemacht. Im deutschsprachigen Raum hat sich ein ehemaliger Missionar mit seinen pseudotherapeutischen Veranstaltungen des sogenannten Familienstellens nicht nur eine gewisse Popularität ergaunert, sondern sich auch als selbsternannter Krebsspezialist hervorgetan. Für ihn ist die Sache klar: Krebs ist Sühne für ein Vergehen des Krebskranken.[31] Hellinger wird sogar noch genauer: Brustkrebs ist Sühne für die Verachtung von Männern, für fehlendes Mitgefühl mit Männern und dem Unrecht, das einem Mann angetan wurde.[32] Knochenkrebs dagegen sei die Sühne für die Verachtung des Vaters.[33]
So weit, so schlecht: Die Aufforderung, Hoffnung, positive Gedanken und positive Gefühle zu erzeugen, macht nicht nur viel Arbeit und stellt vor nicht zu bewältigende Aufgaben, sondern erzeugt auch schlechte Gefühle. Denn wenn der Krebs sich nicht einsichtig zeigt und verschwindet, ist man nicht nur schuldig, weil man den Krebs verursacht hat, man ist auch schuldig, weil man ihn nicht geheilt hat und nun weiter daran leiden muss.
Wenn man eine Krebserkrankung und Gedanken und Gefühle wie Hoffnung und Optimismus zusammenbringt, macht man keinen Unterschied zwischen körperlichen und geistigen bzw. psychischen Prozessen. Auf körperlicher und mentaler Ebene finden jedoch voneinander verschiedene Prozesse statt, deren gegenseitige Beeinflussung zwar nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, deren gefährlich banalisierende, völlig unwissenschaftliche Postulierung aber verheerenden Schaden anrichtet. Der Körper ist nicht die Psyche, und die Psyche ist nicht der Körper.