Angst kultiviert und macht erwachsen
Wo wir nicht von der Natur und von Instinkten beherrscht werden, entsteht die Möglichkeit von Kultur. Wir sind darauf angewiesen, uns unsere eigenen Gedanken zu machen, unsere Entscheidungen zu treffen, unsere Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen und damit uns und unsere Zukunft zu entwerfen. Während wir für unsere Natur nicht verantwortlich sind, sind wir für unsere Kultur sehr wohl verantwortlich. Sie wird von uns gemacht, aufrechterhalten und kann von uns auch verändert werden. Zu unserer Kultur gehört auch, wie wir über unsere Natur nachdenken und mit ihr umgehen. Dabei haben wir Angst davor, für unsere Entscheidungen und Handlungen verantwortlich gemacht zu werden, und wollen daher die richtige Wahl treffen oder wenigstens die falsche vermeiden.
Die Angst ist gleichzeitig Mittel und Begleiterscheinung einer produktiven und kultivierten Lebensgestaltung. Sie ist nicht nur ein wesentlicher Teil und die Triebfeder der Entwicklung menschlicher Kultur, sondern ebenso eine wesentliche Triebfeder unserer eigenen biographischen Entwicklung, ein notwendiger Teil unserer Sozialisation. Die Sozialisation ist die Einführung in die Angst. Insofern ist das lobende Gerede von der sogenannten angstfreien Erziehung Nonsens.
Dies bezeugt schon das Märchen von »Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«[81] : die Geschichte eines jungen Mannes, dem noch etwas fehlt. Er hat noch nicht gelernt, sich zu ängstigen. Angst ist eine menschliche Errungenschaft, die erworben werden muss, um sie zu besitzen und nutzen zu können.
Aber so kompliziert und anspruchsvoll, wie es zunächst klingen mag, ist das Erlernen der Angst auch wieder nicht. Es gelingt leicht, wenn man auf die Anstrengung, es zu verhindern, verzichtet.
Jeder, der Kinder hat, weiß, wie kinderleicht Angst gelernt wird und was geschieht, wenn Kinder ausziehen, um das Fürchten zu lernen. Wenn Kinder anfangen sich fortzubewegen, zuerst krabbelnd, dann laufend, bewegen sie sich von ihren bekannten Bezugspersonen weg, bis an eine fast magisch erscheinende Grenze. Dort verspüren sie offensichtlich Angst: Trennungsangst. Aber es erscheint wie ein Spiel. Wir fragen uns: Ist der kindliche Blick und Gesichtsausdruck ein ängstlicher oder ein lachender? Nun sind auch noch Juchzen und lustvolle kurze Schreie zu hören. Wir sind Zeugen eines vom Kind selbst erzeugten Gefühls: der Angstlust. Angstlust erlebt, wer sich freiwillig in eine neue, unsichere, vielleicht sogar gefährliche Situation begibt. Dieser Mensch trennt sich von etwas, das ihm vertraut war und mit dem er bisher verbunden war. Die Angstlust ist ein »Zwischengefühl«. Es wird zwischen dem Aufgeben von Sicherheit und dem Wiedererlangen von Sicherheit empfunden. Gleichzeitig entsteht dabei eine eigenartige psychische Distanz zum Geschehen, dessen Teilnehmer man aber weiterhin bleibt. Das vermittelt uns den Eindruck, dass es sich um ein Spiel handelt. Das etwa einjährige Kind lernt nicht nur die Angst, nicht nur die Lust an der Angst, es lernt, dass es ein Wesen ist, das wählt. Die Angstlust erzeugt das Bewusstsein, sich einer als real empfundenen Gefahr wissentlich aussetzen und die dabei entstehende Angst wiederum willentlich bewältigen zu können. Man kann den Blick zurückwenden, um sich des weiterhin vorhandenen Bekannten zu versichern, oder zurücklaufen/zurückkrabbeln oder den Blick nach vorwärts richten auf das Unbekannte und es sich zu eigen machen.