Familie Maurer revisited
Erinnern wir uns an die Familie Maurer (vgl. S. 229ff.): Das Ehepaar Maurer suchte Hilfe in einer Psychotherapie, weil es sich schuldig fühlte am unglücklichen Leben der Tochter Angelika. Herr und Frau Maurer hatten ihr eigenes Wohlbefinden vom Wohlwollen ihrer Tochter abhängig gemacht. Die Abhängigkeit der Eltern und ihre Bereitschaft, die Verantwortung für das Leben der längst erwachsenen Tochter zu übernehmen, machte alle zu Verlierern: Die Eltern litten, je mehr sie die Schuldvorwürfe ihrer Tochter zu ihren eigenen machten, die Tochter wiederum hatte nichts von den Schuldgefühlen ihrer Eltern.
Der Therapeut schlägt den Eltern deshalb vor, sie könnten ihrerseits der Tochter Schuldvorwürfe machen und sie auffordern, sich bei den Eltern zu entschuldigen. Bis zum Zeitpunkt einer Entschuldigung sollten sie jede Kontaktaufnahme vermeiden bzw. ablehnen. Angelika, so der Gegenvorwurf, sei schuld daran, dass die Eltern nicht sorgenfrei und mit Wohlwollen auf die Entwicklung ihrer Tochter schauen könnten, die Tochter vermiese ihnen den redlich verdienten Lebensabend.
Mit diesem Vorgehen geben Herr und Frau Maurer die Verantwortung für das Leben ihrer Tochter an diese zurück: Nun hat Angelika die Möglichkeit, sich wieder für sich selbst verantwortlich zu fühlen.
Die Eltern haben größte Bedenken, können sich aber der Logik des Vorschlages nicht entziehen. Die Mutter ringt sich schließlich zu dem Bekenntnis durch, dass sie ganz im Geheimen durchaus schon voller Wut gedacht habe, dass Angelika es sei, die die Hauptschuld an der Situation trage, und dass ihr der Gedanke sogar gutgetan habe.
Immerhin steht nun der Vorschlag im Raum, die eigenen Schuldvorwürfe schriftlich abzufassen und der Tochter als Brief zukommen zu lassen.
Das Ehepaar Maurer hat erwartungsgemäß nie einen solchen Brief geschrieben. Aber das Eis war gebrochen. Es war nun erlaubt, selbst auch wütende Gefühle und negative Gedanken bezüglich der Tochter zu haben. In den nächsten Jahren lockerte sich der Kontakt zwischen Eltern und Tochter – nicht zum Bedauern der Eltern. Im Gegenteil, sie achteten nun ihrerseits darauf, dass der Kontakt nicht wieder zu eng wurde. Angelika beendete ihre Psychotherapie und hatte mehrere, wenn auch nur kurz währende Arbeitsverhältnisse. Beiden Eltern geht es inzwischen deutlich besser. Frau Maurer klagt nicht mehr über Schlafprobleme. Sie schlafe inzwischen wie ein Murmeltier, worüber sich nun allerdings gelegentlich ihr Mann beklagt. Er will sich mit ihr unterhalten, aber das geht ja mit einer schlafenden Ehefrau nicht besonders gut. Man mache längere Ferien, und im Gegensatz zu früher reise Angelika bzw. die sorgenvolle Beschäftigung mit ihr nicht mehr mit in den Urlaub.
Wut ist nicht nur schwer mit Depression zu vereinbaren, sie kann auch die kräftezehrende Anspruchshaltung aufbrechen. Wer wütend ist, ist nicht mehr der depressiven Gefühlsleere ausgesetzt, ganz im Gegenteil: Die Wut ist ein starkes, körperlich gut wahrnehmbares Gefühl. Für Frau Maurer hat es offenbar schon einen wesentlichen Unterschied gemacht, dass das negativ bewertete Gefühl der Wut nicht länger tabuisiert werden muss, sondern sogar als berechtigtes Mittel eingesetzt werden kann, um eine Veränderung der Situation zu erreichen.
Wut scheint nicht nur für manche depressiv gestimmte Menschen eine Ausstiegsmöglichkeit aus der miesen Stimmung zu sein, sondern auch für größere soziale Gruppen, für die sich dank der Wut neue, bisher nicht genutzte Umgangsmöglichkeiten mit sich, mit anderen und der Welt eröffnen. Das hat wohl auch die Gesellschaft für deutsche Sprache bemerkt; sie kürte den Begriff »Wutbürger« zum Wort des Jahres 2010. Anlass dafür waren die für viele überraschenden Aktionen von Bürgern, die nicht mehr länger nur im stillen Kämmerlein und ohne Folgen über die politischen Zustände schimpfen wollten. Der Versuch, die negativ beleumundete Wut wieder in geordnete und vernünftige Bahnen zu lenken, ließ denn auch nicht lange auf sich warten: Der Schlichter Heiner Geißler fühlte sich aufgerufen, die »falsche Diagnose« der über das Bahnprojekt Stuttgart 21 wütenden Menschen richtigzustellen: »Das sind aber keine Wutbürger. Das sind Mutbürger.«[208] Noch deutlicher wurde später der damalige Bundespräsident Christian Wulff: »Wir brauchen nicht mehr Wutbürger, sondern mehr Mutbürger.«[209]