Von der Unfähigkeit zu trauern zur Unwilligkeit zu trauern
Vor fast 50 Jahren haben Alexander und Margarete Mitscherlich, anknüpfend an Überlegungen Sigmund Freuds[213] , über die Unfähigkeit zu trauern geschrieben.[214] Ihre Diagnose, die sich auf das kollektive Verhalten der Menschen in Nachkriegsdeutschland bezog, beruhte auf der Beobachtung, dass die Menschen nach Ende des Krieges unfähig zur Einfühlung in die Opfer des Naziregimes waren, ja dass sie versucht waren, eher zu leugnen, dass es diese Opfer gab, als die Bemühung um Einfühlung aufzubringen.
»Problematisch ist die Tatsache, dass […] keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden«[215] , aber »Trauer kann nur dort entstehen, wo ein Individuum der Einfühlung in ein anderes Individuum fähig gewesen ist.«[216]
Das ist heute anders, ist man versucht zu sagen. Ist die Einfühlung in andere bzw. das Trauern über andere nicht inzwischen zu einer öffentlichen Angelegenheit mit Massenveranstaltungscharakter geworden?
Als Prinzessin Diana bei einem Autounfall ums Leben kam, erfasste eine globale Verzweiflung Millionen von Menschen, als hätten sie den Verlust eines Familienmitgliedes zu betrauern, und 40000 Menschen versammelten sich im Stadion von Hannover 96, um des verstorbenen Nationaltorhüters Robert Enke zu gedenken.
Selbst der liebenswerte kleine Berliner Eisbär Knut, den eine ganze Nation in ihr Herz geschlossen hatte, mobilisierte die Trauer der Massen, als er unerwartet im zarten Alter von vier Jahren aus dem Leben gerissen wurde. In einem Online-Kondolenzbuch, das der Berliner Zoo auf seiner Homepage eingerichtet hatte, trugen sich in kurzer Zeit Tausende verzweifelte Knut-Freunde ein, und es wurde heftig darüber diskutiert, ob die sterblichen Überreste des Eisbären verbrannt, beerdigt oder ausgestopft im Naturkundemuseum ausgestellt werden sollten.
Woran es heute mangelt, ist nicht die Einfühlung in andere, sondern die mangelnde Einfühlung in uns selbst. Wir leiden nicht an der Unfähigkeit, um andere zu trauern, sondern an der Unwilligkeit, um uns selbst zu trauern.