Was bewirkt das Vergeben?
Das Aufgeben von Ansprüchen kann eine große Entlastung bedeuten. Man muss nicht mehr stark, aktiv und gut sein. Wer den Glauben entwickelt hat, auf andere vertrauen zu können und bei ihnen in Sicherheit zu sein, kann davon ablassen. Wer von der eigenen Autonomie, seiner Selbstkontrolle, seinem Selbstwert, seiner Urteilsfähigkeit und Kompetenz überzeugt war, kann von seinem Glauben an sich selbst ablassen. Wer immer angenommen hat, dass es in der Welt gerecht zugeht, dass die Welt wie eine mathematische Gleichung funktioniert, kann von seinem Glauben an Fairness, Gerechtigkeit, Logik und Ordnung ablassen.
Es findet eine neue Selbstermächtigung statt, indem der Vergebende sich selbst das Geschenk der Entlastung macht. Wie beim Trauern ermöglicht das Vergeben eine Selbstveränderung. Die Wirklichkeit des Lebens hat ihr Veto gegen unsere Vorstellung vom Leben eingelegt. Nachdem wir unser Leben in eine Form gebracht haben, hat das Leben die Form zerbrochen. Vergebung ist das Einverständnis mit dem, was ist. Nun ist der Weg für Veränderung frei. Der Glauben wird nicht länger auf Kosten des Lebens verteidigt. Dem Leben wird Rechnung getragen. Es werden keine Ohren mehr abgeschnitten, um das Selbstporträt nicht zu gefährden. Stattdessen wird das Selbstporträt verändert.
Vergeben ist aber kein Kinderspiel. Es ist eine offene, schmerzliche und traurige Selbstkonfrontation. Andere mögen uns zwar vergeben, und viele sind dazu auch gerne bereit. Aber sie können uns die Aufgabe und Anstrengung der Selbstvergebung nicht abnehmen. Wir kennen uns und unseren Glauben besser, als andere ihn kennen können. Vergebend sind wir mit dem Gegner in uns selbst vertraut geworden und mit unseren unbarmherzigen Ansprüchen an uns selbst. Vergebend geben wir die Hartherzigkeit gegen uns selbst auf und sind bereit, bis auf weiteres, mit der eigenen Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit barmherzig umzugehen. Die selbstdestruktiven Waffen der Schuldgefühle, der Scham und des Hasses auf uns selbst werden niedergelegt. Der Krieg gegen uns selbst ist zu Ende – beendet nicht durch unseren Sieg, sondern durch unsere Kapitulation.
»Der Kämpfer wird erst am Grund belehrt, dass es keinen Sinn mehr macht, weiter um etwas zu kämpfen, was durch Kämpfen nie zu erreichen war. Zu Tode erschöpft und vom Druck bis zur Unkenntlichkeit deformiert, gibt er auf. Und siehe da, es geht auch ohne Kämpfen weiter, sogar nach oben.«[226]