Voraussetzung des Trauerns: die Leichenschau
Im Allgemeinen trauern wir um einen Menschen, den wir verloren haben. Anlass zur Trauer kann aber auch der Verlust von Vorstellungen, Ansprüchen, Vorhaben und Werten sein. Die Voraussetzungen zur Trauer sind in beiden Fällen dieselben.
Die wichtigste Voraussetzung ist die Feststellung und Anerkennung des Umstandes, dass es den Verlust tatsächlich gibt. Das klingt zunächst banal, ist in Wirklichkeit aber ein anspruchsvoller Erkenntnisprozess. Es geht um die komplizierte Frage: Wie erkenne ich, dass etwas nicht mehr ist?
Haben wir die Antwort, die zu finden schon schwer genug ist, dann tun wir uns im Umgang mit der Antwort nicht leicht. Der Umgang mit Verlust und Tod gehört nicht zu unseren besonderen Vorlieben, ihr Sinn leuchtet uns nicht ein.[217] Der Tod widerspricht unseren Vorstellungen einer Person, die durch ihr intentionales Handeln auf ihre Umwelt einwirkt und sie dabei gestaltet. Der Tod bedeutet das unwiderrufliche Ende dieser menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten und stellt daher das persönliche Selbstbild als handelndes Subjekt auf radikalste Weise in Frage.
Aber bleiben wir zunächst bei der Frage: Wie erkenne ich, dass etwas nicht mehr ist? Die Antwort lautet: mittels der Leichenschau! In der Leichenschau wird das Unsichtbare sichtbar, das Verlorene erkennbar. In der Leichenschau kann man sich vom Verlorenen überzeugen.
Die Betrachtung der Leiche bringt unmittelbar einen fast unglaublichen Erkenntnisgewinn. Die Leiche zeigt einen ehemals lebendigen Menschen. Sie ermöglicht die Wahrnehmung von etwas, was nicht mehr da ist. Kindern gelingt diese anspruchsvolle Erkenntnis oftmals besser als Erwachsenen. Kinder, denen die Leiche eines toten Familienmitgliedes nicht vorenthalten wird, bringen ihre Erkenntnis einfach auf den Punkt: »Das ist nicht Opa!« Der Unterschied zwischen vorher und jetzt, zwischen vormals lebendem Menschen und Leichnam wird nicht verwischt.[218]
Die Begegnung mit der Leiche ist also ein wesentliches Element gelingender Trauerarbeit. Doch so wie die Sorge um den Sterbenden dem medizinischen System und seinen Techniken übertragen werden kann, wird die Sorge um den toten Körper meist den dafür zuständigen professionellen Dienstleistern übertragen. Dadurch besteht die Gefahr, dass der tote Körper dem Erleben oder zumindest der Betrachtung durch die Angehörigen entzogen wird. Die Trauerarbeit wird dadurch erschwert.
Auf vergleichbare Weise überlassen wir die Sorge um überlebte Ideen, Vorstellungen oder Soll-Werte gern anderen – professionellen Aufmunterern, Tröstern oder Durchhaltecoachs. Dabei ist es gerade hier, wo der »Hinterbliebene« der Produzent und (ehemalige) Besitzer dieser Ideen ist, wichtig, sich der Betrachtung des Verlorenen auszusetzen.
Geschieht dies nicht, kann sich daraus eine unangemessen lange Anwesenheit des Toten und der toten Vorstellungen ergeben. Es gibt dann kein Vergessen, weil nicht Abschied genommen werden kann.
Wir machen uns notwendigerweise ein Bild von anderen und von uns selbst. Wir können uns aber unterschiedliche Bilder machen, die unterschiedliche Folgen haben: Hoffnungsbilder, die uns das Abschiednehmen und Trauern verunmöglichen, oder Verzweiflungsbilder, die uns überzeugen, dass etwas unwiederbringlich und unwiderruflich verloren ist, und die uns daher die Berechtigung geben, zu trauern und uns dann dem Leben wieder zuzuwenden.