Trauer und Depression: gleiche Erfahrung – unterschiedliche Konsequenzen
Der Trauernde und der Depressive machen die gleiche Erfahrung, gehen aber unterschiedlich mit dieser Erfahrung um. Beide machen die Erfahrung, dass die Landschaft nicht mehr zur der Landkarte passt, die man sich angefertigt und bisher benutzt hat. Der Depressive versucht weiterhin seine Landkarte zu benutzen, auch wenn er damit nirgendwo hingelangt. Der Trauernde dagegen realisiert, dass seine alte Landkarte ausgedient hat; sie wird der Realität nicht mehr gerecht, er kann sich nicht mehr an ihr orientieren. Diesen Verlust betrauert er.
Jeder, der schon einmal getrauert hat, weiß, dass man sich kaum je mehr spürt als in der Trauer. In der Depression dagegen geht das Gefühl für sich selbst, der Kontakt zum eigenen Selbst verloren.
In der Trauer, im Prozess des Trauerns geben wir das Bild von uns, vom Leben und unserem Dasein in der Welt auf. Wir finden später dann zu einem neuen Bild.
Die Depression dagegen ist die Arbeit am verlorenen Objekt, der Versuch, die neue Realität zugunsten des alten Bildes rückgängig zu machen, notfalls um den Preis der eigenen Lebendigkeit und des eigenen Lebens. [212]