Hermann-Göring-Pillen, Stuka-Tabletten und Panzerschokoladen
Schon lange gehören chemische Substanzen, die in Gehirnfunktionen eingreifen, zur modernen Kriegführung. Ende des 19. Jahrhunderts war die stimulierende Substanz Methamphetamin synthetisiert worden. Die Berliner Temmler-Werke brachten sie unter dem Handelsnamen Pervitin auf den Markt. Während des Zweiten Weltkrieges fand Pervitin bei der deutschen Wehrmacht unter den Kosenamen »Panzerschokolade«, »Stuka-Tablette« und »Hermann-Göring-Pille« millionenfache Verwendung. Allein zwischen April und Juni 1940 orderten Wehrmacht und Luftwaffe mehr als 35 Millionen Pervitin-Tabletten.
Pervitin euphorisiert, verringert das Schlafbedürfnis und steigert Leistungsfähigkeit und Mitteilungsbedürfnis. Hunger- und Durstgefühle werden dagegen reduziert. Die Wirkung kann je nach Dosierung bis zu 36 Stunden andauern. Danach kann sich trotz Müdigkeit quälende Schlaflosigkeit einstellen, gefolgt von Lethargie und depressiven Verstimmungen. Das Bedürfnis nach Pervitin war nicht nur bei den Kriegsherrn verständlicherweise da, sondern auch bei den einfachen Soldaten, die in den Krieg geschickt wurden und dort bleiben mussten. Das bezeugen Feldpostbriefe aus dem besetzten Polen, die ein junger Soldat in den Jahren 1939 und 1940 an seine Eltern und Geschwister schrieb: »Der Dienst ist stramm, und Ihr müsst verstehen, wenn ich späterhin Euch nur alle zwei bis vier Tage schreibe. Heute schreibe ich hauptsächlich um Pervitin … Euer Hein.« Ein halbes Jahr später: »Vielleicht könntet Ihr mir noch etwas Pervitin für meinen Vorrat besorgen?« und vier Wochen später: »Schickt mir nach Möglichkeit bald noch etwas Pervitin.« Der Absender dieser Briefe ist der junge Heinrich Böll.[162]
Pervitin war ein äußerst effizientes Mittel, um Soldaten auch extreme Strapazen abverlangen zu können: »Jeder Sanitätsoffizier muss sich darüber im Klaren sein, dass er im Pervitin ein sehr differenziertes und starkes Reizmittel in der Hand hat, das ihm jederzeit gestattet, bestimmte Personen seines Wirkungskreises bei der Durchführung übernormaler Leistungen tatkräftig und wirkungsvoll zu unterstützen«, so die Aufklärung in einem Merkblatt für Marinesanitätsoffiziere.[163] Von Pervitin unterstützt, hoffte man gegen Ende des Krieges, als die Dinge längst nicht mehr so liefen wie gewünscht, auf weitere Steigerungsmöglichkeiten. Man hoffte nicht nur auf die Wunderwaffe, sondern setzte auf die Wunderpille. Im März 1944 wünschte sich Vizeadmiral Hellmuth Heye – nach dem Krieg CDU-Bundestagsabgeordneter und Wehrbeauftragter des Bundestages – die Pille, die »den Soldaten einsatzfähig hält, der über die normale Zeit hinaus als Einzelkämpfer gefordert ist, und zugleich das Selbstwertgefühl hebt«.[164] Nicht nur zahllosen Soldaten wurde Pervitin verabreicht. Auch Adolf Hitler soll es konsumiert haben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Methamphetamin vielfältig eingesetzt. Im Vietnamkrieg diente es zur Optimierung von Kampfeinsätzen. Aber auch im Sport fand Methamphetamin seine Abnehmer. Es wird seit einigen Jahren vermutet, dass die Deutsche Fußballnationalmannschaft mit Unterstützung von Pervitin 1954 das Wunder von Bern vollbracht hat.[165] Im Boxkampf um den Europameistertitel im Mittelgewicht ging 1968 Jupp Elze in der 15. Runde bewusstlos zu Boden und starb eine Woche später an den Folgen einer Hirnblutung. Er war mit Pervitin gedopt und hatte, bevor er zu Boden ging, etwa 150 Kopftreffer abbekommen, die er auf Grund der erhöhten Schmerzschwelle durch Pervitin zwar wegsteckte, die ihn aber das Leben kosteten. Andre Agassi berichtet, dass er mehrfach mit Methamphetamin (Crystal Meth) versucht hatte, sich aus einem Formtief herauszuholen.[166] Aber die Geschichte der chemischen Kriegführung ist noch nicht zu Ende.