So haben wir den Gaul doch immer geritten!
Menschen fällt es meist schwer, sich einzugestehen, dass sie sich getäuscht haben. Es ist schon schwierig zuzugeben, dass man sich in anderen getäuscht hat; sich einzugestehen, sich in sich selbst getäuscht zu haben, ist noch schwieriger. Aber es gibt Möglichkeiten, diese Enttäuschung zu umgehen: Man belügt andere und auch sich selbst.
Beliebt ist die Feststellung: So haben wir es doch schon immer gemacht! Was soll denn jetzt daran falsch sein? Dieses Argument ist umso zugkräftiger, je schwerer das Pferd schon zu seinen Lebzeiten zu reiten war. Menschen, die unter vielerlei Strapazen, Leid, Ärger und Mühe ein Ziel zu erreichen versuchen, das Ziel vielleicht sogar erreicht haben, schätzen dieses Ziel meist höher ein als eines, das ohne Mühe und mit Leichtigkeit, so nebenbei, zu erreichen war.
Die Anstrengung fordert ihren Tribut und will gewürdigt sein. Die Rechtfertigung, besser: die Selbstrechtfertigung, ist eine menschliche Denk-Errungenschaft. Sie macht es möglich, tote Gäule zu reiten, sie für lebendig zu halten oder auf ihre Reanimation durch Weiterreiten zu setzen, unabhängig davon, wie katastrophal das Ergebnis und wie mies die Stimmung dabei ist.
Auch wenn man Menschen keine Vorliebe für unangenehme Erfahrungen unterstellen muss, erscheinen ihnen Ziele, die freiwillig angestrebt werden, dann besonders attraktiv, wenn sie nicht leicht erreichbar sind. Von dieser Überzeugung lässt man sich dann nicht mehr oder nur schwer abbringen. Es hat sich ein gefestigtes Glaubensbekenntnis der Selbstrechtfertigung entwickelt. So viel Überzeugung, Denkarbeit und Beharrlichkeit können immense Kosten verursachen und sogar die Freiheit kosten.
Bienen sind eine vergleichsweise disziplinierte, sozial aufeinander abgestimmte und »gebildete« Tierart.[109] Sie haben scheinbar eine klare Vorstellung davon, wie sie sich beharrlich in bestimmten Situationen zu verhalten haben. Sperrt man Bienen in eine Flasche, deren Hals offen ist, und legt die Flasche so hin, dass der Flaschenboden auf eine Lichtquelle ausgerichtet ist, suchen die Bienen den Ausgang beharrlich am Flaschenboden, dort wo zwar das Licht, aber kein Ausgang ist. Sie halten sozusagen daran fest, dass dort, wo es hell ist, der Weg nach draußen führt. Sie sterben schließlich vor Hunger und Erschöpfung.
Sperrt man nun ein Anzahl von Fliegen in die Flasche, die genauso positioniert bleibt, fliegen diese Fliegen aufgeregt, undiszipliniert, sozial unabgestimmt und scheinbar ohne Plan und Überzeugung hin und her und finden den Ausgang. Allerdings nicht, weil sie einen richtigen Plan hätten, sondern weil sie keinen falschen haben, an dem sie festhalten können.[110]