Wissen kann dumm machen und das Leben verkürzen
Wer weiß, muss nicht mehr fragen, er ist sich seiner Sache sicher und kann klug handeln. – Ist das wirklich so?
Dass Wissen das Leben verkürzt, haben Sie wahrscheinlich schon einmal selbst erfahren. Wenn Sie mit Ihrem Auto an ein bisher unbekanntes Ziel fahren, auf einer bisher noch nie von Ihnen befahrenen Strecke, dann wird Ihnen die Rückfahrt von diesem Ziel auf der gleichen Strecke ungleich kürzer erscheinen als die Hinfahrt. Wissen und Erfahrung verkürzen das erlebte Leben, können aber auch das Leben selbst verkürzen, weil sie uns gefährlich werden können.
Allzu großes Vertrauen in das eigene Wissen und die eigene Erfahrung, aber auch in die verwendete Technik kann zu gefährlicher Vernachlässigung der Sicherheitsstandards und zu einer Überschätzung des eigenen Wissens führen. Widersprüche oder Widerspruch werden dann nicht berücksichtigt oder nicht geduldet.[97]
Mit Abstand die häufigste Fehlerquelle ist und bleibt die Kommunikation zwischen Menschen. Etwa die Kommunikation zwischen Ärzten untereinander oder die zwischen Ärzten und Patienten. Die wichtigste und auch gefährlichste Fehlerquelle in der Kommunikation ist das vermeintlich vorhandene Wissen.
Ein Blick in eine ärztliche Sprechstunde: Eine türkische Patientin mit schweren Verätzungen im Vaginalbereich wird von ihrem Frauenarzt in eine Klinik eingewiesen. Die türkische Patientin hat sehr schlechte Deutschkenntnisse. Aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Religion ist ihr die Situation sichtlich unangenehm. Daher hat sie erst spät den Arzt aufgesucht. Die Frau hatte bis vor kurzem von ihrem Frauenarzt ein Arzneimittel »für die Wechseljahre« erhalten, ein Östrogen-Präparat zur vaginalen Anwendung. Es stellte sich heraus, dass sie auch das von ihrem Gynäkologen verordnete Alendronat® 70 mg (ein oral einzunehmendes Medikament zur Behandlung und Vorbeugung einer Osteoporose bei Frauen in den Wechseljahren) ebenfalls vaginal angewendet hatte.
In diesem Fall sind zahlreiche Faktoren beteiligt, die zu diesem Fehler führten. Die ovale Form und die relative Größe der oral einzunehmenden Tablette macht die Fehleinnahme erklärlich. Aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse verstand die Patientin vermutlich weder die mündliche Erklärung des Arztes noch die Gebrauchsinformation. Aber noch wichtiger ist: Der Arzt verstand nicht, dass seine Patientin nicht verstand!
Studien zeigen die besondere Bedeutung des Zuhörens für das Gelingen von Kommunikation. Ärzte unterbrechen Untersuchungen zufolge ihre Patienten im Mittel nach 18 Sekunden, nachdem diese begonnen haben, die Gründe für ihren Besuch beim Arzt zu erklären.[98] Je mehr wir denken, dass wir richtig liegen, umso mehr verengt sich unsere Aufmerksamkeit. Wir hören nur noch die Informationen, die unsere Annahmen unterstützen, oder hören überhaupt auf, anderen zuzuhören. Es gibt also eine sehr enge Beziehung zwischen dem Zuhören und der Akzeptanz von Fehlbarkeit. Zuhören bedeutet, dass die Gedanken und Vorstellungen anderer interessant und wichtig sind und wir selbst im Irrtum sein könnten.
Aber erfreuliche Entwicklungen scheinen doch immerhin möglich. So gibt es heute etwa das Forum für Hausärzte »Jeder Fehler zählt«.[99] Ein Forum, in dem, nach dem Vorbild der Luftfahrt, ein Fehlerberichtssystem gepflegt wird. Kritische Ereignisse und Fehler können beschrieben, systematisch analysiert und ausgewertet werden, um auf diese Weise Erkenntnisse über Fehlerarten, -häufigkeiten und ihre Ursachen zu gewinnen. Ziel ist es, Strategien zur Vermeidung von Fehlern und zur Verbesserung der Patientensicherheit in Hausarztpraxen zu entwickeln. In den ersten fünf Jahren seines Bestehens wurden 360 Fehlerberichte im Forum gezählt.
Eine bundesweite Befragung niedergelassener Ärzte aus dem Jahr 2009[100] stellt fest, dass 41% der befragten Ärzte von einer Fehlerfrequenz von einem Fehler pro Jahr und 31% von einem Fehler pro Woche bis zu einem Fehler pro Monat ausgehen. Dieser Selbsteinschätzung zufolge unterlaufen den 50000 deutschen Hausärzten innerhalb von fünf Jahren mindestens 1032500 Fehler. Im Forum wurden im gleichen Zeitraum aber nur 360 Fehlerberichte eingereicht, das sind 0,3486 Promille. Eine Zahl, die die Freude über einen kulturellen Wandel schmälert.
Ob es in der Zukunft einen kulturellen Wandel im Gesundheitssystem geben wird, erscheint fraglich. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass sich in dieser Kultur des Verschweigens und Schönfärbens auch kriminelle Aktivitäten breitmachen.
In einer Jahresbilanz des Jahres 2010 sind laut Polizei die kriminellen Spitzenreiter bei der Schadenssumme Ärzte: Mehrfach wurden Kliniken durchsucht, Ärzte und Apotheker festgenommen. Sie werden verdächtigt, die Krankenkassen um Millionen betrogen zu haben.[101]