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»Wie geht es denn nun weiter?« Lara betrachtete die vorbeiflanierenden Menschen. Es war fast schon ein bisschen zu kalt, um im Straßencafé zu sitzen, aber Mark hatte es sich so gewünscht. Ihr gemeinsames Erlebnis brauchte einen Abschluss. Nur dass Jo heute nicht dabei war. Jo hatte Termine, und so war Lara allein nach Berlin gefahren.
»Die Begutachtung wird noch eine geraume Zeit dauern. Und ich bin ja auch nicht der einzige Gutachter. Ich glaube, so einen Fall hatten wir in Deutschland noch nie.« Mark strich sich über die Haare. »Es gibt hier außer Thorwald Friedensreich auch keine Experten auf dem Gebiet dissoziativer Identitätsstörungen. Das wird also nicht ganz einfach. Eigentlich dürfte man nur Matthias Hase verurteilen, aber wie soll das gehen? Die anderen sind ja auch alle in diesem Körper, darunter auch Kinder. In den USA gab es schon Freisprüche in solchen Fällen. Hier allerdings steht man eher auf dem Standpunkt, die Diagnose sei eine Erfindung der Therapeuten, die ihren Patienten die Persönlichkeitsspaltung eingeredet oder während der Hypnose eingepflanzt hätten.«
»Das ist alles ziemlich kompliziert, nicht?« Lara hatte in der Zwischenzeit ausgiebig recherchiert. »Vielleicht wäre man ihr nie auf die Spur gekommen … Warum hat sie überhaupt diese Briefe an sich selbst geschickt? Lägen sie noch heute in der Schatulle, wüsste womöglich niemand, dass es eine Verbindung zwischen all den Fällen gibt.«
»Du hast recht und auch wieder nicht.« Mark sah einem Doppelstockbus nach. »Ich denke, eine oder mehrere ihrer Innenpersonen wollten dem Ganzen ein Ende bereiten, während andere sich dagegen sträubten. Dieser Zwiespalt führte dazu, dass zuerst nur ein Teil des ersten Briefes abgeschickt wurde. Maria Sandmann – die Gastgeberin – bekam von dem ganzen Vorgeplänkel nichts mit und war natürlich über den Inhalt bestürzt. Das brachte dann den Stein ins Rollen.«
»Ich habe inzwischen zwei Bücher zum Thema gelesen Aufschrei und Die Leben des Billy Milligan.« Lara rührte gedankenverloren den Satz in ihrer Espressotasse um. »Und trotzdem … ich begreife vieles nicht. Wie konnte so eine zierliche Frau solche Taten vollbringen? Sie hat für Mellers Bestrafung unzählige Kanister Wasser und dann ihn selbst in den vierten Stock transportiert. Ich weiß zwar, dass die DNA-Spuren an den Tatorten eindeutig bewiesen, dass sie es war, aber es erscheint mir doch schier unmöglich. Einen Helfer kann sie nicht gehabt haben, oder?«
»Nein. Sie war es allein. Vergiss nicht, Maria Sandmann ging regelmäßig ins Fitnessstudio und hat trainiert. Sie war stark. Außerdem hat die Taten ja Matthias verübt – der Vollstrecker, und nicht Maria Sandmann.«
»Aber trotzdem steckt dieser Matthias doch im Körper dieser Frau!« Lara mäßigte ihre Lautstärke. Ein Auto hupte. Mark verzog den Mund kurz zu einem schiefen Lächeln.
»Die verschiedenen Innenpersonen können sich komplett anders verhalten und sogar eine andere körperliche Verfassung haben. Das geht bis hin zu Blutwerten, Krankheitsbildern und Ähnlichem. Es ist noch nicht genau geklärt, wie das funktioniert. Aber je nachdem, wer gerade ›draußen‹ ist, wechseln die Eigenschaften.«
»›Draußen‹ heißt?«
»So nennt man es, wenn eine Person ins Rampenlicht tritt und agiert. Alle anderen halten sich dann entweder zurück oder wissen gar nicht, dass in der Zeit jemand anders das Ruder übernommen hat. Dominante Innenpersonen kommen öfter hervor und beanspruchen mehr Zeit ›draußen‹ als schwächere.«
Lara schüttelte den Kopf. »Was denken denn die anderen, was in dieser Zeit passiert ist?«
»Nichts. Sie wissen es meist gar nicht. Einige ruhen sich in der Zeit aus. So hat zum Beispiel Maria Sandmann geglaubt, sie habe fast den gesamten Donnerstag und einen Teil des darauffolgenden Freitags ›verschlafen‹, während Matthias Hase zu dieser Zeit sehr aktiv war – er hat das ehemalige Kinderheim besucht. Davon hat sie nichts mitbekommen.« Mark wurde wieder ernst.
»Unglaublich!« Lara betrachtete ihr Handy, das sie auf den Tisch gelegt hatte. Normalerweise schaltete sie das Mobiltelefon in Restaurants aus, weil sie fand, dass es sich nicht gehörte, dort zu telefonieren, aber heute erwartete sie eine Nachricht.
»Nicht wahr? Die Person, die den größten Teil des Alltags bestreitet, bezeichnet man als ›Host‹, als ›Gastgeber‹. Das ist in unserem Fall Maria Sandmann. Der Host ist sich der anderen Persönlichkeitszustände nur teilweise oder oft auch gar nicht bewusst, sodass er sich auch nicht an deren Handlungen erinnert. Die Betroffenen wissen daher manchmal nicht, wie sie an den Ort gekommen sind, an dem sie sich gerade befinden, oder wer die Person ist, mit der sie da so vertraut zusammensitzen.«
»Hat sie deswegen Frank Schweizer mit dem Messer angegriffen?« Lara sah wieder die tiefrote Blutlache auf den weißen Fliesen vor sich. Der Kollege hatte die Attacke gut überstanden und war inzwischen wieder voll hergestellt. Erst letzte Woche hatte sie ihn im Gericht getroffen.
»Mit Sicherheit. Ich hatte ihr ja am Nachmittag ein sehr starkes Beruhigungsmittel gegeben. Nur leider wirken Medikamente nur bei der Innenperson, die sie auch eingenommen hat. Andere spüren davon gar nichts.«
»Das klingt unglaublich!«
»Du hast recht. Aber es ist tatsächlich so. Nach einer Weile muss eine andere Persönlichkeit aufgetaucht sein, hat deinen Kollegen Frank – für sie einen völlig Fremden – bemerkt, wie er sich über sie beugte und sie küssen wollte, und fühlte sich bedroht. Dann muss Matthias, der große starke Mann, auf der Bildfläche erschienen sein und ihn mit dem Messer angegriffen haben. Nachdem die ›Arbeit‹ erledigt war, ist er wieder verschwunden, und danach ist ein anderes Wesen nach vorn gekommen – wahrscheinlich ein älteres Kind –, hat das Blutbad gesehen, nicht gewusst, was passiert ist, und mich angerufen.«
»Wenn du es so erklärst, klingt es ganz logisch.«
»Aus der Sicht der Leute in Maria Sandmann ist es das auch.«
»Dann hat sie sich nach dem Anruf im Schrank versteckt, weil gerade ein Kind ›draußen‹ war?«
»Wahrscheinlich. Dieses Kind muss alles gehört haben, was wir in der Küche besprochen haben. Irgendwann kam dann jemand anderes hervor und bedrohte uns.«
»Und als ich mit Ralf Schädlich telefoniert habe, ist sie geflohen und unten auf der Straße den beiden Polizisten in die Arme gelaufen …« Lara schaute erneut zu ihrem Handy. »Was geschieht denn nun mit ihr?«
»Sie ist noch im Haftkrankenhaus, aber ich kann sie als ihr behandelnder Psychotherapeut besuchen. Trinken wir noch was?« Mark sah sich nach der Bedienung, einer hübschen jungen Frau mit raspelkurzen schwarzen Haaren, um.
»Und dann? Kommt sie in eine geschlossene Anstalt?«
»Das ist zwar nicht der exakte Begriff, aber möglich ist es. Wir müssen den Prozess abwarten. Ich bin ja nicht der Einzige, der sie begutachtet.« Die Kellnerin kam, und Mark bestellte zwei Cappuccino. Dann fuhr er fort. »Ich habe schon mit einigen Innenpersonen gesprochen. Es gibt noch mindestens sechs weitere, wahrscheinlich sind es sogar mehr. So eine Spaltung hat ihre Ursache fast immer in Missbrauchserlebnissen in früher Kindheit.«
»Das habe ich in den Büchern auch gelesen.« Lara dachte an Truddi Chase und Billy Milligan. Beide gab es wirklich, und das, was sie in ihren Büchern über ihre Kindheitserlebnisse schilderten, war grausig.
»Interessant ist, dass alle ihre Vornamen mit M beginnen. Maria, die sich selbst auch Mia nennt, obwohl sie nicht weiß, dass es in ihr noch ein Kind gleichen Namens gibt, kennst du ja. Maria ist die Alltagsperson, die Frau, die das tägliche Leben meistert. Sie hat allerdings die wenigsten Erinnerungen an das, was geschehen ist. Die anderen bedienen sich ihrer, treten in den Vordergrund, übernehmen sie und agieren dann ihre eigenen Vorstellungen aus. Matthias und Mandy – seine kleine Schwester – haben sich schon getroffen. Es war für beide seltsam, weil sie sich für Geschwister, also eigenständige Personen hielten. Jetzt tauschen sie sich über ihr bisheriges Leben aus, und Matthias berichtet Mandy bis ins Detail, wie er ihre Peiniger bestraft hat. Dann sind da zum Beispiel noch eine Melissa, eine Mary und eine Michaela.«
»Aber gehen wir mal davon aus, dass die Person, die sich für Matthias hält, sich im Spiegel ansieht. Da hätte er doch sehen müssen, dass er eine Frau ist?« Lara hörte sich selbst beim Sprechen zu und fand, dass es sich anhörte, als sei sie selbst nicht ganz klar im Kopf. Sie musste lächeln.
Mark lächelte auch. »So läuft das nicht, Lara. Er sieht natürlich einen Mann.«
»Das ist schwer zu verstehen.«
»Das ist es, aber besser kann ich es dir auch nicht erklären. Matthias ist der Beschützer der inneren Kinder; der Rächer, er hat die Erzieher ›bestraft‹. Er erinnert sich nicht genau, wie alt er gewesen ist, als er ins Heim kam, nimmt aber an, dass er etwa acht Jahre alt war. Das ist jedenfalls der Zeitpunkt, als er zum ersten Mal auftauchte, weil man ihn brauchte. Die Personen entstehen ja nicht alle zur gleichen Zeit, sondern spalten sich immer erst dann ab, wenn sie von den anderen oder der Hauptperson gebraucht werden. In Wirklichkeit kam die kleine Mia aber schon mit zwei ins Heim, also 1971, und sie blieb bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag 1987.«
»Eine ungeheuer lange Zeit… Warum ist sie denn überhaupt dorthin gekommen?«
»Das wissen wir noch nicht. Die Akten sind unauffindbar. Aber auch das werden wir mit Sicherheit noch herausfinden.«
»Und glaubst du, die Ereignisse, an die Matthias und die anderen sich erinnern, haben wirklich stattgefunden?« Lara betrachtete den Aufdruck auf dem winzigen Zuckertütchen und rollte es dann zusammen.
»Ich denke schon. Kein kleines Kind denkt sich so etwas aus. Andere Heimkinder, die wir inzwischen befragt haben, bestätigen dies. Du hast ja selbst mit einigen von ihnen gemailt. In Matthias’ Erinnerung haben sich die Erzieher nur den Mädchen zugewandt. Er selbst hat nur undeutliche Erinnerungen an Züchtigungen und Missbrauch, denn seine Person wurde geschaffen, um Rache zu üben, nicht um Leid zu ertragen. Er hat fünf seiner Peiniger erwischt, die letzte, eine Frau Gurich, hat er einfach mitten in einem Park in Chemnitz abgeschlachtet, am helllichten Tag, ohne sorgfältige Vorbereitung, ohne auf eventuelle Spuren oder Zeugen zu achten. Ich glaube, er wusste selbst, dass ihm nicht mehr viel Zeit zur Rache bleiben würde.«
Lara nickte gedankenvoll. Erst nach und nach hatte man die Taten und Opfer systematisieren und vergleichen können.
Mark sprach inzwischen weiter. »Um die Schmerzen und das Leid aufzufangen, gab es die anderen: Mandy, Melissa, Michaela. Andere haben andere Seiten der Persönlichkeit ausgelebt. Für Liebe und Sex war Mary zuständig. Sie war es auch, die sich an deinen Kollegen rangemacht hat. Die anderen haben das missbilligt und sich deswegen geschämt. Sobald Mary nicht mehr ›on stage‹ war, versuchten einige von ihnen, das Geschehen zurückzudrehen. Matthias hingegen hat die E-Mails geschrieben und die Einträge in den Foren gepostet. Über Sebastian Wallau bekamen sie Kontakt mit anderen Heimkindern, und so konnten sie ihre Beweisliste mit Namen und Taten vervollständigen.« Mark blickte in Laras Augen, die im Licht der Herbstsonne fast violett wirkten. Sein Herz machte ein paar langsame Schläge, die in der Brust schmerzten. »Im Moment wird noch einmal das gesamte Gelände des ehemaligen Kinderheims auf den Kopf gestellt. Die Kripo hält sich sehr bedeckt, aber soweit ich weiß, wurden Spuren gefunden.«
»Spuren?«
»Nun, um ehrlich zu sein, es handelt sich um Knochenfragmente und reichlich Asche. Es wird schwierig werden herauszufinden, von wem die Überreste stammen und wann sie verbrannt wurden.«
Lara nahm ihre Strickjacke vom Nachbarstuhl und zog sie an. Sie fror plötzlich. »Irgendwie habe ich Verständnis für das, was Maria/Matthias getan hat.«
»Das wiederum verstehe ich sehr gut.« Mark lächelte erneut sein schiefes Lächeln, und Lara dachte, dass ihr noch nie aufgefallen war, dass sein linker Schneidezahn ein wenig schief stand. »Und doch … Sie hatte eine Liste mit weiteren Erziehern und deren Taten, die sie nacheinander ›abarbeiten‹ wollte. Es ist gut so, wie es gekommen ist.«
»Vielleicht hast du recht.« Lara leerte ihre Tasse und schielte wieder auf das Handydisplay. Noch immer keine Nachricht.
»Wie geht es in der Redaktion vorwärts?«
»Es ist schwer. Tom ist jetzt der Redaktionsleiter, seit Hampenmann nach Berlin gegangen ist, und fühlt sich mächtig. Aber ich habe das Gerichtsressort zurück. Er kann sich ja schließlich nicht um alles selbst kümmern, nicht?«
»Dass du den Artikel über den Fall Sandmann an eine andere Zeitung verkauft hast, nimmt er dir bestimmt immer noch übel, oder?«
»Das kannst du laut sagen. Allerdings habe ich etwas gegen ihn in der Hand. Falls er mal wieder den dicken Max markieren sollte.« Das Handy piepte zweimal kurz, und Lara nahm es vom Tisch. Das Plastikgehäuse war sonnenwarm. Sie kippte es, sodass Mark die Nachricht nicht sehen konnte, und las. »Bleibt es bei heute Abend? CU, Jo.« Lara lächelte. Dann winkte sie der Schwarzhaarigen, um zu bezahlen. »Danke, dass du mir alles erklärt hast, Mark. Jetzt muss ich los. Ich habe heute noch etwas vor. Wir telefonieren. Grüß deine Frau.«
Marks Augen verdunkelten sich, als Lara aufstand und ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
Sein Blick fiel auf die beiden leeren Espressotassen, und er fürchtete sich ein bisschen vor dem Heimkommen.
Sie ging davon, voller Schwung. Ihr helles Haar, das in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerte, schwang bei jedem Schritt leicht mit, während in Marks Kopf das Electric Light Orchestra Midnight Blue spielte.
I see the lonely road that
leads so far away,
I see the distant lights that left behind the
day.
But what I see is so much more than I can
say.
And I see you in midnight blue.