18

Mia ließ die Augen geschlossen. Noch immer wollten heiße Tränen hervorquellen. Das schmierige Gefühl eines nassen Speichelfetzens auf ihrer Wange wollte nicht weichen.

Nimm dich zusammen, Heulsuse! Mit einem Ruck öffnete sie die Lider. Hell brannte die tiefstehende Sonne auf ihrer Netzhaut. Die polierten Oberflächen ihrer Arbeitszimmerschränke glänzten. Weiche Sommerluft fächelte zum Fenster herein und ließ die Rosengardinen hin und her wehen. Na bitte! Alles ist in Ordnung. Du bist daheim, in deiner Wohnung. Niemand hat dich angespuckt, an deinem Rücken hängt kein Schweineschwanz.

Vorsichtig stand Mia auf. Das war alles richtig, und doch konnte sie noch immer die kratzende Schnur um ihren Hals fühlen, spürte den Druck der großen Sicherheitsnadel am Rücken. Hörte das denn nie auf?

Im Badezimmer schaute sie ein müdes Gesicht aus dem Spiegel an. Die Haut unter ihren Augen wirkte im Neonlicht violett. Mia näherte sich dem Spiegel bis auf wenige Zentimeter. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln schienen sich von Tag zu Tag tiefer einzugraben. Mit dem Ellenbogen schob sie den Hebel des Wasserhahns nach oben und hielt das Seifenstück darunter. Sie rieb es, bis überreichlich Schaum entstanden war, und begann dann, ihr Gesicht damit zu bearbeiten. Erst nach fünf Minuten hatte sie das Gefühl, der Druck des Schleimklumpens auf ihrer Wange löse sich allmählich auf. Viel kaltes Wasser zum Abspülen ließ das Lärmen in ihrem Kopf schrittweise verschwinden, und Mia griff zum Handtuch.

Das Gesicht im Spiegel war jetzt gerötet, es wirkte lebendig und erfrischt. Sie zog probehalber einen Mundwinkel nach oben und fand, dass es ganz gut aussah. Die Gefahr schien fürs Erste gebannt.

Auf dem Weg in die Küche versuchte Mia, sich zu erinnern, was sie im Arbeitszimmer gewollt hatte, aber es fiel ihr partout nicht ein. Die Erinnerungen an das Kinderheim waren mit der Macht eines Panzers über sie gerollt und hatten alles an Gedanken plattgewalzt, was vorher da gewesen war.

Obwohl das Geschehen schon so lange zurücklag, brachten die Erinnerungen sie noch immer durcheinander. Mia hatte angenommen, dass die »Rückblenden« im Lauf der Jahre verblassen und die Schmerzen weniger werden würden, stattdessen schien sich das Ganze jedoch zu verschlimmern. Schon das Wort »Heim« brachte sie mittlerweile aus dem Konzept. Während ihre Hände mechanisch das schmutzige Geschirr neben der Spüle stapelten, dachte Mia darüber nach, was die Ursache dieser Flashbacks war. Viele Jahre hatte sie Ruhe gehabt, mit keiner Silbe an die Geschehnisse im Heim und die Nachwirkungen gedacht, aber seit einigen Monaten drängten sich wie ein verstümmelter Film vermehrt Bilder und Sequenzen hervor und überfielen sie in den unmöglichsten Momenten. Es musste einen Auslöser gegeben haben, aber sie konnte sich nicht besinnen, was das gewesen sein könnte.

Heftig rieb der Schwamm über den Teller mit den angebackenen Pizzaresten. Weißer Schaum quoll aus den gelben Poren. Mia rubbelte stärker. Dieses unsägliche Heim! Sie vermied es möglichst, an die Zeit zurückzudenken, um nicht noch mehr widerwärtige Erinnerungen heraufzubeschwören, aber anscheinend hatte ihr Unterbewusstsein etwas anderes beschlossen.

Das musste aufhören! Mia schnaufte. Der letzte Teller landete auf dem Abtropfgestell, der Stöpsel löste sich mit einem Schnalzen und dann wirbelte das Wasser im Kreis in den Abfluss.

 

»Mia? Mia! Sei ruhig, bitte!« Karlis Stimme war ein heiseres Flüstern. »Los, wach auf!« Ein Stupsen. »Du hast geträumt!« Wieder rüttelte etwas an Mias Schulter. Fester jetzt. »Nicht mehr schreien! Mach schon, Kleine. Nicht dass dich noch jemand hört!« Karli klang jetzt ängstlich. Mia bemühte sich, ihre Augen zu öffnen. Ihre Lider waren wie zugeklebt.

»O Scheiße.« Karlis Stimme entfernte sich schnell. Die Sprungfedern über Mia ächzten. Decken raschelten, dann war es still. Totenstill. Bis die Schritte kamen. Harte Schritte. Stiefelsohlen. Mia kniff die Augen noch fester zu. Sehe ich ihn nicht, sieht er mich nicht.

»Was ist hier los?« Herrisch der Klang der Männerstimme. Schroff und ein bisschen spöttisch. Mia zitterte unter ihrer Decke. »Nachts hat hier absolute Ruhe zu herrschen, das wisst ihr doch!« Das Geräusch der Schritte näherte sich und hörte dann auf. Direkt vor Mias Bett. »Du wirst das auch noch lernen, Dummchen.« Atemlose Stille. »Ich bring es dir bei. Aufstehen!« Eine kurze Pause. »Hörst du schwer? Raus aus dem Bett, habe ich gesagt!«

Jetzt erst öffnete Mia ihre Augen und sah die breiten Rippen einer Cordhose direkt vor ihrer Nase. Eine schwielige Hand schnappte nach ihrem Oberarm und schloss sich wie eine eiserne Zange darum. »Komm schon! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!« Er zerrte sie aus dem Bett. Im Bett über ihr hatte Karli den Kopf unter ihrem Kissen verborgen. Schnell schaute Mia wieder auf den Boden. Niemand hier würde ihr helfen. Die Mädchen waren froh, dass sie selbst verschont geblieben waren.

»Heul nicht! Dazu hast du später noch genug Zeit!« Ein massiges Lachen brach sich aus dem Brustkorb des Mannes Bahn. Mit Mias Arm im Schraubstock seiner großen Pranke, zog er sie hinter sich hinaus. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, in ihre Pantoffeln zu schlüpfen.

 

»Und nun das Wetter.« Die Deutschlandkarte erschien. Mit halboffenem Mund starrte Mia auf den Fernseher. Reiß dich zusammen, Mädchen! Das geht so nicht weiter! Sie stand direkt vor dem Bildschirm. Das schnurlose Telefon lag neben ihr auf dem Teppich. Es musste ihr aus der Hand gerutscht sein. Wen hatte sie anrufen wollen? Vorsichtig beugte sie sich nach vorn, hob das schwarze Plastikgerät auf und legte es im Hinausgehen achtlos auf den Esstisch. Sie marschierte geradewegs in ihre Küche. Mia brauchte jetzt ein Glas Wein. Sonst trank sie wenig Alkohol, weil er sie durcheinanderbrachte, aber dies war eine Ausnahmesituation.

Und dann würde sie sich vor den Fernseher setzen und Boulevardmagazine anschauen. Nichts eignete sich besser, um abzuschalten, als Boulevardmagazine.