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WASSER IST EIN GUTES MITTEL, UM MENSCHEN ZU QUÄLEN. ES HINTERLÄSST KEINE KÖRPERLICHEN SPUREN UND IST DAMIT EINE KLASSISCHE METHODE DER »WEISSEN FOLTER«. WASSER GIBT ES ÜBERALL. MAN KANN ES LEICHT BESCHAFFEN UND EINFACH WIEDER LOSWERDEN, UND ES BEDARF KEINER AUFWÄNDIGEN VORBEREITUNGEN.
DIE MÖGLICHKEITEN, JEMANDEN MITTELS WASSER ZU FOLTERN, SIND SO VIELFÄLTIG WIE IHRE ANWENDER. DIE INQUISITION ZWANG IHRE OPFER ZUM TRINKEN. MASSKRUG UM MASSKRUG WURDE DEM GEFESSELTEN DELINQUENTEN EINGEFLÖSST, SECHS LITER BEI DER »KLEINEN WASSERFOLTER«, ZWÖLF BEI DER GROSSEN, BIS SEIN BAUCH SCHIER ZU PLATZEN DROHTE UND ER GESTAND, WAS IMMER DIE PEINIGER VON IHM VERLANGTEN. EINE VERFEINERTE FORM WURDE »CHINESISCHE WASSERFOLTER« GENANNT, OBWOHL ES KEINE BEWEISE DAFÜR GIBT, DASS SIE TATSÄCHLICH IN CHINA ERFUNDEN WURDE. ANALOG ZU EINEM STETIG FALLENDEN WASSERTROPFEN, DER EINEN STEIN HÖHLEN KANN, ZURRTE MAN DIE OPFER IN VORRICHTUNGEN FEST, DAS GESICHT NACH OBEN GERICHTET, DAMIT SIE DIE TROPFEN SEHEN KONNTEN, DIE IHNEN ÜBER STUNDEN UND TAGE HINWEG AUF DAS GESICHT FALLEN WÜRDEN, EIN STETIGES TRÖPFELN EISIGEN REGENS.
DER »TAUCHSTUHL«, EIN GERÄT, DAS IM MITTELALTER VORDERGRÜNDIG ZUR BESTRAFUNG »ZÄNKISCHER WEIBER UND HUREN« DIENTE, BESTAND AUS EINEM HOCKER, DER AN EINEM LANGEN BALKEN BEFESTIGT WAR. DAS OPFER WURDE DARAUF FESTGEBUNDEN UND DANN LANGSAM INS WASSER HINABGELASSEN, BEVORZUGT IN SCHLAMMIGE, FAULIGE TÜMPEL, BIS DER SCHEITEL BEDECKT WAR. MAN KONNTE DIE GEFESSELTEN NACH BELIEBEN WIEDER HERAUSZIEHEN, ZUR BESINNUNG KOMMEN UND WIEDER HINABTAUCHEN LASSEN. »WATERBOARDING« WIRD BIS IN DIE HEUTIGE ZEIT VON VERSCHIEDENEN GEHEIMDIENSTEN ANGEWENDET. DAS OPFER WIRD SO FIXIERT, DASS SICH SEIN KOPF TIEFER ALS DER KÖRPER BEFINDET. SAUGFÄHIGES TUCH ÜBER DEM GESICHT WIRD STÄNDIG MIT WASSER ÜBERGOSSEN. DIE ATMUNG DES GEFOLTERTEN IST STARK ERSCHWERT, DAS GEFÜHL ZU ERTRINKEN NIMMT ÜBERHAND, SCHON NACH WENIGEN MINUTEN ERLISCHT DER WIDERSTAND.
NOCH BESSERE ERGEBNISSE ERZIELT MAN MIT HEISSER ODER GAR KOCHENDER FLÜSSIGKEIT, DOCH NUR KALTES WASSER HINTERLÄSST KEINE SPUREN BEIM GEFOLTERTEN.
Matthias Hase warf den Knebel auf den Boden und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Die Gestalt vor ihm lag wie ein nasser Sandsack auf den schmutzigen Fliesen. Die Augen hatte der Mann geschlossen. Leises Wimmern zeigte, dass er bei Bewusstsein war. Eine Fliege surrte durch die halbgeöffnete Tür.
»Steh auf. Du bist nicht verletzt, also hoch mit dir.« Matthias trat gegen die Speckwülste an der Hüfte des Mannes, doch der krümmte sich nur stärker zusammen und schniefte. Von selbst würde der Typ sich nicht erheben. Er würde nachhelfen müssen.
Jetzt bewegte sich der Gefangene leicht, drehte den Kopf zur Seite und schielte nach oben. »Lassen Sie mich frei, bitte. Ich habe Ihnen doch gar nichts getan!« Das weinerliche Gewinsel ging Matthias auf die Nerven. Wenn es um ihre eigene Gesundheit ging, wurden sie alle wehleidig. Er packte die auf dem Rücken gefesselten Arme und zerrte den Fettwanst in eine hockende Position. Der Mann öffnete die Augen, sah die Badewanne und die leeren Kanister daneben und heulte auf. Er schien zu ahnen, was ihm bevorstand. Matthias überprüfte die Fesseln und schob den Gefangenen näher an die Badewanne heran. »Schau ruhig hinein! Ich habe genug Wasser aufgefüllt!« Das Winseln wurde zu einem Schluchzen. Gelber Rotz lief aus der Nase des Mannes. Matthias wandte den Blick ab und unterdrückte den Brechreiz. Er musste anfangen, bevor sein Gefangener wieder zu Kräften kam. Mit dem ganzen Körper drückte er den Mann dicht an die Wanne, packte dann die fettigen Haare und drückte den Kopf ins kalte Wasser.
Dienstag, der 14.
07.
Liebe Mandy,
wahrscheinlich wirst Du diesen Brief nie zu Gesicht bekommen. Wenn Du ihn aber liest, ist entweder irgendetwas verdammt schiefgegangen, oder ich habe meine Vorhaben geschafft.
Ein Anfang ist jedenfalls gemacht – einen von ihnen habe ich gefunden und bestraft. Davon will ich hier berichten, und da Du mir immer am nächsten gestanden hast, sollst Du auch als Einzige davon erfahren.
Vielleicht erinnerst Du Dich nach all den Jahren längst nicht mehr, vielleicht denkst Du aber auch täglich an mich – so wie ich an Dich –, meine kleine Schwester. Eigentlich kann man diese Vergangenheit nicht vergessen, unsere gemeinsame Vergangenheit, man kann sie nur verdrängen; und manchmal wünschte ich mir, ich könnte das auch. Andererseits muss es aber jemanden geben, der Rechenschaft ablegt, der sich an jedes Detail erinnert. Und derjenige bin anscheinend ich. Das ist einerseits gut so, andererseits eine schwere Bürde. Wie gern würde ich auch Dir ein wenig von dem Kummer nehmen, indem ich Dir schon jetzt diese Nachricht von meiner – unserer – Rache zukommen lasse, aber das wäre in diesem frühen Stadium zu gefährlich. Ich habe noch so viel zu erledigen, und ich möchte nicht, dass meine weiteren Vorhaben gefährdet werden. Nicht durch Dich, meine Kleine – nie könnte ich glauben, dass Du mich verrätst! –, aber durch unglückliche Umstände, Zufälle, Neugier anderer könnten die Pläne ans Licht kommen. Und das darf nicht geschehen, bevor ich mich dem Ziel nähere.
Jetzt, meine liebe Mandy, jetzt aber will ich Dir endlich vom ersten Schritt berichten! Sicher bist Du schon gespannt, wen ich mir als Erstes vorgenommen und wie ich ihn bestraft habe… Ist Dir Sieg fried Meller noch gegenwärtig? »Fischgesicht« nannten wir ihn im Geheimen, weil er diese hervorstehenden Augen hatte und seine aufgequollenen, viel zu roten Lippen immer ein erstauntes »O« formten. Eigentlich sah er ganz harmlos aus, fast ein bisschen dumm, was er nicht war. Er liebte Wasser in jeder Form, dieses Schwein. Daran erinnerst Du Dich aber noch? (Oder vielleicht hast Du aus gutem Grund gerade das »vergessen«?)
Es tut mir sehr leid, wenn dies alles durch meinen Brief wieder in Dir aufgewühlt wird, aber vielleicht tröstet es Dich, dass Fischgesicht seine gerechte Strafe bekommen hat.
Als ich ihn endlich aufgespürt hatte – wie, ist nicht weiter wichtig, entscheidend ist nur, dass ich ihn aufgestöbert habe – da musste ich feststellen, dass Meller sich nach fast dreißig Jahren gar nicht groß verändert hatte. Du hättest ihn bestimmt auch wiedererkannt. Noch immer glotzten diese wässrig blauen Augen aus dem aufgedunsenen Gesicht. Dazu der widerliche Mund! Am liebsten hätte ich ihm sofort die Faust in die Fresse – entschuldige bitte den Kraftausdruck – gehauen, aber ich konnte mich dann doch beherrschen. Schläge wären für ihn viel zu einfach gewesen. Nein, mein Plan sieht vor, dass jeder auf die Art und Weise bestraft wird, die er damals selbst angewandt hat. Und Mellers Strafe musste mit Wasser zu tun haben, das ist doch klar, oder? Erinnerst Du Dich noch an das, was wir »chinesische Wasserfolter« nannten? Wie er uns immer und immer wieder den Kopf unter Wasser gedrückt hat? Nein? Vielleicht ist es besser so. Es war grausam. Meller jedoch liebte es, weil es keine sichtbaren Spuren an seinen Zöglingen hinterließ. Nichts, was man hätte vorzeigen können. Keiner hätte uns geglaubt.
Ich hatte ziemlich lange mit den Vorarbeiten zu tun. Denn natürlich habe ich ihn nicht sofort besucht, nachdem ich endlich herausgefunden hatte, wo das Schwein wohnt. Ich musste zuallererst einen geeigneten Ort finden, an dem er und ich genügend Zeit miteinander hätten, ohne dass uns jemand störte. Die abbruchreifen Plattenbaublöcke am Rande Leipzigs waren für meine Pläne wie geschaffen. Wenn ich Glück hatte, würden sie die Betonklötze einfach abreißen, würden Mellers Leiche unter Bergen von Schutt begraben und seine zertrümmerten Knochen auf eine Halde fahren. Wenn nicht – auch egal. Es kommt ja nicht darauf an, dass man die Leichen niemals findet. Natürlich ist es von Nutzen, wenn die Überreste nicht gleich entdeckt werden. Schließlich brauche ich noch Zeit, um mich um die anderen zu kümmern. Wenn sie mich zu schnell erwischen, schaffe ich nicht alle.
Aber ich rede zu viel. Vielleicht, weil ich möchte, dass Du mich verstehst.
Kanister für Kanister habe ich nachts in den vierten Stock geschleppt, einen Aufzug gab es nicht, und das Wasser war ja längst abgestellt. Bestimmt kannst Du Dir vorstellen, was das für eine Arbeit war! Aber die Mühe hat sich gelohnt!
Nach den Vorbereitungen bin ich zu ihm gefahren. Er wohnte ganz allein in Wurzen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, er hat gewohnt. Eigentlich müsste man doch annehmen, dass ein Mensch mit so einer Vergangenheit misstrauisch ist, aber weit gefehlt! Ein Paket – da öffnet man doch gern seine Tür. Danach war alles ganz einfach. Schließlich bin ich mindestens fünfunddreißig Jahre jünger als das Schwein. Und ich habe seit Jahren im Fitnessstudio auf Kraft trainiert. Ehe er es sich versah, hatte ich die Pistole auf ihn gerichtet, ihn in seine verlotterte Küche gedrängt und gefesselt. Dass es nur eine, zugegebenermaßen ziemlich echte Nachbildung einer Pistole war, hat er in seiner Angst gar nicht bemerkt.
Liebe Mandy, Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als es ihm endlich dämmerte, wer ich bin! Urkomisch war das. Er hat so sehr gezittert, dass sogar sein Gebiss angefangen hat, zu klappern. Ich musste ein wenig lachen. Ein Karpfen mit Gebiss! Natürlich hat er nichts bereut. Das hatte ich auch nicht erwartet, nicht bei Fischgesicht. Zuerst hat er so getan, als sei alles gar nicht wahr, hat versucht, meine Erinnerungen zu diffamieren, ein Kind könne sich doch nicht an alles genau entsinnen, ich würde ihn verwechseln … Als er gemerkt hat, dass ich mich nicht in die Irre führen lasse, ist er umgeschwenkt und hat mir zu erklären versucht, dass seine Methoden dazu dienten, uns zu disziplinieren. Schließlich hätten er und die anderen Erzieher es nicht leicht mit uns gehabt. Was für ein Hohn! Uns, den Kindern, den schwarzen Peter zuzuschieben!
Das hat mich dann ziemlich wütend gemacht, wie Du Dir bestimmt vorstellen kannst. Als er sein Blut gesehen hat, war es ganz vorbei mit seiner Contenance. Er hat so sehr geheult, dass ihm der Rotz aus der Nase lief.
Danach war er bewusstlos und ich musste ihn in die Garage tragen. Ich fand es besser, ihn mit seinem Wagen zu transportieren, der Spuren wegen – Du verstehst? – auch wenn das bedeutete, dass ich in der nächsten Nacht zu seinem Haus zurückfahren und seinen dicken Wagen wieder in der Garage parken musste. Kein Problem das Ganze, es gab ja niemanden, der zu Hause auf ihn gewartet hätte.
Vor den Plattenbaublöcken ist er wieder aufgewacht und hat richtig Schiss gekriegt. Wahrscheinlich ahnte er, was in dem leerstehenden Gebäude auf ihn zukommen würde, aber das war genau das, was ich wollte. Ebendiese Furcht vor dem Unbekannten, vor drohenden Strafen, die Angst vor den Schmerzen; Meller sollte genau das fühlen, was wir damals im Vorfeld seiner Bestrafungen gefühlt haben.
Als wir endlich oben angekommen waren, lief mir der Schweiß in Strömen herunter, und ich musste erst einmal verschnaufen. Mit weit aufgerissenen Augen hat er dann die Badewanne und die Kanister betrachtet. Wahrscheinlich ist ihm erst da wirklich aufgegangen, was gleich mit ihm passieren würde. Trotzdem habe ich mir die Zeit genommen, ihm noch einmal ausführlich zu erklären, was ich mit ihm vorhatte. An seinen Augen konnte ich erkennen, dass er sich erinnerte. Er wusste ganz genau, was er damals mit Dir, mit mir und mit all den anderen im Keller gemacht hatte, auch wenn er fast bis zum Ende alles abgestritten hat.
Die Badewanne war dem Waschkessel von damals nur entfernt ähnlich, aber das spielte keine Rolle. Meller sah sie, bemerkte das Wasser darin, erblickte die Tücher und Fesseln und wusste, was geschehen würde. Seine Glotzaugen quollen wie zwei trübe Glasmurmeln noch weiter aus dem verfetteten Gesicht hervor.
»Ein Fisch muss schwimmen!«, habe ich zu ihm gesagt, aber er hat mich nur angestiert, das Maul halb offen. Kann es sein, dass er den Spitznamen, den wir ihm verliehen hatten, gar nicht kannte?
Als sein Kopf das erste Mal unter Wasser tauchte, sah ich die kleine Heike vor mir. Sie war noch nicht mal sechs Jahre alt, als er sie sich das erste Mal geholt hat.
Dann begann Fischgesicht zu zappeln, und ich drückte seinen Kopf fester unter die Wasseroberfläche.
Ich habe es gesehen. Als die kleine Heike aus dem Keller zurückkam, war ihr Blick wie tot, und sie ist gelaufen wie einer dieser Blechroboter zum Aufziehen. Es hat Tage gedauert, bis sie wieder mit uns gesprochen hat. Wahrscheinlich erinnerst Du Dich nicht daran, denn Du warst damals ja auch noch ziemlich klein, und ich habe, so gut es ging, versucht, Dich von solchen Erlebnissen fernzuhalten.
Mellers Zappeln wurde schnell schwächer. Ich zählte bis fünfzehn und zog seinen Kopf dann mit einem Ruck aus dem Wasser. Er röchelte und hustete. Es klang genauso wie bei uns, wenn das Gesicht aus dem Waschkessel auftauchte. Da wusste ich, dass er das Gleiche empfand wie die kleine Heike und all die anderen Kinder, die er aus purer Lust am Quälen gepeinigt hatte. Diese Panik, wenn man keine Luft bekommt, wenn die Kehle immer enger wird, wenn der Brustkorb sich zusammenzieht, wenn man weiß, man muss den Mund geschlossen halten, und es doch nicht beherrschen kann. Dann dieses schreckliche Gefühl, nach Luft zu schnappen und Wasser einzuatmen – Todesangst.
Ich gab ihm ein paar Sekunden Zeit, dann drückte ich seinen Kopf wieder unter Wasser. Nachdem wir das viermal wiederholt haben, hat Meller irgendwie aufgegeben. Dann hat er sich nassgemacht. Irgendwann war plötzlich Ruhe. Ich habe ihn noch exakt fünf Minuten untergetaucht, um sicher zu sein, dass er auch wirklich tot war.
Zum Schluss habe ich das Wasser abgelassen und ihn so da liegen lassen. In einer leeren Badewanne.
Die nächsten Schritte sind nicht mehr ganz so einfach. Zuerst muss ich die anderen Scheusale finden, eines nach dem anderen. Ich hoffe nur, sie leben noch alle. Einige waren damals ja schon älter. Aber ich schwöre Dir, dass ich alles dafür tun werde, um unsere Rache zu vollenden. ALLES.
Meine liebe Mandy, mit diesem Versprechen möchte ich meinen Brief beenden. Ich werde ihn an einem sicheren Ort verwahren, bis es an der Zeit ist, ihn abzuschicken.
In Gedanken bin ich immer bei Dir, meine Kleine. Ich bin mir sicher, Du spürst das.
Bis bald.
Ich liebe Dich.
Dein Matthias