19
Die ersten beiden Adressen führten ihn nach Zwickau. Die Stadt hatte sich verändert. Matthias Hase betrachtete im Vorbeifahren die renovierten Häuserfassaden. Er war damals nicht oft hier gewesen. Und doch hatte sich ihm manches Detail aus dem Stadtbild eingeprägt. Einige Male hatten die Heimkinder eines der Kinos hier besucht. Es musste in den großen Ferien gewesen sein, denn während der Schulzeit gab es keine Ausflüge. Sie waren dann alle zusammen mit dem Bus in die Stadt gefahren und anschließend mit der ganzen Gruppe durch die Innenstadt gelaufen. Matthias spürte förmlich noch die Hitze der Sommernachmittage und die drückende Luft in dem stickigen Kinosaal. War die Sagorski dabei gewesen? Er konnte sich nicht entsinnen, aber das musste nichts heißen. Wahrscheinlich war, dass die Heimleiterin nicht mitgefahren war. Die Beaufsichtigung bei Ausflügen oblag den Erziehern der Tagesschicht.
Schloss Osterstein, das damals eine Ruine gewesen war, erstrahlte inzwischen in neuem Glanz. Den hell erleuchteten Tunnel, durch den er jetzt fuhr, gab es mit Sicherheit auch noch nicht lange. Matthias betrachtete das Display des Navigationssystems. Sein erster Haltepunkt rückte näher. Zweimal rechts abbiegen.
Noch einmal durchdachte er seine Strategie. Wenn die ehemalige Heimleiterin selbst ihm die Tür öffnete, würde er sie erkennen, dessen war er sich sicher. Sollte er einem anderen Familienmitglied gegenüberstehen, musste er herausfinden, ob dies überhaupt die richtige Adresse war, ohne zu viel von sich preiszugeben. Wenn er nun auf die richtige Sagorski treffen und diese danach plötzlich verschwinden sollte, würde man sich gewiss an den Unbekannten erinnern, der Fragen gestellt hatte. Und an einigen Fragen kam er nicht vorbei. Was jedoch brachte jemanden dazu, einem Fremden Auskunft zu erteilen? Eine Erbschaft von einem ehemaligen Zögling? Die Suche nach einem verlorenen Geschwisterkind? Was würde die Heimleiterin ihm eher abnehmen?
Er hatte lange nach einem passenden Gesprächsanfang gesucht. Damit ihn niemand so schnell wiedererkannte, auch die Sagorski nicht, hatte er sich mit Sonnenbrille und Baseballcap ausstaffiert und ein Sofakissen am Bauch festgeklebt. So wirkte er dicker. Es war nicht ohne Risiko, aber er musste es versuchen.
Matthias bremste und hielt vor dem Mehrfamilienhaus. Sein Herz raste. Mit einem Papiertaschentuch tupfte er sich die Schweißperlen von der Stirn und stieg dann aus. Am Klingelbrett standen acht Namen. Ganz langsam senkte sich der Zeigefinger auf das runde Knöpfchen bei »Sagorski«.
Der Türsummer ertönte. Niemand fragte nach, wer da Einlass begehrte. Das war schon mal leichter als gedacht. Langsam stieg Matthias in der dämmrigen Kühle nach oben und scannte dabei die Schilder an den massiven Holztüren. Im zweiten Stock fand er den gesuchten Namen. Die Wohnungstür war angelehnt. Er hatte gerade den rechten Arm ausgestreckt, um zu klopfen, als die Tür aufschwang. Ein kleiner buckliger Mann stand im dämmrigen Flur. »Wollen Sie zu mir?« Der Alte trat einen Schritt nach vorn und musterte den Besucher mit zusammengekniffenen Augen.
Matthias spulte sein vorbereitetes Programm ab. Am Gesichtsausdruck des Mannes konnte er ablesen, dass dieser keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
»Da sind Sie wohl falsch. Ich wohne allein hier. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Die Kinder und Enkel haben nie Zeit.« Der Alte zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. »Wollen Sie reinkommen?«
»Nein danke.« Matthias strahlte sein nettes Lächeln. »War Ihre Frau zu DDR-Zeiten in einem Kinderheim beschäftigt?«
»Nein. Ilse hat im Gardinenwerk gearbeitet. Ihr ganzes Leben lang.«
»Aha. Na, dann habe ich mich wohl geirrt. Nichts für ungut. Wiedersehen.« Jetzt ergriff Matthias die Hand des alten Mannes. Sie fühlte sich wie trockenes Pergamentpapier an. Der Alte blickte ihm nach. Es fühlte sich in Matthias’ Rücken an, als bedaure Herr Sagorski, dass der Gast nicht doch Zeit für ein Schwätzchen gehabt hatte.
Auf der Straße blinzelte er und rückte die Sonnenbrille zurecht. Erster Versuch fehlgeschlagen. Im Auto summte eine Wespe. Er ließ die Scheibe herunter und wartete, bis das Insekt den Weg hinaus gefunden hatte. Dann programmierte er das nächste Ziel in sein Navigationssystem ein.
Die Ampel schaltete auf Gelb, und Matthias bremste. Es war schon weit nach Mittag, und er hatte nichts erreicht. Bei der zweiten Adresse hatte niemand geöffnet. Seine Unterlippe schob sich noch ein bisschen weiter nach vorn.
Jetzt musste er noch ins Vogtland. »Aller guten Dinge sind drei.« Matthias gab Gas. Fand er die Sagorski heute nicht, blieb ihm immer noch die Möglichkeit, die Umkreissuche im Internet auszudehnen oder darauf zu hoffen, dass ihm doch noch weitere Namen aus der Zeit im Heim einfielen. Vielleicht hatte sich auch sein neuer E-Mail-Freund inzwischen an weitere Einzelheiten erinnert.
Der Pfeil auf dem Display, der sein Auto symbolisierte, rückte schnell voran. Noch sieben Minuten bis zum Ziel, verkündete der Bildschirm. Er drückte ein bisschen aufs Gas und leckte sich über die trockenen Lippen.
»Guten Tag. Mein Name ist Wallau.« Die dicke ältere Frau in der halbgeöffneten Tür nickte abschätzig, ohne etwas zu sagen. Matthias versenkte seine Hände in den Hosentaschen, um ihr Zittern zu verstecken, ehe er weiterredete. »Ich suche eine Frau Sagorski.«
»Was wollen Sie denn von ihr?«
Erneut begann er mit seiner Geschichte von der verloren gegangenen Schwester. Im Gesicht der Dicken regte sich kein Muskel. Ihre kleinen Augen verschwanden fast zwischen den Hautfalten. Das Mopsgesicht hatte sich im Lauf der Jahre noch stärker ausgeprägt. Matthias hatte sie sofort erkannt. Sie jedoch schien sich nicht an ihn zu erinnern. Dabei war Sebastian Wallaus Aufenthalt im Kinderheim noch nicht so lange her wie sein eigener. Matthias hatte den Nachnamen seines neuen Freundes benutzt, weil er seinen eigenen nicht verwenden wollte, jemand namens Wallau jedoch tatsächlich dort gewesen war. Immer so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben. Es konnte auch sein, die Sagorski tat nur so, als habe sie alles vergessen. Das konnte er nicht einschätzen. Weit kam er jedenfalls nicht.
»Und da klingeln Sie bei mir?«
»Haben Sie denn nicht zu DDR-Zeiten ein Kinderheim geleitet?« Die Frau wusste genau, warum er bei ihr geklingelt hatte – er konnte es am lauernden Blick der Schweinsäuglein erkennen.
»Sie sind falsch hier. Wiedersehen!« Die Tür schloss sich mit einem Krachen. Matthias schaute sich um. Er betrachtete die exakt geschnittene Hecke vor dem Einfamilienhaus. Der Rasen war auf fünf Millimeter getrimmt. Nicht ein Gänseblümchen traute sich zwischen den Grashalmen hervor. Am Fenster neben der Eingangstür bewegte sich die Gardine. Er wandte den Blick nicht ab. Sollte sie ruhig sehen, dass er noch immer hier stand. Sie konnte ruhig wissen, dass er sie durchschaut hatte.
Frau Sagorski wollte nicht mit einem ehemaligen Heimbewohner reden. Das sprach dafür, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. Und wer ein schlechtes Gewissen hatte, der hatte auch Dreck am Stecken. Ein Klischee zwar, aber diesmal stimmte es. Langsam drehte er sich um. Matthias Hase hatte erfahren, was er wissen wollte. Die Sagorski genoss ihr Rentendasein, nur hundertfünfzig Kilometer von ihm entfernt, und erfreute sich bester Gesundheit. Sie sah noch genauso aus wie damals. Wahrscheinlich bekamen Dicke weniger Falten, oder diese fielen in dem aufgepolsterten Gesicht nicht so auf.
Die Zentralverriegelung vom Auto klickte. Ein Schwall heißer Luft kam ihm entgegen. Matthias stieg ein und stellte die Klimaanlage auf fünfzehn Grad. Während er das Auto mechanisch um die engen Kurven des kleinen vogtländischen Städtchens zirkelte, überschlugen sich seine Gedanken. Die Begegnung mit der ehemaligen Heimleiterin erzeugte Wellen in seinem Inneren, die wispernd an die Wände zu den Erinnerungen stießen. Sein Streben nach Gerechtigkeit war plötzlich ins Stocken geraten, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob auch die Sagorski eine seiner drastischen Strafen verdient hatte. Bis jetzt war es seine Maxime gewesen, den Tätern das Gleiche anzudrohen, was diese den Kindern angetan hatten, um zu sehen, ob sie ihre Untaten bereuten. Weder Meller noch Isolde Semper hatten ihre Schuld eingestanden oder gar bedauert. Deshalb war es bei ihnen nicht bei Worten geblieben. Womit aber sollte er die Sagorski unter Druck setzen? Ihre Boshaftigkeit hatte sich in verbalen Angriffen, in Demütigungen der Kinderseelen erschöpft. Körperliche Übergriffe dagegen gab es, sofern ihn seine Erinnerungen nicht trogen, nie.
Matthias Hase beschloss, seinen neuen Freund Sebastian Wallau danach zu fragen. Konnte dieser ihm auch keine Beispiele für Züchtigungen nennen, würde er die Heimleiterin verschonen.
Er überdachte seine Pläne für die kommende Woche. Neue Namen waren ihm bis jetzt nicht eingefallen, und an eine Frau »Gurich«, die Sebastian erwähnt hatte, erinnerte er sich nicht. Das bedeutete, es fehlte an konkreten Anhaltspunkten für weitere Recherchen.
Vielleicht sollte er erst einmal nachschauen, ob seinem E-MailPartner in der Zwischenzeit etwas eingefallen war. Matthias lächelte und trat das Gaspedal durch.