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»Die Stimme hat also zu Ihnen gesagt: ›Tu nicht so unschuldig‹ und ›Du siehst aus wie ein Schaf‹?« Mark Grünthal hielt das kleine Notizbuch aufgeschlagen in der Hand und betrachtete die nach rechts geneigte Schrift. Mia nickte. »Und es war eine Frauenstimme.« Mia nickte noch einmal. »In welchem Ton hat sie mit Ihnen gesprochen?«

»Ein bisschen schnippisch. So, als verachte sie mich.« Ich bin nicht schnippisch! Nur ehrlich!

»Warum sollte die Stimme das tun?«

»Weil ich mit dem Journalisten ausgehen wollte.« Von dem, was in der Nacht danach passiert war oder wie sie sich heute Mittag in der Cafeteria des Gerichts aufgeführt hatte, sagte Maria Sandmann dem Arzt nichts.

»Hm.« Der Psychologe blätterte um. »Das war alles an Kommentaren, was Sie seit unserem Treffen letzten Freitag gehört haben?« Er machte ein skeptisches Gesicht, und Mia hatte das Gefühl, der Arzt wisse ganz genau, dass sie nicht alles notiert hatte. Insbesondere die Beschimpfungen als Nutte und Drecksstück nicht.

»Bei Träume haben Sie geschrieben: ›keine‹ und bei Flashbacks steht überhaupt nichts.« Die Skepsis war jetzt auch in seiner Stimme zu hören. »Heißt das, dass Sie in den letzten Tagen nichts dergleichen erlebt haben?«

»Nichts, an das ich mich erinnern könnte.« Mia Sandmann hörte sich selbst zu. Das, was sie sagte, klang beherrscht und selbstsicher. Sie hatte sich zwar entschlossen, den Termin heute wahrzunehmen, einfach weil sie ungern etwas absagte, das fest ausgemacht war, aber schon auf der Fahrt nach Berlin waren ihre Zweifel gewachsen. Mittlerweile war sie sich sicher, dass das hier vergeudete Zeit war. Die schrecklichen Erinnerungsschübe an das Kinderheim waren ausgeblieben, und ihr Leben verlief wieder in normalen Bahnen. Bis auf diese Hals-über-Kopf-Affäre mit dem Journalisten, den sie, wenn sie es recht bedachte, nicht einmal attraktiv fand. Und was ist mit dem Traum von Sonnabendnacht? Als du bei deinem neuen Stecher im Bett gelegen hast? Mia schlug sich die Hand vor den Mund und wusste im gleichen Moment, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Ist Ihnen noch etwas eingefallen?« Der Arzt schaute gelassen drein. »Etwas, das Sie vergessen haben aufzuschreiben? Wollen Sie darüber reden?«

»Es war nichts von Belang.« Mia wandte den Blick ab und sah auf ihre im Schoß verschränkten Finger.

»Manchmal sind auch unwichtig erscheinende Dinge von Bedeutung. Sie können offen zu mir sein. Niemand erfährt etwas davon. Ich bin auf Ihrer Seite und möchte Ihnen helfen.«

»Ich … ich glaube, ich habe wieder von früher geträumt.« Nur kurz huschte ihr Blick zu dem des Arztes. »Ich hatte es vergessen.« Das wollten wir doch für uns behalten! Wie blöd bist du eigentlich?

»Von diesem Kinderheim, in dem Sie waren? Wissen Sie noch, worum es in dem Traum ging?«

»Es war nur ein Fragment, kein vollständiger Traum. Jemand hat mich geweckt, aus dem Bett geholt und hinausgetragen. Ein Mann.«

»Verstehe.« Doktor Grünthal sah ein bisschen betrübt aus. Verstand er wirklich? Zum Glück hatte er nicht gefragt, wo sie diesen Traum gehabt hatte. Wahrscheinlich nahm er stillschweigend an, Maria Sandmann habe allein bei sich zu Hause in ihrem Bett gelegen.

»Ich hatte Sie das letzte Mal schon danach gefragt: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Ihre Albträume immer mit diesem Kinderheim zu tun haben?«

»N… nein.« Mias Finger schlangen sich wie von selbst ineinander und lösten sich wieder. Sie hatte keinen blassen Schimmer. Sie wollte ihre Ruhe haben und dass der innere Terror aufhörte. War das zu viel verlangt?

»Das ist in Ordnung. Zwingen Sie sich zu nichts. Wir werden anders herangehen.« Forschend blickte der Arzt in Mias Gesicht. »Ich hatte Ihnen ja schon das letzte Mal angekündigt, dass ich gern ein wenig tiefer schürfen würde. Wie Sie mir erzählt haben, gibt es keine bewusste Erinnerung an Ihre frühe Kindheit. Sie wissen nicht, wer Ihre Eltern waren oder ob Sie Geschwister haben. Wahrscheinlich sind Sie schon sehr früh in dieses Heim gekommen. Kleine Kinder erinnern sich nur an sehr wenig, wenn überhaupt. Das ist also nichts Ungewöhnliches. Aus welchem Grund man Sie dorthin gebracht hat, wissen wir auch nicht. Sie erinnern sich nicht, jemals bei Adoptiveltern gewesen zu sein. Aufzeichnungen, Fotos, Schriftstücke oder Akten besitzen Sie nicht. Habe ich das richtig wiedergegeben?« Jetzt schaute er väterlich, fast so, als täte ihm seine Patientin ein wenig leid. Mia zwang sich ein »Ja« heraus. Der Arzt hatte im Telegrammstil das Dilemma zusammengefasst.

»Gut. Ich möchte nun sehen, ob Ihr Unterbewusstsein mehr weiß.« Mia verkrampfte sich, und er setzte hinzu: »Keine Angst, es tut nicht weh.«

»Was wollen Sie machen?« Mia fand, dass sie sich nun anhörte wie ein ängstliches kleines Mädchen. Wenigstens schwiegen die Stimmen in ihrem Kopf.

»Ich würde Sie gern hypnotisieren. Das hatte ich Ihnen ja das letzte Mal schon angekündigt. Erinnern Sie sich noch an den Vergleich mit dem Apothekerschrank?« Er wartete, bis Mia genickt hatte, und fuhr dann fort: »Ich möchte ihn betrachten und schauen, ob ich ein paar Schubladen öffnen kann. Falls ich etwas Beängstigendes finde, lasse ich es nicht hervorkommen, versprochen. Aber wir können Ihre Probleme nur lösen, indem wir sie erkennen. Wenn man nicht weiß, was die Ursache der Schmerzen ist, kann man den Schmerz nicht beseitigen. Ich kann Sie jedoch nicht gegen Ihren Willen hypnotisieren, Sie müssen es selbst wollen. Möchten Sie sich darauf einlassen?«

Mia betrachtete ihre Finger. Künstliche Nägel verdeckten die abgekauten echten. Dann sah sie hoch. »Versuchen wir es.«

»Gut, Frau Sandmann. Zuerst erkläre ich Ihnen unser Vorgehen bei dieser Therapieform. Danach teste ich Ihre Suggestibilität, das heißt Ihre Hypnotisierbarkeit. Die erste echte Sitzung werden wir erst am Freitag durchführen, denn dafür reicht heute die Zeit nicht aus. Was ich vorher noch nicht genau sagen kann, ist der Zeitraum, in dem wir arbeiten werden. Die Anzahl der Sitzungen kann variieren.« Er machte eine kurze Pause. Es kam Mia so vor, als lauschten die Stimmen in ihrem Kopf andächtig, was der Arzt sagte, und prüften, ob er vertrauenswürdig war. »Das, was ich Ihnen jetzt in Grundzügen erläutere, können Sie zu Hause noch einmal ausführlich nachlesen.« Er griff in die Ablage neben dem Tisch und reichte Mia eine Broschüre: Hypnose in der Psychotherapie  – Hinweise und Erklärungen.

»Wenn beim Lesen des Heftes noch Fragen auftauchen, können wir diese gern das nächste Mal besprechen. Bevor wir damit weitermachen, würde ich gern mit Ihnen eine Therapievereinbarung abschließen.«

»Eine was?«

»Eine Therapievereinbarung. Es gibt einige Punkte, die Sie während der Therapie bei mir beachten sollten, und einige Punkte, die ich Ihnen zusichere. Lesen Sie das bitte und fragen Sie, wenn Ihnen etwas unklar sein sollte.«

Ich bin keine Patientin! Das hört sich ja so an, als wäre ich krank! Mia nahm das Blatt, das der Arzt ihr reichte, und überflog die Stichpunkte.

… Patient verpflichtet sich, alle Sitzungen pünktlich wahrzunehmen … verpflichtet sich, die Therapie zu Ende zu führen … verpflichtet sich, dem Therapeuten gegenüber völlig offen zu sein … verpflichtet sich, andere therapeutische Maßnahmen während der Therapie mit dem Therapeuten abzusprechen und keine sonstigen analytischen Therapien gleichzeitig durchzuführen … Vergiss es. Nimm deine Tasche und verschwinde!

Der Arzt selbst verpflichtete sich laut dem Papier auch zu bestimmten Dingen, zum Beispiel zur Einhaltung der vorgesehenen Termine, zur besonderen Wahrung der gesetzlichen Schweigepflicht auch gegenüber Angehörigen. Die Worte »Therapie«, »Therapeut« und »Patient« schwirrten durch Mias Kopf. War das, was da stand, nicht alles selbstverständlich? Und welche Rechtskraft hatte so ein Schriftstück? Keine, höhnte es in Mias Kopf. Nada. Du kannst das getrost unterschreiben. Es ist nichts als Makulatur.

Der Arzt hatte sich zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen. »Soll ich Ihnen das noch näher erklären?«

»Nein. Ich verstehe alles.« Mia griff nach dem Stift, den er ihr hinhielt, und unterschrieb mit ihrem vollen Namen. Nutzloser Quatsch, das Ganze, aber wenn er es so wollte, sollte er seinen Willen bekommen.

»Gut, Frau Sandmann. Bitte halten Sie sich daran. Wenn Sie einen Termin absagen möchten, geben Sie uns bitte mindestens einen Tag vorher Bescheid.« Er unterschrieb seinerseits und legte das Blatt beiseite. »Sie bekommen nachher eine Kopie von der Schwester. Und nun zum Ablauf der Hypnosetherapie.« Während der Arzt schilderte, wie Einleitung, Durchführung und Rückführung ablaufen würden, dachte Mia über ihre nächsten Vorhaben nach. Vielleicht sollte sie sich einfach wieder krankmelden. Die Grippe von letzter Woche war doch noch nicht auskuriert. Wie auf Befehl begann es, in ihrem Kopf zu pochen. Und dann musste sie unbedingt diesen Journalisten wieder loswerden. Nicht dass er sich noch in sie verliebte. Der Typ klebte schon richtig an ihr. Mia spürte den Blick des Arztes auf sich. Er schien auf eine Antwort zu warten. Weil sie nichts erwiderte, wiederholte er seinen letzten Satz.

»Bereit für den Pendelversuch?«

»Pendelversuch, ja.« Mia sah schwarze Kerzen flackern, hörte Beschwörungsformeln und unterdrückte ein hysterisches Kichern.

»Damit zeige ich Ihnen Ihre Hypnotisierbarkeit. Nehmen Sie das hier.« Doktor Grünthal reichte Mia einen etwa dreißig Zentimeter langen Faden, an dessen unterem Ende ein goldener Ring befestigt war. »Stützen Sie den Ellenbogen so auf den Tisch«, er machte es vor, »und legen Sie das Ende des Fadens über den Mittelfinger.« Er reichte Mia das Pendel. »Schön entspannt lassen und nicht verkrampfen. Nun hängt der Ring locker nach unten. Konzentrieren Sie sich jetzt darauf, dass das Pendel beginnt, von rechts nach links zu schwingen. Es schaukelt hin und her. Sehen Sie?«

Verblüfft beobachtete Mia, wie der Ring begann, leicht zu pendeln. Es funktionierte tatsächlich, obwohl sie keine bewussten Anstalten machte, die Finger zu bewegen. Und sie selbst war die Ursache dieses Phänomens.

»Ganz toll, Frau Sandmann. Nun versuchen Sie einmal, dass der Ring eine Kreisbewegung vollführt.« Das Pendel schien die Worte des Arztes gehört zu haben und begann, auf wundersame Weise im Kreis zu schwingen. Auch ein Richtungswechsel gelang.

»Sehen Sie. Das hat doch prima geklappt. Ihr Unterbewusstsein hört auf uns. Das war’s auch schon für heute. Ich bin sehr optimistisch, dass wir Ihre Probleme nach und nach in den Griff bekommen werden.« Er lächelte wieder väterlich, legte das Pendel zurück in seine Holzschale und erhob sich. »Dann bis Freitag, Frau Sandmann.« Er reichte ihr eine warme Hand und öffnete dann die Tür. Wie in Trance marschierte Mia hinaus.

 

Weiber! Ihr seid doch alle gleich! Kaum redet eine »Autorität« mit euch, knickt ihr allesamt ein und könnt das Maul nicht halten.

Mia nahm den Fuß vom Gas und warf einen schnellen Blick auf ihr Gesicht im Rückspiegel. Ihr Mund hatte einen verächtlichen Zug. Analytisch notierte sie sich im Geiste den Wortlaut des Gesagten. Sie würde es beim nächsten Halt in ihr Büchlein eintragen. Die Stimme schimpfte weiter. Was gehen denn den Seelenklempner deine Träume an? Und das mit der Hypnose kannst du dir auch klemmen. Niemand wird hier in Trance versetzt. Das wäre ja noch schöner, wenn wir jeden Weißkittel in unser Gehirn schauen lassen! Vergiss es.

»Halt’s Maul. Das entscheide ich.« Mia lachte kurz auf und wurde wieder ernst. Sie führte ein Gespräch mit einer ihrer Stimmen. Wenn das nicht das gefundene Fressen für Doktor Grünthal war!

Du sagst es, dumme Trine. Wenn du so weitermachst, kommst du in die Klapsmühle. Dann wirst du ja sehen, was du davon hast. Wag es bloß nicht, am Freitag wieder nach Berlin zu fahren!

»Hörst du gar nicht zu? Ich entscheide, wann ich wohin fahre!« Zur Bestätigung schlug Mia mit der Hand auf das Lenkrad.

Wir werden ja sehen. Niemand schaut sich unseren »Apothekerschrank« an! Und was war das eigentlich heute Mittag in der Gerichtskantine? Du benimmst dich wie eines dieser billigen Flittchen.

»Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist.«

Wird wohl die Nutte in dir gewesen sein.

Mia drückte den Einschaltknopf des Autoradios und regelte die Lautstärke so hoch, wie es nur ging, um das Gemecker zu übertönen. Das war ja heute nicht zum Aushalten! Was hatte die Stimmen so rebellisch gemacht? Der Besuch bei Doktor Grünthal und was der Arzt mit ihr vorhatte? Wovor fürchtete sich ihr Unterbewusstsein?

»Gibt es denn inzwischen Neuigkeiten? Was ist mit dem Obduktionsbericht?« Lara fuhr mit dem Finger über den grauen Belag auf ihrem Armaturenbrett. Die schrägstehende Abendsonne trübte die Windschutzscheibe zu schlierigem Milchglas. Die Luft im Auto war schwülwarm, und das Mobiltelefon in ihrer Rechten fühlte sich feucht an.

»Kannst du nicht den Pressesprecher deswegen anrufen, Lara?« Ralf Schädlich war dazu übergegangen, sie permanent zu duzen. Und sie hatte es hingenommen, ohne zu protestieren. »Ich darf nichts von den Ermittlungen an die Presse herausgeben.« Er klang bekümmert.

»Oh. Verstehe.« Wahrscheinlich hatte Stiller seinen Angestellten einen Maulkorb verpasst. »Na, macht nichts. Dann rufe ich da morgen mal an.« Dass Lara gar nicht mehr für die Sache zuständig war, brauchte der Kripobeamte nicht zu wissen. Er würde es noch früh genug erfahren.

»Kannst du mir wenigstens sagen, ob Parallelen zwischen der ersten Plattenbauleiche und dieser zweiten gefunden wurden?« Die vertrauliche Anrede wollte nur schwer über ihre Lippen.

»Du gibst nicht auf, was?« Jetzt wechselte Schädlichs Tonfall zu amüsiert. »Wie so ein kleiner Bullterrier. Wenn du dich einmal in etwas verbissen hast, lässt du nicht locker.«

»Das gehört dazu, wenn man gute Arbeit leisten will.« Lara sah in den Rückspiegel und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. »Bullterrier« war ja nicht gerade ein schmeichelhafter Vergleich, um eine Frau zu charakterisieren. Schädlich war etwas ungelenk, wenn es um Komplimente ging. »Ich versuche eben, gründlich zu sein. Nicht alle Hintergrundinformationen werden auch veröffentlicht.« Merkte der Mann, dass sie ihm eine Brücke baute? »Ich bin einfach eine neugierige Frau.« Sie lachte ihr herzlichstes Lachen.

»Ich glaube, das muss man in dem Beruf auch sein.« Auch Ralf Schädlich lachte jetzt. Lara gab die Hoffnung auf, etwas aus ihm herauszulocken. Der Typ war eine Auster. Wenn der Kriminalobermeister ihr nichts sagen wollte, würde sie sich die Informationen eben anderweitig besorgen. Was sie eigentlich damit wollte, wusste sie selbst nicht. Auch wenn sie keinen Artikel zu dem Thema mehr schreiben dürfte, sie wollte zumindest einen Wissensvorteil gegenüber Tom haben.

Inzwischen war sie in Grünau angekommen. Sie konnte die Gruftibraut und ihren tätowierten Freund innerhalb einer Gruppe Jugendlicher ausmachen, die es sich auf dem Netto-Parkplatz gemütlich gemacht hatten. Lara beobachtete, wie sie eine Wodkaflasche kreisen ließen, und hörte dabei Ralf Schädlich sagen: »Wollen wir mal wieder essen gehen?« Das rosahaarige Mädchen nahm einen tiefen Schluck und reichte die Flasche an den Freund weiter.

»Lara?«

»Äh … Entschuldigung. Ich war gerade in Gedanken. Wollen wir essen gehen? Na klar, warum nicht? Wann denn?«

»Heute ist Dienstag. Ich denke, du hast auch die ganze Woche über viel zu tun. Wie wäre es mit Freitag?« Da sie schwieg, setzte er schnell hinzu: »Oder Sonnabend?«

»Sonnabend ist mir lieber. Wohin denn?« Lara wusste, dass sie einen Fehler machte  – und doch gelang es ihr nicht, das Treffen abzuwiegeln. Allerdings, was wäre, wenn Schädlich bis dahin neue Informationen hatte? In einem Restaurant bei einem Glas Wein war er sicher redseliger als am Telefon.

»Warst du schon mal im Domizil

»Das kenne ich. Es ist sehr schön da. Gute italienische Küche.«

»Super, dann fahren wir dorthin.« Man konnte Ralf Schädlich die Freude anhören, und Laras schlechtes Gewissen blähte sich auf wie ein überdehnter Ballon.

»Um neunzehn Uhr? Soll ich dich abholen?«

»Nein, das ist nicht nötig. Wir treffen uns dort.« Das würde sie davon abhalten, Alkohol zu trinken, und so entging sie wenigstens der Peinlichkeit, sich von dem Kripomann wieder nach Hause fahren lassen zu müssen.

»Na gut. Dann bis Sonnabend! Ich freu mich.« Klick. Kriminalobermeister Schädlich hatte aufgelegt. Was war bloß aus ihren Prinzipien geworden?

Lara sah noch einmal zu den fünf Schwarzgekleideten hinüber, checkte ihr Diktiergerät und stieg aus. Was tat sie eigentlich hier? Die Jugendlichen hatten schon vor zwei Wochen nichts gewusst, keiner von ihnen hatte etwas gesehen oder gehört. Wahrscheinlich waren sie sowieso den ganzen Tag zu betrunken, um sich etwas merken zu können, aber einen letzten Versuch war es noch wert. Und was Schädlich betraf: Noch war nichts passiert. Sie konnte das vermeintliche Date jederzeit absagen.

Die Regenwolken hatten sich verzogen und einem hypnoseblauen Himmel Platz gemacht. In der frischgewaschenen Luft lag ein Geruch nach sauberem Leinen. Langsam ging sie zu den Jugendlichen hinüber.

»Hallo Sie!« Ein kurzes Kläffen ertönte. Lara drehte sich um. Zuerst sah sie den struppigen weißen Hund, der an seiner Leine zerrte, dann fiel ihr Blick auf die alte Frau, die heftig winkte. Hinter sich zog sie einen Einkaufstrolley. »Frau Birke! Von der Zeitung!« Kein Zweifel, die Alte in Jogginghosen und Flauschjacke meinte sie. Noch ehe sie ganz heran war, hatte Lara einen Geistesblitz und sah sich in einer Küche mit bejahrter Einrichtung sitzen und mit der Frau Kaffee trinken.

»Ich heiße Birkenfeld. Guten Tag, Frau Ehrsam. So trifft man sich wieder.«

»Sie waren doch bei mir, um mich zu dieser Leiche zu befragen, und haben mir Ihr Kärtchen dagelassen. Struppi, hör auf damit!« Die Alte zog an der Leine, um den Hund von Laras Hosenbeinen, die er ausgiebig beschnüffelte, fernzuhalten. »Ich habe jeden Tag nachgeschaut, ob Sie etwas dazu geschrieben haben, aber unter den Artikeln stand nie Ihr Name!«

»Mein Kollege hat die Berichterstattung übernommen.«

»Aha. Und jetzt sind Sie wegen der nächsten Leiche hier?« Die Alte senkte die Stimme. »Der ältere Herr, der gleich hier um die Ecke, nur zwei Straßen weiter, in seiner Wohnung ermordet wurde?«

»Im Prinzip schon. Kannten Sie das Opfer?«

»Flüchtig. Ich kannte ihn flüchtig.« Frau Ehrsam rückte an ihrer Brille.

»Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?« Lara schaute zu dem Schild der Bäckereifiliale neben der Eingangstür des Supermarktes. »Ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«

»Hm.« Die Alte kratzte sich ausgiebig unter der rechten Brust. »Ich müsste Struppi draußen anbinden.« Sie blickte zu dem Hund, der sein Interesse inzwischen undefinierbaren Überresten in einer Betonfuge zugewandt hatte. »Aber das ist er ja gewöhnt. Komm, Struppi!« Mit einem Ruck zog sie das Tier zu sich heran und schlurfte dann zum Eingang.

 

»Grünkern hieß er also. Den Vornamen wissen Sie nicht?«

»Nein.« Frau Ehrsam schüttelte den Kopf. »Viele wohnen schon dreißig Jahre oder länger hier. Wir sind zusammen alt geworden. Aber ich kenne natürlich nicht jeden. Den Herrn Grünkern habe ich immer beim Spazierengehen mit meinem Struppi getroffen.« Sie blickte schnell nach draußen, wo ihr Hund mit hängendem Kopf wartete. »Er geht immer mit seinen Stöcken wandern, Warrking nennt man das wohl. Jeden Tag. Hinten an den Heizhäusern vorbei und dann runter zum Wäldchen. Da gehe ich mit Struppi auch oft hin. Es ist schöner als hier zwischen den Hochhäusern.« Die Alte entblößte beim Lächeln schiefe Zähne. Sie hatte tatsächlich »Warrking« statt Walking gesagt. Lara lächelte auch.

»Man trifft immer die Gleichen. Manchmal schwatzt man dann auch ein bisschen.«

»Und so haben Sie auch Herrn Grünkern kennengelernt.«

»Na ja, richtig kennengelernt habe ich ihn nicht. Er hatte ja nie Zeit für ein Schwätzchen, weil er immer gelaufen ist. Stehen bleiben wollte er nicht. ›Da kommt man aus dem Rhythmus‹, waren seine Worte. Aber eine Bekannte von mir wohnt mit ihm im selben Haus.« Frau Ehrsam runzelte kurz die Stirn und setzte hinzu: »Ich sollte wohl besser sagen ›hat gewohnt‹.«

»Aha. Das ist ja interessant! Was wissen Sie denn noch über Herrn Grünkern?«

»Er ist… war ein seriöser Mann. Hat immer höflich gegrüßt und sehr zurückgezogen gelebt. Es gab nie Ärger mit den anderen Hausbewohnern, soweit ich weiß. Er hat die Hausordnung immer pünktlich und ordentlich erledigt.«

»War er alleinstehend?« Eigentlich erübrigte sich die Frage. Welcher verheiratete Mann machte schon die Hausordnung selbst?

»Ich glaube schon.«

»Vielleicht könnte ich mal mit Ihrer Bekannten sprechen?«

»Meinen Sie, das bringt was?« Die Alte schien ein wenig beleidigt zu sein, dass nicht mehr sie selbst im Fokus stand.

»Das weiß ich nicht. Aber ich bräuchte noch ein paar Hintergrundinformationen über den Toten. Womöglich hat sie auch etwas beobachtet.« Lara fand, dass sie sich schon anhörte wie einer dieser unsäglichen Privatdetektive aus dem Fernsehen. Aber ohne zusätzliche Angaben würde eine Recherche über das Opfer schwierig werden, zumal es anscheinend keine näheren Verwandten gab, die man hätte befragen können.

»Wir könnten uns auch zusammensetzen, Ihre Bekannte, Sie und ich. Wie heißt sie denn?«

»Leonie Stengel.«

Nachdem Lara noch ein bisschen Überzeugungsarbeit geleistet hatte, gab Frau Ehrsam nach und versprach, ihre Freundin anzurufen und ein Treffen zu vereinbaren. Sie bestand jedoch darauf, es in ihrer Wohnung durchzuführen. Lara war das recht. Wenn es stimmte, dass diese Leonie Stengel im Haus des Ermordeten wohnte, war es riskant, dort aufzutauchen, denn sie hatte dort nichts verloren. Wenn überhaupt, dann würde Tom Fränkel über den Fall berichten und nicht sie. Und im Normalfall reisten die Redakteure auch nicht in der Weltgeschichte herum und beschafften sich ihre Informationen, indem sie selbst nach Zeugen suchten und sie befragten. Aber das hier war auch kein Normalfall. Sie musste besser sein als Tom und vor ihm herausfinden, was die beiden Todesfälle verknüpfte.