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Mark klappte die Patientenakte auf und überflog seine Aufzeichnungen. Maria Sandmann hatte in einer Viertelstunde ihren nächsten Termin, und er wollte vorbereitet sein. Letzten Freitag war sie von der Einleitung der Hypnose übergangslos in tiefen Schlaf gefallen. Dieses Verhalten war ein sicheres Anzeichen dafür, dass das Unterbewusstsein sich mit allen Mitteln gegen einen Zugriff von außen wehrte. Mark Grünthal hatte es erst zweimal erlebt, dass Patienten, statt in einen vertieften Ruhezustand zu gelangen, einfach einschliefen. Es war die letzte Bastion einer verletzten Psyche, sich vor der Preisgabe unerträglicher Erinnerungen zu schützen. Eine Heilung war jedoch nur möglich, wenn die verborgenen Inhalte ganz behutsam aufgedeckt und verarbeitet wurden.

Außerdem hatte Maria Sandmann davon gesprochen, Warnungen von ihrem Unterbewusstsein zu erhalten. Sie hörte Stimmen, schlafwandelte und hatte Gedächtnislücken. Die geschilderte Episode mit dem Sushi-Messer durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es war dabei gleichgültig, ob sie sich wirklich ereignet hatte oder nur in der Fantasie der Patientin existierte. Sie signalisierte Selbstmordgedanken. So etwas konnte schneller eskalieren, als man sich gemeinhin vorstellte. Mark schlug das siebenhundert Seiten starke Handbuch der Hypnose zu und brachte es zurück zum Bücherregal. Noch einmal überdachte er sein Vorgehen. Er würde für eine ausreichende Hypnosetiefe die Vier-Schritt-Strategie anwenden müssen.

Er hatte Maria Sandmann einen Folgetermin gleich an diesem Montag empfohlen und ihr seine Handynummer gegeben, weil er sich Sorgen machte, aber sie hatte nicht angerufen. Mark wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, aber das würde sich in wenigen Minuten zeigen. Er klappte die Akte zu.

Die Wechselsprechanlage blinkte. Schwester Annemarie kündigte an, dass Frau Sandmann eingetroffen sei, und Mark ging zur Tür, um sie zu begrüßen.

Die Hand der Patientin war kühl, ihr Händedruck fest. Im Gesicht hatten sich feine Fältchen eingegraben, die letzte Woche noch nicht da gewesen waren. Mark wandte den Blick ab, um ihr nicht das Gefühl zu geben, sie werde inspiziert, und ging voran zum Tisch. Die Augenringe deuteten darauf hin, dass sie am Wochenende wenig Schlaf bekommen hatte. Sie setzte sich wie beim letzten Mal, den Rücken ganz gerade, die Handtasche auf den Knien.

»Bevor wir mit der vertieften Ruhebehandlung anfangen«, Mark hatte sich entschieden, das Wort »Hypnose« nicht mehr zu verwenden, weil es die Patientin zu erschrecken schien, »besprechen wir zuerst die zurückliegenden beiden Tage. Haben Sie Aufzeichnungen gemacht?«

»J… ja.« Mia Sandmann zögerte, ehe sie in ihre Tasche schaute und das Notizbuch herausholte. »Es ist bloß …« Ihre Finger glitten wie suchend über den Einband. »Ich kann mich gar nicht erinnern, es geschrieben zu haben. Es sind größtenteils Beleidigungen.«

»Kann ich es sehen?« Zögerlich reichte sie ihm das Büchlein herüber, und Mark schlug es auf. Die Seiten mit Flashbacks enthielten nichts, was er nicht schon wusste. Auch bei Träumen und Stimmen gab es seit Maria Sandmanns letztem Besuch keine weiteren Eintragungen. Er blätterte weiter zu Sonstiges. Rote Buchstaben leuchteten auf dem elfenbeinfarbenen Papier. Mia Sandmann ist eine Schlampe! Sie hurt herum und wirft sich Kerlen an den Hals! Nutte! Widerliches Drecksstück! Sieh zu, dass das aufhört! Schäm dich! So ging das über zwei Seiten.

Mark schaute kurz zu seiner Patientin, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, als warte sie auf ein Urteil. Dann blätterte er zurück und verglich die Eintragungen. Die Schrift unterschied sich. Hatte Mia Sandmann alle vorhergehenden Notizen in einer sehr geradlinigen, sauberen Form verfasst, bei der alle Wörter gut lesbar waren, die Wortabstände einheitlich und der Fluss ebenmäßig, so zeigte sich bei den leuchtend roten Sätzen eine schwungvolle, nach rechts geneigte Schrift mit druckvoll ausgeführten Buchstaben, die auffallende Über- und Unterlängen besaßen.

»Und Sie haben keine Erinnerung daran, das geschrieben zu haben?«

»Nein. Gestern stand es noch nicht drin, und als ich das Buch vorhin einstecken wollte, hatte jemand diese Sätze hineingeschrieben. Vielleicht ist es wieder im Schlaf passiert?«

»Das kann durchaus sein, Frau Sandmann. Was glauben Sie, hat das zu bedeuten?«

»Na ja …« Mark konnte sehen, wie sie sich auf die Innenseite der Unterlippe biss, ehe sie fortsetzte. »Ich gehe doch seit zwei Wochen mit diesem Journalisten aus. Vielleicht ist es das.«

»Ihr Unterbewusstsein scheint etwas dagegen zu haben.«

»Ich habe genauso ein Recht auf Geselligkeit wie alle anderen!« Mia Sandmanns Augen blitzten bei diesen Worten. »Deshalb bin ich noch lange keine Hure! Und verbieten lasse ich mir das auch nicht! Von niemandem!«

»Keiner verbietet Ihnen, mit einem Mann auszugehen.« Mark hörte sich selbst zu. Er klang väterlich. »Selbstverständlich dürfen Sie sich amüsieren. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.«

»Anscheinend doch!«

»Sie dürfen sich selbst keine Vorwürfe machen. Nehmen Sie das nicht so ernst. Es sind affektive Aufwallungen, Gefühlsausbrüche. Das kommt bei allen Menschen vor, nicht jeder schreibt es allerdings auch auf. Gab es sonst irgendwelche Vorfälle am Sonnabend und Sonntag, von denen Sie mir berichten möchten? Erneutes Schlafwandeln, Messer an ungewöhnlichen Stellen, andere Dinge?«

»Nichts. Außer dass ich fast das ganze Wochenende verschlafen habe. Ich glaube, ich habe die Schlafkrankheit.« Jetzt lächelte sie ein schüchternes Kinderlächeln.

»Sie wirken ein bisschen erschöpft. Aber ich glaube nicht, dass Sie ernsthaft krank sind.« Mark gab ihr das Notizbuch zurück. »Schreiben Sie auch weiterhin alles auf.« Maria Sandmann steckte ihre Aufzeichnungen in die Tasche.

»Dann wollen wir jetzt zum eigentlichen Teil kommen.« Bei diesen Worten zuckte Maria Sandmann sichtbar zusammen. »Das letzte Mal haben Sie sich wunderbar bis in die Entspannung führen lassen. Heute versuchen wir, einen Schritt weiterzugehen. « Mark würde ihr nicht sagen, dass die Hypnose am Freitag nicht funktioniert hatte, um keine negative Erwartungshaltung zu erzeugen. Sie sollte das Gefühl haben, alles laufe nach Plan. »Wenn Sie nicht mit mir allein arbeiten wollen, können wir auch Schwester Annemarie bitten, hinzuzukommen.«

»Es … es wird schon gehen.«

»Fein. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unsere Sitzung aufzeichne?«

»N … nein.« Ihre Stimme klang jetzt kindlicher als vorhin und ein wenig verängstigt. »Warum wollen Sie das tun?«

»Ich kann mich so ganz auf Sie konzentrieren und muss während Ihrer Ruhebehandlung nichts mitschreiben.«

»Aha?«

»Keine Angst. Alles unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.«

»Na gut.« Ganz überzeugt klang Maria Sandmann noch nicht, aber sie würde ganz schnell vergessen, dass da eine Kamera war, die alles aufnahm, und für Mark war es im Nachhinein viel einfacher, die Ereignisse in der Hypnose auszuwerten. Sie erhob sich, ohne dass er sie dazu auffordern musste, ging zur Couch, legte sich hin und zog sich wie beim letzten Mal die Decke bis zum Kinn. Heute brauchte sie nur wenige Minuten, bis das Vibrieren der Lider einsetzte. Das war normal, weil das Unterbewusstsein die Einleitungsphase schon kannte und sich so leichter führen ließ. Mark ließ sie die Augen schließen und begann mit Phase eins, der bildhaften Vertiefung des Ruhezustandes. Dieses Mal glitt Mia Sandmann nicht in den Schlaf ab, sondern blieb seiner Lenkung zugänglich. Ihre Augäpfel begannen, hin und her zu zucken, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Mark formte mit beiden Handflächen eine Schale, ließ sie in einigen Zentimetern Abstand über der Stirn der Patientin schweben und suggerierte ihr dabei die von den Händen ausgehende Wärme und Ruhe. Die Fußspitzen der Patientin kippten auseinander. Ein Zeichen für Muskelentspannung. Er hatte sich mit ihr auf verbale Antworten geeinigt. Das bedeutete, dass sie mit ihm sprechen würde, statt Zeichen zu geben. Zeichen hatten den Nachteil, dass man seine Fragen im Ja-Nein-Modus formulieren musste. Eine tiefgründige Analyse war so kaum möglich. Mark betrachtete die Patientin. Ganz entspannt lag sie da, die Arme locker neben dem Körper. Ihr Brustkorb unter der Decke hob und senkte sich regelmäßig. Die Augen bewegten sich unter den Lidern von links nach rechts. Mia Sandmann war so weit.

»Wenn ich Ihnen Fragen stellen werde, können Sie ganz frei und gelöst antworten. Sie können alles aussprechen, was Ihnen in den Sinn kommt; alles, was Sie sehen, denken, fühlen. Alles ist richtig, alles gilt, egal, was es ist. Verstehen Sie das?«

Er wartete auf ein Zeichen, dass ihr Unterbewusstsein die Botschaft verstanden hatte, und als sie mit einem schwachen »Ja« antwortete, setzte er fort. Mark hatte sich entschieden, Maria Sandmann in ihre Vergangenheit zurückzuführen. Zuerst in die Zeit vor dem Kinderheim  – nach ihren Angaben war sie dabei noch sehr klein gewesen  –, dann in die darauffolgenden Jahre. Aufgrund ihrer Aufzeichnungen und Flashbacks hatte er einige Anhaltspunkte, die er abfragen konnte. Er würde sehr vorsichtig vorgehen müssen, um nicht zu viel auf einmal aufzudecken. Auch wenn man der Patientin suggerierte, dass sie nach der Hypnose alles wieder vergessen sollte, blieben doch Spuren seines Eingreifens in ihrem Unterbewusstsein zurück, die nachwirken konnten. Und er wollte keinesfalls weitere Suizidversuche oder andere autoaggressive Handlungen provozieren.

»Jetzt sehen Sie den Zeitstrahl vor sich. Der Zeiger ist auf das heutige Datum gerichtet. Können Sie es erkennen?« Ein weiteres dünnes »Ja«.

»Sehr gut. Nun bewegt sich der Zeiger ganz langsam nach links zum vorhergehenden Jahr: 2009. Von dort aus gleitet er weiter zu 2008. Sie sehen jetzt die Jahreszahl 2007. Und weiter rutscht der Jahreszeiger rückwärts. Sie gehen jetzt in das Jahr 2006 zurück. Die Jahreszahlen ticken an Ihnen vorbei wie auf einer Schautafel … 1999, 1998, 1987 …« Mark beobachtete das Gesicht der Patientin. Ihre Augen huschten hinter den halbgeschlossenen Lidern hin und her, als verfolgten sie den Zeitstrahl.

»Nun verändern sich die Ziffern immer langsamer. Der Jahreszeiger bewegt sich nur noch ganz gemächlich rückwärts.« Mark veränderte seinen Sprechrhythmus, sprach die Zahlen bedächtiger aus. »1972, 1971. Nun sind wir im Jahr 1970 angekommen. Jetzt können Sie das Fotoalbum vor sich sehen, in dem die Bilder des Jahres 1970 sind.« Mia Sandmann war 1968 geboren. Ihr Wachbewusstsein wusste nicht, wann sie in das Kinderheim gekommen war. Mark hatte sich entschlossen, es zuerst mit 1970 zu versuchen. Weiter zurückzugehen, hatte nicht viel Sinn. Zwar war im Gehirn alles gespeichert, auch die Erinnerungen aus frühester Kindheit, sogar aus der Babyzeit, aber man konnte sie nicht verständlich abrufen. Der Befragte befand sich immer gerade in dem Alter, in das er ihn zurückversetzt hatte, und verfügte demzufolge auch nur über die dazugehörigen Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Zweijährige verstand zum großen Teil, was er fragte, wenn es mit einfachen Worten geschah, und konnte sich schon ein wenig artikulieren. Die Patientin war jetzt ein zwei Jahre altes Mädchen im Jahr 1970.

»Siehst du das Bilderbuch vor dir?«

»J… Ja.« Ein Kleinmädchen-Ja, ganz leise und schüchtern. Auch Mia Sandmanns Gesichtszüge besaßen jetzt etwas Weiches, Kindliches. Alle Fältchen schienen verschwunden, die Haut hatte einen rosigen Schimmer.

»Sehr schön. Du nimmst es in die Hände und schlägst es auf. Ganz vorsichtig.« Er hatte als Unterstützung für die Gedächtnisinhalte das Fotoalbum gewählt. Bei weniger diffizilen Fällen konnte man die Erinnerungen auch als Film in einem Kino ablaufen lassen, bei dem der Befragte als Betrachter im Zuschauerraum saß, aber das war in diesem Fall zu gefährlich, weil belebte Bilder der Psyche realer vorkamen. Da er noch nicht wusste, was in Maria Sandmanns Kopf alles verborgen war, hatte er statische Darstellungen gewählt.

»Betrachte nun die erste Seite.« Mark beobachtete den Gesichtsausdruck der Patientin. Sie lächelte.

»Was siehst du?«

»Wauwau.«

»Einen Wauwau, sehr schön. Was ist noch auf dem Bild?«

»M… M…«

»Mia?«

»Nee! M…ama!« Jetzt hatte sie es heraus.

»Ist noch jemand da?«

»Wauwau, Mama.« Sie setzte noch etwas hinzu, das wie »Gadda« klang. Mark hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Nachfragen würde nicht viel bringen. Die zweijährige Mia Sandmann wusste zwar, was »Gadda« war, konnte es aber nicht besser ausdrücken. Das war das Problem bei der Sache. Die ganz Kleinen waren noch nicht in der Lage, sich deutlich zu artikulieren, und manchmal verstand man nicht, was sie meinten.

»Du machst das toll. Nun wollen wir einmal umblättern und uns das nächste Bild anschauen. Was siehst du jetzt?«

»Ball. Mimi Ball werf.« Eine Mimi, die einen Ball warf. Mark ließ sie noch mehrere Fotos des Jahres 1970 mit ihrer Zwitscherstimme kommentieren. Alle schienen von einem normalen Alltag zu künden, soweit er das Gesagte verstand. Die Mutter kam mehrmals vor, ein Vater dagegen nicht. Keine außergewöhnlichen Ereignisse. Maria Sandmann schien zufrieden und glücklich zu sein. Mark beschloss, es mit 1971 zu versuchen. Er vertiefte noch einmal die Ruhesuggestion für das emotionale System, um ihre Gefühle zu beruhigen, und ließ sie dann das Album mit der Jahreszahl 1971 zur Hand nehmen und aufschlagen. Die ersten Bilder kommentierte sie  – jetzt mit deutlich größerem Wortschatz  – noch wie eben. Es kamen »Drachensteigen«, »Pilzesuchen« und »Kindergarten« vor. Etwa bei Seite acht spürte Mark, wie Maria Sandmann sich unter der Decke verkrampfte. Ihre Stirn bekam ein paar Falten, und sie kniff die Lider fester zusammen. Anscheinend wusste ihr Körper schon, was auf dem nächsten Foto zu sehen sein würde. Es dauerte einige Minuten, bis er sie wieder in den entspannten Zustand zurückgeführt hatte. »Es ist alles gut. Nichts kann passieren. Du bist hier ganz sicher. Und nun blättern wir um und schauen uns das nächste Bild an. Was siehst du?«

»Haus. Kinder. Tante mit Schürze.«

»Kennst du die Leute auf dem Bild?«

»Nein. Kenne ich nicht.«

Mark war sich sicher, dass sie den einschneidenden Moment gefunden hatten. Er ging die nächsten Fotos mit ihr durch, und es zeigte sich, dass er recht hatte. Die Mama tauchte nicht wieder auf, stattdessen irgendwelche »Tanten« und auch ein paar »Onkel«, eine Menge fremde Kinder, ein unbekanntes Haus. Ziemlich sicher war Maria Sandmann irgendwann im Laufe des Jahres 1971 ins Kinderheim gekommen. Sie wussten zwar noch nicht, weshalb, aber dies war zumindest ein Anfang, ein loser Faden, an dem sie beginnen konnten, das Knäuel zu entwirren. Mark blickte kurz auf seine Uhr. Er hatte noch eine Viertelstunde inklusive Rückführung und Nachbesprechung. Die Patientin befand sich noch immer in tiefer Hypnose, und so beschloss er, zum Abschluss noch einen Blick auf ein späteres Jahr ihrer Kindheit zu werfen.

Im Nachhinein sagte er sich, dass er die Reaktion hätte vorhersehen müssen, es war schließlich schon die ganze Zeit absehbar gewesen, dass bei Maria Sandmann entsetzliche Erlebnisse im Verborgenen liegen mussten, aber sie hatte so ruhig gewirkt, dass er sich hatte täuschen lassen.

Mark ließ sie das Fotoalbum von 1975 öffnen. Er konnte später nicht erklären, was ihn dazu gebracht hatte, gerade dieses Jahr zu wählen. Er hieß die Patientin, das erste Bild anzuschauen, und fast im selben Moment begann sie, konvulsivisch zu zucken und vor sich hin zu stammeln. »Nein, nein … das Fischgesicht kommt. Hilf mir … Nicht mich … Nein, nicht da runter!« Die Kinderstimme wurde lauter, schrie fast. »Ich war’s nicht. Bitte nicht, Herr Meller! Nicht in das Toilettenbecken, o nein …« Gurgeln, Röcheln. Maria Sandmann strampelte unter der Wolldecke.

Mark brauchte eine Sekunde der Besinnung. Dann begann er damit, ihr das Fotoalbum und die aufgewühlten Erinnerungen fortzunehmen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte und wieder auf seine Suggestionen reagierte.

»Ich werde Sie jetzt wieder aus der Hypnose zurückführen, wobei ich von zehn bis eins zählen werde. Bei ›eins‹ können Sie die Augen wieder öffnen und fühlen sich ganz frisch und munter. Zehn  – Ihre Beine werden wieder ganz frei und leicht, die Müdigkeit beginnt zu weichen. Neun  – Ihr Unterleib wird ganz leicht, die wohltuende innere Ruhe bleibt auch nach der Hypnose im Nervensystem erhalten. Acht  – der Oberkörper wird ganz frei und leicht, die Müdigkeit weicht. Jede weitere Hypnose wird Sie ganz einfach und immer tiefer in diesen angenehmen Ruhezustand führen … Eins  – Sie fühlen sich erfrischt und wohl, auch die Lider werden wieder ganz leicht und frei und können gut geöffnet werden.« Maria Sandmann schlug die Augen auf und räkelte sich. Dann sah sie sich im Behandlungsraum um. Mark ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, sich zurechtzufinden, ehe er sprach. »Nun haben wir die zweite vertiefte Ruhebehandlung durchgeführt. War es so, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wie haben Sie es empfunden?«

»Ich erinnere mich an nichts. Nur dass es mir gut geht. Ich fühle mich frei und unbeschwert.«

»Das ist wunderbar.«

»Was ist denn passiert? Haben Sie etwas erfahren?«

»Das habe ich. Wir waren in Ihrer Vergangenheit.« Mark sah, wie sie die Kaumuskeln anspannte. »Was … was haben Sie gesehen?«

»Wahrscheinlich sind Sie 1971 ins Kinderheim gekommen. Deswegen entsinnen Sie sich dessen auch nicht mehr. Sie waren erst drei.«

»Warum bin ich dahin gebracht worden?«

»Das scheinen Sie nicht zu wissen.«

»Ach?«

»Wir können gern in einer der nächsten Sitzungen noch einmal danach forschen, aber wahrscheinlich ist Ihnen der Grund dafür tatsächlich nicht bekannt.«

»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, was ich wissen sollte?« Maria Sandmann klang jetzt bestimmter. Sie hatte sich aufgesetzt, ihre Augen funkelten kämpferisch.

»Nichts Bedeutsames.« Noch war sie nicht so weit, die Ereignisse bewusst aufnehmen zu können. Mark dachte an ihren plötzlichen Ausbruch, als sie sich im Jahr 1975 befunden hatten. Wer mochte »Fischgesicht« sein, und was hatte der so Bezeichnete mit dem Mädchen vorgehabt? Er nahm sich vor, sich bei der Auswertung der Aufzeichnung besonders auf diese Stelle zu konzentrieren und bei einer späteren Therapiestunde darauf zurückzukommen.

»Nichts Bedeutsames, hm …« Sie schob die Decke beiseite und erhob sich. »Hat das Ganze dann überhaupt weiter Sinn?« Jetzt zweifelte sie wieder an allem.

»Auf jeden Fall, Frau Sandmann. Sie dürfen jetzt nicht aufgeben. Wir haben heute schon einen entscheidenden Schritt nach vorn gemacht. Und dass Sie das Gefühl haben, es funktioniert nicht, ist eher ein Zeichen vom Gegenteil. Ihr Unterbewusstsein fürchtet sich vor dem, was wir nach und nach zutage fördern, und suggeriert Ihnen deshalb, es habe keinen Zweck.«

»Das ist ja interessant.« Maria Sandmann schien in sich hineinzuhorchen, ehe sie fortsetzte. »Wenn Sie es sagen. Es klingt plausibel. Dann wollen wir mal damit weitermachen, nicht?« Sie sprang fast von der Couch. »Unsere Zeit ist um, nicht wahr? Wann soll ich wiederkommen?«

»Ich würde Sie gern diese Woche noch mindestens einmal sehen. Sind Sie noch krankgeschrieben? Vereinbaren Sie bitte einen Termin mit Schwester Annemarie.« Je höher das Ziel, desto häufiger die Sitzungen. Es gab viel zu erforschen und aufzuarbeiten.

»In Ordnung!« Sie schnappte sich ihre Tasche vom Sessel.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie das Gefühl haben, Sie wollen reden. Jederzeit.«

»Mach ich. Wiedersehen.« Ein fester Händedruck, dann marschierte sie hinaus. Mark sah der Patientin nachdenklich hinterher. Er wurde das Gefühl nicht los, dass gar nichts »in Ordnung« war, konnte aber den Gedanken nicht präzisieren. Irgendetwas an den Äußerungen der Patientin störte ihn, aber er kam einfach nicht darauf, was es war.